Читать книгу Regina Rau, 18 Jahre - Marie Louise Fischer - Страница 5
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ОглавлениеRegine Rau holt tief Atem, kämpft das Schluchzen nieder, das sie in der Kehle würgt. Nein, sie will nicht schwach werden, will kein Schauspiel bieten, nicht unter all diesen neugierigen, mitleidlosen Blicken.
Die Geschworenen sind verwirrt. Es sind Männer und Frauen aus dem Volk ohne juristische Vorbildung. Sie kommen aus den verschiedensten Kreisen, haben sich vorher nie gekannt und nur eines gemeinsam: sie sind über dreißig Jahre alt und unbescholten. Sie sind zu Geschworenen, zu Mitrichtern, in diesem Schwurgerichtsprozeß bestimmt worden, damit sie mit ihrem gesunden Menschenverstand die Berufsrichter beraten. Ihre Aufgabe ist es, die Schuld der Angeklagten zu erkennen, nicht das Strafausmaß zu bestimmen.
Das ist eine große, eine verpflichtende Aufgabe, und sie sind sich dessen bewußt. Und doch sind sie alle, ohne daß sie sich selbst darüber klar waren, mit einem gewissen Vorurteil in den Prozeß gegangen, einem Vorurteil, das durch die Zeitungsberichte über diese Tat verursacht worden ist. Jetzt, nach Regine Raus Bericht über ihre freudlose Jugend und ihrem ersten Zusammentreffen mit der Frau ihres Chefs, sieht alles auf einmal anders aus.
Landgerichtsdirektor Dr. Winkler merkt die veränderte Stimmung im Gerichtssaal. Er spürt, daß die Angeklagte Sympathien gewonnen hat — das hat er nicht beabsichtigt.
Er streicht sich mit der Hand über die spiegelnde Glatze, zeigt jetzt offen sein Lächeln, ein böses Lächeln. »Angeklagte«, sagt er zynisch, »zugegeben, Ihre Geschichte klingt sehr rührend … aber immerhin ist die Haltung von Frau Faber doch menschlich durchaus verständlich!«
Rechtsanwalt Dr. Beermann springt auf. »Ich erhebe Einspruch!«
»Das bleibt Ihnen unbenommen, Herr Verteidiger«, sagt der Richter kalt, »aber ich bin überzeugt, jeder sittlich empfindende Mensch wird mit mir übereinstimmen, daß es eine Zumutung für die Ehefrau ist, wenn der Mann seine Geliebte in die eheliche Wohnung bringt.« Er beugt den Kopf ruckartig vor und wirkt wie ein Raubvogel, der auf sein Opfer herunterstößt. »Angeklagte, Sie waren doch schon damals die Geliebte Peter Fabers … oder wollen Sie das leugnen?«
Regine Rau wird weiß bis an die Lippen. Sie muß für Sekunden die Augen schließen. Nicht die Frage an sich ist es, die sie so erschreckt, sondern die Art, wie sie gestellt worden ist. Schlagartig erkennt sie, daß Dr. Winkler ihr kein gerechter Richter sein will, daß er ihr Feind ist, ein Feind ohne Gnade.
Sie spürt einen leichten Griff um ihren Arm, öffnet die Augen. Die Justizbeamtin Müller, die sie aus der Untersuchungshaft vorgeführt hat, reicht ihr ein Glas Wasser. Dreißig Jahre ihres Lebens hat diese Frau mit Straffälligen hinter Gefängnismauern verbracht. Alles Leid, das über Menschen kommen kann, ist ihr vertraut. Aber diese Erfahrungen haben sie nicht hart gemacht, sondern ihr ein seltenes, tiefes und menschliches Verständnis geschenkt.
Aus ihrem guten, mütterlichen Blick schöpft Regine Rau neue Kraft.
»Ich war nicht seine Geliebte!« sagt sie laut und klar.
»Damals also noch nicht«, konstatierte Doktor Winkler kalt, »aber er hat Ihnen doch zu jener Zeit wohl schon Liebesanträge gemacht?«
»Das hat Peter Faber nie getan!«
»Nie?!« Es sieht aus, als müßte der Richter jetzt geradezu ein Lachen unterdrücken. »Dann erklären Sie uns doch, wie es zu dem intimen Liebesverhältnis zwischen Ihnen und Ihrem Chef gekommen ist!«
Regine Rau bleibt stumm, hält den Kopf hocherhoben.
»Also waren Sie die Verführerin … die treibende Kraft?«
Regine preßt die Lippen zusammen, eine rote Welle steigt ihr in das weiße Gesicht.
Landgerichtsdirektor Dr. Winkler kennt kein Mitleid. »Bilden Sie sich nur nicht ein, Angeklagte, daß Ihr Schweigen Ihnen nützen kann … im Gegenteil! Das Gericht ist auch ohne Ihre Aussage durchaus in der Lage, sich von Ihrer moralischen Haltung ein Bild zu machen.« Er wendet seinen Blick dem vor ihm liegenden Akt zu, so als sei er jetzt an Regines Stellungnahme nicht mehr interessiert.
Regine öffnet die Lippen. »Ich war nicht seine Geliebte … und ich bin nicht seine Geliebte!«
»Was Sie nicht sagen!« Aus der Stimme des Richters klingt offener Hohn. »Wollen Sie etwa leugnen, daß die Ehe zwischen Peter Faber und Herta Faber geborene Randall aus alleinigem Verschulden des Ehegatten geschieden worden ist?«
»Nein …«
»Na also! Und was war der Scheidungsgrund? Überlegen Sie sich Ihre Antwort … ich möchte Sie darauf aufmerksam machen, daß die Scheidungsakten dem Gericht vorliegen!«
Regine Rau schweigt, schiebt das Kinn vor, ein kleines, aber sehr festes Kinn, wie man jetzt sieht.
»Sie waren der Scheidungsgrund!« Scharf und schneidend klingt seine Stimme.
Atemlose Stille herrscht im Schwurgerichtssaal.
Landgerichtsdirektor Dr. Winkler ist mit dem Eindruck, den er gemacht hat, zufrieden. »Eindeutig geht das aus den Scheidungsakten hervor«, sagt er, »es ist ausdrücklich im Scheidungsurteil ausgesprochen …« Er hebt den Akt, der vor ihm liegt, hoch, liest: »Der Beklagte Peter Faber unterhält seit Jahren ehebrecherische Beziehungen zu seiner Mitarbeiterin Regine Rau und war trotz häufiger Vorhaltungen der Ehefrau nicht bereit, diese Beziehungen abzubrechen …«
Dr. Winkler läßt den Akt sinken, blickt die Angeklagte an: »Und Sie wollen immer noch leugnen, daß Peter Faber ein Liebesverhältnis mit Ihnen unterhalten hat!?«
»Ja!«
»Sie haben anscheinend vergessen, daß Sie selbst vor dem Scheidungsrichter zugegeben haben, mit Herrn Faber in intimen Beziehungen zu stehen.«
Rechtsanwalt Dr. Beermann begreift, worauf es dem Richter ankommt: er will Regine Rau vor den Geschworenen und den Zuhörern unglaubwürdig machen. Hat er sie erst einmal mit dieser einen, entscheidenden Lüge überführt, so wird alles, was die Angeklagte später zu ihrer Verteidigung vorbringt, keine Beweiskraft mehr haben, auch wenn sie hundertmal die Wahrheit spricht.
Der Verteidiger dreht sich zu Regine Rau um, spricht auf sie ein, aber sie wehrt mit einer Handbewegung ab.
»Nein, Herr Vorsitzender«, sagt sie mit fester Stimme, »das habe ich niemals ausgesagt.«
»Nicht!?«
»Nein. Ich habe überhaupt nichts auf diese Anschuldigung gesagt. Ich habe die Aussage verweigert.«
»Ah, darauf wollen Sie also hinaus!« Landgerichtsdirektor Dr. Winkler wirkt geradezu befriedigt darüber, daß Regine Rau nicht blind und dumm in die Falle getappt war, die er ihr gestellt hat. Sie erwies sich als ein Gegner, mit dem zu kämpfen es sich lohnt.
»Aber«, sagt er, »ich möchte doch annehmen, daß man Sie über die Bedeutung einer Aussageverweigerung aufgeklärt hat?«
»Ja.«
»Sie wußten also, daß eine Aussageverweigerung in einem solchen Fall einem Schuldbekenntnis gleichkommt?«
»Ja.«
»Und warum haben Sie dann die Aussage verweigert?«
»Aus Gefälligkeit.«
Die Spannung im Publikum löste sich in einem unterdrückten Gelächter.
Der Gerichtsreporter Tim Tümmler sagt halblaut zu seinem Kollegen: »Tolles Ding, was?«
Der Kollege nickt und grinst.
»Wie bitte?« Landgerichtsdirektor Dr. Winkler legt die Hand ans Ohr, als wenn er nicht recht hören könnte. »Aus Gefälligkeit? Vielleicht sind Sie doch so gut und erklären uns das näher.«
Regine Rau sieht ihm gerade in die Augen. »Frau Faber hatte mich als Scheidungsgrund angegeben …«
Der Landgerichtsdirektor fällt ihr ins Wort. »Sie hatte also demnach doch Grund, an der Treue ihres Mannes zu zweifeln?«
»Nein!«
»Weshalb hat Frau Faber Sie dann als Scheidungsgrund angegeben?« Der Richter versteht es, soviel Unglauben in den Ton dieser Frage zu legen, als wenn Regine Rau längst als Lügnerin überführt sei.
»Um Peter Faber und mir eine spätere Heirat zu erschweren, wenn nicht gar unmöglich zu machen«, antwortete die Angeklagte prompt.
»Ohne daß sie den geringsten Grund zur Eifersucht hatte?«
»Ja!«
Fragen und Antworten folgen jetzt Schlag auf Schlag, so schnell, daß der Justizsekretär, der das Protokoll führte, und die Herren auf der Pressebank kaum mitkommen können.
»Und Sie haben daraufhin die Aussage verweigert?« fragt Landgerichtsdirektor Dr. Winkler. »Ohne daß der Tatbestand ehebrecherischer Beziehungen tatsächlich gegeben war?«
»Ja.«
»Sie werden zugeben, Angeklagte, daß das recht unglaubwürdig klingt!«
»Wenn ich nicht die Aussage verweigert hätte, wäre Peter Faber nicht geschieden worden.«
»Aber es war doch Frau Faber, die die Scheidungsklage erhoben hatte!«
»Ja. Aber er wollte geschieden werden.«
»Aha. Er hat Sie also gebeten, die Aussage zu verweigern?«
»Nein. Ich habe es von mir aus getan.«
»Und warum?«
»Weil ich ihn liebte!«
»Also doch! Wenn Sie das gleich zugegeben hätten, hätten wir uns dieses ganze Frage-und-Antwort-Spiel ersparen können.«
»Sie verstehen mich falsch, Herr Vorsitzender!« Klar und gefaßt klingt Regine Raus Stimme. »Liebe, das ist etwas anderes. Liebe hat mit Dingen, von denen Sie sprechen, sehr wenig zu tun. Liebe ist, wenn man sich für einen anderen Menschen verantwortlich fühlt, wenn man ihn beschützen will …« Regine stockt etwas, sucht nach Worten. »Wenn man bereit ist, alles zu tun und zu opfern, um ihn glücklich zu sehen … und sei es mit einem anderen Menschen!«
Um die Lippen Dr. Winklers zuckte es. »Klingt reichlich romantisch«, sagt er abfällig.
Regine Rau steht hoch aufgerichtet. »Sie wissen nicht, was Liebe ist«, sagt sie ihm ins Gesicht, »deshalb können Sie mich auch nicht verstehen!«
Einen Moment ist Dr. Winkler leicht betroffen — liegt nicht doch etwas Wahres in den Worten der Angeklagten? Hat er nicht früher, bevor er von der Frau, die er liebte, enttäuscht und betrogen wurde, selbst so über die Liebe gedacht? Ist er nicht vielleicht wirklich ungerecht und verbittert aus seiner eigenen Enttäuschung heraus? Einer Enttäuschung, an der die Angeklagte, aus welchen Motiven sie auch immer gehandelt haben mag, doch völlig schuldlos ist?
Doch energisch schüttelt der Richter diesen Gedanken von sich ab.
Ironisch verbeugt er sich in Richtung der Angeklagten. »Ich danke für die Aufklärung!«
Beifälliges Gelächter aus dem Zuhörerraum belohnt diesen billigen Scherz. Dr. Winkler fühlt sich in seiner Eitelkeit geschmeichelt, in seiner Überzeugung gestärkt, daß seine Art, diesen Prozeß zu führen, völlig in Ordnung ist.
Ankläger im Schwurgerichtsprozeß Regine Rau ist Oberstaatsanwalt Dr. Kraemer. Bisher hat er noch kein Wort geäußert. Er hat bewegungslos dagesessen, die Arme über der Brust verschränkt, hat sich darauf beschränkt, aufmerksam zu lauschen. Er ist ein etwas behäbiger Mann, vornehm im Aussehen, als sehr korrekt bekannt.
Jetzt erhebt er sich. »Ich beantrage sofortige Vernehmung des Zeugen Peter Faber über die Hintergründe der Ehescheidung!«
Rechtsanwalt Dr. Beermann ist erstaunt. Er selbst hat diesen Antrag stellen wollen, dann aber den Gedanken verworfen, weil er mit einer Ablehnung rechnen mußte. Anträge zu stellen, nur um sich wichtig zu machen, liegt ihm nicht.
Was ist in den Oberstaatsanwalt gefahren? zuckt es ihm blitzschnell durch den Kopf. Was für einen Hintergedanken verfolgt er mit diesem Vorgehen?
»Ich schließe mich dem Antrag des Herrn Oberstaatsanwalts an«, sagt er laut.
Landgerichtsdirektor Dr. Winkler ist verärgert. Es ist reichlich ungewöhnlich, daß Verteidiger und Ankläger am gleichen Strick ziehen, und weil es so ungewöhnlich ist, empfindet er es als bedrohlich — Was bezwecken die beiden damit?, denkt er. Wollen sie mir auf diese Weise die Prozeßführung aus der Hand reißen?
»Herr Oberstaatsanwalt«, sagt er, zu Doktor Kraemer gewandt, »die Scheidungsakten liegen ja vor. Ich denke, sie dürften für unsere Ermittlungen doch genügen.«
»Die Scheidungsakten«, erwidert der Oberstaatsanwalt mit Bestimmtheit, »geben nicht immer ein rechtes Bild. Jeder, der mit dieser Materie vertraut ist, weiß, wie selten in den Akten die wahren Gründe der Ehezerrüttung aufscheinen. Allzuoft wird da in beiderseitigem Einverständnis ein fingierter Scheidungsgrund vorgeschoben.«
»Die Aussageverweigerung der Angeklagten im Scheidungsprozeß besagt gar nichts«, unterstützt Rechtsanwalt Dr. Beermann seinen offiziellen Gegner. »Eine Aussageverweigerung muß durchaus nicht immer ein Schuldbekenntnis sein. Auch ich halte es für ausgesprochen wünschenswert, den Zeugen Peter Faber und auch seine geschiedene Frau über die wahren Gründe der Ehezerrüttung zu vernehmen.«
»Aber, meine Herren, wohin führt uns denn das!?« protestierte der Richter. »Wir sind hier nicht in einem Ehescheidungsverfahren, sondern in einem Schwurgerichtsprozeß!«
»Es hat aber ganz den Anschein«, erklärte der Oberstaatsanwalt, »daß das Motiv für den Mordversuch der Angeklagten in jenem Scheidungsprozeß zu suchen ist. Ich beharre deshalb auf meinem Antrag.« Er setzt sich, wischt sich mit dem Taschentuch den Schweiß von der Stirn. Dr. Kraemer ist die Bürde seines Amtes nie leicht gefallen, heute drückt sie ihn schwerer denn je.
»Also, bitte!« sagt Landgerichtsdirektor Doktor Winkler unwillig und schiebt mit einer Handbewegung die Verantwortung sozusagen von sich weg und auf den Verteidiger und den Staatsanwalt zu. Dann gibt er dem Justizwachtmeister den Auftrag, den Zeugen Peter Faber aufzurufen.
Eine kleine Pause tritt in der Verhandlung ein. Regine Rau setzt sich. Sie ist erschöpft, läßt es sich aber nicht anmerken.
Die Zuhörer tauschen leise Bemerkungen aus. Die Journalisten vergleichen ihre Notizen, bemühen sich, Lücken, die ihnen in der Eile unterlaufen sind, zu schließen. Tim Tümmler und einer seiner Kollegen verlassen den Schwurgerichtssaal. Sie wollen mit ihren Zeitungen telefonieren.
Die Geschworenen setzen sich bequemer. Eine der Geschworenen, Frau Marie Heimerer, gähnt hinter vorgehaltener Hand. Sie beginnt sich zu langweilen, von ihr aus könnte der Prozeß jetzt schon zu Ende sein. Sie hat sich längst ein festes Urteil gebildet.
In den Augen dieser Geschworenen ist Regine Rau schuldig. Nicht nur im Sinn der Anklage, sondern darüber hinaus ist sie nach Meinung Frau Heimerers schuld an der Zerstörung einer Ehe. Frau Heimerer fühlt voll und ganz mit Herta Faber, sie hat ja dasselbe durchgestanden.
Unwillkürlich muß sie jetzt wieder daran denken. Ihr eigener Mann hat sie verlassen, um einer anderen, einer jüngeren willen. Was hat sie nicht alles durchgemacht wegen dieser Person. Wie hat er ihr das antun können? — Bin ich ihm denn nicht immer eine sparsame und fleißige Hausfrau gewesen?, denkt sie zum tausendstenmal. Habe ich ihm nicht zwei gesunde Kinder geboren? Und trotzdem hat er mich betrogen. Man kann mir doch keinen Vorwurf daraus machen, daß ich immer eine anständige Frau war. Es ist doch nicht meine Schuld, daß mir die sogenannten ehelichen Verpflichtungen von Anfang an zuwider waren!
Die Geschworene Marie Heimerer denkt daran, wie ihr Mann ihr einmal hundert Mark angeboten hat für eine einzige Nacht. Sie hat ihn ausgelacht. Noch heute ist sie stolz auf die Antwort, die sie ihm gegeben hat: »Geh weg! Damit kannst du mich nicht ködern. Du mußt mir ja so und so das Geld abgeben, welches du verdienst, für die Wirtschaft und was dazu gehört!«
Und dann war er gegangen. Zu der anderen.
Das ist nun schon Jahre her, und dennoch ist der Haß Frau Heimerers gegen diese andere, die junge Person, nicht geringer geworden. Diesen bösen, schwelenden Haß überträgt sie nun auf die Angeklagte Regine Rau.
Frau Heimerer wird aus ihren Gedanken gerissen. Begleitet von einem uniformierten Beamten betritt Peter Faber den Schwurgerichtssaal.
Die Frauen und Mädchen auf den hinteren Bänken stehen auf, um ihn, Peter Faber, um dessentwillen die Angeklagte eine andere Frau niedergeschossen hat, besser sehen zu können. Er ist groß und schlank, hat breite Schultern und schmale Hüften. Nachlässig sind seine Bewegungen. Sein Haar ist voll, seine Stirn hoch. Er ist ein sehr männlich wirkender, sehr gut aussehender Mann, ein Typ, wie ihn die Frauen lieben.
Unwillkürlich hat die Angeklagte sich wieder erhoben. Sie preßt die Hände vor die Brust, heftete den Blick ihrer großen braunen Augen flehend auf sein Gesicht.
Peter Faber erwidert diesen stummen Gruß. Unwillkürlich macht er einige Schritte auf sie zu. Es zieht ihn zu ihr hin.
Der Beamte faßt ihn leicht am Arm. »Das geht nicht, Herr Faber«, sagt er halblaut, »machen Sie keinen Ärger!« Er dirigiert Peter Faber vor den Richtertisch.
»Sie sind der Zeuge Peter Faber?« fragt Landgerichtsdirektor Dr. Winkler.
»Ja.«
»Diplomingenieur und Architekt?«
»Ja.«
»Wo geboren?«
»Berlin.«
»Alter.«
»Zweiunddreißig.«
»Mit der Angeklagten nicht verwandt oder verschwägert …«
Peter Faber strafft die Schultern. »Wir sind verlobt!«
Der Richter läßt sich nicht von seiner vorgefaßten Meinung abbringen. »Sie waren verlobt, wollen Sie wohl sagen …«
»Nein. Ich bin mit Regine Rau verlobt.« Fest und klar klingt die Stimme des jungen Mannes.
Gott sei Dank, denkt die Angeklagte, Gott sei Dank! — Sie fühlt sich unendlich erleichtert. Nicht, weil er sich zu ihr bekennt, sondern einzig und allein deswegen, weil er nüchtern ist. Sie hat im innersten Herzen so sehr befürchtet, daß er sich vor der Verhandlung Mut antrinken würde.
»Ich muß Sie darauf aufmerksam machen, Herr Faber«, sagt Landgerichtsdirektor Dr. Winkler, »eine Verlobung ist keine bloße Formsache. Sie ist ein von beiden Seiten ernst gemeintes Eheversprechen.«
»Das weiß ich.«
»Sie wollen also die Angeklagte nach wie vor … trotz des Verbrechens, das sie begangen hat, heiraten?«
»In meinen Augen ist das, was sie getan hat, kein Verbrechen!«
»Pfui!« kreischt eine schrille Stimme aus dem Zuschauerraum.
»Pfui!« — »Pfui!« — »Pfui!« rufen auch andere Zuhörerinnen.
Der Vorsitzende rügt die Schreier nicht, er wartet einfach ab, bis sich der Aufruhr von selbst legt. Ihm ist es ganz recht so. Sollen der Oberstaatsanwalt und der Verteidiger ruhig Kenntnis von der Meinung der Öffentlichkeit nehmen.
»Als Verlobter«, sagt er endlich, zu dem Zeugen Faber gewandt, »haben Sie das Recht, Ihre Aussage zu verweigern.«
»Nein. Ich will sprechen.«
»Dann müssen Sie sich, trotz Ihrer persönlichen Beziehungen zu der Angeklagten, streng an die Wahrheit halten. Wer vor Gericht vorsätzlich falsch aussagt, wird mit Gefängnis nicht unter drei Monaten bestraft.«
»Setzen Sie etwa voraus, daß ich lügen werde?«
Landgerichtsdirektor Dr. Winkler überhörte diesen Einwurf. »Ich mache Sie darauf aufmerksam, Herr Faber, daß Sie außerdem damit rechnen müssen, vereidigt zu werden. Meineid aber wird mit Zuchthaus bestraft. Ist Ihnen das klar?«
»Vollständig.«
»Sie möchten trotzdem aussagen?«
»Das habe ich doch schon sehr deutlich gesagt.«
Rechtsanwalt Dr. Beermann muß an sich halten. Er weiß, daß die Art Peter Fabers keinen guten Eindruck auf alle machen kann. Er ärgert sich über das Auftreten dieses Entlastungszeugen, der es darauf angelegt zu haben scheint, sich und Regine Rau unmöglich zu machen. Zu gern möchte er eingreifen, aber er sieht im Augenblick keine Möglichkeit dazu.
Dem Richter ist es dagegen ganz recht, daß der Zeuge sich selbst in ein schlechtes Licht setzt. Gleichmütig sagt er: »Trotz Ihrer grundsätzlichen Bereitschaft zur Zeugenaussage bleibt Ihnen jederzeit das Recht, die Beantwortung von Einzelfragen gegebenenfalls zu verweigern, und zwar ohne nähere Begründung.«
Peter Faber zuckt die Achseln. »Ich werde alle Fragen beantworten.«
»Wie Sie meinen.« Landgerichtsdirektor Doktor Winkler blättert in den Akten. Eigentlich könnte er die Vernehmung dieses Zeugen dem Oberstaatsanwalt und dem Verteidiger überlassen, die seine vorzeitige Vernehmung ja beantragt haben. Aber er denkt nicht daran. Das wäre ja noch schöner, wenn er sich die Prozeßführung von einem dieser beiden Herren aus der Hand nehmen lassen würde. Noch ist er der Richter — warum sollte er sich an die Wand spielen lassen?
»Herr Faber«, beginnt er in einem sehr gelassenen, sachlichen Ton, der dazu bestimmt ist, auf die Geschworenen Eindruck zu machen, »aus den Scheidungsakten geht hervor, daß Sie schon während Ihrer Ehe intime Beziehungen zu der Angeklagten unterhielten …«
»Nein!« fällt Peter Faber ihm ins Wort.
»Können Sie das beschwören?«
»Ja.«
»Dann erklären Sie uns doch, wie es möglich ist, daß die Angeklagte im Scheidungsurteil als Scheidungsgrund angegeben ist.«
»Weil meine Frau es so wollte.«
Zu dieser Behauptung sagt der Landgerichtsdirektor gar nichts. Er hebt nur die Augenbrauen, und sein trockenes Gesicht erstarrt so zu einer Maske des Unglaubens.
Peter Faber fühlt sich herausgefordert. »Nur unter dieser Bedingung«, sagt er, »war meine Frau bereit, in die Scheidung einzuwilligen.«
»Sie haben also, wenn ich Sie recht verstehe, die Angeklagte, Ihre damalige Sekretärin, gebeten, ihre Aussage innerhalb des Scheidungsprozesses zu verweigern?«
»Nein. Sie hat es von sich aus getan.«
Jetzt ist dem Richter doch anzumerken, daß er sich ärgert. Es paßt ihm nicht, daß die Aussagen des Zeugen sich ganz genau mit denen der Angeklagten decken. — Kein Wunder, denkt er, sie haben wahrscheinlich für den Fall des Falles alles miteinander abgesprochen! — Er sieht ein, daß er so nicht weiterkommt.
»Weshalb«, fragt er jetzt ganz direkt, »wurde Ihre Ehe dann in Wahrheit geschieden?«
Einen Moment zögert Peter Faber mit der Antwort. »Sie war ein Mißgriff«, sagt er, »von Anfang an.«
»Bitte, erklären Sie das näher.«
Peter Faber denkt nach. »Es begann schon auf der Hochzeitsreise. Wir waren an die französische Riviera gefahren. Schon damals gab es den ersten großen Krach.«
»Und worüber?«
»Das … ja, das kann ich Ihnen beim besten Willen nicht mehr sagen … das heißt, eigentlich habe ich nie begriffen, was eigentlich los war. Irgendeine Kleinigkeit … eine Belanglosigkeit war es. Am Morgen nach der Hochzeitsnacht. Ich war früh aufgestanden, hatte einen längeren Spaziergang gemacht. Meine Frau hatte ich schlafen lassen. Als ich zurückkam, saß sie auf dem Balkon unseres Zimmers und frühstückte …
Herta, die jungverheiratete Frau Faber, sah zauberhaft aus an diesem Morgen. Sie trug ein schneeweißes Spitzennegligé, das sich wie eine weiße Wolke um ihre langen, überschlanken Glieder bauschte. Das blonde Haar, das sie gewöhnlich aufgesteckt trug, fiel ihr bis auf die Schultern, schimmerte in der Sonne.
Peter Faber, der aus dem Zimmer trat, konnte den Ausdruck ihres Gesichts nicht sehen. Es entging ihm, daß sie blaß war, daß tiefe Schatten unter ihren Augen lagen.
»Liebling«, rief er, »ausgeschlafen?« Er wollte sie in die Arme nehmen.
Aber sie zuckte vor ihm zurück.
»Nanu?« sagte er. »Schlechte Laune?«
Sie antwortete nicht.
»Ist etwas passiert?«
»Nein«, sagte sie mit erstickter Stimme, »nichts … nicht das Geringste!«
»Aber warum bist du dann so komisch? Warum siehst du mich nicht an? Störe ich dich etwa?«
Jetzt, zum erstenmal an diesem Morgen, wandte sie sich zu ihm um. Ihre eisblauen Augen schleuderten Blitze. »Ja«, sagte sie heftig, »du störst mich.«
Er war so verblüfft, daß er nicht wußte, ob er sich entrüsten oder lachen sollte. »Aber Liebling«, sagte er, »was sind das für Ideen!« Er zog sich einen Korbstuhl an den kleinen Tisch, setzte sich ihre gegenüber nieder. »Komm, mach ein freundliches Gesicht, es ist herrliches Wetter, wir sind auf der Hochzeitsreise …«
»Bist du zurückgekommen, um mir das zu erzählen?«
»Nein, natürlich nicht«, sagte er verwirrt, mehr noch über ihren Ton, als über ihre Worte, »ich … ich wollte nach dir sehen, wissen, wie es dir geht.«
»Das weißt du ja inzwischen, also könntest du mich ebensogut wieder allein lassen.«
»Aber Liebling … wir sind verheiratet! Ich bin dein Mann!«
Plötzlich war es um ihre Fassung geschehen. »Ja, ja, ich weiß! Kannst du dir denn nicht vorstellen, daß mir gerade das so unerträglich ist?! Nie, nie in meinem Leben habe ich mit einem anderen Menschen das Schlafzimmer teilen müssen, immer habe ich einen Raum für mich allein gehabt. Meinem Vater wäre nie im Traum eingefallen, mich einfach zu überfallen … begreifst du denn nicht, daß ich wahnsinnig werde, wenn ich keine Möglichkeit habe, allein zu sein!?«
»Wenn das so ist«, sagte er und stand auf, »ich kann genausogut gehen!« Aber er konnte es nicht glauben, daß sie es ernst meinte, war fest überzeugt, daß sie ihn zurückhalten würde.
»Ja!« schrie sie, »geh! Worauf wartest du noch? Geh, geh, ich kann dich nicht mehr sehen! Ich habe genug von dir … genug von allen Männern! Geh!«