Читать книгу Die Ehe des Dr. Jorg - Liebesroman - Marie Louise Fischer - Страница 6
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ОглавлениеErst als Dr. Jorg kurz nach neun Uhr die Unfallklinik verließ und sich ans Steuer seines Wagens setzte, fiel ihm auf, daß seine Frau nicht angerufen hatte. Aber es beunruhigte ihn nicht weiter, denn im Grunde hatte er gar nicht damit gerechnet. Der Gedanke, doch noch nach Hause zu fahren und sie zum Mitkommen zu überreden, kam ihm nicht. Es war ihm lieber, die unerquickliche Begegnung so lange wie möglich hinauszuschieben.
Er reihte sich in den Verkehr, der um diese Zeit nicht mehr allzu stark war, ein, überquerte die Isar und bog an der Kreuzung rechts nach Bogenhausen ab, wo Olga Krüger wohnte.
Er merkte, daß er an dem Haus vorbeigefahren sein mußte, entschloß sich zu parken, sobald er eine Lücke zwischen den an der rechten Seite aufgereihten Wagen fand. Er stieg aus, schloß ab.
Aufmerksam ging er die Straße zurück, bis er die Hausnummer fand, die Olga Krüger ihm angegeben hatte. Sie gehörte zu einem modernen Appartementhaus mit breiten Fenstern, die den Ausblick auf die Grünanlagen an der Isar und über die Stadt freigaben.
Er fand das Türschild mit dem Namen, den er suchte, klingelte. Kaum drei Sekunden später summte der Öffner. Er trat in eine weite, nahezu feudale Halle – der Boden war mit Marmor ausgelegt, es gab eine riesige treibhausartige Nische mit grünen Pflanzen und einen Lift.
Er stieg in den Aufzug, drückte auf den Knopf zum fünften Stock. Erst als die Kabine nach oben schwebte, fiel ihm ein, daß er mit leeren Händen kam. Es wäre vielleicht richtiger gewesen, Blumen mitzubringen. Aber wozu? Schließlich verdankte Olga Krüger ihm tatsächlich das Leben, damit sollte sie wohl zufrieden sein.
Die junge Frau stand schon in der offenen Wohnungstür, als er aus dem Lift stieg. Sie trug ein Kleid aus schwerer matter Seide, das ihre schlanke geschmeidige Figur hervorhob, hatte das schwarze Haar hinter die Ohren zurückgekämmt und auf dem Hinterkopf hochgesteckt.
Zum erstenmal wurde es Dr. Richard Jorg bewußt, wie anziehend sie war.
Ihre tiefblauen Augen leuchteten auf, als sie ihn sah. Sie streckte ihm beide Hände entgegen.
„Dr. Jorg“, sagte sie, „wie ich mich freue! Sie kommen allein?“
Die, wie es ihm schien, etwas überschwengliche Begrüßung machte den Arzt befangen. Er übersah die Hände, die Olga Krüger ihm entgegenstreckte, verbeugte sich formell.
„Meine Frau läßt sich entschuldigen“, erklärte er, „sie fühlt sich nicht ganz wohl . . .“
„Wie schade!“ erwiderte Olga Krüger, aber in ihrer Stimme klang nicht die Spur eines Bedauerns. „Hoffentlich ist es nichts Ernstes?“
Aber sie erwartete offensichtlich keine Antwort auf diese Frage, sondern führte Dr. Jorg in das Wohnzimmer ihres Appartements, einen großzügig geschnittenen, sehr modern und sehr geschmackvoll eingerichteten Raum.
„Bitte, machen Sie es sich bequem, Doktor! Ich denke, wir nehmen zuerst einen Aperitif, ja?“ Sie trat schon an die elegante, mit Teakholz verkleidete Hausbar. „Darf ich Ihnen einen Cocktail mixen?“
„Eigentlich“, sagte Dr. Jorg, „wäre mir ein Whisky lieber . . .“ Er ließ sich in den extravagant geformten Sessel sinken, der sich zu seiner Überraschung als außerordentlich bequem erwies. „Ich habe einen schweren Tag hinter mir . . .“
„Oh! Ist etwas Besonderes geschehen?“
„Nur das Übliche. Aber das langt.“ Dr. Jorg streckte die langen Beine aus, versuchte sich zu entspannen. Er beobachtete Olga Krüger, die an ihrer Hausbar hantierte, mit schönen geschmeidigen Bewegungen, die dem Auge wohltaten.
Dann trat sie zu ihm, reichte ihm das schwere, schön geschliffene Glas mit der goldenen Flüssigkeit, in dem die Eiswürfel klirrten. Sie ließ sich ihm schräg gegenüber auf der Couch nieder. „Cheerio!“ sagte sie. „Trinken wir auf Sie . . . Ihre große Tat, der ich mein Leben verdanke!“
Sie hob ihr langstieliges Glas, in dem eine Olive schwamm, sah ihm tief in die Augen.
Dr. Jorg fühlte sich tatsächlich angenehm wohl, zum erstenmal an diesem Tag, ja eigentlich zum erstenmal, seit er, die leblose Olga Krüger auf den Armen, zu Boden gestürzt war. Er gab sich ganz diesem schläfrigen und gelösten Behagen hin.
Olga Krüger machte es ihm leicht. Sie erzählte von sich, ihrem Leben, das anscheinend sehr gradlinig und komplikationslos verlaufen war. Sie war die Tochter eines Eisenbahners, ein Mädchen mit brennendem Ehrgeiz, das sich zur Chefsekretärin eines großen Werkes hinaufgearbeitet hatte. Später servierte sie eine kalte Platte – Braten, Schinken, Oliven, viele kleine raffinierte Salate, Käsestückchen auf Zahnstocher gespießt, dazu eine Flasche süffigen Rheinwein. Sie aßen beide mit gutem Appetit, rauchten eine Zigarette. Olga Krüger räumte ab, stellte den Plattenspieler ein. „Wollen wir tanzen, Doktor?“ fragte sie lächelnd. „Natürlich nur, wenn Sie nicht zu müde sind.“
Er konnte nicht gut ablehnen, erhob sich, half ihr den Teppich zurückrollen.
Langsam bewegten sie sich im Rhythmus einer Beguine über das blanke Parkett.
„Sie sollten öfter Tanzen, Richard“, sagte Olga Krüger schmeichelnd. „Sie sind ein ausgesprochenes Talent . . .!“
„Das höre ich heute zum erstenmal“, erwiderte Dr. Jorg lächelnd.
Sie hatte die Hände auf seine Schultern gelegt, ihr schlanker, schmiegsamer Körper, ihr schönes Gesicht waren ihm sehr nahe.
„Dann“, sagte sie, „hat dieser Abend für Sie vielleicht doch einen Sinn gehabt!“
„Es ist wunderschön bei Ihnen, Olga!“
„Zuwenig“, sagte sie bedauernd, „alles viel zuwenig . . . ein Abendessen, eine Flasche Rheinwein . . .“ „Die Whiskys nicht zu vergessen!“
„Ja, auch die! Ein schäbiger Dank für ein geschenktes Leben!“
„Halten Sie mich für einen Mann, der Dank erwartet?“
„Nein, aber gerade darum . . . ich bin sehr unzufrieden mit mir, Richard! Früher pflegte man für eine Lebensrettung eine goldene Uhr zu verschenken, nicht wahr?“
Er lachte. „Was sollte ich wohl damit? Schließlich bin ich kein Firmling . . .“
Sie ging auf seinen Scherz nicht ein, ihre Augen waren sehr ernst geworden. „Ich kann nichts geben, Richard . . . nichts als das, was Ihnen schon gehört! Mein Leben!“
Die Platte war abgelaufen, die Musik verklang. Aber sie machte keine Anstalten, sich aus seinen Armen zu lösen, legte den Kopf leicht in den Nacken, blickte ihn mit halbgeöffnetem Mund an. In ihren Augen stand eine leidenschaftliche Forderung.
Er nahm ihre Hände, löste sie von seinen Schultern. „Es ist spät geworden . . .“
Eine Sekunde lang stand sie wie erstarrt. „Sie wollen doch nicht etwa . . . schon gehen?“
„Doch“, sagte er mit Festigkeit, „es war ein wunderschöner Abend . . . aber Sie wissen ja, man soll Schluß machen, wenn es am schönsten ist.“ Er zog ihre Hände an seine Lippen, küßte sie auf die Fingerspitzen. „Ich danke Ihnen . . . für alles!“
Fünf Minuten später schloß Dr. Richard Jorg sein Auto auf, setzte sich ans Steuer, ließ den Motor an und fuhr aus der Parklücke heraus.
Er war sich darüber klar, daß sein Aufbruch fast wie eine Flucht gewirkt haben mußte. Aber er bedauerte es nicht.
In den Armen der anderen hatte ihn plötzlich heiße Sehnsucht nach seiner eigenen Frau gepackt, Reue und schlechtes Gewissen. Er begriff, wie sehr er sie in den letzten Tagen gequält hatte und wie sehr sie sich immer noch, gerade in diesem Augenblick, seinetwegen quälen mußte – Inge, seine kleine Inge, die einzige Frau auf der Welt, die er wirklich liebte!
Er wollte, er mußte zu ihr, sofort, sie um Verzeihung bitten, sie versöhnen, alles wieder gutmachen.
An der Ecke Prinzregentstraße mußte er nach links einbiegen. Ein Taxi vor ihm nahm ihm die Sicht.
Der Chauffeur war herausgeklettert, riß die Tür auf, beugte sich hinein, richtete sich wieder auf, stand offensichtlich ratlos.
Dr. Jorg hatte schon das Fenster heruntergekurbelt, wollte den Fahrer zurechtweisen, als ihm auffiel, wie ungewöhnlich das Benehmen des Mannes war. Er stieg aus, trat auf ihn zu. „Etwas nicht in Ordnung?“ fragte er.
„Kann man wohl sagen! Die alte Dame ist umgekippt! Zufällig sehe ich in den Spiegel, und da rutscht sie zusammen.“
„Was für eine Dame?“
„Mein Fahrgast natürlich! Vor fünf Minuten hat sie mich angehalten und . . .“
„Lassen Sie mich mal sehen. Ich bin Arzt.“
„Na, da bin ich aber froh, Herr Doktor! Ich habe einen Schreck gekriegt, sage ich Ihnen . . .“
Dr. Jorg kletterte in das Taxi hinein, fühlte den Puls der alten Dame, die, halb vom Sitz gerutscht, dalag. Er war tastbar, aber stark verlangsamt. Er zog die Augenlider hoch, stellte fest, daß die Pupillenreaktion beidseitig vorhanden, aber ebenfalls sehr verlangsamt war.
Dann richtete er sich wieder auf.
„Hat sie’s erwischt?“ fragte der Chauffeur.
„Nein. Sie ist nur bewußtlos.“
„Sie wollte zum Bahnhof. Soll ich sie trotzdem dorthin fahren? Vielleicht kommt sie unterwegs wieder zu sich.“
„Nein. Bringen Sie sie zur Unfallklinik. Augenblick . . .!“
Er wandte sich wieder der alten Dame zu. Außer einer schwachen, kaum merkbaren Atemtätigkeit gab sie kein Lebenszeichen von sich.
„Hat sie eine Handtasche bei sich?“
„Ja doch . . . ich glaube wenigstens. So ein schwarzes großes Ding, wenn ich mich recht erinnere. Vielleicht ist sie heruntergerutscht.“
Dr. Jorg tastete den Sitz ab, dann den Boden, fand die Tasche. Sie lag zwischen den Füßen der Bewußtlosen. Er griff hinein, fand zwei leere Medikamentenröhrchen, suchte die Aufschrift bei dem schwachen Licht einer Straßenlaterne zu entziffern. Es handelte sich um ein bekanntes Schlafmittel.
Er pfiff durch die Zähne. „Verdammt noch mal“, sagte er, „habe ich es mir doch gedacht . . . ein Suicid.“
„Ein was?“
„Selbstmordversuch.“
„Und da setzt sie sich zu mir ins Taxi! Großer Gott, die Leute haben Nerven!“
„Passen Sie auf, ich werde vorausfahren . . . folgen Sie mir, so schnell Sie können!“
Ohne eine Bestätigung des Fahrers abzuwarten, lief er zurück, stieg in sein Auto, fuhr an dem Taxi vorbei, bog nach rechts ab in Richtung Unfallklinik.
Im Rückspiegel sah er, daß der andere Wagen dicht hinter ihm war.
Als die Lichter der Unfallklinik vor ihm auftauchten, atmete er auf. Er fuhr in den Hof, bremste, sprang aus dem Auto, eilte in die Ambulanz hinein, beorderte zwei Krankenpfleger zum Taxi.
Der diensthabende Arzt war gerade damit beschäftigt, den Arm eines Mannes zu verbinden.
„Schnell!“ sagte Dr. Jorg. „Ein Suicid! Der Magen muß sofort ausgepumpt werden, sonst . . .“
„Aber ich kann hier nicht fort“, sagte der junge Arzt hilflos und wies auf eine Reihe wartender Patienten.
„Dann lassen Sie jemanden aus dem Vorbereitungsraum kommen!“
„Unmöglich! Ein schwerer Autozusammenstoß auf der Sonnenstraße . . .“
„Verflucht! Dann mache ich es eben selber! Geben Sie mir wenigstens eine Schwester!“
Dr. Jorg wies die Krankenpfleger an, die Trage mit der Bewußtlosen in das Untersuchungszimmer neben der Ambulanz zu bringen, warf Mantel und Jacke über einen Stuhl, krempelte sich die Ärmel auf, wusch sich die Hände.
Die Schwester kam herein, eine ältliche, resolute Person.
„Kleiden Sie die Patientin aus, Schwester“, sagte Dr. Jorg, „heiße Tücher!“
Er riß den Schrank auf, fand einen Kittel, zog ihn über. Dann inspizierte er die Mundhöhle, stellte fest, daß die Patientin kein künstliches Gebiß trug, rief: „Magenspülung!“
Er führte die Magensonde ein, verband sie mit einem Gummizwischenstück mit dem Trichter, in den die Schwester lauwarmes Wasser einlaufen ließ. Dann hob er den Trichter, das Wasser lief langsam ein. Er senkte den Trichter, und Wasser, vermischt mit dem Mageninhalt, lief ab.
Die Schwester wiederholte diese Prozedur noch achtmal, bis der Magen völlig ausgespült war. Dr. Jorg überprüfte indessen Blutdruck, Atmung und Puls. Aber es zeigte sich kein Zeichen von Besserung. Immerhin war jedoch erreicht, daß kein weiteres Gift in die Blutbahn aufgenommen werden konnte.
„Sauerstoff!“ ordnete Dr. Jorg an.
Die Schwester reichte ihm die Nasensonde, durch die der Patientin Sauerstoff zugeführt wurde.
Dr. Jorg überprüfte die Reflexe der Patientin. Sie waren kaum noch da.
Jetzt gab es nur noch eine Möglichkeit, die alte Dame dem selbstgewählten Tod zu entreißen. Dr. Jorg mußte Gegengift spritzen, hochgiftige Substanzen, die im menschlichen Körper Muskelzuckungen und Muskelkrämpfe auslösen. Die richtige Dosierung dieser Toxine hing von der Schwere des Falles ab, sie mußte sehr behutsam und überlegt vorgenommen werden.
Aber Dr. Jorg war erschöpft.
Er zog die Spritze mit dem Gegengift auf, während die Schwester der Patientin eine Staubinde um den Arm legte. In diesem Augenblick stürzte der junge Arzt aus der Ambulanz herein. „Kann ich helfen? Ich bin . . .“
„Ja, das können Sie!“ unterbrach ihn Dr. Jorg grob. „Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie jetzt endlich den Fall übernehmen würden!“
„Aber natürlich, Herr Kollege! Ich konnte bis jetzt nur nicht, weil . . .“
Dr. Jorg schnitt ihm das Wort ab. „Der Magen ist abgesaugt“, sagte er, „auf Sauerstoff hat die Patientin nicht reagiert. Ich wollte gerade Gegengift injizieren . . .“
Er sah auf die Spritze in seiner Hand, spürte, wie ihm kalter Schweiß aus allen Poren brach – er hatte 5 ml aufgezogen, für die alte Dame eine möglicherweise tödliche Dosis!
Er hatte das Gefühl, daß die Schwester und der junge Arzt ihn entgeistert anstarrten, gewann mit äußerster Anstrengung seine Beherrschung zurück.
„Das ist denn doch wohl zuviel“, sagte er gepreßt, „2 ml genügen fürs erste. Wenn die Patientin darauf nicht anspricht, können Sie die Dosis allmählich erhöhen. Ich würde sagen, alle Viertelstunden.“
„Jawohl, Dr. Jorg“, sagte der junge Arzt.
„Wenn sie Zeichen motorischer Unruhe gibt, können Sie die Dosis wieder senken. Und vergessen Sie nicht, ihr eine Spritze zur Unterstützung des Herzmuskels zu geben, später eine Tropfinfusion mit einem Liter physiologischer Kochsalzlösung, um die Ausscheidung durch die Nieren und damit die Entgiftung des Körpers zu beschleunigen.“
„Wird gemacht“, sagte der junge Arzt munter, „und noch einmal vielen Dank, Herr Kollege, daß Sie für mich eingesprungen sind!“
„Keine Ursache“, murmelte Dr. Jorg und verließ mit schleppenden Schritten das kleine Zimmer.
Nur sehr langsam erholte er sich von seinem Entsetzen. Noch nie zuvor war ihm ein solcher Irrtum unterlaufen. Wie war es möglich, daß ihm, gerade ihm so etwas hätte passieren können?
Ihm war, als wenn er am Rande des Wahnsinns stünde.
Mitternacht war vorbei, als Dr. Jorg die Tür seines Hauses aufschloß. Er hatte erwartet, daß Inge längst zu Bett gegangen war. Aber in der Diele brannte Licht.
Dann sah er sie die Treppe heruntereilen, eine ziemlich kleine Gestalt in einem Hausanzug aus leuchtendblauem Jersey.
„Richard“, rief sie, „Liebster . . . gut, daß du endlich kommst!“ Ihr Gesicht war sehr blaß unter den blonden Locken, ihre schönen braunen Augen schienen unnatürlich geweitet.
Sie nahm seine Hand. „Bitte, komm mit nach oben! Evchen ist . . .“
Er rührte sich nicht vom Fleck. „Was ist mit dem Kind?“
„Ich weiß es nicht! Sie kam mir den ganzen Tag schon so sonderbar vor. Vor dem Schlafengehen habe ich dann Fieber gemessen . . . sie hat 38,2! Bitte, Richard, sieh sie dir an!“
„Nein“, sagte er.
Sie ließ seine Hand los, starrte ihn an. „Du willst nicht?“
„Ich kann nicht, Inge . . . glaub mir, ich kann es nicht!“ Er schlug beide Hände vor das Gesicht.
Mitleid und Angst um ihren Mann kämpften in ihr mit der Sorge um ihre Tochter.
„Richard“, sagte sie, „Richard . . . was ist geschehen?“ Sie führte ihn zu einem Sessel.
„Sag es mir“, bat sie, „sag mir alles!“
Es dauerte lange, bis er sprechen konnte. „Ich . . . bin“, sagte er schließlich mühsam, „ich habe . . . beinahe . . . einen Menschen getötet!“
„Du!?“
Sie fühlte, wie er zusammenzuckte, biß sich auf die Lippen, fügte so ruhig wie es ihr möglich war, hinzu: „Wie war denn das möglich? Ein Verkehrsunfall?“
„Nein. Selbstmord.“
Sie versuchte angestrengt, die Zusammenhänge zu begreifen, aber es gelang ihr nicht. Sie spürte nur seine übermächtige Verzweiflung und den brennenden Wunsch, ihm zu helfen.
Ganz allmählich löste sich seine Verkrampfung unter ihren sanften streichelnden Händen, Alles, was er an diesem Abend erlebt hatte, brach aus ihm heraus, erst bruchstückhaft, undeutlich, fast unverständlich, dann wie eine wahre Sturzflut.
„Du siehst“, schloß er endlich erschöpft, „ich habe versagt . . . mörderisch versagt! Ich . . . ich tauge nicht länger, Arzt zu sein!“
„Aber, Richard“, sagte sie erschüttert, „Richard . . . so darfst du die Dinge doch nicht betrachten!“
„Ich bin kein Mensch, der sich etwas vormachen kann . . .“
Sie suchte verzweifelt nach Argumenten, die sie ihm entgegenzusetzen, mit denen sie ihn beruhigen konnte. „Meinst du nicht“, sagte sie endlich, „daß jedem Arzt mal ein Fehler unterläuft? Früher oder später? Ihr seid doch schließlich auch nur Menschen.“
„Ja, man kann sich irren, das gebe ich ja zu . . . man kann eine falsche Diagnose stellen, eine verfehlte Therapie anordnen . . . aber man darf sich doch nicht so irren, einfach irren, ohne es selber zu merken! Das ist ja gerade das Unheimliche, begreifst du denn nicht? Daß ich mir überhaupt nicht bewußt geworden bin, eine zu starke Dosis aufgezogen zu haben!“
„Du hättest sie niemals wirklich gespritzt“, behauptete sie verzweifelt, „auch wenn dein Kollege nicht zufällig hereingekommen wäre . . . du hättest ganz bestimmt noch rechtzeitig bemerkt, daß du zuviel genommen hast!“
„Nein!“
„Aber woher willst du das wissen? Du prüfst doch bestimmt immer noch einmal den Inhalt der Spritze, bevor du injizierst . . . hältst sie gegen das Licht, um dich zu vergewissern, daß keine Luftbläschen drin sind, nicht wahr?“
„Das schon . . .“
„Na, siehst du! Dabei wäre es dir aufgefallen!“
„Ich weiß es nicht“, sagte er, durch ihr Vertrauen in ihn beeindruckt, „das Schlimme ist . . . ich weiß überhaupt nichts mehr.“
„Dafür aber ich“, sagte sie, „mir scheint, ich kenne dich besser als du selber!“
„Ich hätte nie für möglich gehalten, daß ich . . .“
Sie ließ ihn nicht aussprechen. „Du hast auch noch nie in diesem Zustand einen ärztlichen Eingriff vorgenommen! Denk doch auch mal daran . . . du hattest deinen Arbeitstag schon hinter dir, du hast bestimmt bei Fräulein Krüger getrunken, nicht wahr?“
„Ja“, sagte er, „ja . . .“
„Na, siehst du! Kein Wunder, daß du nicht so klar warst wie gewöhnlich! Nein, Richard, Liebster, glaube mir, du hast gar keinen Grund zu Selbstanklagen! Du machst es dir einfach zu schwer . . . jeder andere Arzt in deiner Situation wäre gar nicht mit zur Unfallklinik gefahren, und was dann? Dann wäre die alte Dame wahrscheinlich jetzt schon tot, weil man sich nicht rasch genug um sie gekümmert hätte!“
„Wenn ich das nur glauben könnte.“
„Du kannst es, Richard, glaube mir . . . es gibt keinen besseren Arzt als dich.“
Als er schwieg, beugte sie sich über ihn, streichelte ihm zärtlich die Stirn.
„Ach, Inge“, sagte er und lehnte seinen müden, schmerzenden Kopf an ihre Brust, „du bist so gut zu mir . . . so unendlich gut! Und wie habe ich mich dir gegenüber benommen in den letzten Tagen . . . wie ein wahres Scheusal!“
Sie konnte schon wieder lachen. „Scheusal! Ja, mit dieser Bezeichnung hast du den Nagel auf den Kopf getroffen!“
Sie beugte sich zu ihm herab, ihre Lippen fanden sich in einem langen, beglückenden Kuß.
Dann rutschte sie von der Sessellehne. „Bitte, Richard“, bat sie, „bitte, komm jetzt mit nach oben und sieh nach Evchen! Ich mache mir ernstliche Sorgen!“
Tatsächlich hatte sie über dem Gespräch mit ihrem Mann nicht eine Sekunde lang das fiebernde Kind vergessen, aber sie hatte begriffen, daß seine Not die schwerere war.
„Laß mich erst die Hände waschen“, sagte er.
„Ja, natürlich. Ich laufe schon voraus.“
Als er fünf Minuten später nach oben kam, saß Inge am Bett ihres Töchterchens. Ihr blondes Haar schimmerte im Licht der Nachttischlampe. Die bunten Märchenfiguren an den Wänden, die winzigen Möbel, der Puppenwagen neben dem Bettchen und der Teddybär auf der Kommode gaben dem Zimmer eine verspielte, trauliche Atmosphäre. Es schien unvorstellbar, daß Krankheit und Kummer hier jemals Einzug finden konnten.
Inge sah auf, als er eintrat, sagte: „Sie schläft . . . ist das ein gutes Zeichen?“
Er lächelte ihr beruhigend zu. „Ich glaube schon!“ Er trat näher, öffnete seine Bereitschaftstasche. „Aber ich fürchte, wir müssen unseren Schatz wecken!“
Inge beugte sich tiefer über ihre kleine Tochter, faßte sie bei den Schultern. „Evchen“, sagte sie, „Evchen . . . Papi ist da! Wach auf . . . Papi will mit dir spielen!“
Verschlafen öffnete Evchen die blauen Augen. Ihr Blick schien aus weiter Ferne zu kommen. Dann erkannte sie den Vater, und ein Leuchten überflog ihr glühendes Gesichtchen. Sie streckte beide Ärmenen aus. „Papi . . . Papi!“
„Ja, mein Liebling . . . Papi ist da!“ Er hob sein Töchterchen aus dem Bett, nahm es hoch, drückte ihr heißes Gesichtchen an seine Wange.
„Papi will schauen, wie es dir geht!“
Evchen packte die Nase des Vaters, zupfte daran und krähte vor Vergnügen, als er eine komische Grimasse zog – das war eines der Lieblingsspiele von Vater und Tochter.
Er lächelte Inge über den Kopf der Kleinen zu. „Sehr elend scheint sie sich wirklich nicht zu fühlen! Aber wir werden sehen . . .“ Er legte das Kind in ihre Arme, holte einen hölzernen Spachtel und eine kleine Lampe aus seiner Tasche.
„Mund auf, junge Dame“, kommandierte er, „ganz weit . . . sooo!“
Rasch schob er den Spachtel auf ihre Zunge, drückte sie herunter, leuchtete in ihren Hals. „Mach mal ah, Evchen . . . aaaahhh! Ganz laut!“
Das Kind gab einen Laut von sich, der nur wenig Ähnlichkeit mit dem gewünschten Ah hatte, aber Dr. Jorg gab sich zufrieden. Er zog den Spachtel heraus, knipste die Lampe aus.
„Das genügt, meine Süße . . . du kannst dein Mäulchen wieder zuklappen!“
„Was ist?“ fragte Inge besorgt.
Er antwortete nicht. „Zieh ihr das Nachthemd aus“, sagte er, „ich möchte eine Auskultation vornehmen!“
Er holte das Stethoskop aus der Tasche. „Jetzt wird’s kalt, Evchen“, sagte er, „du mußt nicht erschrecken . . .“
Dennoch zuckte das Kind zusammen, als das kalte Metall ihre kleine Brust berührte, verzog das Gesichtchen.
„Nicht weinen, Schatz“, sagte Inge rasch, „der Papi will horchen, wie dein Herzchen schlägt, und wenn du weinst, kann er nicht verstehen, wie es klopf, klopf, klopf macht!“
Dr. Jorg horchte Herz und Lunge ab, erst von der Brust, dann vom Rücken her. Inge beobachtete ihn mit gespannter Aufmerksamkeit.
Endlich richtete er sich auf. „Nichts“, sagte er, „alles in Ordnung . . .“
„Aber . . . wieso hat sie dann Temperatur?“
„Rachen und Mandeln sind leicht gerötet. Das kann alles mögliche bedeuten, in diesem Stadium ist das noch nicht festzustellen. Ich möchte annehmen, daß sie einen mehr oder weniger starken Schnupfen bekommen wird. Du weißt ja, Kinder fiebern sehr viel rascher als Erwachsene . . .“
„Soll ich sie wieder anziehen?“
„Warte noch, ich gebe dir was, damit du Rücken und Brust einreiben kannst . . .“ Er kramte in seiner Tasche, reichte ihr eine Dose. „Und dann noch hier diese Tropfen für die Nase. . . dadurch schwellen die Schleimhäute ab, und sie tut sich leichter beim Atmen.“
Inge war schon dabei, die Kleine einzureiben. „Ach, Richard“, sagte sie, „ich bin ja so froh . . . glaubst du wirklich, daß es nichts Schlimmes wird?“
„Höchstens eine Kinderkrankheit. Aber, wie gesagt . . . ich tippe eher auf eine tüchtige Erkältung!“
Er gab Evchen selber die Nasentropfen, die ihr anscheinend gar nicht paßten. Inge zog die Kleine an, wickelte sie fest in ihre Bettdecke.
Evchen plapperte noch eine Weile vor sich hin, aber noch bevor ihre Eltern das Zimmer verließen, war sie schon fast wieder eingeschlafen.
„Ach, Richard“, sagte Inge, während sie hinter ihm die Treppe hinunterlief, „du ahnst nicht, wie glücklich ich bin . . .“
Er drehte sich, unten angekommen, zu ihr um, breitete die Arme aus, und sie flog die letzten Stufen hinunter und an seine Brust.
„Daß du wieder zurückgekommen bist . . .“, flüsterte sie.
Er verstand sie sehr gut, aber er setzte sich gegen die Rührung zur Wehr, die ihn selber zu überwältigen drohte. „Hattest du geglaubt, ich würde für immer bei dieser Olga bleiben?“ fragte er neckend.
„Sag mir, daß du dir nichts aus ihr machst . . . nicht das geringste! Schwöre es mir!“
Sein Mund berührte ihr seidenweiches Haar, ihr Ohrläppchen, ihren Nacken. „Immer noch eifersüchtig?“
„Nnnein . . .“, sagte sie, aber es klang durchaus nicht überzeugend.
Er verschloß ihren Mund mit einem Kuß, einem glühenden, zärtlichen, leidenschaftlichen Kuß, der alles, was bisher noch zwischen ihnen gestanden hatte, auflöste und wegschwemmte.
„Richard“, stammelte sie atemlos, „Liebster . . .“ Weich und hingebungsvoll lag sie in seinen Armen.
Er hielt sie fest, ganz fest, als wenn er fürchten müßte, sie zu verlieren, „Ich liebe dich . . . Inge, meine kleine Inge . . . ich liebe dich so . . .“
Und er liebte sie wirklich, in dieser Sekunde vielleicht mehr als je zuvor, war ganz erfüllt von dem heißen Wunsch, ihr seine Liebe zu zeigen, sie ganz zu besitzen, sie alles, was sie entfremdet hatte, vergessen zu lassen.
Er hob sie hoch, eine leichte, warme, bebende Last, trug sie ins Schlafzimmer – und beide glaubten, daß alles gut werden, daß sie die Kraft haben würden, alle Schatten zu überwinden.
Ihre Herzen schlugen im gleichen Rhythmus, ihre Körper drängten zueinander, sie fieberten der Erfüllung entgegen . . .
Aber es kam ganz anders, als Dr. Richard Jorg und seine junge Frau es erhofft und ersehnt hatten. Ihre Liebe fand keine Erlösung – er war ein Mann, und er hatte vesagt, zum erstenmal in seinem Leben.
Das graue Licht des frühen Wintertages drang schon ins Schlafzimmer, als sie immer noch wach lagen, nebeneinander und doch unendlich weit voneinander entfernt. Sie waren aufgewühlt, verstört, fühlten sich zerschlagen und gedemütigt, wagten nicht, einander anzusehen oder sich zu berühren.
„Es hat nichts zu bedeuten“, sagte sie endlich. „Was ist denn schon passiert? Gar nichts. Es ist wirklich dumm von uns, ein Drama daraus zu machen . . .“ Ihre Stimme erstickte, sie konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Sie gab sich krampfhafte Mühe, es ihn nicht merken zu lassen, weinte lautlos in sich hinein.
Aber er hörte es doch. Er streckte den Arm nach ihr aus, zog sie an seine Brust. „Weine nur“, sagte er, „sei froh, daß du weinen kannst. Glaubst du, ich versteh nicht, wie dir zumute ist?“
Ihre Tränen benetzten seine nackte Brust. „Ich liebe dich, Richard“, schluchzte sie, „glaub mir doch . . . ich liebe dich so!“
„Ich dich auch, mein Kleines. Aber es wäre besser, wenn es anders wäre. Ohne Liebe wäre alles viel leichter zu ertragen, wenn wir keine Sehnsucht nach einander hätten.“ Er hielt seine weinende Frau fest umschlungen und starrte in die graue Dämmerung, die wie eine Drohung war.