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Eine tolle Überraschung

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Zum Abendessen versammelten sich alle Rabensteiner, Mädchen und Jungen, in dem großen Speisesaal in der Burg. Er hatte hohe gotische Spitzbogenfenster, die ihm etwas Feierliches gaben. Im krassen Gegensatz dazu standen die einfachen langen Tische, an denen gegessen wurde. Sie waren mit frisch ausgelegtem Papier bedeckt. Einige der Stühle hatten wacklige Beine, andere waren schon einmal zusammengekracht und wieder geleimt worden.

Den Rabensteinern war der Gegensatz zwischen der historischen Architektur und dem bescheidenen Mobiliar so vertraut, daß sie ihn gar nicht mehr beachteten. Sie interessierte es nur, was es zu essen gab; Brot, Butter, Wurst, Käse und heißen, schwarzen, stark gesüßten Tee, der in riesigen Blechkannen herumgetragen wurde.

Man saß in einer bestimmten Ordnung an den Tischen, die jeweils einer anderen Aufsicht unterstanden. Leona, Ute, Sabine und Alma hatten das Glück, dem gleichen Tisch zugewiesen worden zu sein. Bei ihnen saßen auch zwei sehr attraktive große Jungen, der braunhaarige, braunäugige Andreas München und der rothaarige Jochen Schmitz, die sich aber beide überhaupt nicht für Mädchen interessierten – jedenfalls nicht für die Mädchen aus dem Landschulheim. Auch Klaus Voss, der Clown, saß bei ihnen, während Kurt Büsing von einem anderen Tisch aus Leona Zeichen zu geben versuchte, die sie jedoch nicht verstand. Tina Wegner, die junge Erzieherin und Sportlehrerin, führte die Aufsicht. An diesem ersten Abend merkte man wenig davon, denn da sie verstand, daß die jungen Leute sich viel zu erzählen hatten, ließ sie sie reden.

Alle sprachen so lebhaft miteinander und durcheinander, daß es eine ganze Weile dauerte, bis Leona darauf aufmerksam wurde, daß der Neue hinter Frau Wegner stand.

„Na und?“ fragte sie.

Jetzt wurde auch die Erzieherin aufmerksam und drehte sich zu dem Jungen um.

„Isch“, sagte er, wobei er ch wie sch aussprach, „soll hier sitzen.“

Das eben noch so lebhafte Gespräch verstummte, und alle sahen ihn an.

Durch dieses Schweigen fühlte er sich abgelehnt und wurde zornig. „Pauline!“ rief er, wobei er den Namen französisch aussprach, so daß aus dem au ein o wurde. „Pauline hat es gesagt!“

Die anderen waren zuerst verdutzt, dann brachen sie in ein Gelächter aus.

„Was sein daran so komisch!?“ schrie Gaston. „Pauline sagte …“

Tina Wegner fiel ihm ins Wort. „Bleib ruhig, Junge, es besteht kein Grund zur Aufregung, wirklich nicht! Nur … es gibt bei uns keine Pauline.“

Gastons schwarze Augen glühten. „Gibt es nicht!? Mais oui! Madame la directrice …“

„ … heißt Eulau! Frau Helga Eulau!“

Leona fühlte sich, als sie das völlig verständnislose Gesicht des fremden Jungen sah, zu einer Erklärung bemüßigt. „Pauline ist nur ihr Spitzname“, sagte sie langsam und überdeutlich, „weil ihr Mann mit Vornamen Paul heißt …!“ Als sie merkte, daß er immer noch nicht begriff, wiederholte sie: „Pauline ist …“ Sie hatte seit dem Herbst Französisch als zweite Fremdsprache bekommen, aber die Übersetzung für Spitzname wollte ihr nicht einfallen.

„Un sobriquet?“ fragte Gaston.

Leona hatte den Ausdruck noch nie gehört. „Wenn du es sagst, wird’s schon stimmen.“

Anstatt sich zu beruhigen wurde Gaston noch zorniger. „Oh, ihr Deutschen!“ rief er. „Ihr seid grausam!“

„Ach was, Quatsch mit Soße“, entgegnete Ute gelassen, „du mußt einfach lernen, Spaß zu verstehen.“

„Das meine ich auch“, stimmte Frau Wegner ihr zu, „also steh nicht länger herum, Gaston, nimm dir einen Stuhl und setz dich zu uns.“

Es gab einen freien Platz am Tisch, und der war zwischen Andreas und Jochen, Leona und Ute gegenüber. Auf den setzte Gaston sich mit finsterem Gesicht, ohne jedoch Anstalten zu machen, sich ein Brot zu streichen. Statt dessen saß er, die Arme übereinandergeschlagen, die Augen niedergeschlagen, einfach da.

Die Freundinnen tuschelten miteinander.

„Ist er nicht süß?“ wisperte Ute.

„Er benimmt sich wie ein Fünfjähriger!“ gab Leona abfällig zurück.

„Aber er ist mindestens fünfzehn.“

Ob Gaston nun verstanden hatte, was die beiden sagten, oder ob er auch nur gemerkt hatte, daß über ihn geredet wurde, jedenfalls drehte er mit einem Ruck den Stuhl um und setzte sich mit dem Rücken zum Tisch.

„Gaston“, sagte Frau Wegner, „ich muß doch sehr bitten!“

Der Junge reagierte überhaupt nicht.

„Ob du mit uns essen willst oder nicht, ist deine Sache“, fuhr die Erzieherin fort, „aber daß du dich anständig hinsetzt, darf ich doch wohl erwarten!“

Gaston blieb bei seiner Haltung, die seine Ablehnung gegen die Rabensteiner und ihre Gebräuche überdeutlich zum Ausdruck brachte.

„Bitte!“ forderte Tina Wegner energisch.

„Sei doch nicht blöd!“ sagte Leona.

Andreas und Jochen versuchten es erst gar nicht mit Worten; sie standen auf, rollten die Hemdsärmel hoch, mimten Möbelpacker und drehten Gaston mitsamt seinem Stuhl einfach um. Er versuchte nach ihnen zu treten.

Jochen hielt ihm die geballte Faust unter die Nase. „Lieber nicht, Kleiner, ich warne dich. Wenn du dich mit uns prügeln willst, sollst du gleich nach dem Essen Gelegenheit dazu haben, aber im Freien und nicht in Anwesenheit von Damen.“

„Laissez-moi tranquille!“ schrie Gaston aufgebracht.

Darauf erwiderte Andreas in seinem breitesten Bayrisch: „Dei Ruah koanst hab’n, wannst du a Ruah gibst!“

Alle lachten – alle außer Gaston, der gar nichts auf Rabenstein komisch fand, Andreas wahrscheinlich auch nicht verstanden hatte.

Kurt Büsing kam zu dem Tisch, an dem Tina Wegner den Vorsitz hatte.

„Alle mal herhören!“ sagte er, nicht ohne Wichtigtuerei. „Nach dem Essen ist große Versammlung in der Aula!“

„Wat soll dat dann?“ fragte Jochen Schmitz recht rheinisch.

Aber auch die anderen wunderten sich und fragten: „Warum?“ – „Wieso?“ – „Was hat das zu bedeuten?“

Kurt Büsing zuckte die runden Schultern. „Keine Ahnung. Es ist uns durchgegeben worden, und ich melde es weiter.“

Alle fanden es höchst merkwürdig, daß gleich am Tag ihrer Rückkehr aus den Ferien eine Schülerversammlung abgehalten werden sollte; es lagen ja gar keine Probleme in der Luft. Die meisten hätten sich lieber in kleinen Gruppen zusammengefunden und sich von ihren Erlebnissen erzählt. Aber andererseits war eine Zusammenkunft, deren Anlaß sie nicht kannten, auch hochinteressant. Die Unterhaltung wurde sofort lebhafter, das Essen – ohne daß sie es merkten – schneller hinuntergeschlungen als gewöhnlich.

Leona war als erste fertig und sprang auf. „Ich hab’s!“

„Leona, bitte“, mahnte Frau Wegner, „wie oft habe ich schon gesagt, daß wir uns erst erheben, wenn alle ihre Mahlzeit beendet haben und ich das Zeichen gebe?“

„Warum denn einfach, wenn es auch umständlich geht“, maulte Leona und ließ sich wieder auf den Stuhl sinken.

„Immer langsam mit den jungen Pferden!“ tröstete Ute sie. „Was hast du schon davon, wenn du als erste in der Aula bist? Der Uhu wird doch erst reden, wenn alle versammelt sind.“ – „Uhu“ war Direktor Eulaus Spitzname, und niemand dachte sich etwas Böses dabei, wenn er ihn benutzte.

„Na eben! Deshalb bin ich der Meinung, daß wir uns beeilen sollten.“

„Das tun alle ja sowieso schon.“

Ute legte Leona beschwichtigend die Hand auf den Arm und hielt sie auch noch zurück, als die Erzieherin aufgestanden war.

„Langsam, ganz langsam“, riet sie, „nur die Ruhe kann es bringen. Du wirst sehen, die fangen nicht an, bevor wir da sind!“

Die ungeduldige Leona ließ sich von Ute beeinflussen, und so kam sie zu dem Vergnügen zuzusehen, wie die anderen sich gegenseitig knuffend und tretend durch die Tür drängten. Diese Tür war breit genug, aber mehr als zwei Menschen konnten eben doch nicht gleichzeitig hindurch. Wenn mehr als hundert eilig hinaus wollten, war sie entschieden zu schmal. Auch Gaston wurde, so blasiert er auch tat, von dem allgemeinen Gedränge und Geschiebe mitgerissen.

Leona und Ute schafften es, als letzte den gotischen Saal mit den bunt verglasten Spitzbogenfenstern zu betreten, die Aula von Burg Rabenstein. Auf dem Podium, das der Theatergruppe zu der Weihnachtsaufführung als Bühne gedient hatte, war jetzt ein Rednerpult zu sehen. Auf das stützte sich Direktor Eulau, ein sehr gelassener, überlegener und humoriger Mann Anfang Fünfzig, mit dem Ellbogen, das Kinn in der Hand. Es herrschte jene erwartungsvolle Stille, die einem allgemeinen Stimmengesumm zu folgen pflegt. Alle Blicke, außer dem des Direktors, waren nach vorn gerichtet.

Er sah Ute und Leona an, die gemütlich hereingeschlendert kamen. „Wenn die letzten jungen Damen so liebenswürdig wären, sich jetzt auch ein Plätzchen zu suchen …“

Alle Köpfe flogen zu ihnen herum, und Leona errötete, als sie sich so im Mittelpunkt der allgemeinen Aufmerksamkeit fand.

Ute hingegen sagte laut und ohne eine Spur von Verlegenheit: „Aber gewiß doch, Herr Direktor!“

Da alle Stühle besetzt waren – oder auch nur besetzt schienen –, zog sie die Freundin in eine der Fensternischen, die, wegen der dicken Mauern, wie überall auf der Burg sehr breit waren. Die Mädchen machten es sich dort bequem, indem sie die Beine anzogen und die Knie mit den Armen umschlangen.

„Nun denn!“ Direktor Eulau wandte seine Augen von ihnen ab und der Allgemeinheit zu. „Zuerst einmal möchte ich euch alle begrüßen und euch dazu beglückwünschen, wieder auf Rabenstein eingetroffen zu sein!“

Diese Bemerkung wurde mit allgemeinem Gelächter quittiert. Nur Gaston lachte nicht. Er saß mit finsterer Miene und untergeschlagenen Armen da.

„Kiek dir den an!“ raunte Ute der Freundin zu.

„Wahrscheinlich versteht er nicht richtig.“

„Na und? Man lacht doch trotzdem mit, wenn die anderen lachen.“

Weiter kam diese kleine private Unterhaltung nicht, denn Direktor Eulau hatte in seiner Ansprache schon fortgefahren. „Wie ihr sicher alle wißt, sind im bayrischen Schuljahr zehn Wandertage eingeplant.

„Ich habe noch nie einen auf Rabenstein erlebt!“ rief Ute keck dazwischen.

„Sehr richtig“, stimmte der Direktor ihr freundlich zu, „konntest du auch nicht, weil wir diese Wandertage zu sammeln pflegen.“

„Ich bin platt!“ raunte Ute der Freundin zu. „Verstehst du das?“

„Sei stad!“ gab Leona zurück. „Hör lieber zu!“

„Wir sammeln sie“, fuhr der Direktor fort, „und machen daraus Skiferien. Jeder Rabensteiner, der schon einige Jährchen bei uns ist, weiß das!“

„Du?“ fragte Ute.

Leona schüttelte den Kopf.

„Gewöhnlich warten wir bis Ende Januar, Anfang Februar ab, weil da die Schneeverhältnisse am günstigsten sind. Aber niemand kann in die Zukunft sehen, selbst ich nicht …“

Wieder erntete er Gelächter.

„Deshalb habe ich mich, nicht ohne vorher Rücksprache mit meinen verehrten Kolleginnen und Kollegen zu nehmen, entschlossen, die Skiferien gleich jetzt zu beginnen, im Anschluß an die Weihnachtsferien…„

Brausender Beifall kam auf.

„Denn eines steht fest“, fuhr der Direktor, sich mühsam Ruhe verschaffend, fort, „jetzt haben wir Schnee und wir sollten ihn nutzen. Natürlich tut’s mir leid für die, die ganz versessen aufs Lernen sind …“

Wieder Gelächter und Beifall.

„Aber ich nehme an, daß die Mehrzahl von euch mit meinem Vorschlag einverstanden ist. Also … morgen ist kein Unterricht. Wir treffen uns mit den Skiern um neun Uhr am Hang. So, das war’s.“

Direktor Eulau wollte das Rednerpult schon verlassen, als durch den Jubel eine heftige Stimme laut wurde: „Je ne veux pas!“

„Wie bitte?“ fragte er, sah sich suchend in der Aula um und pickte sogleich den Rufer heraus, weil schon andere zu ihm hinsahen.

Gaston war aufgesprungen. „Ich will nicht!“ erklärte er, sehr sorgsam artikulierend.

„Was willst du nicht?“

„Ski fahren! Ich ’asse den Schnee …“

Seine Worte gingen fast im Gelächter der anderen unter.

Aber er ließ sich nicht beirren. „ … und ich ’asse diese unnütze körperliche Übung.“

„Dann hättest du nicht nach Rabenstein kommen sollen“, rief Kurt Büsing ihm zu, „sondern lieber nach Plön an den Plöner See. Da gibt es auch ein sehr gutes Internat … fast ohne Schnee und garantiert ohne Berge.“

Er erntete Gelächter.

„Aber da du nun einmal hier bist“, erklärte Direktor Eulau, „mußt du dich schon unseren Gebräuchen anpassen.“

„Ich will lernen, aber nicht …

„Hast du vielleicht keine Skier?“

„Doch“, mußte Gaston zugeben, „mein Vater ’at sie mir gekauft.“

„Weil er wünscht, daß du hier auch Ski laufen sollst. Er hat es mir ausdrücklich gesagt.“

„Aber ich bin kein petit enfant … kein kleines Kind mehr, das man kann forcer à …“ Er suchte nach dem deutschen Ausdruck. „ … zwingen kann zu tun dies und zu tun jenes …“

Klaus Voss lachte. „Es soll dir nie was Schlimmeres passieren als Ski laufen zu müssen!“

Die anderen stimmten in sein Lachen ein.

„Ich glaube, daß ist kein Thema für eine allgemeine Versammlung“, sagte Direktor Eulau, „komm anschließend in meine Wohnung, Gaston. Dort können wir in Ruhe darüber sprechen.“ Sich an die Allgemeinheit wendend, fügte er hinzu: „Das war es, was ich euch sagen wollte! Einen schönen, guten Abend weiterhin!“

„Danke, Herr Direktor!“ riefen die Schüler und Schülerinnen und verzogen sich vergnügt schwatzend aus der Aula.

Leona, die sich nur zu gut noch an ihre erste schwere Zeit im Landschulheim erinnerte, legte Gaston, der von der Menge vor ihr hergeschoben wurde, die Hand auf die Schulter. „Mein lieber Junge …“, setzte sie in schönster Rabensteiner Manier an.

Er fuhr herum und fauchte: „Ich bin niemandes lieber Junge!“

Leona war bei soviel Widerborstigkeit sprachlos.

Ute kam ihr zur Hilfe. „Na, das hast du aber sehr gut herausgebracht“, sagte sie und fuhr betont fort: „Mein lieber Gaston! Anscheinend bist du der deutschen Sprache sehr viel mächtiger, als du tust!“

„Laissez-moi tranquille!“ gab er heftig zurück.

„Das habe ich schon einmal von dir gehört“, erwiderte Ute ganz gelassen, „ich finde, du wiederholst dich!“

Inzwischen hatte Leona sich gefaßt und setzte zu einem zweiten Versuch an. „Gaston, ich wollte dir bloß sagen, daß es eine große Ehre ist, zum Uhu in die Wohnung geladen zu werden. Normalerweise handelt er alles im Büro ab.“

Gaston zuckte nur verächtlich mit den Achseln.

„Laß ihn, Leona“, rief Ute, „wem nicht zu raten ist, dem ist auch nicht zu helfen.“

„Wie wahr!“

Jung und verliebt im Landschulscheim

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