Читать книгу Regina Rau, 18 Jahre - Marie Louise Fischer - Страница 4

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»Angeklagte, bekennen Sie sich schuldig?«

Regine Rau zuckt zusammen. Die harte Stimme des Richters trifft sie wie ein Peitschenhieb. Sie muß tief Atem holen, um das Entsetzen, das sie plötzlich zu überwältigen droht, niederzukämpfen.

Atemlose, erwartungsvolle Stille herrscht im großen Saal des Schwurgerichts, der bis auf den letzten Platz besetzt ist. Kopf an Kopf sitzen sie, die Frauen, Mädchen und Männer. Sie starren mit gierigen, sensationslüsternen Augen auf die Angeklagte Regine Rau, die sehr blaß und sehr klein in den Schranken der Anklagebank steht. Sie hat die Hände um das braune Holz geklammert, ihre blutleeren Lippen zittern kaum merklich.

Endlich findet sie die Kraft zur Antwort. »Ja!« sagt sie leise, aber bestimmt.

Ein Raunen geht durch das Publikum, das fast wie ein Stöhnen ist. Macht sich Abscheu Luft über die Tat der Angeklagten? Empörung über ihre Unverfrorenheit? Bewunderung, daß sie sich zu ihrer Schuld bekennt? Oder Enttäuschung darüber, daß sie es anscheinend dem Gericht so leicht machen will und das Publikum und die Presse damit um den Genuß des Katz-und-Maus-Spiels bringt?

Dr. Beermann, der Rechtsanwalt der Angeklagten, ist aufgesprungen und redet leise und eindringlich auf sie ein, doch sie schüttelt nur immer wieder stumm, aber energisch, den Kopf.

»Sie hatten also die Absicht, Frau Herta Faber, die geschiedene Frau Ihres Chefs, zu töten?« fragte sie der Richter, Landgerichtsdirektor Dr. Winkler, weiter.

»Ja.«

»Und warum?«

Die Angeklagte antwortet nicht, man sieht, daß sie die Zähne aufeinanderbeißt.

»Haßten Sie die Frau Ihres Chefs?«

»Ja«, gibt Regine Rau zu, ihre Stimme ist tonlos.

»Sie waren eifersüchtig?«

»Nein, nein, das nicht!«

»Warum haßten Sie Frau Faber dann?«

Die Angeklagte schweigt.

»Oder … hat Sie jemand zu dieser Tat angestiftet?« stößt Landgerichtsdirekter Dr. Winkler zu.

»Nein! Niemand! Nein!« Die Stimme der Angeklagten hat plötzlich Kraft.

Der Richter hält die Hände vor den Mund. Er verbirgt damit ein Lächeln, ein böses Lächeln.

»Wann waren Sie zuletzt mit Ihrem Chef zusammen … vor der Tat?« fragte er scharf.

»Ich … ich weiß nicht mehr«, murmelt die Angeklagte.

»Aber wir können es Ihnen sagen. Ihr Chef, Peter Faber, hat Sie am Morgen der Tat aufgesucht. Wir haben Zeugen dafür, daß er sich in einem äußerst erregten Zustand befand. Geben Sie das zu … oder wollen Sie sich nicht mehr erinnern?«

Die Angeklagte bleibt stumm.

»Ich habe Sie etwas gefragt!« donnert der Landgerichtsdirektor.

»Ich … warum quälen Sie mich so?!« bricht es aus der Angeklagten. »Warum müssen Sie mich so quälen!? Ich habe ja alles zugegeben … ja, ich wollte Frau Faber töten! Ich weiß, daß Sie mich bestrafen müssen! Ich nehme jede Strafe an … verurteilen Sie mich! Aber … quälen Sie mich nicht so!«

Die Geschworenen, zwei Frauen und vier Männer, die links und rechts von den beiden Beisitzern auf der Richterbank sitzen, sind betroffen. Sie bewegen sich unruhig, wechseln Blicke untereinander.

Dr. Winkler räuspert sich. »Angeklagte«, sagt er, und es ist deutlich zu spüren, daß er den harten Klang seiner Stimme zu mildern sucht, »Angeklagte, wir wollen Sie ja nicht quälen! Das Gericht ist nicht nur deshalb zusammengetreten, um Sie zu verurteilen. Es ist vielmehr unsere Pflicht, die Hintergründe Ihrer Tat aufzuhellen, damit wir ein gerechtes Urteil finden können. Sie würden nicht nur uns, Sie würden auch sich selbst helfen, wenn Sie offen sprechen wollten.«

Niemand ahnt, wie schwer es dem Richter fällt, sich zu einem freundlichen Ton zu zwingen. Er hält nichts von Frauenliebe und nichts von Frauentreue. Er hat Grund dazu, er hat eine bittere Enttäuschung erlebt. Seine Braut, die er aufrichtig liebte, hat ihn mit einem Studienfreund betrogen. Seitdem haßt und verachtet er die Frauen und läßt es sie entgelten — alle Frauen, und besonders die eigene, die er später kennengelernt und geheiratet hat.

»Angeklagte«, sagt er mit beherrschter Stimme, »erzählen Sie uns, wie und warum es zu dieser Tat gekommen ist!«

»Ich kann nicht«, flüstert Regine, »ich kann es nicht!«

Draußen auf dem Gang warten die Zeugen auf ihren Aufruf.

Frau Herta Faber sitzt auf der harten Holzbank wie auf einem Ehrenthron. Sie hat die langen, schlanken Beine übereinandergeschlagen, schimmerndes Blondhaar quillt unter dem breiten Rand ihres Hutes hervor, das schwarze, elegante Kostüm betont die Linien ihrer Figur. Ohne mit der Wimper zu zucken hält sie den neugierigen, zudringlichen Blicken der Vorübergehenden stand. Sie genießt es, endlich einmal wieder im Mittelpunkt zu stehen, wartet voll freudiger Erregung auf ihren Auftritt im Schwurgerichtssaal.

Sie öffnet mit nervösen Fingern, deren Nägel lang, sehr gepflegt und blutrot lackiert sind, ihre schwarze Krokodilledertasche, zieht ein goldenes Zigarettenetui heraus, läßt es aufspringen — da fällt ein dunkler Schatten auf sie.

Herta Faber blickt auf, schrickt zusammen, das goldene Etui entgleitet ihren zitternden Händen und schlägt mit klirrendem Knall auf den Boden.

»Peter …!«

Peter Faber bückt sich, hebt das Etui auf und reicht es ihr mit einer ironischen Verbeugung. »Ja, ich bin es.«

Herta Faber hat sich immer noch nicht von ihrem Schrecken erholt. »Wie … wie kommst du hierher?« stottert sie.

»Ich bin als Zeuge geladen … genau wie du! Ich begreife nicht, wieso dich das überrascht.«

»Ich … oh, bitte, Peter, schau mich nicht so an!«

Er zuckt die breiten Schultern. »Du hast es doch immer geliebt, angestarrt zu werden.«

»Was willst du von mir, Peter? Ich … ich habe Angst! Bitte, geh weg, bitte! Du weißt, mein Herz verträgt keine Aufregungen!«

»Beruhige dich, Herta, nur kein Theater. Ich werde dir kein Härchen krümmen.«

»Wolltest du, daß … diese Person mich tötet?«

»Nein.«

Hertas Augen leuchten triumphierend auf. »Ich habe es ja gewußt.«

Er blickte auf sie herab und in seinen dunklen Augen ist ein seltsamer Ausdruck, den sie vergeblich zu deuten versucht. »Nicht Regine sollte dich töten«, sagt er langsam, jedes Wort betonend, »hör gut zu, Herta … ich selbst wollte es tun!«

»Nein! Nein, Peter, das ist nicht wahr! Ich habe dir doch nichts getan!«

»Du mir nichts getan?« Er richtet sich auf, sein sehr männliches, kantiges Gesicht verzerrt sich. »Mein Leben hast du zerstört, Regines Leben hast du zerstört … Heidi hast du gequält, geschlagen und aus dem Haus gejagt! Nichts getan, sagst du!« Peter Faber lacht, es ist ein unheimliches Lachen.

»Ich habe Angst«, wimmert Herta Faber, »Peter, ich habe Angst!«

»Vor mir?« Wann hättest du je Angst vor mir gehabt! Ich war in deinen Augen ja immer nur ein Schwächling, und ich glaube jetzt selbst, daß ich ein Schwächling bin. Ja, du hast Angst gehabt, Angst vor der Einsamkeit. Du hast Angst gehabt, daß du eines Tages niemanden mehr blenden, niemanden mehr tyrannisieren, daß du deine Macht über deine Mitmenschen verlieren könntest … davor hast du Angst gehabt! Und mich hast du es entgelten lassen. Immer war ich der Schuldige, und ich habe mich nicht dagegen gewehrt. Warum? Weil ich eitel war, weil ich dumm war, weil ich ein Schwächling war — und bin!«

Herta Faber sieht sich um, sieht, daß man zu ihnen hinschaut, daß man versucht, die Worte ihrer Auseinandersetzung zu verstehen. Plötzlich fühlt sie sich mutig. Sie ist ja nicht allein, Menschen sind nahe, die Polizei ist da — wovor soll sie sich fürchten?

»Ja«, sagt sie so laut, daß jeder es hören kann, »du bist immer ein Schwächling gewesen!«

Warum hatte sie diesen Mann geheiratet …?

Herta Faber, damals noch Fräulein Herta Randall, hatte den Architekten Peter Faber kennengelernt, als sie in der verzweifeltsten Situation ihres Lebens steckte.

Zwölf Jahre lang, seit dem tragischen Tod ihrer Mutter, hatte sie nur für ihren Vater gelebt. Sie hatte Professor Randall den Haushalt geführt, sie hatte ihm Gesellschaft geleistet und sie hatte ihm als Sekretärin bei seinen Forschungsarbeiten geholfen. Sie hatte sich für ihn geopfert, wie sie von Zeit zu Zeit, wenn sie wieder einmal eine ihrer Launen hatte, deutlich spüren ließ. Ihr Vater hatte sich dann beeilt, ihr mit besonders viel Zärtlichkeit und Bewunderung, einem kleineren oder auch größeren Geschenkt, seine unendliche Dankbarkeit zu bezeugen.

Denn er hatte allen Grund, ihr dankbar zu sein. Nach dem Tod seiner Frau war er ein gebrochener Mann gewesen. Ohne Hertas Liebe und ohne ihre Treue hätte er seinen Lebensmut nie zurückgefunden — jedenfalls war sie dieser Überzeugung, und er hatte keinen Grund, ihr zu widersprechen.

Nach einer Ehe voller Spannungen und voller Mißverständnisse mit einer zarten, sehr geliebten Frau, die ihm und sich selbst mit ihrer Überempfindlichkeit und dauernden Eifersucht das Leben schwer gemacht hatte, erlebte er jetzt eine friedliche, herrliche Zeit. Er konnte endlich das Buch herausbringen, an dem er schon so viele Jahre gearbeitet hatte und das ihm internationale Anerkennung brachte. Er besaß ein gepflegtes Heim, in seiner Tochter die ideale Mitarbeiterin, die Tag und Nacht für ihn da war, und die es darüber hinaus auch wunderbar verstand, ein gastliches Haus zu führen.

Gab es dennoch etwas, was ihm fehlte?

Herta konnte sich das nicht vorstellen. Sie war sicher, alles für ihn zu tun, was in ihren Kräften stand, sicher, daß er glücklich sein mußte. Wenn er manchmal sorgenvoll blickte, dann sah sie einen einzigen Grund dafür: daß er Angst hatte, sie zu verlieren.

Dann schwang sie sich zu ihm auf die Sessellehne, schlang ihren Arm um seine Schulter, schmiegte ihr Gesicht an seine Wange: »Keine Sorge, Väterchen, ich laß dich nicht allein.«

»Und wenn einmal der Richtige kommt?«

»Niemals! Ich brauche keinen Mann. Ich habe alles, was ich mir wünsche … und wie könntest du denn ohne mich fertig werden?«

»Ja, wenn ich dich nicht hätte«, pflegte der Professor dann zu sagen.

Herta errötete vor Glück. Sie merkte nicht, daß das Lächeln ihres Vaters, das in den ersten Jahren noch offen und fröhlich gewesen war, später immer gezwungener wurde. Sie schob seine zunehmende Gereiztheit darauf zurück, daß sein zweites Buch — eine Forschungsarbeit über die Sprache der Wikinger — nicht recht vorangehen wollte.

Tatsächlich war es nicht so, daß es ihr an Verehrern gefehlt hätte. Sie war ein schönes, schlankes, blondes Mädchen, intelligent und charmant, ihr Vater war ein angesehener und vermögender Mann, kurzum, sie war genau das, was man eine gute Partie nennt. Sie genoß es, umschwärmt und umworben zu werden, und blieb dabei noch innerlich eiskalt. Keiner der jungen Männer, die sich um sie bemühten, konnte in Wahrheit auch nur einen Funken Interesse bei ihr erregen. Aber sie brauchte die Gewißheit, begehrt zu werden — und das Gefühl, daß ihr Vater davor zitterte, sie zu verlieren.

Manchmal fragte er: »Na, wie gefällt dir denn der junge Doktor?« Er nannte manchmal auch den Namen des einen oder anderen Kandidaten, der im Augenblick besonders hoch im Kurs zu stehen schien.«

»Es geht«, antwortete sie dann gelangweilt.

»Du scheinst dich aber doch recht gut mit ihm zu unterhalten.«

Sie lachte, zauste ihn in den immer noch dunklen, von keinem grauen Fädchen durchzogenen Haar, »Eifersüchtig, Väterchen?«

»Nicht die Spur.«

»Dazu hast du auch gar keinen Grund.«

Späterhin machte er in diesem Zusammenhang des öfteren den Versuch, sich ihrer törichten Liebe, die er mehr und mehr als eine Fessel zu empfinden begann, zu erwehren. »Ich bin mir durchaus darüber klar, Herta, ich habe nicht das mindeste Recht, von dir zu verlangen, daß du mir nicht nur deine Jugend, sondern auch deine Zukunft zum Opfer bringst! Wenn es eines Tages soweit ist …«

Sie ließ ihn nicht aussprechen. »Wenn … wenn … wenn! Aber ich sage dir, das wird nie geschehen. Und glaube nur nicht, daß ich dir ein Opfer bringe … ich bleibe freiwillig bei dir!«

Das war die ganze Wahrheit. Aber sie pflegte sie in einem Ton zu sagen, daß sie wie eine mitleidige Lüge klang.

Tatsächlich liebte sie nur ihren Vater, sie liebte ihn mit einer abgöttischen, eifersüchtigen, besitzergreifenden Liebe, neben der kein Raum für irgendein anderes Gefühl blieb. Keiner dieser jungen Männer, mochten sie auch noch so reich, begabt, gutaussehend sein, konnte sich ihrer Meinung nach auch nur im entferntesten mit ihrem Vater messen. Professor Randall stach sie alle aus — er war der Gescheiteste, der Überlegenste, er war eine wirkliche Persönlichkeit. Im Vergleich mit ihm waren alle anderen Männer nichts als unbedeutende Schatten.

Im Lauf der Jahre wurden Hertas Verehrer nicht weniger, aber sie wurden älter. Einige von ihnen heirateten, und auch die anderen hatten längst die Hoffnung aufgegeben, bei der schönen Professorentochter jemals auch nur etwas zu erreichen. Was früher ehrliches, heftiges Werben war, wurde allmählich zum unverbindlichen, ganz gewohnheitsmäßigen Flirt.

Herta merkte es erst, als es zu spät war. Nämlich dann, als ihr der Vater eines schönen Sommermorgens beim Frühstück auf der Gartenterrasse sozusagen aus heiterem Himmel erklärte: »Es wird dich wahrscheinlich überraschen, Kleines … aber ich habe mich entschlossen, mich wieder zu verheiraten.« Er wagte es nicht, seine Tochter bei dieser Eröffnung anzusehen, sondern tat so, als wäre er angelegentlich damit beschäftigt, eine Scheibe Toastbrot mit Butter zu bestreichen.

Sie ließ die erhobene Teetasse sinken. »Soll das ein Witz sein, Väterchen?«

»Durchaus nicht…«

Herta lachte. »Nein, nein, damit kannst du mich nicht schrecken! Du und heiraten … so was gibt’s doch gar nicht!«

»Und warum nicht?« fragte er gereizt. »Ich bin fünfzig, das ist doch kein Alter …«

»Natürlich nicht«, sagte sie besänftigend, »und ich bin überzeugt, daß es eine Menge Frauen gibt, die dich begehrenswert finden! Aber du wirst doch bestimmt nicht so unvernünftig sein …«

»Findest du es wirklich unvernünftig, wenn ich noch einmal eine Familie haben will? Wenn ich mich nach einer Frau sehne? Einem erfüllten Leben?«

Herta wurde blaß. Erst in diesem Augenblick dämmerte es ihr, daß dies kein Spaß mehr war und keine Laune. Nie zuvor hatte der Vater so zu ihr gesprochen. »Es ist also … kein erfülltes Leben, das du mit mir zusammen geführt hast?« fragte sie tonlos.

»Um Gottes willen, mach jetzt kein Theater, Herta. Wir haben eine schöne Zeit miteinander verlebt, sicher. Ich beklage mich ja auch nicht darüber. Du warst mir immer eine gute Tochter … aber mehr konntest du ja beim besten Willen nicht sein! Eine Tochter, Herta! Aber ich sehne mich nach einer Frau!«

»Nun«, sagte sie eisig, »ich möchte annehmen, du hast diese Frau inzwischen schon gefunden?«

»Ja.«

»Und wer ist es, wenn ich fragen darf?«

»Inge König.«

Herta sprang so heftig auf, daß sie beinahe den Frühstückstisch umgeworfen hätte. »Inge König?« rief sie außer sich. »Dieses Nichts, diese Null, dieses …«

»Vorsicht!« unterbrach er sie scharf, »du sprichst von deiner zukünftigen Stiefmutter!«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein!« rief sie verzweifelt. Jede andere Frau … aber doch nicht ausgerechnet Inge König! Sie ist doch noch … ein halbes Kind …«

»Sie ist zweiundzwanzig, also Herrin ihrer eigenen Entschlüsse. Sie hat mir ihr Jawort gegeben, und du kannst überzeugt sein, sie weiß, was sie tut.«

»Ja, das weiß sie! Sie hofft, sich ins gemachte Nest zu setzen! Ein Mädchen wie Inge König, eine kleine Stenotypistin, die nichts ist und nichts hat …«

»Schluß jetzt!« Professor Randall stand auf. »Du weißt, wie die Dinge stehen, finde dich damit ab. Unsere Hochzeit ist beschlossene Sache.«

Herta brachte kein Wort mehr hervor, sie könnte ihn nur fassungslos anstarren.

»Zwischen uns braucht sich deshalb ja nichts zu ändern, Kleines«, sagte er weicher, »wir werden weiter zusammen arbeiten und … ich bin überzeugt, mit einigem guten Willen wirst du dich prächtig mit Inge verstehen. Du bist voreingenommen, ich weiß … aber, glaub mir, sie ist wirklich ein lieber Kerl.«

Herta drehte sich auf dem Absatz um und rannte ins Haus. Sie war verzweifelt, aber durchaus nicht bereit, sich in das Unvermeidliche zu fügen. Sie konnte es einfach nicht glauben, sie war so sicher, daß der Vater im Grunde seines Herzens sie und nur sie liebte. Sie war entschlossen, ihn zur Besinnung zu bringen.

Sie unternahm einen Selbstmordversuch, sie schluckte den Inhalt eines ganzen Röhrchens Schlaftabletten, Natürlich wollte sie nicht wirklich sterben, sie wollte ihrem Vater nur zum Bewußtsein bringen, daß er ihr diese Hochzeit nicht zumuten durfte.

Aber ihr Plan klappte nur zur Hälfte. Sie wurde zwar rechtzeitig gerettet, wie sie vorausgesehen hatte. Aber der Vater blieb unerbittlich. Er war nicht bereit, ihretwegen das Wort, das er Inge König gegeben hatte, zu brechen. Es blieb bei der Heirat. Doch Herta wohnte der Trauung nicht bei. Sie war während dieser Zeit in einem Sanatorium, in das Professor Randall sie geschickt hatte. Sechs Wochen war sie dort, ohne daß irgend jemand nach ihr fragte, ohne eine andere Post zu bekommen, als die Briefe und Karten, die ihr Vater ihr von der Hochzeitsreise schickte.

Da wußte sie, daß sie verspielt hatte.

Der Weg ins Vaterhaus war ihr versperrt. Auf keinen Fall wollte sie weiterhin als unliebsame Verwandte ihr Leben fristen. Sie entschloß sich, vom Sanatorium weg eine Freundin zu besuchen, die inzwischen in München verheiratet war. Während einer Pause im Prinzregententheater wurde ihr Peter Faber vorgestellt.

Er war damals genauso alt wie sie, fünfundzwanzig, und galt als der kommende Mann. Seine eigenwilligen Hochhauskonstruktionen hatten ihm einen Namen gemacht. Alles, was Rang und Namen hatte, setzte seinen Ehrgeiz darein, sich von ihm ein Haus bauen zu lassen.

Herta benutzte die nächste Gelegenheit, sich bei ihrer Freundin über Peter Faber zu informieren. Was sie erfuhr, war durchaus zufriedenstellend. Peter Faber hatte ohne jede Protektion seinen Weg begonnen, er hatte sich selbst hochgebracht. Tag und Nacht hatte er am Zeichentisch gesessen, bis sich der Erfolg eingestellt hatte.

Er war Junggeselle. Wenn er je Frauengeschichten gehabt hatte, so war doch nichts davon an die Öffentlichkeit gedrungen. Bestimmt war er kein Glücksjäger. Die Mütter heiratsfähiger Töchter öffneten ihm weit die Türen — vergebens. Peter Faber schien entschlossen zu sein, Junggeselle zu bleiben.

Herta überlegte blitzschnell: Peter war ein Mann mit beachtlicher gesellschaftlicher Stellung und blendenden Zukunftsaussichten — war das der Ausweg? Wenn er sie heiratete, würde Vater endlich merken, was er an ihr verloren hatte. Sie würde ihre Stiefmutter mit einem so attraktiven und jungen Mann demütigen können. Ja, das war die Lösung. Sie mußte es einfach schaffen.

Sie, die jahrelang mit ihrem anspruchsvollen und Oft recht schwierigen Vater zusammen gelebt hatte, wußte, wie man Männer behandelt. Peter Faber war bald begeistert von dem Charme, dem Takt und dem Humor der Professorentochter. Es schmeichelte seiner Eitelkeit, daß diese schöne junge Frau aus bester Familie sich bei offiziellen und inoffiziellen Gelegenheiten so gern an seiner Seite zeigte. Er, der aus kleinen Verhältnissen stammte und trotz aller Erfolge und allen Geldes immer noch an einer gewissen gesellschaftlichen Unsicherheit litt, war von der gewandten und selbstbewußten Herta ungeheuer angetan.

Mit größter Fertigkeit zog sie ihm gegenüber alle Register. Sie war weiblich kokett, kameradschaftlich vertraut oder kühl distanziert zu ihm, wie es ihre Strategie gerade im Augenblick verlangte. Sie lockte Peter Faber an, stieß ihn dann wieder fort, war bald übermütig wie ein Kind, dann wieder überlegen wie eine reife Frau, kurzum, sie verdrehte ihm gründlich den Kopf.

Kaum sechs Wochen, nachdem er sie kennengelernt hatte, bat er sie, seine Frau zu werden. Herta sagte nicht gleich ja. Drei Tage lang ließ sie ihn zappeln. Dann erst eröffnete sie ihm, daß sie sich durchgerungen hatte, ihn zu heiraten. »Es ist schwer für mich«, sagte sie, »schrecklich schwer. Ich war so fest entschlossen, mich keinem Mann zu unterwerfen, meine Freiheit und Unabhängigkeit zu bewahren. Aber was soll ich tun? Ich liebe dich eben.«

Und Peter Faber war überglücklich gewesen …

Jetzt steht er, Peter Faber, auf dem kahlen Flur des Gerichts vor Herta, und Haß brennt in seinen Augen. »Du hast mich belogen und betrogen. Deine Liebe war von Anfang an eine Lüge! Und ich Dummkopf habe dir geglaubt! Das war meine Schwäche … ich wußte ja nicht, daß eine Frau so verlogen und schlecht sein kann. Du hast mein Leben ruiniert … aber glaube mir, du wirst es büßen!«

Herta ist nahe daran, in Ohnmacht zu fallen. Aber der Boden des Flurs ist nicht gerade sauber, ihr schwarzes Kostüm ist sehr empfindlich, und so besinnt sie sich anders. »Geh!« zischt sie. »Oder ich werde um Hilfe rufen … ich werde sagen, daß du mich bedrohst!«

»Luder!« sagt er verächtlich und wendet sich ab.

Im Schwurgerichtssaal ist Landgerichtsdirektor Dr. Winkler unterdessen mit der Vernehmung der Angeklagten fortgefahren.

»Wann und wo haben Sie Frau Faber kennengelernt?« fragt er.

»Vor … zwei Jahren …«

»Waren Sie damals schon Mitarbeiterin von Architekt Faber?«

»Ja.«

Die knappen Antworten der Angeklagten sind eine Enttäuschung für das Publikum und für die Presse, die auf Sensationen warten. Diese allzu beherrschten Antworten sind nicht dazu angetan, Sympathien bei den Geschworenen zu erwecken. Auch Landgerichtsdirektor Dr. Winkler ist nicht zufrieden.

»Angeklagte, erzählen Sie uns doch einmal die Vorgeschichte der Tat in Ihren eigenen Worten!«

»Ich … ich weiß nicht, was ich erzählen soll …« Regine Raus große braune Augen sind flehend, voller Qual auf den Richter gerichtet.

»Alles. Von Anfang an. Sie sind im Waisenhaus aufgewachsen, nicht wahr?«

»Ja.«

»Bitte, erzählen Sie.«

»Aber … das kann ich doch nicht in drei Worten!«

»Das verlangt auch niemand von Ihnen. Das Gericht hat Zeit, viel Zeit. Wir wollen die Hintergründe der Tat erhellen … begreifen Sie das nicht?«

»Ich habe Frau Faber mit voller Absicht töten wollen.«

Der Richter läßt sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das wissen wir. Das haben Sie uns bereits mehrfach gesagt. Jetzt erzählen Sie, wie es dazu kam … erzählen Sie von Ihrer Jugend!«

Regine Rau wehrt sich. »Das hat doch damit nichts zu tun.«

»Diese Entscheidung müssen Sie schon uns überlassen. Es ist unsere Aufgabe, uns ein Bild Ihrer Persönlichkeit zu machen, verstehen Sie? Also … wie alt waren Sie, als Sie ins Waisenhaus kamen?«

»Ich war drei Jahre alt, aber ich kann mich nicht mehr daran erinnern …« Langsam, stockend erst, beginnt die Angeklagte zu erzählen. Das Bild ihrer Jugend, ihrer Vergangenheit steigt im Gerichtssaal auf …

Regine Rau war ohne Eltern aufgewachsen. Die Schwestern vom Orden des heiligen Vinzenz von Paul hatten sie aufgenommen. Im Waisenhaus am Rand der Stadt spürte sie wenig Luft und Sonne. Die Nonnen versuchten, die Eltern zu ersetzen. Sie taten ihr Bestes — und doch mußte dieses Beste immer noch zu wenig sein.

Keine liebende Hand strich Regines Wangen. Auch wenn eine der jüngeren Nonnen das artige Kind mit den großen braunen Augen besonders lieb hatte, so wagte sie es doch nicht zu zeigen. Keines der Kinder durfte vorgezogen werden. Nie fielen die Worte: »Meine liebe Regine …«

Es war kein schlechtes Leben im Waisenhaus, und doch war es armselig. Weil den Kindern das Beste und Wichtigste fehlte: die Elternliebe. Jeder Tag begann mit einem Glockenschlag, mit einem Dauerlauf, kalter Dusche, Andacht, Frühstück. Jede Stunde des Tages war ausgefüllt. Die Ferien unterschieden sich kaum von der Schulzeit: keines der Kinder hatte ein Zuhause, in das es verreisen konnte.

Regine Rau war eine gute Schülerin. Die Mutter Oberin schickte sie auf die Handelsschule. Man hätte lieber gesehen, daß sie Kinderschwester wurde. Aber auch im Waisenhaus gab es eine Menge Papierkram zu erledigen. Da würde es ganz recht sein, wenn Regine das Kaufmännische gründlich lernte. Daß Regine im Kloster blieb, das war der Mutter Oberin und den anderen Schwestern ganz selbstverständlich.

Aber Regine wollte nicht. Sie sagte es am Tag, als sie die Handelsschule beendet hatte und ihre Arbeit im Kloster antreten sollte, frei heraus. »Nein!«

Sie war den Nonnen dankbar für alles, was sie für sie getan hatten, sie schätzte sie hoch und verehrte sie. Aber sie wußte in der Tiefe ihres Herzens, daß sie für dieses Leben nicht geschaffen war. Sie brauchte Liebe, sie hungerte nach Liebe, menschlicher Liebe.

Regine bat die Mutter Oberin um Verzeihung, knickste tief, küßte ihre Hand. Kein böses Wort kam über die Lippen der Mutter Oberin, mild blieb der Blick ihrer hellen Augen. Aber Regine wußte, daß sie ihre Gönnerin tief enttäuscht hatte, sie wußte, daß sie jetzt auch die Heimat des Waisenhauses verloren hatte. Sie war hinausgestoßen ins wirkliche Leben. Von jetzt an lautete ihr Gebet: »Gib uns unser tägliches Brot!«

Sie fand Arbeit im Architektenbüro Faber. Als eine von vielen saß sie im Schreibsaal, dachte nur an ihre Arbeit. An sich selbst dachte sie nicht. Erst als Peter Faber sie zum erstenmal zu sich hatte kommen lassen, sah sie in einen Spiegel, nachträglich. Sie stellte fest, daß ihre Frisur unvorteilhaft und daß sie schlecht angezogen war.

Doch das Wunder geschah. Peter Faber erkannte, daß ihre Arbeit weit über das Mittelmaß hinausging. Er machte sie zu seiner Sekretärin.

Von Geld wurde nicht gesprochen. Geld war Regine Rau ganz unwichtig. Sie war ehrlich überrascht, als sie am nächsten Monatsende einen erheblich höheren Betrag als bisher ausbezahlt bekam. Für sie war nur etwas entscheidend — daß Peter Faber sie brauchte, daß irgend ein Mensch auf der Welt sie wirklich brauchte.

Es dauerte nicht lange, dann wurde Regine in der Akazienstraße 18 — dort wohnte Peter Faber — seiner Gattin vorgestellt.

Herta Faber lachte schrill: »Wie, bitte? Sie arbeiten mit meinem Mann? Das soll ich Ihnen glauben? Seine Geliebte sind Sie!«

Wortlos öffnete Peter Faber die Tür zu seinem Arbeitszimmer, bat Regine, einzutreten. Sein Gesicht war unbeweglich …

So weit ist Regine Rau mit ihrer Erzählung gekommen, als aufsteigende Tränen ihre Stimme ersticken. Ihre Wangen sind gerötet, ihre Augen glänzen feucht.

Die Stimmung im Schwurgerichtssaal ist umgeschlagen. Niemand kann sich eines mitleidigen Gefühls für die Angeklagte erwehren. Was sie auch getan hat, eines steht fest: wenig Glück, wenig Liebe hat sie in ihrem Leben gehabt. Immer ist sie ein verlorener, verstoßener Mensch gewesen.

Eifrig haben die Reporter mitgeschrieben.

Regina Rau, 18 Jahre

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