Читать книгу Ein Herz für mich allein - Marie Louise Fischer - Страница 4
I.
ОглавлениеBettina verhielt mitten im Tanz und blickte über ihre Schulter zurück zu dem Tisch, an dem sie und ihre Schwester gesessen hatten. »Wo ist Ursel?«
»Verdammt!« Jürgen Holbach, ihr Tanzpartner, war durch diesen unerwarteten Stillstand ins Stolpern geraten, fügte aber sofort reuig hinzu: »Entschuldige bitte, Bettina … was hast du gesagt?«
Sie wandte ihm ihr helles herzförmiges Gesicht mit dem vollen, schöngeschwungenen Mund und den klaren, weit auseinanderstehenden Augen zu. »Ob du Ursel irgendwo gesehen hast!«
»Bestimmt!« sagte er, bemüht, wieder in den Rhythmus des Tanzes zurückzufinden. »Noch vor ein paar Minuten … warum?«
»Ich seh’ sie nirgends!« Bettina blickte über Jürgen Holbachs Schulter suchend in das Gewühl. Die kleine Tanzfläche des Hinterzimmers vom Café ›Lorzing‹, das die Schüler und Schülerinnen der Städtischen Mittelschule für ihre Abschlußfeier gemietet hatten, war gesteckt voll. Bettina sah lauter bekannte Gesichter, aber das ihrer Schwester war nicht darunter.
»Und wenn schon!? Was soll’s?« sagte Jürgen Holbach. »Sie kann sich ja nicht verflüchtigt haben!«
Die Musik klang aus, die Paare blieben stehen. Bettina wollte die Gelegenheit benutzen, sich auf die Suche nach Ursel zu machen.
Jürgen Holbach hielt sie fest. »Hör mal, Bettina«, sagte er bittend, »sei doch nicht so … du kannst dich doch jetzt nicht einfach verkrümeln!«
»Bloß auf einen Sprung! Ich will sehen, wo sie steckt … ich bin gleich wieder zurück.«
»Das kenne ich. Sobald man dich aus den Augen läßt, hat dich ein anderer geschnappt … wenigstens den nächsten Tanz noch, Bettina!«
Die Schulband – vier Jungen und ein Mädchen am Klavier – stimmten mit nicht ganz gelungenem Einsatz einen feurigen Cha-cha-cha an. Es fiel Bettina nicht leicht, der Versuchung zu widerstehen. Sie tanzte gut und leidenschaftlich gerne. Aber ihre Sorge um die Schwester war stärker. Geschickt löste sie sich aus Jürgen Holbachs Armen, bahnte sich einen Weg durch die Tanzenden.
Jürgen Holbach versuchte ihr zu folgen, aber ehe er die Tür erreichte, war Bettinas blonder Schopf schon verschwunden.
Er stellte sich in die Nähe der Wand, zündete sich eine Zigarette an. Er war enttäuscht und verärgert, dennoch konnte er auf Bettina nicht böse sein. –
Bettina begriff selber nicht, warum sie die Abwesenheit ihrer Schwester so beunruhigt hatte. Vielleicht kam es einfach daher, daß sie und Ursel, im Gegensatz zu den anderen, ohne ihre Eltern zur Abschlußfeier gekommen waren. Der Vater war verreist, und die Mutter hatte den kleinen Heiner, der mit einer Grippe zu Bett lag, nicht allein lassen mögen. Bettina fühlte sich für die Schwester verantwortlich, obwohl sie sehr gut wußte, daß das eigentlich unsinnig war. Schließlich war Ursel fast ein Jahr älter als sie selber und durchaus imstande, auf sich aufzupassen. Trotzdem stieg Bettinas Unruhe von Sekunde zu Sekunde, während sie die Nebenräume absuchte, jeden, der ihr begegnete, nach Ursel fragte, ohne sie jedoch zu finden.
Möglicherweise war sie schon nach Haus gegangen. Aber ohne ihr etwas zu sagen? Auch das war unwahrscheinlich.
Auf gut Glück öffnete Bettina eine Tür, von der sie nicht ahnte, wohin sie führte, und – sah ihre Schwester Ursel. Sie hockte auf einer kleinen Treppenleiter in einem Abstellraum. Bettina erkannte in dem schwachen Licht, das vom Flur in das dunkle kleine Zimmer schien, nur undeutlich ihren weißen Spitzenkragen und die dazu passenden großen Manschetten.
»Sag mal … bist du wahnsinnig geworden?« sagte sie verblüfft.
»Laß mich in Ruh!« Ursels Stimme klang wütend und verzweifelt.
Bettina zog die Tür hinter sich ins Schloß, knipste das Licht an. Eine winzige Glühbirne an der sehr hohen Decke der Kammer warf ihr Licht auf Stöße von Tellern und Tassen in Wandregalen, auf Stapel von Tischtüchern, Handtüchern, auf Besen und Eimer und auf Ursels verweintes Gesicht.
»Ursel«, fragte Bettina, »ist was passiert?«
»Das fragst du mich?«
Bettina hob hilflos die Hände. »Ja, aber … habe ich dir etwa was getan?«
»Nein. Du nicht. Du bist ja immer der reinste Unschuldsengel!«
»Ich weiß wirklich nicht, Ursel …«
»Nein, dir ist es bestimmt nicht aufgefallen, daß du mir alle Tänzer weggeschnappt hast, wie? Wie solltest du auch was dabei finden! Du bist es ja so gewohnt! Du bist die schöne, die begabte, die kluge Bettina! Du kannst verlangen, daß alles sich um dich dreht! Was interessiert es dich denn, wenn du mir mein ganzes Leben kaputt machst?! Du, du bist so gemein … so gemein!« Ursel hob die zu Fäusten geballten Hände und schüttelte sie in verzweifelter Wut.
Bettina holte tief Luft. »Ursel«, sagte sie eindringlich, »du weißt sehr gut, daß alles, was du jetzt redest, Unsinn ist. Ich habe dir nicht einen einzigen Tänzer weggeschnappt, das redest du dir ja bloß ein! Du hast genau soviel getanzt wie ich …«
»Ja, das habe ich. Das stimmt haargenau. Weil du jedesmal nur mit einem tanzen konntest. Und wer bei dir zu spät kam, hat sich dann gnädig meiner erbarmt. Glaubst du etwa, so was macht Spaß?«
Bettina wurde blaß. Sie spürte, daß die Vorwürfe ihrer Schwester nicht ganz unberechtigt waren. »Ursel!« sagte sie. »Du weißt genau … ich kann doch nichts dafür!«
»Dafür! Dafür! Was interessiert es mich, ob du etwas dafür kannst! Ich habe es satt … verstehst du!« Ursula griff sich mit der Hand an die Kehle. »Satt bis hierhin, immer nur in deinem Schatten zu stehen. Weißt du, wie sie in der Stadt von mir reden … weißt du das? Für niemanden bin ich Ursel Bürger … nein! Bettinas Schwester nennen sie mich! Verdammt … das ist ja wirklich nicht mehr zu ertragen.«
»Bildest du dir das nicht alles nur ein, Ursel?« sagte Bettina. »Das ist doch alles … furchtbar übertrieben. Du bist doch mindestens so hübsch wie ich …«
»Ich? Mit meiner Figur?«
Bettina versuchte zu lachen. »Da haben wir’s. Du hast Minderwertigkeitskomplexe, das ist es. Bloß weil du ein bißchen dicker bist. Jeder Mensch weiß, daß sich so was von selber wieder gibt. Das liegt einfach … na, du weißt schon, woran. Wie kann man nur aus so was eine Tragödie machen?«
Ursel sprang auf und trat dicht auf Bettina zu. »Ich übertreibe also. Ich mache aus einer Mücke einen Elefanten! Ja? Dann beantworte mir jetzt mal ganz ehrlich eine Frage … wie kommt es, daß dein Zeugnis besser ist als meines?«
»Herrgott, Ursel! Als wenn das nicht ganz gleichgültig wäre, ob man …«
»Für dich vielleicht … aber für mich nicht. Mir ist es ganz und gar nicht gleichgültig, wenn ich ungerecht behandelt werde. Ich weiß genau, daß ich mindestens soviel gelernt habe wie du. Nein, noch viel mehr. Und trotzdem … bin ich etwa dümmer als du?«
»Bestimmt nicht!« sagte Bettina impulsiv.
»Na also. Da hast du’s. Gib selber zu, ich bin nicht dümmer und nicht fauler als du. Trotzdem hast du das bessere Zeugnis bekommen. Also … warum? Ja, guck mich nur so an mit deinem Unschuldsblick. Bei mir zieht der nicht. Damit hast du die Lehrer eingewickelt, aber …«
Jetzt riß Bettina die Geduld. »Ursel!« sagte sie aufgebracht. »Wie kannst du so etwas behaupten! Das geht nun wirklich zu weit. Noch nie habe ich versucht, mich irgendwo lieb Kind zu machen … noch nie!«
»Aber du bist es eben. Von Natur aus. Ich mache dir auch gar keinen Vorwurf. Ich sage dir nur klipp und klar … ich kann es nicht länger ertragen. Ich halte das einfach nicht mehr aus … immer und immer nur in deinem Schatten zu stehen. So, und nun weißt du Bescheid. Verschwinde und laß mich gefälligst in Ruh!«
»Willst du etwa hier in diesem Kabuff bleiben?« fragte Bettina. »Was versprichst du dir davon?«
»Hier habe ich wenigstens meine Ruhe! Niemand kann mich hier demütigen. Weiter will ich ja schon gar nichts mehr.«
»Du wirst dir dein Kleid schmutzig machen, Ursel.«
»Das ist mir egal!« behauptete Ursel, aber dennoch blickte sie unwillkürlich besorgt an dem Rock ihres blauseidenen Kleides herunter.
»Du siehst so süß aus heute abend, wirklich! Bitte … bitte, komm doch mit zurück! Ohne dich ist es einfach langweilig!«
»Für dich etwa? Daß ich nicht lache! Du amüsierst dich prächtig … auch ohne mich.«
»Aber ich will mich nicht amüsieren, ohne daß du dabei bist, Ursel! Begreifst du das denn nicht? Glaubst du wirklich, ich könnte vergnügt sein … lachen und tanzen, wenn ich weiß, daß du hier in diesem stickigen Kämmerchen hockst? Für was hältst du mich eigentlich?«
»Jedenfalls wird die Luft nicht besser, wenn du auch noch hier herumstehst!« sagte Ursel mürrisch.
»Komm mit!« bat Bettina noch einmal.
Ursel schüttelte den Kopf. »Kommt nicht in Frage. Ich habe genug.«
Einen Augenblick standen sie sich schweigend gegenüber. Bettina sah den Trotz um Ursels Lippen, sah ihre verdüsterte Stirn und wußte, daß die Schwester sich zu sehr verbissen hatte, um von sich aus noch zurückzukönnen.
»Glaubst du«, fragte Bettina ruhig, »wenn du heute abend allein gekommen wärst … glaubst du, daß es dann besser gewesen wäre?«
»Was fragst du mich? Bin ich schon einmal ohne dich irgendwo gewesen? Kannst du dich an irgendeine Gelegenheit erinnern? Na, siehst du. Nie. Selbst im Kindergarten waren wir immer zusammen. Woher soll ich dann wissen, ob …«
Bettina schnitt ihrer Schwester das Wort ab. »Na schön. Dann probiere es aus. Ich gebe dir dazu die Gelegenheit. Ich gehe jetzt nach Hause.«
»Du? Aber warum? Du brauchst doch nicht …«
Ehe Ursel ihren Satz zu Ende gesprochen hatte, war Bettina auf den Flur zurückgegangen, eilte mit raschen Schritten zur Garderobe. Sie ließ sich ihren Mantel geben und verließ dann fluchtartig das Café. Sie wollte nicht, daß Ursel sie einholte, sie wollte mit sich und ihren Gedanken allein sein.– –
Als Bettina nach Hause kam, sah sie, daß im Wohnzimmer noch Licht brannte. Ein heller Strahl fiel durch die Spalte des nicht völlig geschlossenen Vorhanges in den Garten hinaus. Die Mutter war noch wach.
Ganz leise und vorsichtig schloß Bettina die Haustür auf, schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, bei jedem Schritt ängstlich lauschend. Aber nichts rührte sich im Haus. Aufatmend öffnete sie die Tür des niedrigen, geräumigen Zimmers im Dachgeschoß, das sie mit der Schwester zusammen bewohnte. Rasch zog sie sich im Dunkeln aus, schlüpfte unter die Bettdecke. Sie war froh und erleichtert, daß die Mutter nichts von ihrem frühen Heimkommen gemerkt hatte. Sie hätte nicht gewußt, wie sie ihre Fragen hätte beantworten können. Sie begriff ja selber nicht ganz, was eigentlich geschehen war.
Ursel war eifersüchtig auf sie, soviel stand fest. Aber warum nur? Warum? Weil ihr Zeugnis ein wenig besser ausgefallen war als das der Schwester? Weil mehr Jungen sie zum Tanz aufgefordert hatten als Ursel? Was bedeutete das schon? Nichts. Gar nichts. Unter all den Jungen war keiner, für den sich Bettina wirklich interessierte. Sie wußte, daß das bei Ursel genauso wenig der Fall war. Sie waren ja gleichaltrig wie sie selber, die meisten kannten sie von klein auf. Es war doch völlig gleichgültig, ob diese Jünglinge einen nett oder weniger nett fanden, ob sie gern oder weniger gern mit einem tanzten.
Warum war Ursel so verzweifelt gewesen? Bettina verschränkte die Hände hinter dem Kopf, starrte in die Dunkelheit und versuchte das Problem zu lösen. Es gelang ihr nicht. Ihr Gefühl sagte ihr, daß der Fehler bei ihr liegen mußte, aber sie begriff nicht, was sie wirklich falsch machte. Sie wußte nur, daß sie Ursel von Herzen lieb hatte, und dennoch hatte aus der Stimme der Schwester beinahe Haß geklungen.
Bettina schauderte zusammen, als sie daran dachte. Wenn sie nur einen Menschen gehabt hätte, mit dem sie darüber sprechen konnte. Aber es gab niemanden. Ihr Bruder Bernd war ein Flegel und hatte bestimmt kein Verständnis für ihre Probleme, Heiner war noch viel zu klein, und die Mutter – plötzlich wurde Bettina klar, daß die Mutter, solange sie denken konnte, immer auf Ursels Seite gestanden hatte. Nicht, als wenn Ursel Bettina wirklich vorgezogen worden wäre, aber Bettina schien es, als wenn die Schwester immer ein wenig liebevoller, ein wenig nachsichtiger, ein wenig zärtlicher behandelt worden wäre.
Der Vater, ja, der Vater war immer gerecht gewesen. Ob er sie lieb hatte? Wenigstens er?
Bettina konnte sich diese Frage nicht beantworten. Sie fühlte sich einsam, fast ausgestoßen. Ihr Verstand sagte ihr, daß sie übermüdet war, noch immer aufgeregt durch den Streit, verletzt durch Ursels Vorwürfe. Sie versuchte sich einzureden, daß jetzt in der Nacht alle Dinge anders und verzerrt aussahen. Aber dennoch krampfte sich ihr Herz zusammen vor Traurigkeit. Es war ihr, als wenn eine Zentnerlast auf ihre Brust drückte.
Bettina lag noch wach, als die Zimmertür vorsichtig geöffnet wurde und Ursel hereinhuschte. Auch sie zog sich aus, ohne das Licht anzuknipsen. »Bettina«, rief sie leise, »schläfst du schon?«
Bettina schwieg. Sie hörte, wie Ursel sich auf nackten Sohlen ihrem Bett näherte, schloß die Augen.
Sie spürte den Atem ihrer Schwester an ihrer Wange. »Bist du mir noch böse?« fragte Ursel. »Du schläfst ja noch nicht … ich weiß, daß du noch nicht schläfst! Bitte, sag doch ein Wort!«
Bettina öffnete die Lider nicht, bemühte sich, tief und gleichmäßig zu atmen wie eine Schlafende. Ganz nahe an ihrem Ohr hörte sie die Stimme ihrer Schwester: »Bettina, ich war gräßlich zu dir! Es tut mir leid, wirklich! Bitte, verzeih mir!«
Bettina hob die Arme, legte sie im Dunkeln zart um Ursels Hals, küßte die Schwester zärtlich auf beide Wangen. »Wir wollen uns nicht mehr zanken, Ursel, ja?« bat sie. »Es ist so dumm … und es tut so weh!«
Wortlos schlüpfte Ursel zu Bettina ins Bett. Wange an Wange schliefen sie ein, Bettina mit einem glücklichen Lächeln um die Lippen.
In der Samstagausgabe des ›Westfälischen Anzeigers‹ gab es acht Seiten Stellenangebote. Bettina und Ursel rissen sich die Blätter gegenseitig aus der Hand.
»Sieh dir das an, Mutti«, sagte Bernd mit vollem Mund, »wie die Hyänen!«
»Bettina … Ursel!« mahnte Frau Bürger. »Legt die Zeitung aus der Hand! Sofort, wenn ich bitten darf! Nicht irgendwie, sondern wieder schön zusammengelegt … ja, so ist es gut. Ihr wißt genau, beim Frühstück wird nicht gelesen.«
»Aber, Mutter«, versuchte Bettina zu erklären, »wir wollten doch bloß …«
»Schließlich ist es furchtbar wichtig für uns, daß wir eine gute Lehrstelle finden«, fügte Ursel hinzu.
»Aber das muß doch nicht in diesem Augenblick sein, wie?«
»Wenn wir nicht sofort schreiben, sind die guten Angebote futsch!« behauptete Ursel schmollend.
»Vor Montag können eure Werbungen sowieso nicht dort sein … es ist also ganz gleichgültig, ob ihr sie jetzt oder erst heute nachmittag schreibt. Aber da ihr es so eilig habt … von mir aus, bitte. Sobald der Frühstückstisch abgeräumt und das Geschirr gespült ist, könnt ihr euch ins Vergnügen stürzen.«
Frau Bürger nahm einen Schluck Kaffee, fügte hinzu: »Aber denkt bitte immer daran … eure zukünftige Arbeitsstätte muß von hier aus täglich zu erreichen sein, verstanden? Bildet euch nur ja nicht ein, daß ihr nun erwachsen seid, um in die Welt hinauszuziehen. Wunschträume wie möblierte Zimmer oder dergleichen sind schon gestrichen!«
Bernd zögerte sein Frühstück so lange wie möglich hinaus, nur um die Schwestern zu ärgern. Er machte erst Schluß, als die Mutter endlich ein Machtwort sprach. In fliegender Eile deckten Bettina und Ursel den Tisch ab. Nie hatten sie so schnell gespült, abgetrocknet und aufgeräumt. Dann setzten sie sich zusammen, mit Papier und Bleistift bewaffnet, an den Wohnzimmertisch, nahmen sich den Zeitungsteil mit den Stellenangeboten heraus. Bernd schaute ihnen dabei über die Schultern.
Ursel schubste ihn mit dem Ellbogen zurück. »Hast du wirklich nichts Besseres zu tun, als uns bei der Arbeit zu stören?« fragte sie schnippisch.
»Bestimmt nicht!« Bernd lachte. »Ich hab’ mir gedacht, bei euch kann ich was lernen!«
»Wenn du nicht sofort abhaust, rufe ich Mutter!«
»Na, na, na … man nicht so giftig!« Bernd schwang sich rittlings auf einen Stuhl, schlug die Arme über der Lehne zusammen, legte sein Kinn darauf, betrachtete die Schwestern amüsiert.
»Laß ihn doch, Ursel«, sagte Bettina besänftigend, »den wirst du nicht ändern.« Sie zog die Zeitung etwas näher zu sich hin, blätterte um. »Lehrstellen kommen sicher ziemlich zuletzt … da, siehst du, hier sind sie schon!« Sie tippte mit dem Bleistift auf eine bestimmte Anzeige. »Hier … da wäre schon was für uns!« Sie las: »Kaufmännische Lehrlinge, in Klammern: auch weiblich, intelligent und anpassungsfähig, für chemisches Industriewerk gesucht …« Bettina unterbrach sich. »Zu blöd … es steht nicht drin, wo das Industriewerk liegt … na, ich denke, wir schreiben auf alle Fälle mal dorthin. Was meinst du, Ursel?«
Ursel zuckte schweigend die Achseln.
Bettina bemerkte nicht die aufkommende Verstimmung der Schwester. Sie studierte eifrig weiter die Stellenangebote, machte sich Notizen, gab Kommentare dazu. »So«, sagte sie endlich, »fünfzehn habe ich gefunden, die für uns in Frage kommen … bitte, überzeug dich selber, Ursel. Ich hab’ sie alle angestrichen. Eins klingt verlockender als das andere. Aber fünfzehn Angebote mit handgeschriebenem Lebenslauf loszuschicken, das scheint mir doch ein bißchen happig, wie? Wäre es nicht besser, wir würden noch mal sortieren?«
»Wie du willst«, sagte Ursel kurz angebunden.
Jetzt erst wurde Bettina aufmerksam. »Sag mal, was ist eigentlich los mit dir, Ursel? Habe ich dir wieder was getan?«
»Nichts. Gar nichts. Wie kommst du darauf?« sagte Ursel, aber ihre Stimme klang durchaus nicht überzeugend
»Du hast das gnädige Fräulein verletzt, Bettina«, spottete Bernd, zog die Augenbrauen hoch und säuselte affektiert: »Ich bin sehr enttäuscht von dir, meine Liebe … etwas mehr Takt dürfte ich doch wohl erwarten.«
»Aber … ich weiß gar nichts«, sagte Bettina verwirrt, »das ist doch alles Quatsch, Ursel. Oder habe ich wirklich wieder etwas falsch gemacht? Bist du mir böse, weil ich die Angebote vorgelesen habe? Bitte, hier ist die Zeitung … überzeug dich selber, ich wollte dir doch nur Arbeit ersparen.«
Ursel schwieg und biß sich auf die Lippen. Sie machte keine Anstalten, einen Blick in die Zeitung zu werfen. Bernd grinste unverschämt.
»Bitte, geh raus, Bernd!« sagte Bettina ärgerlich. »Laß uns allein! Du störst uns wirklich. Begreifst du das denn nicht?«
Bernd grinste noch breiter und rührte sich nicht von der Stelle.
Bettina übersah ihn und wandte sich an Ursel. »Bitte«, sagte sie, »bitte, hilf mir doch jetzt. Wir müssen die Angebote ’raussuchen, an die wir wirklich schreiben wollen … ich kann das nicht allein entscheiden … wirklich nicht, Ursel, Wir dürfen doch nicht …«
Endlich tat Ursel den Mund auf. »Wir … wieso sagst du dauernd … wir? Bildest du dir etwa ein, ich hätte Lust, meine Bewerbungen mit dir gemeinsam loszuschicken?«
»Ja, aber … Ursel … nein, jetzt versteh ich dich nicht«, sagte Bettina hilflos.
»Dann muß ich mich deutlicher ausdrücken!« Ursel beugte sich vor. »Ich habe nicht die geringste Lust, mit dir im gleichen Betrieb zu arbeiten, daß du es nur weißt. Ich habe es satt, hinter dir zurückzustehen. Ich will endlich mein eigenes Leben leben. Schließlich sind wir ja keine siamesischen Zwillinge … oder?«
»Natürlich, Ursel, wenn du das so siehst«, sagte Bettina, »aber das hindert uns doch nicht daran … wir können uns doch bei derselben Firma bewerben, nicht wahr? Wahrscheinlich nehmen sie ja doch nur einen von uns.«
»Sehr richtig. Und zwar dich! Und damit rechnest du doch wohl, wie?«
»Ursel … nein … aber wie kannst du …«
»Tu doch nicht so scheinheilig, ich bitte dich. Du weißt genau, daß dein Zeugnis besser ist als meines … und du weißt auch genau, daß du hübscher bist. Ich habe neben dir überhaupt keine Chance. Du hältst mich wohl für einen Idioten, daß ich das nicht begreife!«
»Ich halte dich für einen Idioten, daß du dir so was einredest!« Jetzt wurde auch Bettina heftig. »Du mit deinen blöden Komplexen … langsam habe ich aber wirklich genug davon! Ich habe keine Lust, mich dauernd mit dir herumzuzanken, Ursel … wirklich nicht. Weshalb regst du dich so auf? Wenn du dich nicht bei den gleichen Firmen wie ich bewerben willst … dann teilen wir die Angebote doch einfach auf … es sind ja genug da.«
»Eine glänzende Idee«, sagte Ursel wild. »Du die guten, und ich die schlechten. So was konnte auch nur dir einfallen, Bettina!« Sie schob ihren Stuhl zurück und sprang auf. »Danke. Vielen Dank für deine Almosen.«
Ursel drehte sich auf dem Absatz um und wollte aus dem Zimmer rennen, stieß dabei in der Wohnungstür fast mit der Mutter zusammen, die den kleinen Heiner, fest in eine Decke gewickelt, auf dem Arm trug.
»Was ist hier los?« fragte Frau Bürger erstaunt. »Zankt ihr euch etwa? Hier geblieben Ursel! Ich will wissen, was vorgeht!« Sie bettete den kleinen Heiner sanft auf der Couch.
»Das Übliche, Mutter«, sagte Bernd voller Schadenfreude, »die beiden liegen sich mal wieder in den Haaren … Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land!«
»Dich habe ich nicht gefragt, Bernd«, sagte Frau Bürger unwillig. »Lauf bitte nach oben und hol Heiners Märchenbuch herunter. Und überhaupt, du könntest jetzt ein bißchen mit deinem kleinen Bruder spielen. Das ist eine entschieden bessere Beschäftigung, als deine Schwestern gegeneinander aufzuhetzen.«
Bernd erhob sich und tippte sich, mit der Miene einer beleidigten Unschuld, gegen die Brust: »Ich? Ich hätte sie aufgehetzt? Nein, das ist nun wirklich das Neueste. Jetzt soll ich auch noch schuld dran sein, daß diese beiden Zimtzicken sich nicht vertragen können … na, Pustekuchen!« Er schlenderte hocherhobenen Hauptes aus dem Zimmer.
»Was war nun wirklich los?« fragte Frau Bürger die Mädchen.
Ursel und Bettina wechselten einen Blick. Bettina preßte die Lippen zusammen, sie wollte die Schwester nicht anschwärzen. Ursel zupfte nervös an ihrem Pullover herum.
»Na … wird’s bald?«
Ursel gab sich einen Ruck: »Es ist nur so, Mutter«, sagte sie, »ich will mich nicht mit Bettina zusammen bewerben … du weißt schon, warum. Ich will es nicht! Ich …«
Frau Bürger unterbrach ihre Tochter. »So etwas Dummes«, sagte sie und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Jetzt hätte ich’s doch bald vergessen … ganz gut, daß ihr mich daran erinnert. Du kannst dich noch gar nicht bewerben, Bettina … der Vater hat mich ausdrücklich gebeten, dir zu sagen, daß er vorher noch mit dir reden möchte … verstehst du? Du bist nicht böse deswegen, nicht wahr? Ich glaube, Vater hat dir etwas Wichtiges zu sagen.«
Das Blut schoß Bettina in den Kopf. In ihren Ohren dröhnte es. Sie war nicht imstande, die Worte der Mutter wirklich aufzunehmen. Sie begriff nur das eine, daß sie ausgeschaltet werden sollte. Sie war überzeugt, daß die Mutter nur eingegriffen hatte, um Ursel zu helfen. Alle waren gegen sie, niemand hatte sie lieb.
Als Bettina, Ursel und Bernd am Sonntagmorgen aus der Kirche kamen, sahen sie schon von weitem das Auto vor ihrem Haus stehen. Wie auf Kommando rannten sie alle drei los, jagten die Straße hinunter, stürmten durch den Vorgarten. Während Ursel die Haustür aufschloß, klingelte Bernd Sturm. Sie stürzten, sich gegenseitig stoßend, drängend und lachend ins Haus. Ursel erreichte die Wohnzimmertür als erste, riß sie auf.
Der Vater saß mit der Mutter und Heiner beim Frühstückstisch, blickte ihnen lachend entgegen. »Na, da sind ja meine Großen«, sagte er und breitete die Arme aus.
Sie flogen auf ihn zu, umarmten ihn so stürmisch, daß es der Mutter nur noch mit Mühe und Not gelang, seine volle Kaffeetasse in Sicherheit zu bringen.
»Vati … ich bin so froh, daß du wieder da bist!« rief Bettina.
»Hast du mir einen Flugzeugmotor mitgebracht, Vati?« fragte Bernd.
»Wie war es, Vati? Erzähl doch mal, was du erlebt hast«, drängte Ursel.
»Mir hat Vati eine Eisenbahn mitgebracht«, piepste Heiner triumphierend.
»Ist es wahr, Vati, daß du mir etwas Wichtiges zu sagen hast?« wollte Bettina wissen.
»Nun aber Schluß, Kinder! Genug! Man kann ja sein eigenes Wort nicht mehr verstehen!« sagte die Mutter energisch. »Setzt euch jetzt erst mal hin, ganz ruhig und gesittet, wie es sich gehört … Vater hat euch etwas sehr Überraschendes zu sagen.«
»Eine richtige Überraschung, Vati?« rief Bernd aufgeregt.
»Ruhe, Bernd!« sagte die Mutter. »Mund halten!«
Der Vater wartete ab, bis jeder einen Platz gefunden hatte und absolute Ruhe eingetreten war. Dann begann er, und es war ihm anzumerken, daß er seine Worte sehr sorgfältig setzte: »Also, paßt mal auf, ihr Bande … ich glaube, es ist wirklich eine große Überraschung, die ich euch zu berichten habe … bitte, nehmt sie mit Haltung auf … kein Indianergeheul, keine Freudentänze! Unser Leben wird sich in absehbarer Zeit von Grund auf ändern. Eine Angelegenheit, die schon seit langem in der Schwebe war … ihr habt nichts davon gewußt, Mutter und ich haben es euch absichtlich verschwiegen, um keine falschen Hoffnungen in euch zu wecken … hat sich jetzt entschieden. Wir werden Dörtlingen verlassen, bei der Josef-Karl-Hütte habe ich schon gekündigt … ich habe einen Vertrag als leitender Ingenieur einer Eisenerzgrube in Indien abgeschlossen, um es genauer auszudrücken … in Bihar …«
Bernd konnte sich nicht länger zurückhalten. »Und wir?!« platzte er heraus. »Wo bleiben wir?«
Herr Bürger lächelte. »Euch nehme ich natürlich mit!«
»Ist das wahr?« Bernd sprang in die Höhe. »Nach Indien? Wir … wir reisen wirklich alle zusammen nach Indien?«
»Ja, aber nur, wenn du dich jetzt nicht wie ein Kindskopf benimmst, sondern wie ein großer Junge, auf den man sich schon ein bißchen verlassen kann. Es ist eine weite Reise, und es wird eine große Umstellung sein … also, Haltung, Herrschaften, Haltung!«
Bettina hatte die Hände gefaltet und sah Herrn Bürger aus strahlenden Augen an. »Vati … das ist zu schön, um wahr zu sein!«
»Jetzt habe ich meine ganzen Bewerbungen umsonst geschrieben«, sagte Ursel. »Zehn handgeschriebene Lebensläufe … die Arbeit hätte ich mir sparen können.«
»Macht doch nichts, Ursel«, sagte Bettina vergnügt. »Wenn ich denke, was wir alles erleben werden … ich könnte wahnsinnig werden vor Freude. Nie, nie, nie hätte ich geglaubt, daß ausgerechnet wir so ein Glück haben würden!«– –
Natürlich gab es an diesem Tag nur ein einziges Gesprächsthema, und das hieß: Indien. Bernd holte seinen Atlas hervor, und Bettina schlug das Lexikon auf; Ursel suchte das Erdkundebuch heraus, in dem Indien behandelt wurde. Sie stellten fest, daß sie eine Menge über Indien gehört und gelesen hatten, und dennoch konnten sie sich von dem neuen Leben, das auf sie wartete, nur eine sehr ungenaue Vorstellung machen. Ihre Phantasie malte ihnen ein paradiesisches Leben aus, und vergeblich bemühten sich die Eltern, ihre Begeisterung ein wenig zu dämpfen.
Vor lauter Aufregung konnte Bernd in dieser Nacht keinen Schlaf finden. Er wälzte sich hin und her und her und hin, erlebte im Geiste die aufregendsten Abenteuer, ritt auf Elefanten durch den Dschungel, kämpfte mit wilden Tigern.
Dann bekam er Hunger. Er hatte den ganzen Tag nur wenig essen können, jetzt knurrte ihm der Magen. Ganz leise, um Heiner nicht zu wecken, stand er auf, öffnete vorsichtig die Tür und schlich auf nackten Sohlen in den Gang hinaus, die Treppe hinunter.
Die Wohnzimmertür war einen Spalt breit offen, Licht fiel in die Diele. Die Eltern waren noch auf.
Damit hatte Bernd gerechnet. Er zögerte einen Augenblick. Dann pirschte er sich vorsichtig näher an die Wohnzimmertür heran, hörte von drinnen die Stimme der Mutter.
»Du mußt es ihr sagen, Bernhard«, bat sie eindringlich. »Du mußt! Bettina ist jetzt alt genug. Sie hat einfach ein Recht darauf, endlich die Wahrheit zu erfahren.«
»Du tust gerade so, als wenn wir sie ihr bisher aus Böswilligkeit verheimlicht hätten«, sagte Herr Bürger, »wir haben es doch nur gut mit ihr gemeint …«
»Ja, ja ich weiß. Dennoch ist es eine Lüge. Glaub mir, Bernhard, Lügen bringen nie etwas Gutes. Manchmal … ja, ich weiß, du wirst mich auslachen … aber manchmal habe ich geradezu Angst.«
»Angst! Wovor denn?«
»Daß sie es von alleine herausbekommt, verstehst du das denn nicht? Bernhard, das darf nicht geschehen, wir müssen dem zuvorkommen.«
»Ich bitte dich, Edith, was sind das für Hirngespinste! Wer sollte ihr denn das sagen? Niemand weiß doch davon etwas außer uns beiden … und natürlich Stefan Steutenberg. Na, siehst du.«
»Du willst sie nicht verlieren«, sagte Frau Bürger, »du hast sie immer sehr lieb gehabt.«
»Du etwa nicht?«
»Doch, schon. Ganz bestimmt. Aber … deshalb meine ich ja gerade, muß es jetzt sein … manchmal ertappe ich mich dabei, daß ich für Ursel eben doch mehr Verständnis habe. Ich versuche dagegen anzugehen, Bernhard, aber … es ist stärker als ich. Du darfst mir keinen Vorwurf machen deswegen, bitte. Es ist nur so … ich sehe, wie unglücklich Ursel ist, weil sie immer in ihrem Schatten steht … ich leide einfach mit ihr.«
»Unsinn!« sagte Herr Bürger ärgerlich. »Hirngespinste! Ich hoffe nur, du unterstützt das nicht auch noch. Ja, ja, ich weiß, daß wir es Bettina sagen müssen … ich möchte es nur aus einem einzigen Grund jetzt noch nicht tun. Ich habe Stefan Steutenberg telegrafiert. Ich rechne fest damit, daß er kommt. Dann kann er es ihr selber sagen. Findest du nicht auch, daß das die beste Lösung wäre? Schließlich …«
Die Stimme des Vaters wurde leiser.
Bernd schlich sich näher zur Tür. Sein Herz klopfte zum Zerspringen. Mit angehaltenem Atem stand er da und lauschte. Dies war der aufregendste Tag seines Lebens.