Читать книгу Damals war ich siebzehn - Marie Louise Fischer - Страница 6

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Magdalene und Evelyn fuhren mit dem Vorortzug nach Köln. Evelyn hatte vorgeschlagen, die Hohe Straße hinauf und hinab zu schlendern.

Aber es wurde nicht viel aus dem Schaufensterbummel. Evelyn war unruhig, drängte voran. Auch Magdalene war ganz von ihren eigenen Sorgen gefangen, sie hielt es nicht lange durch, Interesse für modische Neuheiten zu heucheln. Mutter und Tochter fühlten deutlich, dass sie an einem Wendepunkt ihrer Beziehungen angelangt waren.

»Ich glaube, ich werde müde«, behauptete Evelyn, kaum, dass sie zwanzig Minuten unterwegs waren, »und ich habe große Lust auf ein Eis. Wollen wir nicht irgendwo hineingehen?« Magdalene stimmt sofort zu. »Gern. Sobald wir an ein Lokal kommen.«

»Ach, lass uns lieber umkehren. Bis zum Café am Dom halte ich es noch aus. Dort ist das Eis sehr gut.«

Magdalene sah ihre Tochter von der Seite an, aber sie sagte nichts. Sie begriff, dass dort der Treffpunkt, war. Neben Evelyn überquerte sie die schmale belebte Straße und trat den Rückweg an.

Ihr war sehr unbehaglich zumute. War es nicht unfair, Hoffnungen zu erwecken, die sie nie erfüllen konnte? Hätte sie sich überhaupt auf dieses Unternehmen einlassen sollen? Aber sie konnte doch nicht die Hände in den Schoß legen und mit ansehen, wie Evelyn in ihr Unglück lief. Doch war dieser junge Mann wirklich Evelyns Unglück? Hatte sie selbst nicht vielleicht eine harmlose Liebelei dramatisiert?

Ein Blick auf Evelyns entschlossenes, sehr gespanntes Profil machte ihr klar, dass sie im Begriff stand, sich zu belügen. Es ging um mehr als einen Flirt, und sie, die Mutter, trug die Verantwortung, dass ihr Kind keinen Schaden dabei nahm.

Die große Terrasse neben dem Café war gut besetzt. Aber sie hatten Glück. Gerade als sie sich suchend umsahen, wurde ein Tisch nahe der Balustrade frei.

Magdalene bestellte für sich eine Portion Tee, für Evelyn einen Früchtebecher mit Sahne. Sie wussten nichts miteinander zu reden. Magdalene zündete sich eine Zigarette an, sah zu dem mächtigen Dom hinüber, beobachtete das Vorbeifluten der Passanten, ohne doch wirklich etwas zu sehen. Sie spürte Evelyns wachsende Nervosität.

Plötzlich überfiel sie jähe Hoffnung. Wenn der Junge nun nicht kam – wenn er das Zusammentreffen mit ihr, Evelyns Mutter, scheute? Für Evelyn würde es ein Schlag sein, gewiss. Aber wie viel würde ihr erspart bleiben! Und sie würde ganz in ihrer Nähe sein, bereit, sie in ihre Arme zu nehmen und sie zu trösten, wie sie es oft getan hatte, als Evelyn noch ein kleines Mädchen war.

Schon senkte sich die Sonne, und es wurde kühl. Evelyn fröstelte in ihrem leichten Frühjahrskleid.

Magdalene sah es. »Meinst du nicht, wir sollen gehen?« sagte sie und berührte sacht Evelyns eiskalte Hand.

Aber die antwortete nicht. Ihre Augen leuchteten auf, sie sah zum Eingang der Terrasse hin. Ohne dass ein Wort gefallen war, wusste Magdalene, dass er kam …

Unwillkürlich zog sie ihre Hand zurück.

Erst als Evelyn strahlend sagte: »Das ist Hans Hilgert, Mama«, blickte sie auf.

Sie sah einen hoch gewachsenen jungen Mann in einem schlichten Anzug, braune Augen, die unter kräftigen Brauen sie mit entwaffnender Offenheit anblickten, einen gut geschnittenen Mund, ein festes Kinn mit einem Grübchen.

»Bitte, setzen Sie sich«, sagte sie, außerstande, sich zu einem Lächeln zu zwingen, und dann, als er auf dem weiß gestrichenen Stuhl Platz genommen hatte, fügte sie hinzu: »Habe ich Sie nicht schon irgendwo gesehen?«

»Natürlich, Mama«, erklärte Evelyn rasch, »Hans war mit am Flugplatz, als wir ankamen. Der Unteroffizier, du weißt doch.« »Ach so«, sagte Magdalene nur und wandte den Blick ab, um den Jungen nicht in Verlegenheit zu bringen.

»Aber das ist nicht wie früher, Mama«, sagte Evelyn eifrig, »er kann noch Offizier werden. Mit Sonderlehrgängen. Nicht wahr, Hans?«

»Vielleicht gestattest du Herrn Hilgert erst einmal etwas zu sich zu nehmen, Evelyn«, sagte Magdalene bemüht, das Gespräch auf einen normalen Unterhaltungston zu bringen.

»Möchten Sie sich etwas bestellen? Vielleicht ein Eis?«

»Dann nehme ich auch noch eines«, sagte Evelyn.

»Lieber nicht, Evi«, sagte Hans Hilgert, und war das erste Mal, dass er in diesem Beisammensein zum Sprechen kam, »es ist schon zu kühl zum Eisessen. Du siehst ganz verfroren aus.«

Obwohl sie versuchte, sich dagegen zu wehren, nahm diese Fürsorge Magdalene für den jungen Mann ein. Sie spürte instinktiv, dass an der Ehrlichkeit seiner Gefühle für Evelyn nicht zu zweifeln war.

»Dann einen Kognak«, sagte Evelyn. Magdalene stimmte zu. »Ich glaube, ein Kognak wird uns allen dreien gut tun.« Sie winkte einem der Ober, bestellte, bat gleichzeitig um die Rechnung.

Sie wandte sich an Hans Hilgert. »Sie sind Flieger?«

»Ja. Ich bin als Pilot ausgebildet. Natürlich würde ich alles versuchen, mich zum Bodenpersonal versetzen zu lassen. Ich weiß, dass Evi keine Aufregung vertragen kann, obwohl …«, fügte er mit einem kleinen Lächeln hinzu, »Fliegen heutzutage nicht mehr gefährlicher ist als Auto fahren.«

Magdalene erstarrte. So weit waren die beiden also schon! Sie schienen sich ganz feste Pläne für ihre Zukunft gemacht zu haben.

Hans Hilgert erriet ihre Gedanken. »Ich bin sehr froh, dass Sie mir Gelegenheit geben, mit Ihnen zu sprechen, gnädige Frau«, sagte er. »Es ist wahr, Evi und ich möchten heiraten. Bitte, denken Sie jetzt nicht, ich sei unverschämt …«

Magdalenes Mund war trocken. »Wie alt sind Sie?« fragte sie, und ihre Stimme klang ungewohnt rau.

»Einundzwanzig.«

»Evelyn ist siebzehn. Finden Sie nicht, dass Sie beide für Heiratspläne noch reichlich jung sind?«

»Nein«, erwiderte er ruhig.

»Sie wissen vielleicht nicht, wie verwöhnt meine Tochter ist.« Hans Hilgert zog die kräftigen Augenbrauen zusammen. »Natürlich kann ich ihr das nicht bieten, was sie gewohnt ist. Wir haben darüber gesprochen. Aber ich glaube nicht – und Evi glaubt es auch nicht –, dass das Glück durch Luxus erkauft werden kann.«

»Von Luxus hat hier niemand gesprochen«, sagte Magdalene gereizt.

»Entschuldigen Sie. Vielleicht habe ich dieses Wort falsch gewählt. Aber Evi sagte mir, dass Sie ein Vermögen mit in die Ehe gebracht haben, und Oberst Rott hat eine Position, wie ich sie sicher nie erreichen werde. Ich meinte nur das, sonst nichts.«

»Und was könnten Sie meiner Tochter bieten?«

»Aber Mama«, sagte Evelyn, »du redest so altmodische Dinge. Natürlich verdient Hans genug, um eine Frau zu ernähren. Und eine Wohnung könnt ihr uns wirklich kaufen. Das wäre doch nicht zu viel verlangt. Außerdem habe noch den Schmuck von Großmutter.«

»Du vergisst, dass du ohne unsere Einwilligung gar nichts unternehmen kannst.«

»Das habe ich keinen Augenblick vergessen«, sagte Evelyn und sah ihre Mutter mit flammenden Augen an, »sonst würde ich nämlich gar nicht mit dir diskutieren. Du verlangst dauernd, dass wir unsere Pläne verteidigen sollen. Nenn mir nur einen einzigen vernünftigen Grund, warum ich Hans nicht heiraten soll.«

»Weil du noch zu jung bist. Viel zu jung, um zu wissen, wo dein wahres Glück liegt.«

»Du irrst dich. Ich habe es dir und Papa zu verdanken, dass ich keineswegs weltfremd erzogen worden bin. Ich habe niemals Scheuklappen vor den Augen gehabt. Ich habe viele Liebesgeschichten mit angesehen, die unglücklich ausgegangen sind und viele unglückliche Ehen. Aber niemals ist das Geld daran schuld gewesen.«

Der Kellner brachte ein Tablett mit den Kognaks, Magdalene bezahlte. Sie tranken alle drei, ohne sich anzusehen.

»Ich verlange gar nicht, dass du auf deine Liebe verzichtest«, sagte Magdalene, »ich möchte nur, dass du dich prüfst. Ich habe dir vorgeschlagen, mit mir zusammen auf ein paar Monate zu verreisen.«

»Aber ich will nicht!« rief Evelyn. »Meinst du, ich durchschaue nicht, was du vorhast? Erst fährst du mit mir fort. Irgendwohin, vielleicht an die Riviera. Dort versuchst du mich abzulenken, damit ich Hans vergesse. Wenn du siehst, dass dir das nicht gelingt, ziehst du den Aufenthalt hinaus. Und dann, plötzlich kommt ein Telegramm von Papa, dass er sich wieder zum Außenministerium hat versetzen lassen, und dass wir uns alle im Kongo oder in Oslo oder was weiß ich wo treffen sollen.«

»Aber wenn ich dir schwöre, dass ich an nichts dergleichen gedacht habe …«

»O doch. Das hast du. Dir hat es ja vom ersten Augenblick an in Deutschland nicht gefallen. Du bearbeitest Papa dauernd, sich doch wieder versetzen zu lassen.«

»Doch nicht deinetwegen, Kind!«

»Die Wirkung ist für mich dieselbe. Du hast bei Papa immer durchgesetzt, was du wolltest. Aber diesmal wehre ich mich. Es geht um mein Glück, Mama, und das werde ich mit allen Kräften verteidigen.«

Nach diesem Gespräch verbrachte Magdalene eine schlaflose Nacht. Sie lauschte auf die ruhigen Atemzüge ihres Gatten und starrte in die Dunkelheit Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so verlassen gefühlt. – Aber nein, das stimmte nicht. Damals, als Jan Mirsky sich von ihr abgewandt hatte, als er sie mit jenem zynischen Lächeln hatte fallen lassen, das sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen würde, war alles noch viel schlimmer gewesen.

Sollte sie nicht glücklich sein, dass eine solche Erfahrung Evelyn sicher erspart bleiben würde? Evelyn war jung – aber war sie wirklich zu jung? Singh Ree hatte ihr versichert, dass das Leben ihrer Tochter unter einem Glücksstern stand, der alle Fährnisse immer wieder zum Guten wenden würde. Auch Hans Hilgert war jung. Er gehörte nicht in ihre Kreise, er war mittellos, aber er wirkte verlässlich. An seiner Liebe zu Evelyn bestand kein Zweifel.

Warum wagte sie nicht, dem Schicksal zu vertrauen?

Sie war nahe daran, ihren Mann zu wecken und über alles mit ihm zu sprechen. Aber dann überlegte sie es sich anders. Es hatte keinen Zweck, bevor sie selbst keinen festen Standpunkt hatte. Erst musste sie Erkundigungen über den jungen Mann einziehen.

Aber sie wusste nicht, wie sie das anfangen sollte, ohne jemand ins Vertrauen zu ziehen.

Helga Gärtner? Lieber nicht, sie wusste schon viel zu viel.

Das einfachste Mittel würde sein, Hans Hilgerts Mutter aufzusuchen. Er hatte erzählt, dass sie Kriegerwitwe sei und eine Schneiderei leitete. Mit ihr musste sie sich in Verbindung setzen. Vielleicht, wenn sie Hans Hilgerts genaue Geburtsstunde erfuhr …

Mit diesem Vorsatz schlief sie ein. Draußen graute schon der Morgen.

Frau Hanna Hilgert wohnte in Köln-Nippes, wie Magdalene Rott aus dem Telefonbuch erfuhr.

Sie machte sich gleich am nächsten Morgen auf den Weg, ohne ihren Mann oder Evelyn von ihrem Vorhaben zu verständigen. Das sehr moderne Haus mit einer kahlen, nichtssagenden Fassade stand an einem quadratischen Platz. Im Milchglas der Parterrefenster stand mit großen Buchstaben, unterbrochen durch Fensterkreuze und Leisten: »Schneiderei Hanna Hilgert.«

Magdalene stieg aus, entlohnte den Fahrer und bat ihn zu warten. Sie schritt auf das Haus zu und klingelte. Befriedigt fühlte sie, dass jetzt, da sich die Entscheidung näherte, alle Erregung von ihr gewichen war.

Ein junges Ding öffnete, offensichtlich ein Lehrmädchen, sah sie mit großen Augen an und verschwand, als sie nach Frau Hilgert fragte, wieder im Dunkel der Wohnung. Sie hatte Magdalene nicht hereingebeten, ließ aber die Tür nur angelehnt. Es dauerte einige Sekunden, dann erschien Hanna Hilgert persönlich, eine grobknochige Frau, etliche Jahre älter als Magdalene.

Sie war sympathisch – eine Frau, die viele Jahre, ganz auf sich allein gestellt, für sich und ihren Sohn den Lebensunterhalt hatte verdienen müssen und dabei zwar etwas von ihrer Fraulichkeit, aber nichts von ihrem guten Herzen verloren hatte.

Sie schenkte Magdalene ein schwaches, um Entschuldigung bittendes Lächeln, sagte: »Treten Sie doch näher, gnädige Frau – dieses Mädchen! Aber Sie wissen wohl selbst …« Sie öffnete die Tür und ließ Magdalene in eine schmale Garderobe eintreten, die vollgestopft mit Mänteln, Jacken, Schals, Mützen und Handschuhen war. Anscheinend pflegten ihre Mitarbeiterinnen hier abzulegen.

Aus dem Hinterzimmer klang laute Schlagermusik, noch verstärkt durch das Singen und Summen vieler weiblicher Stimmen.

»Wahrscheinlich werde ich Sie enttäuschen müssen«, erklärte Hanna Hilgert mit ihrem netten Lächeln, »ich arbeite schon seit langem nicht mehr für Privatkundschaft.«

»Ich komme nicht deswegen«, sagte Magdalene Rott ruhig, »ich bin Magdalene Rott.« Und als sie sah, dass Hanna Hilgert nicht verstand, fügte sie hinzu: »Die Mutter von Evelyn.«

Frau Hilgerts Lächeln erlosch. »Ach so«, sagte sie, »ja, ach so …« Einen Augenblick schien sie unschlüssig, was jetzt geschehen sollte, dann führte sie Magdalene in einen Raum, der offensichtlich als Wohn- und Empfangszimmer diente, obwohl auch einige Utensilien der Schneiderei herumstanden und lagen. Die Möbel waren gediegen, es gab einen Fernsehapparat und eine Musiktruhe, aber alles schien ein wenig lieblos zusammengestellt.

»Kennen Sie meine Tochter?« fragte Magdalene, um das Gespräch in Gang zu bringen, und setzte sich, Frau Hilgerts Aufforderung folgend, an den länglichen, mit Modeheften und Stoffproben übersäten Tisch.

»Nein«, erwiderte Frau Hilgert, »bisher hat mein Sohn es noch nicht für nötig gehalten, sie mir vorzustellen.« Aus ihrer Stimme klang leichte Bitterkeit. »Wenn Sie einen Augenblick warten wollen, ich muss noch …« Sie verließ mit energischen Schritten das Zimmer, wahrscheinlich, um ihren Mädchen Anweisungen zu geben.

Dann kam sie zurück und sagte: »Jedenfalls ist das eine saubere Geschichte, nicht wahr? Ich bin froh, dass Sie zu mir gekommen sind.« Sie ließ sich auf einen Sessel Magdalene gegenüber sinken, streckte die Beine weit von sich.

»Sie sind gegen diese Ehe«, fragte Magdalene.

»Sie etwa nicht? Noch so jung, die beiden. Und dann – na, ich möchte Sie nicht kränken …«

»Sagen Sie nur, was Sie auf dem Herzen haben.«

»Nun, Ihre Evelyn ist sicher ein nettes Mädchen. Wenn ich alles glauben wollte, was Hans mir über sie erzählt hat, müsste sie ja geradezu eine Fee sein. Aber tatsächlich fürchte ich – sie ist doch sicher nicht dazu erzogen worden, einen kleinen Haushalt zu führen …«

»Sie haben völlig Recht«, sagte Magdalene ruhig.

»Ich freue mich, dass Sie mir zustimmen.« Frau Hilgert fuhr in ihre Rocktasche, holte ein angerissenes, halb zerquetschtes Zigarettenpäckchen und ein Feuerzeug heraus und fragte: »Mögen Sie auch eine?«

»Nein, danke.«

»Aber Sie gestatten wohl, dass ich rauche?« Frau Hilgert zündete sich eine Zigarette an und angelte, ohne hinzusehen, einen Aschenbecher von der Musiktruhe hinter ihr.

»Ich habe für den Jungen getan, was ich konnte«, erzählte sie, »aber das war leider wenig genug. Natürlich hat er gehabt, was er brauchte, bloß eben keinen geregelten Haushalt. Immer ist mir das Geschäft vorgegangen, musste mir vorgehen. Gerade deshalb hätte ich ihm eine richtige Frau gewünscht. Eine, die kochen und haushalten kann. Kein anspruchsvolles, verwöhntes Püppchen.« Frau Hilgert nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette. »Na, ich hoffe, dass ich Sie nicht gekränkt habe. Aber ich glaube, Sie haben mindestens genauso viel Vorbehalte gegen meinen Jungen, oder?«

»Nein«, hörte Magdalene Rott sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen, »ich habe ihn gestern kennen gelernt, und er hat einen ausgezeichneten Eindruck auf mich gemacht. Vielleicht – wenn Sie Evelyn erst sehen …«

Frau Hilgert sah Magdalene mit einem sonderbaren Ausdruck an. »Sie wollen doch nicht sagen, dass Sie für diese Heirat sind?«

»Ich glaube, dass es auf unsere Wünsche gar nicht ankommt. Die beiden lieben sich und sind fest entschlossen. Natürlich weiß ich, dass es noch allerlei Schwierigkeiten geben wird. Mein Mann zum Beispiel, aber ich denke, er wird am Ende nachgeben. Und was Ihren Sohn betrifft – er sagte mir, dass er mündig und deshalb unabhängig wäre.«

Frau Hilgert erhob sich und begann in dem kleinen Raum auf und ab zu gehen. Dann blieb sie unvermittelt hinter Magdalene stehen: »Sie wollen das also – wirklich?«

»Sagen Sie lieber, ich wage mich nicht gegen das Schicksal zu stemmen.«

»Sie wollen es also zulassen, obwohl Sie nichts über die Familie des Jungen wissen, nichts über seine Herkunft?«

Jetzt lächelte Magdalene. »Sie scheinen mehr bürgerliche Vorurteile zu haben als ich selbst. Man braucht Sie doch nur anzusehen, um zu wissen …«

»Ich bin nicht seine Mutter.«

»Nicht?« fragte Magdalene mehr erstaunt als erschrocken. »Aber das hat der Junge nicht einmal angedeutet.«

»Er weiß es nicht. Es war unrecht von mir, Sie brauchen mir das gar nicht zu sagen. Aber ich habe ihn in dem Glauben gelassen, dass er mein Sohn wäre. Ich …« Frau Hilgert starrte an Magdalene vorbei, »ich wollte ihn nicht verlieren.«

»Aber wer ist er dann wirklich? Wer sind seine Eltern?«

»Ich weiß es nicht«, sagte Frau Hilgert, »das ist es ja eben. Ich weiß es nicht. Auf der Flucht aus Ostpreußen hat ihn mir eine Familie überlassen. Er gehörte nicht zu ihnen. Sie haben ihn in Königsberg gefunden.« Jetzt erst wurde sie auf Magdalenes Reaktion aufmerksam. »Was haben Sie?« rief sie erschrocken und ging auf Magdalene zu. »Ist Ihnen nicht gut? Um Himmels willen, Sie sind ja totenblass!«

Von einer Telefonzelle am Kölner Hauptbahnhof aus rief Magdalene Rott ihren Mann im Verteidigungsministerium an. Sie wurde von einem Vorzimmer zum anderen verbunden, bis er endlich selbst am Apparat war.

»Magda, du?« sagte Oberst Rott erstaunt. »Was gibt’s denn so Wichtiges?«

»Ich muss mit dir sprechen, Herbert.«

»Ja?«

»Nicht am Telefon. Es ist – ich kann es dir nicht in drei Worten erklären.«

»Na schön. Ich werde sehen, dass ich mittags hier wegkomme. Wo bist du jetzt?«

Auf dem Telefonapparat leuchtete das rote Schildchen: »Bitte nachzahlen!« auf. Magdalene begann, den Hörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt, in ihrem Portmonee nach Groschen zu suchen.

»Warum sagst du nichts?« fragte ihr Mann ungeduldig. »Augenblick bitte, ich möchte nur …«

»Wo bist du?«

»In Köln …«

»Gut. Dann treffen wir uns bei ›Kranzler‹ in Bonn. Ich komme so bald wie möglich. Einverstanden?«

»Ja«, sagte sie und starrte auf die beiden Zehnpfennigstücke in ihrer Hand, die jetzt überflüssig geworden waren.

»Dann – bis gleich!«

Magdalene hängte den Hörer ein, steckte ihr Portmonee wieder in ihre Tasche zurück, nahm ihre Handschuhe und verließ langsam die Zelle.

Ihre Erregung war abgeklungen und hatte einer eisigen, fast gleichgültigen Ruhe Platz gemacht. Als sie ihren Mann anrief, war sie noch entschlossen gewesen, ihm alles zu erzählen – die ganze Wahrheit über ihre Vergangenheit, die sie ihm bis heute verschwiegen hatte.

Jetzt plötzlich schien ihr diese Idee Wahnsinn. Sie musste den Verstand verloren haben, mit einem solchen Gedanken auch nur zu spielen. Ja, sie hatte den Kopf verloren. In der ersten Panik war sie sogar nahe daran gewesen, Frau Hilgert gegenüber ihre entsetzliche Vermutung auszusprechen. Wie gut, dass sie geschwiegen hatte! Magdalene atmete tief. Sie hatte das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein.

Aber während der Rückfahrt nach Bonn konnte sie ihre Gedanken nicht eine Sekunde von der Eröffnung abwenden, die ihr Frau Hilgert gemacht hatte. Doch sie betrachtete sie jetzt nicht mehr durch den Nebel aufgewühlter Gefühle, sondern ganz klar mit ruhigem Verstand.

Hans Hilgert war nicht der Sohn der Schneiderin. Sie hatte ihn als ungefähr Dreijährigen von Flüchdingen übernommen, die ihn in Königsberg gefunden hatten. Er war völlig verstört gewesen, hatte seinen Namen nicht gewusst, nichts über sich aussagen können.

Alles stimmte. Hans Hilgert, der Mann, den ihre Tochter Evelyn liebte, war Udo, ihr Sohn – oder zumindest bestand eine starke Wahrscheinlichkeit, dass er es war.

Deshalb nur hatte sich Evelyn so Hals über Kopf in ihn verliebt, weil sie die blutsmäßige Verwandtschaft spürte, von der sie nichts ahnen konnte. Deshalb war er auch ihr, Magdalene, vom ersten Moment an so ungewöhnlich sympathisch gewesen. Evelyn und Udo waren Halbgeschwister. Sie durften nicht heiraten, unter gar keinen Umständen, ja, sie durften sich nicht einmal Wiedersehen.

Aber gab es nicht andere Mittel, diese unglückselige Liebe zu zerstören, als sich zu einer Wahrheit zu bekennen, die wahrscheinlich ihre eigene Ehe vernichten würde?

Als Magdalene im »Kranzier« eintraf, war ihr Mann noch nicht erschienen. Sie setzte sich in den Vorraum, bestellte einen Kognak, den sie in kleinen Schlucken trank.

Noch war die schreckliche Gefahr nicht gebannt, aber Magdalene fühlte sich ruhiger als seit Monaten.

Singh Ree, ihr indischer Berater, hatte ihr eine Katastrophe vorausgesagt, eine schwere Prüfung, die sie nur mit Aufbietung aller Kräfte würde überwinden können. Der Gedanke an diese Drohung hatte beklemmende Angst in ihr wachgerufen. Oft war sie nachts aus dem Schlaf geschreckt und hatte sich in den grausigsten Farben ausgemalt, was sie erwarten konnte.

Jetzt, da sie die Gefahr kannte, schien es ihr, wenn sie schon halb gebannt wäre.

Oberst Rott erschien. Als seine Augen die ihren trafen, spürte sie die Liebe zu ihm wie eine mächtige erlösende Welle. Blut strömte ihr in die Wangen.

Er kam mit raschen Schritten auf sie zu, beugte sich über ihre Hand. »Wie schön du bist«, sagte er, »wie ein ganz junges Mädchen.«

Sie erwiderte sein Lächeln, aber ihre Augen blieben ernst. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«

»Wollen wir erst mal essen gehen? Oder ist es wichtig, dass …« »Es ist sehr wichtig. Ich furchte, ich könnte kein Bissen hinunterbringen, bevor ich nicht mit dir gesprochen habe.«

»Gut, wie du willst.«

Ein Page kam, nahm Oberst Rott Mantel und Mütze ab. Er setzte sich neben seine Frau in einen der tiefen Sessel. »Du erlaubst, dass ich rauche.«

»Aber ja«, sagte sie gerührt und gleichzeitig ungeduldig, weil er sie nach all den Jahren ihrer Ehe immer noch um ihr Einverständnis bat, bevor er sich eine Zigarette anzündete.

Erst als seine Zigarette brannte, fragte er: »Also, was gibt s?«

»Ich weiß jetzt, wer der junge Mann ist, in den Evelyn sich verliebt hat. Hans Hilgert heißt er. Ein ganz einfacher Junge. Fliegerunteroffizier. Er hat uns übrigens seinerzeit mit auf dem Flughafen Köln-Wahn abgeholt. Daher seine Bekanntschaft mit Evelyn. Es ist den beiden ernst, noch ernster, als wir glaubten. Sie wollen heiraten. Je eher, desto besser, meinen sie.«

»Das hast du ihnen hoffentlich ausgeredet.«

»Ich habe noch mehr getan. Ich war heute bei seiner Mutter. Natürlich hatte ich nicht viel erwartet. Aber was ich tatsächlich erlebte, übertraf meine schlimmsten Befürchtungen. Sie ist Schneiderin und scheint ganz gut zu verdienen. Aber das Milieu ist von einer Primitivität …«

Er schnitt ihr das Wort ab. »Du hättest …« Dann erst fiel ihm auf, dass er sie unterbrochen hatte. »Entschuldige. Bitte, erzähl’ ruhig weiter.«

»Was wolltest du sagen?« fragte sie.

»Dass du dir diesen Weg hättest sparen können. Selbst wenn der junge Mann aus unseren Kreisen stammen würde, hätte ich ihm niemals die Erlaubnis gegeben, meine kaum siebzehnjährige Tochter zu heiraten.« Er streifte die Asche seiner Zigarette ab. »Ein solches Ansinnen hätte ein Mann normalerweise ja auch wohl kaum gestellt.«

»Du bist also dagegen?« Sie konnte ihre Erleichterung nicht verbergen.

»Aber selbstverständlich. Was hattest du denn erwartet? Kennst du mich so schlecht?«

»Ich kenne dich als einen sehr verliebten Vater«, sagte sie tastend, »der bisher jeden Wunsch seiner schönen Tochter erfüllt hat …«

»Hier geht es doch nicht um ein Spiel. Vielleicht gibt es junge Menschen, die mit siebzehn schon die nötige Reife für eine Ehe mitbringen. Evelyn jedenfalls nicht.«

»Das musst du nicht mir erzählen«, sagte Marlene, bemüht, ihre Genugtuung nicht allzu deutlich werden zu lassen. »Sprich mit Evelyn.«

»Nein. Das halte ich für wirkungslos. Ich werde mir den Burschen – wie heißt er noch gleich?«

»Hans Hilgert. Er ist Fliegerunteroffizier.«

»Also, ich werde mir diesen Hans Hilgert persönlich vorknöpfen. Bin doch mal gespannt, ob ich ihn nicht zur Vernunft bringen kann.«

»Er macht einen sehr sympathischen Eindruck«, gab Magdalene vorsichtig zu bedenken. Sie fürchtete, dass sich ihr Mann wie sie selber von Hilgerts guter Haltung beeindrucken lassen würde.

Oberst Rott drückte seine Zigarette aus. »Wäre ja noch schöner, wenn es nicht so wäre. Ich habe niemals angenommen, dass meine Tochter sich in ein Ekel verliebt. Bist du jetzt einverstanden, dass wir essen gehen?«

Magdalene erhob sich. »Du musst es behutsam anfangen, Herbert! Du weißt, was uns der Arzt über Evelyns Gesundheit gesagt hat …«

»Nein, Magda, ganz falsch. Hier muss hart durchgegriffen werden. Ein rascher, entschlossener Schritt ist besser als eine unnötig verlängerte Qual.« Er trat neben sie, schob seinen Arm unter ihren Ellbogen »Mach dir nicht zu viel Gedanken, Magda, ich weiß schon, wie ich es anpacken muss. Kümmere du dich jetzt mal um Flugverbindungen und so weiter. Ich denke, wenn alles vorbei ist, werde ich euch beide an die Côte d’Azur schicken. Das wolltest du doch schon immer, nicht wahr, Liebling?«

Damals war ich siebzehn

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