Читать книгу Susebill tut was sie will - Marie Louise Fischer - Страница 5
Gemischte Gefühle
ОглавлениеDie Praxis von Dr. Hans Meixner lag im selben Stockwerk des großen Mietshauses wie die Wohnung seiner Familie. Aber den Kindern war es nur ausnahmsweise erlaubt, den Vater während der Arbeit aufzusuchen. Eine Ausnahme machte Andrea, die Älteste. Sie besaß viel Geschick im Umgang mit kranken Tieren und durfte sogar manchmal helfen, wenn Fräulein Hülsner, die Sprechstundenhilfe, krank oder beim Friseur war. Andrea wollte später Tiermedizin studieren wie der Vater.
Sonst sahen die Kinder die vierbeinigen und geflügelten Patienten nur im Treppenhaus. Kranke Hunde, Katzen, Schildkröten, Eidechsen und Igel wurden zu Dr. Meixner gebracht, Goldhamster und Meerschweinchen, Kanarienvögel, Papageien, Wellensittiche, Raben und zahme Amseln, und einmal sogar ein kleiner Löwe. Manche Tiere wirkten ganz munter, aber den meisten sah man schon von weitem an, daß sie krank waren – Fell und Federn waren glanzlos, die Augen trübe, einige waren bandagiert oder hatten einen Ausschlag.
Als Susebill eines Mittags früher als gewöhnlich aus der Schule kam, traf sie unten im Haustor mit einer alten Dame zusammen, die sich vergeblich bemühte, ihren schönen grauen Scotchterrier an der Leine nach oben zu zerren. Der Hund wollte einfach nicht.
Susebill blieb stehen. „Hat er Angst?“ fragte sie interessiert.
Die alte Dame nickte. „Ja. Mecki hat Ohrenzwang. Sieh nur, wie er immerzu den Kopf schüttelt. Es tut furchtbar weh, sobald man nur in die Nähe des Ohres kommt, und der Tierarzt muß ihn doch berühren, sonst kann er ihn ja nicht behandeln.“
Susebill hockte sich in die Knie. „Nun hör mal gut zu, Mecki“, sagte sie schmeichelnd, „du bist doch ein großer vernünftiger Hund … Willst du denn krank sein? Nein, bestimmt nicht. Dann mußt du jetzt aber auch tapfer sein. Der Tierdoktor da oben ist mein Vater, weißt du, und der tut keinem Tier weh … Jedenfalls nicht mehr, als unbedingt notwendig ist. Also komm, Mecki … komm!“
Sie erhob sich und ging langsam voraus, und Mecki, wahrscheinlich angenehm beruhigt von dem freundlichen Ton ihrer Stimme, folgte ihr tatsächlich. Im zweiten Stock blieb Susebill stehen, machte einen Knicks und sagte zu der alten Dame: „So, da wären wir …“ Sie wies mit dem Kopf auf die Wohnungstür. „Ich muß jetzt hier rein …“
„Bitte, liebes Kind, bitte … könntest du uns nicht noch ins Wartezimmer begleiten?“ fragte die alte Dame. „Und könntest du nicht mit deinem Vater sprechen, daß er Mecki gleich drannimmt? Er wird sonst immer nervöser.“
Tatsächlich zerrte Mecki schon wieder heftig an seinem Halsband und schüttelte den Kopf in geradezu beängstigender Weise.
Susebill runzelte die Stirn. „Will mal sehen, was sich machen läßt“, sagte sie gnädig und öffnete die Tür zu dem kleinen Vorraum. „Gehen Sie bitte nicht ins Wartezimmer, ich will meinen Vater fragen …“ Sie zögerte einen Augenblick, dann drückte sie entschlossen die Klinke nieder und öffnete die Tür zum Behandlungszimmer.
„Du Rüpel! Du Rüpel! Scher dich hinaus!“ schrie eine grobe schnarrende Stimme.
Vor Schreck wäre Susebill wirklich beinahe wieder zurückgesprungen. Dann erkannte sie, daß die aufgebrachte Stimme keinem Menschen gehörte, sondern einem weißen Kakadu mit einem prächtigen blauen Schopf.
Dr. Meixner lachte, als er ihr Gesicht sah. „Geschieht dir ganz recht“, sagte er, „du weißt genau, daß ich Überfälle in meinen geheiligten Räumen nicht liebe!“
„Aber ich wollte doch nur …“, begann Susebill verdattert.
„Rüpel! Rüpel!“ schrie der Kakadu böse.
Ein älterer Herr, offensichtlich der Besitzer des komischen Vogels, warf ein großes wollenes Tuch über den goldglänzenden Käfig. „Ich fürchte, ich muß mich für Josefines Grobheit entschuldigen“, sagte er, „sie gebraucht immer diese schrecklichen Worte, wenn sie fremde Menschen sieht.“
„Kann sie auch andere? Ich meine, kann sie auch nett reden?“ fragte Susebill interessiert.
„O ja, natürlich!“ sagte ihr Besitzer stolz, lüftete das wollene Tuch und bat zärtlich: „Bitte, Josefine, sag mal was Liebes!“
„Süßer Liebling!“ schnarrte der Kakadu prompt, aber es klang genauso aufgebracht wie sein früheres „Rüpel“.
Susebill lachte, und Dr. Meixner gab dem älteren Herrn rasch ein Rezept, das er aufgeschrieben hatte. „Hier, davon geben Sie Josefine bitte täglich dreimal drei Tropfen, am besten auf Zucker, dann merkt sie kaum etwas davon … Sie schmecken nicht gerade glänzend, aber sie muß sie nehmen.“
„Danke, Herr Doktor, vielen Dank …“ Der ältere Herr verabschiedete sich.
„Und was hast du hier zu suchen?“ wandte Dr. Meixner sich an seine kleine Tochter.
Als Susebill den Mund aufmachte, schnitt er ihr das Wort ab: „Keine langatmigen Erklärungen bitte. Was du auch immer auf dem Herzen hast, ich bin sicher, es hätte Zeit gehabt bis zum Mittagessen.“
„Nein, Vater!“ rief Susebill. „Ganz bestimmt nicht … ich muß dich jetzt sprechen, jetzt sofort! Die alte Dame hat schrecklichen Ohrenzwang … Ich meine ihren Hund natürlich, Mecki heißt er, und deshalb … Ich habe sie draußen im Vorraum warten lassen, weil Mecki sonst immer nervöser wird …“
Dr. Meixner hob die Augenbrauen. „Bist du deshalb gekommen?“ fragte er.
„Ja natürlich, ich wollte doch nur … Bitte, könntest du Mecki nicht sofort drannehmen? Jetzt gleich? Ausnahmsweise?“
„Susebill“, sagte Dr. Meixner, „jetzt sieh mich mal an, ganz fest, nicht mit einem solchen Augenaufschlag, du weißt ja …“
Susebill schmunzelte. „Braune Augen sind nett, aber sehr kokett!“
„Schwindelst du mich nicht an?“
„Ich weiß gar nicht, was du meinst.“
„Es hat dir also nicht zufällig ein kleines Vögelchen etwas von einem Telegramm gezwitschert?“
„Telegramm?“ Susebill bekam vor Staunen den Mund nicht mehr zu.
„Ja, heute früh ist ein Telegramm von Tante Bettina durchgesagt worden, sie …“
„Sie kommt?“ schrie Susebill und tanzte von einem Bein auf das andere. „Sie kommt, Väterchen?“
„Ja. Übermorgen. Und du bist wirklich nicht gekommen, um dich darüber zu vergewissern?“
Susebill flog ihrem Vater in die Arme. „Nein, nein, nein! Ich wußte es nicht! Ich hab es nicht geahnt! Oh, wie fabelhaft! Tante Bettina kommt!“ Sie sauste zur Tür, drehte sich dann ganz plötzlich doch noch einmal um. „Aber du nimmst den armen Mecki jetzt doch gleich dran, ja?“ Und dann wirbelte sie aus dem Zimmer.
Dr. Meixner sah ihr kopfschüttelnd nach. Dann wandte er sich an Fräulein Hülsner, die die ganze Zeit stumm am Fenstertisch gesessen und die Blutprobe einer kranken Siamkatze analysiert hatte. „Was sagen Sie dazu?“ fragte er.
„Keine Sorge, Herr Doktor, sie wird sich schon noch mausern!“
Fräulein Hülsner stand auf und ließ den kranken Scotch und seine Herrin ein.
Beim Mittagessen wurde heftig über Tante Bettinas angekündigten Besuch diskutiert. Susebill und Theo, das Nesthäkchen, freuten sich unbändig. Andrea, die Große, etwas gedämpfter, während Stefanie und Thomas über die Aussicht, sich in ihren besten Kleidern und von ihrer besten Seite präsentieren zu müssen, alles andere als glücklich waren.
Eigentlich war Frau Bettina Gütler gar keine wirkliche Tante, sondern Mutters Schulfreundin. Sie hatte einen sehr reichen Mann geheiratet und war immer hochelegant. Frau Meixner versuchte niemals, ihr etwas vorzumachen, dennoch legte sie natürlich Wert darauf, sich von der Freundin nicht beschämen zu lassen. Sie wollte gerne ihre Kinder und ihre Wohnung im besten Licht zeigen, und das war für die Wildfänge Thomas und Stefanie durchaus nicht angenehm.
„Ausgerechnet Samstag“, maulte Thomas, „wo ich mit ein paar aus meiner Klasse Fußballspielen gehen wollte …“
„Und ich!“ rief Stefanie. „Ich wollte zum Himbeerenpflücken fahren – und nun …“ Sie schluckte.
„Was … nun?“ fragte Dr. Meixner.
„Alles Essig“, sagte Thomas, „wir müssen zu Hause bleiben und feine Leute spielen!“
„Thomas!“ sagte die Mutter böse. „Bitte! Was sind das für ungezogene Redensarten …“
„Laß ihn nur, Hilde, wahrscheinlich meint er es so, wie er sagt …“
„Na klar! Was denn sonst?“
„Trotzdem möchte ich dich bitten, mich erst aussprechen zu lassen, Thomas, das dürfte wohl das wenigste sein. Also, bitte herhören! Was ich jetzt sage, gilt für alle … Wer von euch keinen Wert darauf legt, zur Begrüßung von Tante Bettina zu Hause zu bleiben, der kann es lassen. Gezwungen wird niemand.“
Einen Augenblick schwiegen alle verblüfft.
„Soll das heißen“, fragte Thomas dann ein wenig unsicher, „soll das heißen, Vater, daß ich trotzdem zum Fußballspielen gehen kann?“
„Sicher!“
„Und ich zum Himbeerpflücken?“ fragte Stefanie.
„Wohin du willst.“
Stefanie und Thomas sahen sich an.
„Das ist aber wirklich sehr großzügig von dir, Vater“, sagte der Junge dann, „vielen Dank.“
„Nichts zu danken, mein Sohn. Das ist doch wirklich ganz selbstverständlich. Ich setze natürlich voraus, daß ihr auch bereit seid, auf Tante Bettinas Mitbringsel zu verzichten.“
Susebill lachte schallend, und Thomas und Stefanie zogen lange Gesichter.
„Wer bekommt denn dann die Geschenke?“ fragte Stefanie.
„Wer zu Hause bleibt natürlich!“ rief Susebill.
„Irrtum“, sagte der Vater, „Mitbringsel, für die sich kein Empfänger einstellt, werden dem Waisenhaus gestiftet. Bitte, versucht mir jetzt nicht einzureden, daß ihr erst die Geschenke entgegennehmen und dann noch fortgehen könnt oder umgekehrt … Es ist unanständig, nur deshalb nett zu einem Menschen zu sein, weil man etwas von ihm haben will. Ansonsten scheint euch beiden, Stefanie und Thomas, jedenfalls nichts an Tante Bettina zu liegen … Ich bin wirklich sehr gespannt, ob ihr soviel Charakter habt, zu eurer Überzeugung zu stehen.“
Nachher, als die drei Mädchen auf ihr Zimmer gegangen waren, um Schularbeiten zu machen, sagte Susebill: „Ich weiß gar nicht, was du hast, Stefanie! Ich finde Tante Bettina fabelhaft … sie selber, nicht nur ihre Geschenke.“
„Sie ist so fein, daß man gar nicht wagt, sie anzurühren.“
„Wozu auch? Bloß die kleinen Kinder müssen alles anfassen …“
„Sie lebt in einer ganz anderen Welt als wir. Wenn man ihr etwas erzählt, dann tut sie wohl so, als ob sie zuhört, sie lächelt auch dabei, aber in Wirklichkeit begreift sie gar nichts.“
„Das kommt daher, weil sie so reich und so verwöhnt ist.“
„Nein“, sagte Andrea überraschend, „das kommt, weil sie sehr unglücklich ist.“
„Unglücklich?“ Susebill riß Mund und Ohren auf. „Tante Bettina? Andrea, du spinnst wohl! So verwöhnt, wie Tante Bettina ist, und dann unglücklich? Nein, das ist ganz ausgeschlossen.“
„Doch ist es wahr!“ Stefanie hatte sich rücklings auf ihr Bett geworfen und starrte zur Decke. „Andrea hat recht … aber davon verstehst du doch noch nichts, Kleine.“
Nichts konnte Susebill so aufbringen, als wenn jemand gönnerhaft „Kleine“ zu ihr sagte. Mit einem Aufschrei stürzte sie sich auf Stefanie und fuhr ihr mit beiden Händen in das Haar. Stefanie war in der ungünstigeren Lage, weil sie unten lag, aber sie bekam Susebills Kopf zu fassen und zerrte aus Leibeskräften daran.
„Aufhören!“ rief Andrea zornig. „Kinder, was fällt euch denn ein!“ Sie packte Susebill bei den Schultern und riß die beiden streitbaren Schwestern auseinander. „Schluß jetzt … aber sofort!“
„Susebill hat angefangen, dieses Biest!“ sagte Stefanie und fuhr sich mit beiden Händen durch die zerzausten Haare.
„Nein, Stefanie war schuld!“ behauptete Susebill. „Sie tut, als wäre ich ein Baby … Und du auch, Andrea! Warum fangt ihr erst an, was zu erzählen, und nachher hört ihr plötzlich auf und behauptet, ich wäre zu klein, um es zu verstehen … Zu klein! So ein Quatsch! So gescheit wie ihr bin ich noch lange!“
„Das sieht man an deinen Leistungen in Mathematik!“ sagte Stefanie spitz.
Susebill wollte sich sofort wieder auf die Schwester stürzen, aber diesmal konnte Andrea Handgreiflichkeiten gerade noch rechtzeitig verhindern.
„Gut, ich will es dir erklären“, sagte sie und faßte Susebill fest bei den Schultern, „Tante Bettina ist unglücklich, weil sie und Onkel Daniel keine Kinder haben.“
Susebill holte tief Luft. „Du machst Witze“, sagte sie.
„Na also, was habe ich denn gesagt!“ rief Stefanie. „Sie versteht es einfach nicht, sie ist noch zu grün.“
„Verstehst du das denn?“ fragte Susebill. „Daß ein Mensch, der alles hat, unglücklich sein soll, bloß weil er keine Kinder hat?“ Sie legte den Finger an die Nase. „Nein, mich könnt ihr nicht reinlegen. Das habt ihr euch bloß ausgedacht. Tante Bettina hat ein todschickes Haus, einen himmlischen Wagen, Geld wie Heu, die tollsten Kleider …“
„Ja, aber sie ist trotzdem unglücklich“, sagte Andrea.
„Versteh das ein anderer. Als wenn Kinder so was Besonderes wären. Was hat man schon von Kindern? Putzen, waschen, flicken, kochen, saubermachen … nichts als Mühe und Last. Na ja, vielleicht ist es auch von Zeit zu Zeit ganz lustig, aber wenn ich mal verheiratet bin, ich kann auf Kinder leicht verzichten.“
„Dich nimmt ja niemand, damit fängt es an“, sagte Stefanie.
Susebill zeigte ihr die Zunge. „Hast du gedacht!“ Plötzlich wurde sie nachdenklich. „Aber wenn’s wirklich so ist, daß sie sich deswegen grämt, dann sollten wir doch eigentlich … besonders lieb zu Tante Bettina sein, nicht wahr?“
Andrea lächelte. „Das ist das erste vernünftige Wort, das du seit langer Zeit gesagt hast, Susebill!“