Читать книгу Fest im Sattel - Lovisa reitet ins Ziel - Marie-Louise Wallin - Страница 6

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Siv und Larry wohnen in einem Vorort von Borlänge, der Paradies heißt. Aber auch wenn der Name schön klingt, besteht der Ort nur aus geraden, asphaltierten Straßen, die zwischen den viereckigen Häuserblöcken hindurchlaufen, er gleicht Tausenden anderer Vororte in der Welt, wo die Häuser so dicht beieinander stehen und sich so ähnlich sehen, dass es schwierig ist, die richtige Haustür zu finden.

Lovisa lehnt sich aus dem Fenster, als der Zug in den Bahnhof einfährt. Der Luftzug fegt hart und kalt über ihren Kopf und sie sieht, dass es auf dem Bahnsteig nur so von Menschen wimmelt. Eifrig schaut sie nach Siv und Linus aus, aber sie kann sie in dem Gedränge nicht entdecken. Als der Zug hält, hebt sie ihre blaue Stofftasche herunter und steigt aus. Auf dem Bahnsteig bleibt sie stehen und schaut suchend umher, während die Leute an ihr vorbeiströmen, sich etwas zurufen und sich umarmen. Die Menschenmenge löst sich bald auf und der Zug fährt weiter.

Holt sie niemand ab? Langsam und etwas beunruhigt geht sie auf das Bahnhofsgebäude zu. Dann sieht sie Larry, der allein in aller Ruhe die Stufen zum Bahnsteig herunterkommt.

Lovisa bleibt stehen, so dass Larry auf seinen kurzen, dicken Männerbeinen zu ihr laufen muss. „Hallo“, sagt er. „Ich bin etwas spät dran. Aber besser spät als nie, oder? Na, dann. Du bist also wieder da. Ja, herzlich willkommen.“

„Hallo! Wo ist Siv?“

„Sie ist zu Hause bei den Kindern. Ich könnte mir vorstellen, dass sie gerade etwas Gutes zum Essen macht. Komm, lass uns gehen!“

Larry nimmt ihre Tasche. Lovisa denkt böse, dass es ihm recht geschieht, die Tasche ist total schwer. Diesmal wartet kein weißer Mercedes auf dem Parkplatz. Larry hat ihn in einen blauen Volvo umgetauscht, von dem er in den wenigen Minuten, die die Fahrt ins Paradies dauert, ununterbrochen redet.

Es ist das erste Mal, dass Siv sie nicht vom Bahnhof in Borlänge abgeholt hat. Aber dann steht sie da im Flur, als Lovisa und Larry hereinkommen, und sie lächelt und umarmt sie. Linus steht auch da und schaut Lovisa aufgeregt und glücklich an.

„Hallo, Bruderherz“, sagte sie und stößt ihn leicht mit der Faust auf den Arm. Sie ist plötzlich fast schüchtern geworden und umarmt den großen mageren Jungen vor ihr nicht mehr. Und Linus versteht und knufft zurück; leicht und freundlich.

Larrys Söhne kommen auch aus dem Wohnzimmer, sie sagen hallo und gehen dann zu ihrem Videofilm zurück. In der Küche sitzt die dicke kleine Madeleine in ihrem Laufstall und spielt mit ihren Plastiktieren.

Lovisa lehnt sich über den Rand des Laufstalls und schaut sie lange an. Madeleine schaut mit ihren großen Augen zurück. Lovisa weiß, dass Madeleine ihre kleine Schwester ist, aber sie weiß auch, dass sie die Kleine nicht liebt. Sie fühlt sich nur leer und gleichgültig, wenn ihre Blicke sich treffen. Madeleine ist wie eine Kopie von Larry mit ihren blassblauen Augen, dem Grübchen am Kinn und dem Schmollmund. Lovisa überlegt, ob Madeleine sie wieder erkennt. Es ist schwer zu sagen, denn das Gesicht des kleinen Mädchens ist ausdruckslos. Lovisa wünschte sich, dass sie ihre kleine Schwester genauso lieben könnte wie sie Linus liebt. Sie sieht in die matten Augen des Kindes und fühlt sich als Schwester unmöglich. Fast schämt sie sich.

Siv ruft alle zu Tisch. Sie hebt Madeleine hoch und setzt sie in einen Kinderstuhl. Es gibt Spagetti mit Hackfleischsoße, was alle mögen, und eine Weile herrscht Ruhe am Tisch. Madeleine kippt ihr Milchglas um und Siv wischt den Tisch ab.

Larry sagt, dass Lovisa wie ein Junge aussieht. Das weiß sie ja, das hat er schon öfter gesagt, aber er sagt es immer so, als ob etwas mit ihr nicht stimmte. Lovisa schweigt, aber Siv verteidigt sie etwas erhitzt: Lovisa sei hübsch! Die Frisur stehe ihr. Madeleine müsse froh sein, wenn sie einmal genauso hübsch wie ihre große Schwester werde.

Siv hat sich Madeleine zugewandt, die sie mit kleinen Spagettistückchen füttert. Deshalb sieht sie nicht den dankbaren Blick, den Lovisa ihr zuwirft.

„Hör mal, Lovisa!“, sagt Larry plötzlich und schaut sie mit seinen kühlen hellen Augen an. „Du musst lernen den Mund zuzumachen, wenn du isst. Du sperrst ihn so weit auf, dass man sehen kann, was du zum Frühstück gegessen hast!“

Lovisa spürt, wie ihr das Blut in die Wangen steigt. Wütend macht sie ihren ziemlich großen Mund zu.

„Du sollst nicht immer an Lovisa herummeckern, sobald sie zu uns kommt“, zischt Siv.

Larry fängt an zu lachen. „Aber schau sie doch an! Jetzt kneift sie den Mund gleich so fest zu, dass er wie ein Hühnerpo aussieht!“

Lovisa würde am liebsten aufspringen und rauslaufen. Keine Minute will sie länger hier bleiben. Sie spürt, wie die Tränen unter ihren Lidern brennen. Aber sie darf nicht weinen. Und sie darf nicht wie eine Verliererin vom Tisch rennen. Doch sie isst nichts mehr. Ihr Essen bleibt auf dem Teller liegen. Und von dem Eis, das Siv zum Nachtisch gekauft hat, um Lovisa eine Freude zu machen, will sie auch nichts.

Da will Linus plötzlich auch nichts mehr essen. Die Augen in seinem schmalen Gesicht sehen Lovisa groß und unglücklich an, während Lennart und Pontus schreien, dass sie sein Eis haben wollen. Da überwindet Lovisa sich und fängt lustlos an zu essen. Das Eis schmeckt nach nichts. Es ist nur kalt und schwer zu schlucken. Aber Linus’ Gesicht hellt sich auf. Er fängt an seine Portion in sich hineinzuschaufeln.

Nach dem Essen stellen alle ihre Teller in die Spülmaschine. Larry setzt sich mit seinen beiden Jungen vor den Fernseher, um Sport zu sehen. Siv badet Madeleine, die angefangen hat vor Müdigkeit zu quengeln, und bringt sie ins Bett. Linus geht in sein Zimmer und wirft sich mit einem Buch aufs Bett.

Lovisa bleibt allein im Flur stehen. Sie starrt ein Bild an, das einen rosa Schutzengel darstellt, der hinter zwei kleinen Kindern über einem Abgrund schwebt. Sie kann hier einfach nicht zusammen mit Larry bleiben, es geht nicht. Sie sehnt sich zurück zu Bele. Sie starrt den Engel an. Zu Hause sehnt sie sich nach Siv und Linus. Bei Siv sehnt sie sich nach Bele.

Die Mutter hat für Lovisa eine Schaumgummimatratze als Bett in Linus’ kleines Zimmer gelegt. Sie füllt fast die ganze Bodenfläche aus, die zwischen den Möbeln übrig ist. Es ist ganz deutlich, dass der Schlafplatz für einen zufälligen Gast eingerichtet ist. Es gibt niemand, der findet, dass sie ein Kind dieses Hauses ist.

Pontus und Lennart haben ein ziemlich großes Kinderzimmer, voll von Spielzeug. Madeleine schläft nachts im Schlafzimmer bei Siv und Larry. Alle – außer Lovisa – haben hier ihren eigenen Schlafplatz.

Lovisa geht ins Badezimmer und lässt sich ein heißes Bad ein. Sie bleibt so lange in der Badewanne, dass Siv sich Sorgen macht und an die Tür poltert. Das Badewasser ist kaum mehr lauwarm und Lovisa steigt heraus.

Auf der schmalen Matratze neben Linus’ Bett zusammengekauert sagt sie laut und bitter: „Larry ist ein großes Arschloch!“

„Ja, schon, aber nicht immer“, flüstert Linus. „Er hat mir ein Fahrrad mit zwölf Gängen geschenkt und er nimmt mich und die Jungs oft zum Fußball mit. Manchmal kann er ganz okay sein.“

„Aha. Das sagst du! Aber ich fahre trotzdem morgen nach Hause, weil ich ihn echt nicht leiden kann. Ich kann ihn nicht ausstehen.“

„Schade. Obwohl, morgen hätten wir sowieso nicht zusammen sein können, weil ich bei Oma eingeladen bin.“

„Seit wann haben wir eine Omi? Oder bist du im Himmel eingeladen?“

„Ich meine die Mutter von Larry. Sie und ihr Mann kommen uns drei Jungs abholen und nehmen uns in den Ferien mit nach Sälen zum Skifahren. Sie haben dort eine Hütte.“

„Ach, so ist das“, sagt Lovisa und dreht Linus den Rücken zu. Sie schnieft unter der dünnen Decke und es dauert lange, bis sie einschlafen kann, eingelullt von Linus’ ruhigen Atemzügen.

Fest im Sattel - Lovisa reitet ins Ziel

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