Читать книгу Fest im Sattel - Lovisa reitet ins Ziel - Marie-Louise Wallin - Страница 5

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Lovisa sitzt ganz hinten im Klassenzimmer, das Kinn in die Hände gestützt. Sie ist müde. Die Augenlider senken sich über ihre grünbraunen Augen, wollen zufallen. Das ist nicht gut, denn vorn an der Tafel steht der Lehrer Esbjörn und zeichnet Quadrate und Dreiecke. Er redet, rechnet und erklärt mit eifriger Stimme. Esbjörn ist jung und beliebt und die Klasse ist aufmerksam und fleißig. Alle, außer Lovisa, zeichnen mathematische Figuren und rechnen mit. Niemand achtet auf Lovisa, nicht einmal Viktoria, die am gleichen Tisch dicht neben ihr kritzelt und herumradiert.

Lovisa hat keine Ahnung, wovon Esbjörn redet. Die Gedanken in ihrem Kopf machen eigene Irrfahrten, weit weg von den klaren Regeln der Mathematik.

Der Raum, in dem die Klasse sitzt, ist groß und hell, sauber und langweilig, alles, was nicht blassgelb ist, ist hellgrau. Sogar die Tafel an der Schmalseite ist gelblich weiß. Das einzig Schöne ist ein Sonnenlichtreflex, der wie ein kleiner Regenbogen an der Wand flimmert. Lovisa versucht ihren Blick darauf zu heften. Es ist die Glasvitrine auf dem Lehrerpult, die das Licht vom Fenster so wunderbar bricht.

Lovisa hat leichte Bauchschmerzen. Es ist Zeit für ihre Periode und da werden ein paar schwere Tage folgen. Das ist nichts, worüber sie mit dem Vater spricht. Sie muss wie immer jeden Morgen aufstehen und mit ihm, Ola und Maria zusammen die Tiere versorgen. Dann muss sie Zeit finden zu duschen und sich umzuziehen, bevor sie zum Schulbus läuft.

Lovisa wünscht sich langes, schönes Haar, das über die Schulter und über den Rücken fällt, wie bei Viktoria, aber sie muss kurze Haare tragen, sodass ihre Frisur einem dunklen Helm gleicht. Etwas anderes ist nicht möglich, da sie sich jeden Morgen die Haare waschen muss, um einem Klassenkameraden, der gegen Pferdehaare allergisch ist, nicht zu schaden.

Lovisa wendet den Blick von dem Sonnenreflex weg zu Esbjörns Rücken und sieht, dass er gerade die Tafel abwischt, um neuen Figuren Platz zu machen. Ihre Augenlider fühlen sich geschwollen an und sie blinzelt und macht den Mund fest zu, weil sie spürt, dass sie gähnen muss. Dann gleiten ihre Gedanken zu dem Pferd Elisa Doolittle, das Bele nach einer alten mürrischen Tante Elsa nennt.

Elsa ist Lovisas Lieblingspferd und sie denkt daran, wie einer der erwachsenen Reitschüler Elsa so schlecht gesattelt hatte, dass sie schwere Druckstellen bekommen hatte, eine richtige Wunde. Deshalb darf Lovisa Elsa jetzt einige Zeit ganz für sich allein haben. Während die Wunde heilt, darf das Pferd nicht geritten werden. Am liebsten würde Lovisa die braune Elsa als ihr eigenes Pferd haben, dann dürfte nur sie allein Elsa reiten. Aber sie sieht ein, dass auch Elsa dazu beitragen muss Geld hereinzubringen.

Jetzt sind Lovisas Augenlider zugefallen und die kurzen, dichten Wimpern liegen in dunklen Bögen aufeinander. Wie im Traum sieht sie vor sich, wie die fünfzehn braunen Pferde mit ihrem blanken Halfter auf den Koppeln des Hofes in der Sonne stehen und friedlich das Gras vom Vorjahr abrupfen oder weniger friedlich schnell nacheinander schnappen. Schläfrig denkt sie daran, wie sie oft miteinander rangeln und sich über die Weide jagen, bis sie wieder friedlich weitergrasen.

Siv hatte unbedingt Pferde haben wollen, Siv, die macht, was sie will, die immer ihren Willen durchsetzt. Siv, die diesen Larry mehr liebt als Lovisa, Bele und alle Tiere zusammen.

Jemand knufft Lovisa am Arm, das ist Viktoria. Lovisa zuckt zusammen und reißt die Augen auf. Die Augen der Klassenkameradin funkeln, sie zischt ihr zu: „Wach auf! Du schnarchst so laut, dass man es vorn am Lehrerpult hört!“

Lovisa brummt etwas und legt den Kopf auf die Arme. Die blanke graue Kunststoffoberfläche der Schulbank ist kalt. Sie führt ihre abgebrochenen Gedanken fort: Ist es wirklich wahr, dass Siv immer ihren Willen durchsetzt? Hat sie das Leben, das sie jetzt führt, wirklich gewollt? Hat sie es sich so vorgestellt?

Lovisa weiß es nicht. Sie findet es schwierig Erwachsene zu verstehen, und sie findet, dass sie ihr Leben total schlecht einrichten.

Lovisa tut es oft weh, wenn sie an die Mutter denkt. Und jetzt tut es weh. Es sind Schmerzen der Verlassenheit.

Am nächsten Morgen wird Lovisa zu Siv und Larry und den Kindern fahren. Larry hat das Sorgerecht für seine zwei Söhne, Lennart, der sechs ist, und Pontus mit sieben. Zusammen haben Larry und Siv noch ein Mädchen bekommen, Madeleine, die noch nicht laufen kann. Und dann wohnt ja auch Linus bei ihnen.

Lovisa sehnt sich nach Linus und Siv, aber es graut ihr trotzdem davor, zu ihnen zu fahren. Mit jedem Monat und jedem Jahr, das vergeht, fällt es Lovisa immer schwerer sich bei ihrer Mutter wohl zu fühlen. Sie kommt sich immer mehr wie ein großes Kuckucksei vor, das überall in dem kleinen Nest im Weg ist, in dem Haus, in dem Lennart und Pontus streiten und lärmen und Madeleine schreit, wie es Kleinkinder eben tun.

Mitten in dem Chaos lebt der neunjährige Linus, brav und still und fast immer sehr ernst. Er kauert über seinen Büchern oder seinem Modellspielzeug. Lovisa verspürt vor Sorge um Linus einen Stich in der Brust, der kleine Bruder tut ihr so Leid. Vielleicht fühlt er sich in Larrys Familie auch im Weg? Aber Siv würde ihn nur dann Bele abgeben, wenn sie dazu gezwungen würde.

Lovisa mag Larry nicht. Vielleicht ist sie ungerecht, aber sie kann ihm einfach nicht verzeihen, dass er ihr Siv weggenommen hat. Und es sieht auch nicht so aus, als wäre er noch sehr verliebt in sie. Manchmal gibt er ihr einen Klaps auf den Hintern und nennt sie „meine kleine Alte“ – was Lovisa furchtbar findet –, aber meistens scheint er sich wenig um sie zu kümmern.

Siv ist klein, so wie Larry – und ihre Wohnung ist eng und voller Möbel.

Lovisa stolpert mit ihren großen Füßen über all die Sachen bei ihnen zu Hause und immer stößt sie irgendwo an, weil ihr etwas im Weg steht. Larry, der immer witzig sein will sagt, dass es ihm so vorkomme, als hätten sie eine Kuh im Haus, wenn Lovisa da ist. Und das macht Lovisa unsicher und noch ungeschickter. Sie ist inzwischen um einige Zentimeter größer als Siv und Larry und kann nicht mehr wie früher auf ihrer kurzen Wohnzimmercouch schlafen.

Jetzt spürt Lovisa, dass jemand sie anschaut. Sie hebt den Kopf und begegnet Esbjörns Blick. Er hat sich vor ihren Tisch gestellt. „Geht es dir nicht gut?“, fragt er besorgt.

Lovisa wird rot und murmelt etwas Unverständliches, das untergeht, als es klingelt. Sie steht auf und geht mitten in dem Haufen von achtundzwanzig Klassenkameraden aus dem Schulzimmer.

Fest im Sattel - Lovisa reitet ins Ziel

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