Читать книгу Ein Herz für mich allein - Marie Louise Fischer - Страница 5
II.
ОглавлениеDie Tatsache, daß Bürgers nach Indien auswandern wollten, verbreitete sich mit Windeseile durch die kleine Stadt. Bettina, Ursel und Bernd waren nicht ganz unschuldig daran. Sie hatten alle drei nichts Eiligeres zu tun, als ihre Freunde und Freundinnen von der großen Umwälzung in ihrem Leben zu unterrichten. Sie fanden es wundervoll, auf einmal im Mittelpunkt zu stehen.
Aber als die Wochen vergingen, ohne daß sie den Neugierigen sagen konnten, wann die große Reise tatsächlich losging, verloren ihre Pläne langsam an Interesse, ja, sie begannen unglaubhaft zu wirken.
Jürgen Holbach war der erste, der es offen aussprach. Er war eines Nachmittags auf einen Sprung zu Bürgers gekommen, um sich zu verabschieden. Sein Vater hatte ihm eine Stelle als kaufmännischer Lehrling in einem bedeutenden Industrie-Unternehmen in Düsseldorf verschafft. Er traf die Geschwister im Garten beim Tischtennisspiel.
»Sagt mal ehrlich … mit Indien … das war doch wohl bloß ein Ulk von euch, wie?« fragte er.
»Wie kommst du darauf?« Ursel sah ihn ärgerlich an.
»Ich weiß schon … hier ist der Wunsch der Vater des Gedankens«, behauptete Bernd. »Weil du verschossen in Bettina bist, willst du nicht …«
»Das hat doch damit gar nichts zu tun«, widersprach Jürgen Holbach ruhig. »Ich bin ja nicht der einzige. Damit ihr genau Bescheid wißt … niemand glaubt mehr daran, daß ihr wirklich nach Indien geht.«
»Niemand? Sag das noch einmal!« Bernd trat mit drohend erhobenem Tischtennisschläger auf Jürgen Holbach zu.
»Also, bitte«, sagte Jürgen mit einer großartigen Handbewegung, »gib dir keine Mühe, Bernd … von so einer halben Portion wie dir lasse ich mich noch lange nicht ins Bockshorn jagen. Es tut mir leid, wenn du die Wahrheit nicht ertragen kannst.«
»Die Wahrheit! Ausgerechnet ich soll die Wahrheit nicht ertragen können? Da kann ich ja nur kichern.« Bernd knallte den Schläger heftig auf die Platte. »Ich bin der einzige, der sie kennt … ich! Nur ich! Sonst niemand!«
»Was meinst du damit, Bernd?« fragte Bettina verwundert. »Von was für einer Wahrheit redest du?«
»Na, warum wir noch immer hier rumsitzen … warum es immer noch nicht losgeht …«
»Aber das wissen wir doch alle, Bernd«, sagte Bettina, »hab’ dich doch bloß nicht so. Es handelt sich noch um ein paar Formalitäten. Ja, Jürgen, das kannst du uns schon glauben. Für so eine große Reise ist ein schrecklicher Papierkram nötig, und Vater sagt …«
»Ich hab’ dich ja nicht kränken wollen, Bettina«, unterbrach Jürgen Holbach sie. »Nur … Bernd hat vielleicht ganz recht … mir wär’s lieber, wenn du hier bliebst. Indien ist ein bißchen weit, findest du nicht?«
»Du kannst sie behalten, wenn du willst!« rief Bernd wütend. »Heirate sie doch, dann sind wir sie los. Dann können wir endlich abhauen!«
»Bernd! Was soll denn nun das wieder heißen?!« rief Ursel.
»Genau das, was ich gesagt habe. Glotzt mich nicht so an, ich bin nicht verrückt.« Er zeigte mit einem nicht ganz sauberen Finger auf Bettinas Brust. »Sie ist schuld! Bettina! Sonst niemand! Wegen der hocken wir immer noch hier und müssen uns auslachen lassen. Sonst wären wir doch schon längst über alle Berge.«
Bettina war blaß geworden.
Jürgen legte schützend seinen Arm um ihre Schultern. »Hör gar nicht hin«, sagte er, »der Knabe spinnt ja. Das merkt ein Blinder ohne Krückstock.«
»Bernd!« sagte Ursel. »Was soll das? Los, jetzt hast du angefangen … jetzt erklär es auch richtig! Wie kommst du darauf, daß Bettina schuld ist? Woher willst du das überhaupt wissen?«
»Weil ich es eben weiß«, sagte Bernd halb trotzig, halb verlegen, »ich hab’s gehört. Neulich abends, als Vater zurückgekommen ist. Sie haben es ja gesagt.«
»Schäm dich! Du hast gehorcht«, sagte Jürgen verächtlich, »pfui Teufel!«
»Was geht dich das an?« rief Bernd wild. »Ich kann tun und lassen, was ich will. Du hast mir gar nichts zu sagen!«
»Bernd, bitte. Es ist doch ganz egal, woher du’s weißt. Wir verraten dich nicht, ganz bestimmt nicht«, drängte Ursel. »Aber sag es uns endlich. Du mußt es uns sagen. Was ist mit Bettina nicht in Ordnung?«
»Wie kannst du ihn das fragen?« sagte Jürgen Holbach zornig, »merkst du denn nicht, daß er bloß angibt? Er will Bettina schlecht machen … er weiß nichts, gar nichts. Woher sollte er auch?«
Bernd ging mit erhobenen Fäusten auf Jürgen Holbach los. »Bist du dessen so sicher?!« schrie er außer sich vor Wut, »dann paß mal auf! Paß gut auf! Bettina gehört gar nicht zu uns! Sie ist nicht unsere Schwester. Sie …«
Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn Jürgen Holbachs Faust traf ihn mit voller Wucht unter dem Kinn. Bernd stürzte zu Boden.
Bettina benutzte die Sekunde, in der Jürgen Holbach sie aus den Augen ließ, sich umzudrehen und ins Haus zu rennen. Sie raste die Treppe hinauf, hörte nicht, wie Frau Bürger hinter ihr herrief, stürzte in die Dachkammer, lehnte sich keuchend mit dem Rücken an die Tür.
Ihre Welt war zusammengebrochen. Rote Kreise drehten sich vor ihren Augen. Sie wußte mit tödlicher Gewißheit, daß Bernd nicht gelogen hatte, aber sie wollte es nicht wahrhaben.
»Nein!« schrie sie in letzter Verzweiflung. »Nein!«
Dann löschte Dunkelheit ihr Denken.
Als Bettina wieder zu sich kam, lag sie in ihrem Bett. Schmerzend kehrte die Erinnerung zurück.
Sie spürte, daß sie nicht allein im Zimmer war, hielt die Augen geschlossen. Sie vermochte es nicht, die Tränen, die in ihr hochstiegen, zurückzuhalten, sie perlten unter den geschlossenen Lidern hervor, rollten über ihre Wangen, liefen ihr salzig in die Mundwinkel.
»Sie ist wach, Mutter«, hörte sie Ursels Stimme in unterdrückter Freude sagen. »Gott sei Dank … sie kommt wieder zu sich!«
Frau Bürgers Hand strich zärtlich über Bettinas Haar. »Bitte, Liebes«, sagte sie, »weine nicht. Wir sind bei dir. Mutter und Ursel. Bitte, schau uns doch an.«
Bettina schluchzte auf, suchte nach Worten. »Hat Bernd … es ist doch nicht wahr, Mutter … Bernd hat gelogen. Sag, daß er gelogen hat!« Sie öffnete ihre klaren, weitauseinanderstehenden Augen, die voll Tränen waren, sah Frau Bürger flehend an.
»Bernd hat seine Strafe schon weg, Bettina«, sagte Ursel eifrig. »Jürgen Holbach hat ihn fürchterlich verhauen … er wird noch vierzehn Tage was davon spüren.«
»Außerdem, denke ich, wird Vati auch noch ein Wörtchen mit ihm reden wollen, wenn er nach Hause kommt«, sagte Frau Bürger. »Fühlst du dich wieder besser, Bettina? Hast du einen Wunsch? Vielleicht … vielleicht etwas zu trinken? Ja, sicher bist du durstig …« Sie stand auf.
»Bitte, bleib«, sagte Bettina. »Bitte,« Sie richtete sich halb in ihren Kissen auf. »Ich muß wissen … ist es wahr? Ich … ich gehöre nicht zu euch?«
»Was für ein Unsinn.« Frau Bürger setzte sich wieder, nahm Bettinas schmale Hand. »Natürlich gehörst du zu uns … wir haben dich lieb … alle. Sehr lieb.«
»Aber ich bin nicht euer Kind?«
»Ist das denn so wichtig? Seit du denken kannst, hast du bei uns gelebt … du gehörst zu unserer Familie wie Ursel und Bernd … und wie Heiner. Wir gehören doch alle zusammen. Fühlst du das denn nicht?«
Bettina schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie, »nein …« Ihre Lippen zitterten. »Du hast Ursel immer lieber gehabt als mich … immer. Ich habe es gespürt … aber ich habe gedacht …« Sie zuckte hilflos die Schultern. »Ich konnte ja nicht ahnen, wie es wirklich war. Wer bin ich? Bitte, sagt es mir … Wißt ihr wenigstens, wer ich wirklich bin?«
»Natürlich, Bettina«, sagte Frau Bürger rasch, »du wirst doch hoffentlich nicht glauben, wir haben dich irgendwo auf der Straße gefunden? Nein, so ist es doch nicht. Dein Vater ist Stefan Steutenberg … Onkel Stefan, der immer die schönen Geschenke zu Weihnachten und zum Geburtstag geschickt hat. Wenn du gut nachdenkst, wirst du dich auch noch an ihn erinnern. Er war zum letztenmal hier, als du und Ursel gerade aus der Schule kamt.«
»Warum … aber warum hat er mich fortgegeben?«
»Deine Mutter ist kurz nach deiner Geburt gestorben, Bettina. Vater und Stefan Steutenberg waren Freunde … sehr gute Freunde, sie hatten zusammen auf der Hochschule studiert, jahrelang im gleichen Zimmer gewohnt … sie verstanden sich sehr gut. Wir waren damals schon verheiratet, Ursel war noch nicht ganz ein Jahr alt … es schien selbstverständlich, daß wir dich aufnahmen. Zuerst sollte es natürlich nur vorübergehend sein, bis du ein bißchen größer sein würdest. Dann kam alles anders. Für Ursel warst du einfach das Schwesterchen, und Vati und ich gewannen dich sehr lieb. Du sahst in uns deine Eltern. Als Stefan Steutenberg zum erstenmal zu Besuch kam … du warst damals zwei Jahre … da hattest du Angst vor ihm. Es wäre uns auch sehr schwergefallen, dich wieder herzugeben. Also blieb alles beim alten.«
»Aber … ich verstehe es doch nicht«, sagte Bettina, »wieso hat er …« Sie brachte es noch nicht über sich, den Mann, den sie als Onkel Stefan kannte, Vater zu nennen, »wieso hat er es einfach zugelassen? Wenn ich wirklich seine Tochter bin, warum …«
»Stefan Steutenberg ist ein sehr unruhiger Mensch«, sagte Frau Bürger, »vielleicht hat ihn auch nur das Schicksal so gemacht. Er hat deine Mutter sehr geliebt, Bettina, und als er sie dann verlor … das hat ihn aus dem Gleichgewicht geworfen. Er konnte es nie mehr lange an einem Ort aushalten, reiste ruhelos kreuz und quer durch die Welt. Er hätte dir weder ein Heim bieten können, Bettina, noch eine wirkliche Erziehung. Das wußte er selber. Deshalb …«
»Ich verstehe«, sagte Bettina leise. »Ja, ich verstehe … es ist ihm lästig, ein Kind zu haben. Ich bedeute ihm nichts.«
»Bettina! Wie kannst du so hart urteilen! Stefan Steutenberg ist, wenn du ihn erst näher kennenlernen wirst …«
»Ich will nicht«, sagte Bettina. »Nein, ich will nicht. Er hat sich um mich nie gekümmert. Was geht er mich an?«
»Er hat all die Jahre für dich bezahlt, Bettina … von den Geschenken ganz abgesehen. Wir hätten es uns nicht leisten können, ein fremdes Kind …« Sie schlug sich mit der Hand vor den Mund. »Verzeih bitte, Bettina … du bist für uns kein fremdes Kind, wirklich nicht. Ich … es war alles so schwer.«
Bettina sah Ursel an, um ihre Mundwinkel zuckte ein wehes Lächeln. »Du bist froh, daß du mich jetzt los wirst, nicht wahr? Endlich bist du allein … endlich brauchst du nicht mehr …«
»Bettina«, sagte Ursel ehrlich. »Sag doch so etwas nicht. Bitte, nicht. Ich könnte mich ohrfeigen, daß ich oft so eklig zu dir war … aber ich dachte ja immer, du wärst meine Schwester. Wenn ich gewußt hätte … ich hätte mich bestimmt besser benommen. Du darfst es mir nicht nachtragen, Bettina … du darfst nicht böse sein. Bitte, bleib bei uns … bitte!«
»Natürlich bleibt Bettina bei uns«, sagte Frau Bürger rasch, »das ist doch ganz selbstverständlich. Wenn sie nicht zu ihrem Vater will …«
»Würde er mich denn wollen? Nein. Bestimmt nicht. Er macht sich nichts aus mir. Da gibt es nichts dran zu deuteln.«
»Du bleibst also?« fragte Ursel.
Ehe Bettina noch antworten konnte, sagte Frau Bürger: »Vater hat Stefan Steutenberg telegrafiert … Daß wir nach Indien wollen. Er muß ja seine Einwilligung geben. Vielleicht … Vati hatte gehofft, er würde selber kommen.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Bettina bitter. »Wegen mir?«
»Sprich doch nicht so«, sagte Ursel, »du tust ja gerade so, als wenn du von aller Welt verlassen wärst. Davon kann doch keine Rede sein … wir haben dich lieb … wir alle, auch Bernd, selbst wenn er so blöd gequatscht hat. Das kam doch bloß, weil er Jürgen Holbach nicht riechen kann. Im Grunde, es ist doch ganz egal, ob du wirklich unsere Schwester bist … vielleicht verstehen wir uns viel besser, wenn wir einfach Freundinnen sind.«
»Ich werde arbeiten«, sagte Bettina, »Stenografie und Schreibmaschine haben wir ja gelernt, damit kommt man heutzutage überall weiter. Ich … ich will niemanden zur Last fallen.«
»Bettina!« rief Ursel empört. »Wie kannst du?«
»Sei still, Ursel«, unterbrach Frau Bürger sie. »Bettina hat einen schlimmen Schock erlebt, du darfst nicht ernst nehmen, was sie jetzt spricht.« Sie erhob sich. »So, und jetzt gebe ich dir etwas zur Beruhigung … einen Löffel flüssiges Lecithin, das hilft mir auch immer … am besten versuchst du dann ein bißchen zu schlafen. Wenn Vati nach Hause kommt …«
»Wie soll ich ihn nennen?« fragte Bettina. »Ich kann doch jetzt nicht mehr … wo ich weiß, ihr seid ja nicht meine Eltern.«
Frau Bürger beugte sich über Bettina und küßte sie auf die Stirn. »Nenn uns, wie du’s immer getan hast, Liebes«, sagte sie, »selbst wenn es dir jetzt ganz falsch vorkommt, du kannst sechzehn Jahre deines Lebens … vielleicht die wichtigsten Jahre … nicht einfach streichen. Wenn du ruhiger geworden bist, wirst du die Dinge mit anderen Augen sehen.«– –
Eine Nachricht von Stefan Steutenberg kam erst zwei Tage später. Sie bestand aus einem ungemein ausführlichen Telegramm aus Kapstadt. Herr Bürger brachte es mit, als er abends nach Hause kam.
»Ein Telegramm von Stefan Steutenberg. Das geht dich an, Bettina«, sagte er und holte das gelbe Formular aus seiner Brieftasche. »Hier, lies selber.«
»Was telegrafiert er?« rief Ursel aufgeregt. »Darf Bettina bei uns bleiben? Wann …«
Herr Bürger legte mahnend den Finger auf die Lippen. »Ruhe, Ursel … Bettina wird es sicher gleich selber sagen.«
Bettina hatte das Telegramm überflogen, jetzt sah sie die erwartungsvollen Augen von Bernd, Ursel und Heiner auf sich gerichtet, las noch einmal laut von Anfang an: »alter junge was machst du für geschichten stop wieso ausgerechnet indien stop kann nicht zulassen dass du mir mein kind entführst stop habe haus bei münchen gekauft stop werde mich selber bald dort ansässig machen stop aber noch nicht spruchreif stop habe bettina im internat von madame jeuni genf angemeldet stop ausgezeichnetes institut stop geld kommt ebenfalls telegrafisch stop melde mich wieder stop grüsst mir bettina stop alles gute für euch stop hals- und beinbruch stop stefan steutenberg«
»So eine Gemeinheit!« platzte Ursel heraus. »Erst ist er froh, daß er Bettina los ist … und jetzt auf einmal …«
»Ursel, ich bitte dich«, sagte Frau Bürger unwillig. »Wie kannst du so töricht daherreden. Stefan Steutenberg ist niemals froh gewesen, Bettina los zu sein. Er hatte nur keine Möglichkeit, sich um sie zu kümmern.«
»Willst du denn überhaupt in dieses blöde Internat, Bettina?« fragte Bernd.
»Selbstverständlich wird Bettina das tun, was ihr Vater wünscht«, sagte Herr Bürger nachdrücklich. »Du kannst es dir am allerwenigsten erlauben, deinen Mund so aufzureißen, Bernd.«
Der Junge wurde rot und rieb sich unwillkürlich die Kinnspitze, die immer noch einen beachtlichen blauen Fleck aufwies, der langsam ins Grünliche hinüberzuspielen begann. »Bettina hätte es ja doch erfahren müssen«, sagte er trotzig vor sich hin.
»Sicher hätte sie das, Bernd«, sagte Frau Bürger, »aber nicht von dir. Und nicht auf solch rücksichtslose Art und Weise. Nein, Bernd! Du hast wahrhaftig kein Heldenstück vollbracht, und du tätest besser, uns nicht immer wieder daran zu erinnern.«
»Mein Gott, ist das aufregend!« rief Ursel. »Wir gehen nach Indien, und Bettina fährt in die Schweiz. Toll! Wenn uns jemand das noch vor ein paar Monaten gesagt hätte …«
»Ich will aber nicht, daß Bettina weggeht!« rief der kleine Heiner mit zorniger Stimme. »Ich will es nicht! Warum geben wir nicht Ursel weg?«
»Heiner!« rief Frau Bürger entsetzt.
»Ist doch wahr«, sagte Heiner kleinlaut. »Ursel kann lange nicht so schön Kasperle spielen wie Bettina.«
Bernd holte schon aus, um seinem kleinen Bruder eins hinter die Ohren zu geben.
Herr Bürger hinderte ihn daran. »Laß das, Bernd«, sagte er, »Heiner weiß nicht, was er redet … ich verstehe ihn schon.« Er legte seinen Arm um Bettinas Schultern, zog sie an sein Herz. »Wir alle werden dich sehr vermissen, Bettina … du hast uns mehr bedeutet, als du selber weißt. Daß du uns wirklich verlassen wirst … ich mag noch gar nicht daran denken.«
Einen Herzschlag lang fühlte Bettina sich an Herrn Bürgers Brust geborgen, dann begegneten ihre Augen zufällig dem Blick der Pflegeschwester. Sie spürte Ursels aufglimmende Eifersucht.
Sie löste sich aus Herrn Bürgers Armen, sagte in gezwungenem, heiterem Ton: »Gibt’s bald was zu essen, Mutti? Ich habe einen Mordshunger. Wahrscheinlich kommt das durch die Aufregung.«
Nur Herr Bürger merkte, daß Bettina trotz dieser großartigen Ankündigung beim Abendbrot kaum etwas aß. Er hätte ihr gerne geholfen, sie wenigstens getröstet, aber auch er spürte die Spannung, die in der Luft lag.
Schweren Herzens entschied er sich zu schweigen.– –
Die nächsten Tage waren so bis zum Rand mit Arbeit ausgefüllt, daß für niemanden Zeit blieb, traurigen oder auch hoffnungsfrohen Gedanken nachzuhängen. Das Haus mußte vollständig geräumt werden. Geschirr, Bettwäsche, Bücher und die hunderttausend Kleinigkeiten, die zu einem richtigen Haushalt gehören, wurden in großen Kisten verpackt, die Teppiche wurden eingerollt und eingemottet, die Vorhänge mußten gewaschen werden, bevor auch sie auf dem Speicher verschwanden.
Herr Bürger hatte die Pässe für seine Angehörigen schon vorsorglich vor Wochen beantragt. Als Bettina auf dem Polizeiamt zum erstenmal mit ihrem wirklichen Namen – Bettina Steutenberg – unterschreiben mußte, war ihr sehr merkwürdig zumute. Sie fühlte sich fast ein wenig stolz auf ihr seltsames Schicksal, das sie von allen jungen Leuten, die sie kannte, hervorhob.
Am Tag der Trennung brachte die ganze Familie sie zum Flughafen Düsseldorf-Lohausen. Bettinas Herz tat weh, als sie alle der Reihe nach noch einmal küßte und umarmte. Es wurde ihr schmerzhaft deutlich, wie lieb sie jeden einzelnen von ihnen gehabt hatte. Dennoch wußte sie, daß sie nicht zu ihnen gehörte und niemals wirklich zu ihnen gehört hatte. Ihre Tränen galten weniger den Menschen, die sie Jahre, vielleicht nie mehr in ihrem Leben wiedersehen würde, sie galten dem Abschied von der eigenen Kindheit.
Als die viermotorige Maschine der Deutschen Lufthansa sich nach langem Dahinrollen endlich vom Boden abhob und in die Lüfte hinausschwang, waren Bürgers für Bettina nur noch winzige kleine Figuren in unendlicher Ferne. Sie wandte den Blick vom Fenster, lehnte sich aufatmend in die Polster. Ihr war zumute, als wenn sie eine unangenehme aber notwendige Operation hinter sich gebracht hätte.
»Sie dürfen sich jetzt losschnallen, gnädiges Fräulein«, sagte eine etwas rauhe männliche Stimme in ihre Gedanken hinein.
Sie fuhr herum und sah in zwei sehr helle Augen, die mit einem sonderbaren Ausdruck auf ihr ruhten.
Bettina wurde klar, daß sie die Anweisung aus dem Lautsprecher nicht wirklich zur Kenntnis genommen hatte, weil sie mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt gewesen war.
»Natürlich … vielen Dank«, sagte sie leicht errötend. »Ich muß es überhört haben.«
»Kann ich Ihnen helfen?« fragte der Herr neben ihr.
»Nein, danke. Ich … ich komme selbst zurecht.«
Mit nervösen Fingern zerrte Bettina an den Sicherheitsgurten, war erleichtert, als es ihr endlich gelang, sie zu lösen.
Der Herr mit den hellen Augen zog ein Zigarettenetui aus der Rocktasche, klappte es auf, zögerte einen Augenblick, reichte es dann Bettina. »Bitte …«
Bettina wollte schon dankend ablehnen, als ihr plötzlich klar wurde, daß ihr neues Leben schon begonnen hatte. Sie war eine junge Dame, die allein durch die Welt reiste – warum sollte sie nicht rauchen? Sie nahm eine Zigarette, ließ sich Feuer geben.
Sie hatte noch nie geraucht. Es schmeckte ihr schauderhaft, und es gelang ihr nur mit Mühe, den Rauch wieder auszustoßen, ohne daß sie husten mußte. Trotzdem drückte sie die Zigarette nicht aus, denn sie wollte sich ihre Unerfahrenheit nicht anmerken lassen.
»Sie fliegen zum erstenmal, gnädiges Fräulein?«
Bettina warf ihrem Nebenmann unter den dichten Wimpern her einen verstohlen prüfenden Blick zu, während sie überlegte, ob sie antworten sollte oder nicht. Sie stellte fest, daß er nicht mehr jung war, sehr gut angezogen war, bis auf den maisgelben Schlips, der zwar zu seinem grauen Anzug, nicht aber zu seiner blassen Gesichtsfarbe paßte. Eigentlich wirkte er ziemlich vertrauenerweckend, dachte Bettina, aber war das ein Grund, sich in ein Gespräch mit ihm einzulassen? Schließlich war er ihr wildfremd.
Der Herr schien Gedanken lesen zu können. Er verbeugte sich leicht, sagte mit einem halben Lächeln: »Entschuldigen Sie bitte, ich vergaß mich vorzustellen … Ewald Bäumler. Ich hoffe, Sie halten mich nicht für aufdringlich … aber ich finde immer, bei einer kleinen Unterhaltung vergeht die Zeit viel rascher.«
Bettina drückte die Zigarette aus. »Ich finde es herrlich zu fliegen«, sagte sie ehrlich. »Von mir aus könnte es noch viel länger dauern …«
Ewald Bäumler lachte. »Das glaube ich Ihnen gern. Aber wenn Sie soviel unterwegs sein müßten wie ich, würde Ihnen die Lust am Reisen bald vergehen. Heute zum Beispiel fliege ich nach Genf, und morgen muß ich weiter nach Paris.«
»Paris?« wiederholte Bettina. »Paris muß eine herrliche Stadt sein, stell’ ich mir vor …«
»Stimmt. Es ist allerhand los dort. Besonders jetzt im Frühling … im Bois de Boulogne, am Seinekai, im Park von Versailles, auf den Champs d’Elysées, überall elegante Menschen, Leben und Frohsinn. Ja, ich würde Ihnen das schon gern einmal zeigen.«
Bettina lachte. »Sie … mir?«
»Warum nicht? Hätten Sie nicht Lust, einen kleinen Abstecher zu machen?«
»Ausgeschlossen! Was für eine Idee?«
»Bestimmt keine schlechte. Wenn Sie erwartet werden, brauchen Sie nur ein Telegramm zu schicken …«
»Das kann nicht Ihr Ernst sein«, wehrte Bettina ab. »Sie … ich fürchte, Sie schätzen mich falsch ein. Ich bin nicht so abenteuerlich, wie Sie zu glauben scheinen.«
»Alle jungen Mädchen wollen etwas erleben.«
»Tut mir leid, wenn ich Sie enttäuschen muß«, sagte Bettina, »aber ich wünsche mir nichts weiter, als wohlbehalten in Genf anzukommen.« Sie holte ein Taschenbuch, das ihr Herr Bürger noch auf dem Flughafen gekauft hatte, aus ihrer Reisetasche, schlug es auf.
»Sie fliegen nach Genf?« Herr Bäumler ließ sich nicht so leicht abschütteln. »Das trifft sich wunderbar. Dann haben wir ja dasselbe Ziel. Auch in Genf könnte ich Ihnen dies und jenes zeigen.«
»Herr Bäumler«, sagte Bettina lächelnd, »geben Sie sich keine Mühe. »Mein Vater hat mich in einem Genfer Internat angemeldet. Ich muß noch heute abend dort sein. Sie meinen es sicher gut mit mir … aber es ist vollkommen sinnlos.«
»Schade« sagte Herr Bäumler und seufzte tief. »Wirklich schade. Na ja, da kann man nichts machen.«
Als Bettina nichts mehr darauf sagte, sondern sich sehr vertieft in ihre Lektüre gab, zog er eine Zeitung aus der Manteltasche und begann zu lesen.
Bettina war sehr mit sich zufrieden. Sie fand, daß sie die etwas merkwürdige Situation ausgezeichnet gemeistert hatte.
Herr Bäumler schien die Abfuhr, die Bettina ihm erteilt hatte, nicht übelzunehmen. Beim Umsteigen in Zürich-Kloten bestand er darauf, Bettinas Reisetasche zu tragen.
Sie hatten fünfundvierzig Minuten Aufenthalt, und Bettina wußte nicht, wie sie Herrn Bäumler abschlagen sollte, sie im Flughafenrestaurant zu einer Tasse Kaffee einzuladen. Herr Bäumler machte jetzt auch keine Versuche mehr, sie zu irgendwelchen Abstechern zu verleiten. Im Gegenteil, er gab sich ausgesprochen nett, erzählte ganz offen, daß er in Österreich lebe, verheiratet war, zeigte Fotografien seiner Kinder, und es stellte sich heraus, daß eine seiner Töchter gerade so alt war wie Bettina.
Er erfuhr von Bettina die Adresse ihres Genfer Internats, und Bettina, die sich schon gefürchtet hatte, wie sie sich in der fremden Stadt zurechtfinden sollte, war dankbar, als er sich erbot, sie im Taxi bis dorthin zu bringen.
Von Zürich bis Genf – Bettina und Herr Bäumler hatten die Maschine wechseln müssen – dauerte knapp dreißig Minuten. Sie landeten am späten Nachmittag. Herr Bäumler war Bettina beim Aussteigen behilflich und trug wieder ihre Reisetasche. Als er ihr, halb scherzhaft, halb galant, seinen Arm bot, hakte Bettina sich lachend ein.
Nebeneinander traten sie durch die Drehtür ins Freie. Weder Bettina, noch Herr Bäumler achteten auf die junge Frau mit dem blauschwarzen, streng gescheitelten Haar und dem schicken kleinen Hut, die suchend unter den Passagieren Ausschau hielt. Bettina ahnte nicht, daß Madame Jeuni ihre Sekretärin, Mademoiselle Legrand, zum Flugplatz geschickt hatte, um sie abzuholen. Wenn sie es gewußt hätte, wäre ihr manches erspart geblieben.
Mademoiselle Legrand hielt das junge Mädchen mit dem herzförmigen Gesicht für die Tochter des älteren Herrn, bei dem sie sich eingehakt hatte.
Herr Bürger hatte telegrafiert, daß Bettina allein fliegen würde.
Mademoiselle Legrand verließ, nachdem sie die Passagiere noch einmal hatte vorbei passieren lassen, unverrichteter Dinge den Flughafen.
Herr Bäumler und Bettina ließen sich vom Zubringerauto ins Zentrum der Stadt bringen.
Das Internat der Madame Jeuni lag etwas außerhalb von Genf, auf der rechten Seite der Rhone – ein verwittertes, schloßartiges Sandsteingebäude, dessen weitläufiger Park bis zum See hinunter führte.
Neben dem breiten, kunstvoll geschmiedeten Gartentor duckte sich das kleine gelbe Pförtnerhaus, in dem der Concierge wohnte, ein gutmütiger Zerberus, der – wie Bettina bald erfahren sollte – dafür verantwortlich war, daß keines der jungen Mädchen das Internat ohne Erlaubnis verließ, noch außer der Zeit Besuche empfing. Er telefonierte zum Internat hinüber und erst, als er entsprechende Anweisungen erhalten hatte, gab er Bettina den Weg frei.
Er warf einen kurzen Blick auf Herrn Bäumler, der wieder einmal Bettinas Reisetasche trug, fragte: »Sind Sie der Vater?«
Herr Bäumler schüttelte den Kopf. »Nein. Nur ein guter Freund.«
»Sie wollen das Fräulein zu Madame begleiten?«
Bettina sah Herrn Bäumler flehend an. Sie fühlte sich plötzlich dem großen imponierenden Gebäude gegenüber sehr klein und verlassen. Herr Bäumler war der einzige Mensch, den sie noch kannte, und sie hätte sich am liebsten an ihn geklammert.
Aber er wich ihrem Blick aus. »Nein … nein, danke«, sagte er rasch, »das ist nicht nötig. Ich denke, Sie sind jetzt in guter Obhut, Bettina.«
Bettina verbarg ihre Enttäuschung. Sie reichte Herrn Bäumler mit niedergeschlagenen Augen die Hand, murmelte ein paar Worte des Dankes. Der Concierge nahm Herrn Bäumler die Reisetasche, dem Taxichauffeur den Koffer ab, wartete, bis die beiden Männer den Park verlassen hatten, stellte das Gepäck zu Boden, schloß hinter ihnen die Tür ab, nahm das Gepäck wieder auf und schlurfte vor Bettina her dem Hauptgebäude zu. Er war ein alter Mann – sicher schon an die Siebzig, dachte Bettina – mit einer gesunden rötlichen Hautfarbe und silberweißem Haar. Er hatte nichts Beängstigendes an sich, und doch fühlte Bettina sich beklommen. Ihr war, als wenn sie hinter den funkelnden Glasscheiben des Institutes Hunderte von neugierigen Augenpaaren beobachteten. Sie kam sich mit ihrem dunkelblauen Mantel, der weißen Baskenmütze und den weißen Handschuhen sehr unerfahren und schulmädchenhaft vor.
Der Concierge klingelte an der Haustür, musterte Bettina, während er auf das Öffnen der Tür wartete. Bettina bemühte sich, ihn anzulächeln, aber sie fühlte selber, daß dieses Lächeln mißlang; ihre Lippen zitterten.
Dann wurde die Haustür geöffnet. Ein adrettes Mädchen in schwarzem Satinkleid mit weißem Schürzchen und weißem Häubchen erschien, sagte sehr rasch etwas auf französisch zu dem Concierge – Bettina verstand es nicht, es klang wie eine Zahl. Der Mann schlurfte mit dem Gepäck davon.
Das Mädchen führte Bettina in eine große, sehr eindrucksvolle Diele, bat sie einen Augenblick zu warten. Schüchtern sah Bettina sich um. Die Diele war dunkel getäfelt, der gepflegte Parkettboden mit schweren Perserteppichen belegt; es gab einen offenen Kamin mit einem gebogenen Kupferdach.
Bettina stand mitten im Raum. Sie wagte es nicht, sich zu setzen. Voll nervöser Unruhe zog sie ihre weißen Handschuhe aus und wieder an. Die Sekunden des Wartens erschienen ihr wie eine Ewigkeit.
Dann war das Stubenmädchen wieder neben ihr, öffnete ihr die Tür zu einem großen hellen, mit erlesener Eleganz eingerichteten Zimmer. »Madame Jeuni läßt bitten …«
Unsicher trat Bettina ein. Ihre Füße versanken in den dick aufeinandergelagerten Teppichen. Schritt für Schritt näherte sie sich dem kunstvoll verschnörkelten Schreibtisch, hinter dem Madame Jeuni saß, sehr gerade, die schmalen, blaugeäderten Hände vor sich auf dem Tisch, und ihr aus sehr großen dunklen Augen entgegensah. Madame Jeuni war nicht mehr jung, ihr blasses Gesicht war von scharfen Falten gezeichnet, der Mund wirkte leicht verkniffen, aber sie schien immer noch sehr viel Wert auf ihr Äußeres zu legen. Ihr Haar war sorgfältig gelegt, in einem hellgrau getönten Weiß gefärbt, ihre Lippen waren scharlachrot nachgezogen, und an ihren Händen trug sie schwere Ringe.
Ohne zu wissen warum, wurde Bettina plötzlich von würgender Angst gepackt. Am liebsten hätte sie sich umgedreht und wäre aus dem Zimmer gerannt.
»Kommen Sie näher, mein Kind«, sagte Madame Jeuni in französischer Sprache. Ihre Stimme klang kalt und befehlsgewohnt. »Haben Sie eine gute Reise gehabt?«
»Ja …«
»Sie sind es nicht gewohnt, französisch zu sprechen?«
»Nein … ich … wir … ich … war haben es nur auf der Schule gelernt.«
»Sie werden bei uns Gelegenheit haben, Ihre Sprachkenntnisse zu vervollkommnen«, sagte Madame Jeuni. Dann wechselte sie zu Bettinas unendlicher Erleichterung in die deutsche Sprache über. »Wie alt sind Sie?«
»Sechzehn …«
»Darf ich Ihr Schulzeugnis sehen?«
»Bitte … nein … es tut mir leid«, stammelte Bettina, »der Pförtner … es ist in meiner Reisetasche.«
»Nun gut. Das hat Zeit.« Madame Jeuni ließ nicht eine Sekunde ihren schwarzen durchbohrenden Blick von Bettinas Gesicht. »Ich habe ein Telegramm bekommen«, sagte sie und spielte mit dem Papiermesser, »ein Telegramm eines …« Sie begann unter den Papieren auf ihrem Schreibtisch zu suchen, »eines Herrn Berthold Bürger …«
»Das ist mein Pflegevater«, sagte Bettina.
»Er kündete mir Ihre Ankunft an.« Madame Jeuni hatte das Telegramm endlich gefunden, nahm es in die Hand und hielt es mit einem gewissen Abstand vor Augen, las: »Bettina Steutenberg fliegt allein … ja, das ist es, worüber ich mit Ihnen reden wollte. Soviel ich weiß, sind Sie in Begleitung eines Herrn hier angekommen?«
»Ja«, sagte Bettina und ärgerte sich über sich selber, weil sie errötete, »Herr Bäumler … er war so nett, mich hierher zu begleiten.«
»Ein Bekannter von Ihnen?«
»Ja«, sagte Bettina, dann überwand sie sich und fügte hinzu: »Ich habe ihn auf dem Flug kennengelernt. Er … er war sehr nett zu mir, er war mir behilflich … wenn Sie verstehen, was ich meine.«
Unter dem durchbohrenden Blick Madame Jeunis war Bettina einfach außerstande, sich so auszudrücken, wie sie es sich gewünscht hätte.
»Hat Ihnen niemand gesagt, daß Reisebekanntschaften für ein junges Mädchen nicht nur … nicht nur gegen Anstand verstoßen, sondern möglicherweise auch sehr gefährlich werden können?«
»Doch, natürlich«, sagte Bettina, »natürlich weiß ich das … ich … ich lasse mich auch nicht einfach ansprechen, aber …«
»Dieser Herr hat Ihnen also gefallen?«
»Nein! Ich meine … ja, ich fand ihn sympathisch. Wir saßen auf dem ganzen Flug nebeneinander. Was war denn dabei?«
»Fragen Sie das im Ernst?«
»Anfangs habe ich versucht, ihn abblitzen zu lassen, wirklich … aber dann kam ich mir selber albern vor. Er hatte ja auch bestimmt keine bösen Absichten.«
»Sind Sie denn so sicher?«
»Ja, natürlich.«
»Hat er Sie nicht aufgefordert … na, vielleicht … ein wenig später ins Internat zu kommen? Oder … mit ihm zusammen irgendwo hinzufahren?«
»Nein!« sagte Bettina, und bei dieser Lüge schoß ihr das Blut in einer roten Welle ins Gesicht.
»Selbst wenn wir unterstellen, daß sich Ihre Flugreisebekanntschaft … daß dieser Herr ein absoluter Ehrenmann ist, selbst dann muß ich Ihnen ehrlich sagen, daß ich Ihr Benehmen äußerst tadelnswert finde, mein Kind. Man hat Sie mir als Tochter Stefan Steutenbergs sehr warm empfohlen. Ich muß Ihnen sagen, daß ich enttäuscht von Ihnen bin. Ich möchte nicht ungerecht sein, aber ich finde für Ihr Verhalten beim besten Willen keine Entschuldigung. Es ist genug, daß Sie sich auf der Reise von einem fremden Mann ansprechen ließen … ihn aber aufzufordern, Sie hierher ins Internat …«
»Ich habe ihn nicht aufgefordert«, sagte Bettina heftig, »er hat es mir angeboten!«
»Auch wenn Sie glauben, daß ich im Unrecht bin, mein Kind … es ist eine sehr schlechte Angewohnheit, einen Menschen mitten im Satz zu unterbrechen, noch dazu eine um so viele Jahre ältere und erfahrenere Frau wie mich.«
Bettina war den Tränen nahe, unfähig ein Wort hervorzubringen, starrte sie vor sich hin auf den Teppich.
»Sie halten es also nicht für nötig, sich zu entschuldigen?« fragte Madame Jeuni scharf.
»Doch, natürlich. Bitte, verzeihen Sie mir …«
»Es würde mir sehr leid tun, wenn es sich herausstellen sollte, daß Sie in den Kreis meiner Zöglinge nicht hineinpassen. Ich möchte Ihnen das von Anfang an klar vor Augen halten … ich kann keine störenden Elemente in meinem Internat dulden … die Mädchen, die mir anvertraut sind, sind durchwegs aus sehr guten Familien, sie haben eine ausgezeichnete Kinderstube hinter sich. Meine Aufgabe besteht nur darin, ihnen sozusagen den letzten Schliff zu geben … ihnen den Übergang von der Kindheit in das Gesellschaftsleben zu erleichtern. Ich hoffe, Sie werden sich Mühe geben, sich in unser Haus einzufügen. Vergessen Sie nicht, daß als Tochter Stefan Steutenbergs sehr bald schon gesellschaftliche Aufgaben auf Sie warten werden. Meine Assistentin, Fräulein Legrand, wird Sie jetzt auf Ihr Zimmer führen und Sie in die Hausordnung einfuhren. Ich bedauere es sehr, daß die Zeit hier bei uns mit einem solchen Mißklang anfangen mußte. Aber Sie werden zugeben, daß es einzig und allein Ihre Schuld ist!«
Madame Jeuni drückte auf die Taste einer kleinen Apparatur auf dem Schreibtisch. Wenige Augenblicke später erschien Jeanette Legrand, der das Signal gegolten hatte, und führte Bettina in ihr Zimmer.
Bettina brachte es nicht fertig, Mademoiselle Legrands Erklärungen Aufmerksamkeit zu schenken, sie spürte auch nicht den ehrlichen Willen der jungen Frau ihr zu helfen. Sie war so verstört, daß sie nur den einzigen Wunsch hatte, allein gelassen zu werden.
Als Fräulein Legrand endlich ging, stürzte Bettina zur Tür. Sie wollte abschließen, mußte aber feststellen, daß es keinen Schlüssel gab. Die Zimmertüren waren nur von außen zu verriegeln.
Diese Tatsache steigerte Bettinas Verzweiflung. Sie fühlte sich so elend wie noch nie in ihrem Leben. Wenn Madame Jeunis Vorhaltungen ungerechtfertigt gewesen wären, würde sie wahrscheinlich leichter darüber hinweggekommen sein, aber sie spürte deutlich, daß sie sich falsch benommen hatte. Grade deshalb schmerzte der Tadel wie eine brennende Demütigung.
Heimweh zerriß Bettinas Herz, Sehnsucht nach Bürgers, nach Ursel, nach Heiner, ja, selbst nach Bernd. Am liebsten hätte sie sich in einen dunklen Winkel verkrochen. Sie warf sich auf den bunten Krettoneüberzug ihres Bettes, verbarg ihren Kopf in den Armen und schluchzte wild auf. Sie fühlte sich allein und schutzlos einer fremden feindlichen Welt preisgegeben.
Es dauerte lange, bis ihre Tränen sanfter zu fließen begannen. Dämmerung fiel in das Zimmer. Bettina war erschöpft von den Aufregungen der letzten Tage, erschöpft von dem langen Flug. Die Augen fielen ihr zu.
Als eine Hand sie kräftig an der Schulter schüttelte, fuhr sie entsetzt hoch. Sie mußte sich erst besinnen, wo sie war. Dann begriff sie wieder alles. Sie war eingeschlafen, und das rothaarige junge Mädchen, das im Tennisdreß vor ihr stand, war wahrscheinlich ihre Zimmergenossin.
»Oh, entschuldigen Sie, ich … es tut mir leid … wie spät ist es?« fragte Bettina.
»Bist du Deutsche?« fragte das rothaarige Mädchen.
»Ja …«
»Hier im Haus ist es verboten, deutsch zu sprechen … wußtest du das nicht?«
Bettina errötete, weil sie offensichtlich schon wieder etwas falsch gemacht hatte. »Doch, ja«, sagte sie rasch, »Mademoiselle Legrand hat es mir erklärt … aber … ich spreche nicht sehr gut französisch.«
»Drum eben. Wir sollen es lernen …«
»Was sind Sie … oder darf ich du sagen … für eine Landsmännin?«
»Engländerin. Aber meine Mutter ist Deutsche. Deutsch und Englisch geht bei mir, jetzt haben sie mich nach Genf geschickt, damit ich Französisch lerne. Ich heiße Dotty Glenford … übrigens sagen wir hier alle du zueinander.«
»Bettina Steutenberg«, stellte Bettina sich vor, »ich komme aus Dortlingen.«
»Dortlingen? Nie gehört.«
»Eine kleine Stadt in Westfalen, am Rande des Ruhrgebietes.«
Dotty zuckte die runden Schultern. »Keinen Sinn«, sagte sie, »Geographie ist meine schwache Seite.« Sie setzte sich zu Bettina aufs Bett, schlug die langen nackten Beine übereinander. »Warum hast du geweint?« fragte sie neugierig. »War die Trennung so schlimm?«
»Madame Jeuni … sie hat mich furchtbar abgekanzelt.«
»Willst du etwa behaupten, daß du deshalb geheult hast?«
»Ja«, sagte Bettina erstaunt. »Ich … es war ganz furchtbar. Wirklich.«
Dottys grüne Augen begannen zu funkeln. »Alles kann ich vertragen«, sagte sie aufgebracht, »nur keine Lügereien!«
»Aber … ich lüge doch nicht! Warum sollte ich denn?«
»Du bist eine widerwärtige Heuchlerin, daß du’s nur weißt. Glaubst du wirklich, du könntest mir was vormachen? Ausgerechnet mir? Das ganze Internat weiß, daß du dich von einem Mann hast bringen lassen.«
Bettina schwang die Beine zu Boden und sprang auf. »Ja, aber das ist es doch gerade! Deshalb war Madame Jeuni so böse auf mich. Das will ich dir ja gerade erklären.«
»Was Madame Jeuni dir gesagt oder nicht gesagt hat, interessiert mich nicht im geringsten … was war das mit dem Mann?«
»Der Mann? Herrgott, was soll denn mit dem Mann gewesen sein? Ich habe ihn ja kaum gekannt.«
»Ach so. Sicher hast du dich nur ganz zufällig von ihm hierher begleiten lassen, nicht wahr?« sagte Dotty, und ihre Stimme war von gefährlicher Sanftheit.
»Ich habe ihn im Flugzeug kennengelernt, wenn du’s genau wissen willst. Er hat ein Gespräch mit mir angefangen, und weil er ganz nett war, bin ich drauf eingegangen. Das ist alles.«
Dotty trat dicht auf Bettina zu. »Das soll ich dir glauben?«
»Es ist die Wahrheit!« sagte Bettina mit fester Stimme.
»Lächerlich! Niemand weint wegen einer zufälligen Bekanntschaft. So was gibt es nicht.«
»Ich habe ja auch nicht wegen Ewald Bäumler geweint«, rief Bettina verzweifelt, »sondern weil Madame Jeuni mich ausgeschimpft hat. Kannst du das denn nicht begreifen?«
»Nein«, sagte Dotty, »das kann ich nicht. Das einzige, was ich begreife, ist, daß du mich anlügst. Du willst dein Geheimnis für dich behalten. Na, das ist deine Sache. Wärst du ehrlich zu mir gewesen, ich hätte dir geholfen. Vielleicht hätte ich sogar einen Weg gewußt, wie du dich mit ihm treffen könntest. Aber du glaubst, daß du alleine fertigwerden kannst. Bitte. Von mir aus. Mach, was du willst. Für mich bist du Luft.«
Damit wandte sie Bettina den Rücken zu und öffnete ihren Kleiderschrank.
»Aber, bitte, Dotty … wirklich … du tust mir unrecht«, sagte Bettina eindringlich. »Wenn du Herrn Bäumler gesehen hättest … es ist wirklich gar nichts an ihm dran. Wie kannst du glauben, daß ich in ihn verliebt wäre oder so etwas?«
Dotty gab keine Antwort. Sie zog ihre weiße Bluse und ihr Tennisröckchen aus, schlüpfte statt dessen in ein hellgrünes Sommerkleid.
Bettina machte noch mehrere Versuche, Dotty zu versöhnen. Sie spürte deutlich, in welch eine unerquickliche Situation sie geriet, wenn sie sich mit ihrer Zimmergenossin von Anfang an verfeindete. Aber Dotty reagierte nicht. Sie stellte sich einfach taub.
Erst als unten im Haus drei kräftige wohltuende Gongschläge ertönten, öffnete Dotty wieder den Mund. Sie sagte es auf französisch, vergewisserte sich nicht, ob Bettina sie verstanden hatte, sondern verließ erhobenen Hauptes den Raum.
Bettina mußte sich den Weg zum Eßsaal selber suchen.
Die nächsten Wochen wurden für Bettina die schwersten ihres jungen Lebens.
So sehr sie sich auch bemühte, sich in die Gemeinschaft einzufugen, es gelang ihr nicht. Sie war und blieb eine Fremde. Zwar gab es mehrere deutsche Mädchen in dem Internat Madame Jeunis, aber Bettina gelang es nicht, Kontakt zu ihnen zu finden. Sie kannten sich alle untereinander, und Bettina brachte nicht den Mut auf, sich in ihren Kreis zu drängen. Schon allein dauernd französisch zu sprechen, machte ihr große Schwierigkeiten. Offiziell durfte im Internat nur französisch gesprochen werden, damit die Mädchen – es waren zum allergrößten Teil Ausländerinnen – die fremde Sprache wirklich beherrschen lernen sollten. Bettina, die nur ein paar Jahre in der Schule Französisch gehabt hatte, fehlten die Worte, sich richtig auszudrücken. Sie mußte sich äußerste Mühe geben, um überhaupt dem Unterricht folgen zu können. Es gab niemanden, der sich ihrer angenommen oder ihr etwas erklärt hätte. Dotty zeigte ihr hartnäckig die kalte Schulter, sprach prinzipiell nur mehr französisch mit ihr. Wenn Bettina sie deutsch ansprach, reagierte sie einfach nicht.
Frau Bürger hatte Bettina vor ihrer Abreise von Kopf bis Fuß neu eingekleidet, und in Dortlingen war Bettina von ihren Kleidern, Mänteln, Jacken und Schuhen begeistert gewesen. Hier mußte sie plötzlich erkennen, daß alle anderen Mädchen weit eleganter waren als sie selber. Jedenfalls schien es ihr so. Sie fühlte sich wie ein Aschenputtel, wurde von Tag zu Tag schüchterner und unglücklicher.
Das Schlimmste war, daß sie nicht gewußt hatte, daß zum Pensum der Schule Reiten und Tennisspielen gehörte. Die meisten der sehr reichen jungen Mädchen hatten diese Sportarten von kleinauf betrieben, Bettina ahnte nicht einmal etwas von den Anfangsregeln. Dazu kam, daß sie weder ein Reitdreß, noch Tenniskleider besaß. Weder Frau Bürger noch sie hatten daran gedacht, daß sie so etwas brauchen würde.
Bettina ging ins Büro von Mademoiselle Legrand und bat, sie vom Sportunterricht zu dispensieren.
»Aber warum denn nur?« fragte Mademoiselle Legrand erstaunt. »Reiten und Tennis, das sind doch die Lieblingsfächer der meisten Mädchen. Sie sind wirklich die erste, die keine Lust dazu hat!«
»Ich möchte wirklich nicht«, sagte Bettina mit niedergeschlagenen Augen, »bitte, Mademoiselle, würden Sie es Madame Jeuni erklären?«
»Aber, Bettina, wie könnte ich denn das? Ich begreife es ja selber nicht. Wenn Sie mir wenigstens einen einleuchtenden Grund angeben könnten …«
Bettina rang nervös die Hände. »Es … es ist nur so …« Sie schlug die Lider auf, sah Mademoiselle Legrand aus ihren klaren, weit auseinander stehenden Augen flehend an, »ich kann es nicht. Ich habe es nicht gelernt.«
»Das macht doch nichts«, sagte Mademoiselle Legrand sofort, »wir haben auch Kurse für Anfängerinnen.«
»Ich … ich bin sehr ungeschickt … ich fürchte …«
»Sie haben Angst, sich zu blamieren, nicht wahr? Nein, Bettina, Sie sollten sich wirklich nicht so gehenlassen. Sie müssen diese Angst überwinden … überhaupt, ich wollte schon längst einmal mit Ihnen sprechen … Sie sollten etwas mehr aus sich herausgehen. Sie dürfen nicht erwarten, daß die anderen Mädchen von sich aus versuchen werden, sich mit Ihnen zu befreunden. Sie sind es, die zuletzt gekommen ist, Sie müssen schon den ersten Schritt tun.«
Bettina fühlte sich außerstande, Mademoiselle Legrand zu erklären, daß ihr dies einfach unmöglich war. Sie unterdrückte einen Seufzer, sagte: »Gibt es denn gar keinen Ausweg? Muß ich wirklich mitmachen?«
»Ich fürchte ja, Bettina. Es sei denn, Sie brächten ein ärztliches Attest bei.«
»Das kann ich nicht.«
»Na, sehen Sie … Sie geben also selber zu, daß Sie ganz gesund sind. Für einen jungen gesunden Menschen sollte es nichts Schöneres geben, als Sport treiben zu dürfen. Versuchen Sie es nur. Ich bin ganz sicher, es wird Ihnen Freude machen.«
Für Mademoiselle Legrand war das Gespräch damit beendet, sie erwartete, daß Bettina sich von ihr verabschieden würde. Aber das junge Mädchen rührte sich nicht von der Stelle.
»Sonst noch etwas?« fragte Mademoiselle Legrand.
»Ich habe kein Sportzeug, weil … ich habe ja nicht gewußt …«
»Ach so. Das ist natürlich ärgerlich. Aber, warten Sie, wir werden schon einen Ausweg finden. Haben Sie eine Ahnung, wieviel Sie auf Ihrem Konto haben?«
»Auf meinem …? Nein, das weiß ich nicht. Habe ich überhaupt ein Konto?«
»Die meisten Schülerinnen haben eines, damit sie sich irgendwelche Extrawünsche erfüllen können. Warten Sie einen Augenblick, ich schaue auf Ihrer Karte nach …«
Mademoiselle Legrand begann in einer großen Kartothek zu blättern; endlich hatte sie Bettinas Blatt gefunden, zog es heraus. »Nichts«, sagte sie enttäuscht. »Das tut mir leid. Das beste wird sein, Sie schreiben Ihrem Vater. Er ahnt gewiß nicht, daß Sie Geld brauchen. Bitten Sie ihn, ein ständiges Konto für Sie anzulegen. Sicher wird Ihr Vater diese Bitte verstehen.«
»Ich werde es versuchen«, sagte Bettina leise.
»Gut so, Bettina. Aber was machen wir bis dahin? Warten Sie mal, ich glaube, ich habe eine Idee … ich werde mal nachschauen, ob ich Ihnen vielleicht aushelfen kann. Kommen Sie heute nach dem Abendessen auf mein Zimmer, ja? Dann werden wir zusammen schauen, ob wir etwas Passendes für Sie finden.«– –
So kam es, daß Bettina ihre ersten Reit- und Tennisstunden in den abgelegten Kleidungsstücken von Mademoiselle Legrand absolvieren mußte. Sie fühlte sich durch die Tatsache entsetzlich gedemütigt, glaubte, daß man hinter ihrem Rükken über sie spöttelte.
Trotzdem schrieb sie ihrem Vater nicht. Sie hatte noch nie in ihrem Leben einen Brief an ihn geschickt, und sie spürte deutlich, daß der erste Brief nicht gleich eine Bitte um Geld enthalten durfte.
Manchmal sehnte sie sich heiß nach ihrem unbekannten Vater, manchmal haßte sie ihn dafür, daß er sie in eine Situation gebracht hatte, der sie nicht gewachsen war. Abends, wenn sie nicht einschlafen konnte, setzte sie im Geiste oft lange Briefe an ihn auf, sehnsüchtige, anklagende, liebevolle oder zornige Briefe. Keinen von ihnen schrieb sie wirklich.
Ihre Mutlosigkeit wuchs von Tag zu Tag.– –
Dem Unterricht zu folgen, fiel Bettina, sobald sie sich daran gewöhnt hatte, Französisch als Umgangssprache zu gebrauchen, nicht schwer. Die Schülerinnen der Klasse 2 a, in die der Vater sie angemeldet hatte und zu der auch Dotty gehörte, wurden nicht für einen Beruf vorbereitet, sondern, wie Madame Jeuni immer wieder betonte, für das Leben, oder, genauer ausgedrückt, für die Ehe. Die Mädchen lernten Kochen, Schneidern, Säuglingspflege, Literatur, Kunstgeschichte, Musikerziehung – jede mußte mindestens ein Instrument beherrschen lernen – und dann natürlich der Sport. Es wurden keine Noten für die Leistungen in den einzelnen Fächern erteilt. Madame Jeuni setzte, wie sie immer zu sagen pflegte, voraus, daß die jungen Damen selber die Zeit im Institut ausnutzten, um sich so viele Fähigkeiten wie nur möglich anzueignen.
Allerdings stellte Bettina schon bald fest, daß das nicht zutraf. Ein großer Teil der Mädchen – sie waren durchweg aus sehr reichen Häusern, verwöhnt und verzogen – gab sich nicht die geringste Mühe, irgend etwas zu lernen. Sie benutzten den Aufenthalt im Internat nur dazu, die Zeit totzuschlagen, bis sie sich erwachsen nennen durften.
Dotty Glenford war eine der besten Schülerinnen. Sie war zwar nicht fleißig, aber begabt und von rascher Auffassungsgabe. Immer wurde sie den anderen als leuchtendes Beispiel vorgehalten. Niemand der Lehrpersonen schien zu durchschauen, daß sie eine Doppelrolle spielte. Den Erwachsenen gegenüber gab sie sich sanftmütig, gehorsam, eifrig und ungeheuer brav, sobald sie mit ihren Mitschülerinnen allein war, zeigte sie sich keck, vorwitzig, leichtsinnig und voller Spottlust. Bettina wußte oft nicht, welche die wirkliche Dotty war. Aber sie bewunderte ihre Zimmergenossin von ganzem Herzen, allein schon deshalb, weil sie imstande schien, jede Situation mit Leichtigkeit zu meistern. Aber Dotty behandelte sie nach wie vor wie Luft.
Bettina war diese kühle Ablehnung eines Menschen, zu dem sie sich von Herzen hingezogen fühlte, das Schmerzlichste von allem. Sie konnte nicht begreifen, warum Dotty so böse auf sie war, war überzeugt, daß der Fehler bei ihr liegen müßte. Anscheinend hatte sie Fehler, die ihr selber nicht bewußt waren. Mit ihrer Pflegeschwester Ursel war es ihr ja ganz ähnlich ergangen, wenn auch aus anderen Gründen. Sie hatte Ursel ehrlich gern gehabt, dennoch war es ihr nicht gelungen, Gegenliebe zu erwecken.
Bettina fühlte sich sehr unglücklich. Sie wagte nicht einmal mehr den Versuch, aus sich herauszugehen, Freundinnen zu gewinnen, sondern zog sich nur immer mehr in sich selber zurück. Oft spielte sie mit dem Gedanken, bei Nacht und Nebel auszureißen und das verhaßte Internat zu verlassen.
Eines Morgens, als Bettina gerade mit ihrer Klasse von einer Besichtigung des Musée d’Art et d’Historie zurückkam, fing Jeanette Legrand den Kunstgeschichtslehrer Monsieur Züngli in der Haustür ab. »Entschuldigen Sie bitte, Monsieur«, sagte sie, »wenn ich Ihnen Bettina Steutenberg entführe … Madame Jeuni wünscht sie zu sprechen.«
Bettina erschrak. Zu Madame Jeuni gerufen zu werden, das konnte nichts Gutes bedeuten. Mit hängendem Kopf folgte sie der Sekretärin, die ihr die Tür zum Allerheiligsten der Vorsteherin öffnete. Zögernd, mit gesenktem Blick, trat sie ein.
Aber entgegen ihrer Erwartung klang die Stimme Madame Jeunis überraschend freundlich. »Bettina«, sagte sie herzlich, »Sie haben Besuch bekommen!«
Bettina hob die Augen und sah in ein männliches, wetterhartes Gesicht, braune Augen, die von zahlreichen Fältchen umgeben waren. Ihr Herz setzte für eine Sekunde aus vor Freude und Schreck. Ohne daß es ihr jemand gesagt hatte, wußte sie, daß dieser Mann ihrVater war – Stefan Steutenberg.