Читать книгу Der Schlüssel zur Finsternis - Marie Lu Pera - Страница 3
Tripolis
ОглавлениеDie Sonne hüllt die Arena in gleißendes Licht. Hunderte sind gekommen, um ihren König zu sehen. Die Hitze, die der Wind mit sich trägt, fährt mir unerbittlich durchs Haar, doch als ich die Kälte im Blick des Königs erspähe, zieht ein eisiger Hauch über meine Haut.
Seine Söhne stehen hinter ihm. Ihre Rüstungen blenden meine Augen. Ich frage mich, ob sie seine Grausamkeit in sich tragen. Ihre Augen hätten es mir vielleicht verraten, doch ich kann keinen von ihnen erkennen. Sie tragen Masken, die ihre Häupter verdecken. Jeder trägt ein Medaillon um den Hals – eine goldene Sonne – das Symbol, das sie in ihrer Kultur verehren.
„Söhne Asgards. Hört meine Worte.“ Die Stimme des Königs hallt unnatürlich laut durch die Arena und die Gespräche des Volkes verstummen abrupt.
„Die Zeit ist gekommen, um uns das zu nehmen, was uns zusteht.“ Jubel bricht aus, was mich die Augen schließen und tief durchatmen lässt.
„Viel zu lange schon haben wir versucht, den Disput mit Verhandlungen zu lösen. Ohne Erfolg.“ Ein Mann hinter mir stößt einen Fluch aus, was im kollektiven Grölen der Menge untergeht.
„Ich sage, die Zeit der Worte ist vorüber. Nun sollten Taten für uns sprechen. Wir vereinen unsere Heere und statuieren ein Exempel.“ Die Masse tobt. Erneut schließe ich die Augen. Mein Herzschlag ist kaum zu bändigen und ich zwinge mich dazu, sie wieder zu öffnen.
„Die Presperianer sind schwach. Es wird ein Leichtes sein, ihren Planeten einzunehmen. Ich habe eine Vision – ein Presperianischer Sklave für jeden Asgard.“ Sprechchöre brechen aus.
Ihre Rufe bohren sich wie Nadelstiche in meinen Leib und ich atme den eintretenden Schwindel weg.
„Meine Söhne werden den Angriff anführen und derjenige, der in der Schlacht großen Ruhm und Ehre erntet, wird nicht nur mit Reichtümern überschüttet. Nein. Ich werde ihm die Presperianische Prinzessin auf einem Silbertablett servieren. Nackt. Und er wird ihr zeigen, was die Asgard mit einer Presperianischen Hure machen.“
Die Männer in der Arena haben sich von ihren Plätzen erhoben und strecken die Fäuste gen Himmel. Ohrenbetäubender Lärm setzt ein, was mich keuchend hinter eine Marmorsäule flüchten lässt.
Sie müssen umgehend davon erfahren. Ich darf keine Zeit verlieren.
Mein schwarzer Umhang klebt mir am Rücken und ich tauche in den Strom, der nun Aufbrechenden, ein. Viele sind extra angereist, um dieses Spektakel mitzuerleben.
Ich versuche, die hasserfüllten Diskussionen, die um mich herum stattfinden, auszublenden und reihe mich in die Schlange ein.
Die Fähre ist alt und hat ihre besten Jahre schon sichtbar hinter sich. Die Asgard-Krieger mustern jeden Passagier eindringlich und kontrollieren die Handgelenke. Obwohl ich es gewohnt bin, das Shuttle zu nehmen, habe ich dennoch jedes Mal Angst, wenn mich einer von ihnen ansieht, als würde ich eine Bedrohung für den gesamten Planeten darstellen. Gleich bin ich an der Reihe. Das Herz schlägt mir bis zum Hals.
Noch bevor er mich auffordert, strecke ich ihm meine Handgelenke hin. Bloß nicht wegsehen, ermahne ich mich unaufhörlich. Wer ihren Blicken ausweicht, hat etwas zu verbergen.
Sein Körper ist muskulös und ihn als Riese zu bezeichnen, wäre eine Untertreibung. Auf seinem nackten Oberkörper prangt das Zeichen der Asgard. Sein rabenschwarzes Haar ist zu einem Zopf gebunden und reicht ihm bis zur Hüfte.
Grober als sie es sonst tun, packt er meine Arme und zieht mich näher an sich heran. Keine Panik. Keine Panik. Sein Blick bohrt sich in mich, während er die Augen zusammenkneift.
„Wo wollt Ihr hin?“ Mein Herz macht einen Satz.
„Nach Lysien“, antworte ich so natürlich wie möglich.
„Allein?“
„Mein Bruder ist bei mir. Wir wurden getrennt.“ Der Krieger legt die Stirn in Falten und zieht mir grob die Kapuze vom Haupt. Dabei erwischt er mein Haar, mit dem er mir den Kopf in den Nacken reißt.
Obwohl ich ihre Brutalität kenne, entweicht mir dennoch ein Keuchen. Seine andere Hand fährt über meinen Rücken und drückt mich an sich. Das ist definitiv viel zu nahe. Er knurrt bedrohlich, so, als wolle er mir noch mehr Angst einjagen.
Hinter mir scheint ein Tumult auszubrechen. Er wendet sich von mir ab, stößt mich weg und schreitet in die Richtung des Lärms.
Schnell erhebe ich mich, um ins Shuttle zu eilen. Meine Schulter pocht vor Schmerz und mein Atem geht stoßweise. Verdammt. Das war knapp.
Ich lächle. Wenn er wüsste, dass ihm gerade eine Presperianerin entwischt ist, würde er vor Zorn vergehen.
Natürlich weiß ich um die Gefährlichkeit meiner Reisen ins feindliche Gebiet. Aber was soll ich sagen, ich will Informationen aus erster Hand erhalten. Außerdem bin ich ein notorisch stures Frauenzimmer. Das sagt zumindest mein Onkel.
Natürlich steige ich nicht in Lysien aus, als das Shuttle die erste Zwischenlandung unternimmt. Mein Ziel ist das Sarengebiet. Dort bin ich meinen Aufpassern auf dem Markt entwischt.
Habe ich schon erwähnt, dass ich es immer schaffe, mich in Schwierigkeiten zu bringen?
Ihre Gesichter, wenn sie mich nach langer Suche finden, und ihre Angst, es meinem Onkel zu erzählen – ja, das erfüllt mich jedes Mal mit einer inneren Genugtuung.
Das Raumschiff hat den Hafen von Santara erreicht und ich steige aus. Vergnügt lasse ich mich auf einer Brücke nieder, an der ich meine nackten Füße in den Fluss baumeln lasse. Ich brauche einen Plan. Mein Onkel muss davon erfahren, was ich gesehen habe.
Ein aufgebrachtes „Prinzessin“ lässt mich mit den Augen rollen. Keine drei Sekunden später hechtet der Hauptmann auf mich zu und stemmt die Hände in die Hüften. Sein Gesichtsausdruck zaubert mir ein Lächeln auf die Lippen. Genau das ist es – köstlich.
„Wo wart Ihr?“ Ich bin schnell mal ins Shuttle und habe unsere Erzfeinde auf ihrer Seite der Galaxie besucht, um mir die Hassrede ihres Königs anzutun.
Gegenfrage. „Wo wart Ihr denn?“
„Wir haben nach Euch gesucht. Ganze vier Stunden lang“, erklärt er genervt.
„Oh, neuer Rekord. Normalerweise findet Ihr mich nach zwei“, spotte ich.
„Wollt Ihr Euch über mich lustig machen?“, fordert er mich heraus.
Ja. „Seht Ihr mich lachen, Hauptmann?“ Meine Antwort scheint ihm nicht zu gefallen, denn er packt mich grob am Arm und zieht mich hoch. Meiner Schulter gefällt das ganz und gar nicht, weshalb ich vor Schmerz keuche.
„Davon wird Euer Onkel erfahren“, droht er.
„Nur zu. Er wird sicher über die Maßen erfreut sein, dass Ihr mich am Markt aus den Augen gelassen habt. Wartet – stimmt, Euer Auftrag lautet ja, mich im Auge zu behalten. Hm, das nenn ich ja mal Pech.“ Seine Hand schließt sich fester um meinen Arm und er zieht mich an sich heran.
Die Ader an seiner Schläfe pocht sichtbar. Nur mühevoll unterdrückt er den Fluch, den er mir am liebsten an den Kopf knallen würde und zieht mich unerbittlich hinter sich her. Stolpernd folge ich ihm, kann aber kaum Schritt halten.
Die anderen Männer warten bereits auf ihren Streitrössern und mustern mich missbilligend.
Von ihren hasserfüllten Blicken abgelenkt, habe ich einen Stein übersehen und stolpere. Mein Anhängsel packt mich grob, um meinen Fall zu verhindern.
Sieh mich nicht so böse an. Das war nicht mit Absicht. Ich glaube, er ist sauer auf sich selbst, weil er mich nicht fallengelassen hat.
Mit einem Satz erklimmt er den Sattel und hält mir den Arm hin. Bei dieser Geste zögere ich jedes Mal. Aus einem Impuls heraus blicke ich zum Markt zurück und frage mich, wie es wohl ist, dort zu leben.
Das Räuspern des Hauptmanns weckt mich aus meinem Tagtraum und nur zögerlich ergreife ich seinen Arm.
Fester als sonst zieht er mich vor sich aufs Pferd. Meine Hand pocht noch vor Schmerz, da erreichen wir bereits die Tore der Burg meines Onkels. Schätze, das hab ich verdient.
Mein „Aufpasser“ steigt ab und streckt mir seine Hände hin, um mir vom Ross zu helfen. Ich habe jedoch keine Lust, mir noch mehr blaue Flecken einzufangen. So sehe ich davon ab, seine Hilfe anzunehmen und lasse mich vom Pferd gleiten. Das war doch höher, als ich dachte. Oder ich bin einfach zu klein – ja, Letzteres wird es sein.
Unser Ziel ist klar, also ziere ich mich nicht und wir schreiten zusammen in den großen Saal. Meine, mich flankierenden, Begleiter knien vor meinem Onkel nieder.
„Und erneut enthältst du mir deine Ehrerbietung vor, Nichte“, stellt er gereizt fest. Ich falle vor niemandem auf die Knie. Schon gar nicht vor meinem Onkel.
„Oh, du hast ja schon genug Untergebene, die vor dir kriechen. Da fällt doch der eine oder andere nicht auf“, spotte ich. Seine Miene ist unergründlich und sein Mundwinkel zuckt. Schlechtes Zeichen.
„Was willst du, Hauptmann?“, will er von meinem Anhängsel wissen, das sich sogleich erhebt.
„Ich dachte, Ihr solltet wissen, dass sie uns auf dem Markt davongelaufen ist und wir sie erst vier Stunden später wiederfanden, mein Gebieter“, verpfeift er mich.
„Habe ich dir befohlen, zu denken?“, knallt ihm mein Onkel hin. Ich stoße amüsiert die Luft aus, bevor mein Onkel ein „Hinaus“ brüllt.
Mit bösartigen, in meine Richtung gerichteten Blicken ziehen sich die Herren der Schöpfung zurück, was mich dazu animiert, mich ebenfalls abzuwenden.
„Du nicht.“ Na toll.
Mein Onkel erhebt sich, kommt auf mich zu und mustert mich angestrengt. Er ist ein Riese von einem Mann, mit kantigem Gesicht, das ein Vollbart ziert. Sein schwarzes Haar trägt er schulterlang. Mit seinem schwarzen, bodenlangen Umhang und seiner autoritären Körperhaltung wirkt er ganz schön respekteinflößend. Nur gut, dass es mir an einem ganz besonders mangelt – am Respekt.
„Wieso widersetzt du dich mir ständig, Nichte?“
„Weil du mich wie eine Gefangene behandelst.“ Er zieht die Augenbrauen hoch.
„Wo warst du heute die ganze Zeit über?“ Ja klar. Er ignoriert mich mal wieder.
Tja, das kann ich auch. „Es gibt Gerüchte. Sie sagen, die Asgard rüsten sich für eine Invasion.“
„Das hat dich nicht zu interessieren“, knallt er mir hin. Ja natürlich. Warte mal. Wieso ist er nicht überrascht?
„Du wusstest davon?“, mutmaße ich.
„Lauf dem Hauptmann noch einmal davon und du lernst meinen Zorn kennen.“ Wir sind wohl wieder beim Ignorieren angelangt.
„Deinen Zorn kenne ich bereits, Onkel. Ziemlich übler Bursche.“ Der Schlag ins Gesicht trifft mich unvorhergesehen und lässt mich zu Boden gehen. Meine Schläfe pocht – vor Schmerz steigt Übelkeit in mir auf.
Ich weiß nicht, wie lange ich hier schon liege, aber als ich wieder so halbwegs zu mir komme, ist der Saal leer. Ich rapple mich hoch und stelle mich auf meine wackligen Beine.
Die Knöchel an meiner Faust treten weiß hervor. Mit übermenschlicher Kraft unterdrücke ich einen Wutausbruch.
Die Wachen warten bereits vor der Tür auf mich. Ein amüsierter Ausdruck ist in ihren Zügen verwoben.
In meiner Kammer kühle ich meine Schläfe mit einem feuchten Tuch. Ich blute sogar. Die Tränen wische ich schnell weg und atme tief durch. Du schaffst das. Er wird dich nicht brechen. Zumindest noch nicht.
Der Himmel ist bereits in tiefes Schwarz gehüllt, als ich zum Fenster schreite. Ich erinnere mich an die letzten Sonnenstrahlen, die über mein Gesicht streichelten und die Gier, mit der ich sie in mir aufgenommen habe. Schwermut erfüllt mein Herz.
Ein leises Räuspern ertönt. Schnell trockne ich meine Tränen und wende mich der Kreatur zu, die vor mir auf dem Boden kauert. Ich hatte sie gar nicht reinkommen gehört.
Der Asgard ist in meinem Alter. Die Lumpen an seiner Haut sind schweißdurchtränkt. Seine Haut ist mit Abschürfungen und offenen Wunden überzogen. Er war einmal stark und kräftig, aber von seinen Muskeln ist kaum etwas übriggeblieben, so ausgemergelt ist er. Sein Kopf ist kahlgeschoren. Ich frage mich, wie lange sein schwarzes Haar einst war. Hand- und Fußfesseln mit langen Ketten baumeln an ihm herab.
Meine Wut über seinen Zustand und mein pochender Schädel machen mich benommen. Ich muss mich an der Wand abstützen, um nicht in die Knie zu gehen. Niemand sollte vor jemandem knien, sage ich mir in Gedanken.
Sein Blick richtet sich im nächsten Moment auf mich, was mich den Hass in seinen Augen erkennen lässt. Ich spüre ihn sogar auf den feinen Härchen meiner Haut. Eigentlich sollte ich mich daran bereits gewöhnt haben, aber es trifft mich doch jedes Mal. Dass mir mein Onkel einen Sklaven schickt, ist ein weiteres Verhöhnen meiner Person.
Der Asgard hat sich erhoben und sieht mich an. Er wartet auf einen Befehl von mir. Erschöpft lasse ich mich auf den Hocker nieder. Mein Befehl lautet, niemals einem Befehl von mir zu gehorchen. Die Worte liegen mir auf der Zunge, aber ich bekomme keinen Ton raus.
Der Sklave starrt mich weiterhin mit eisiger Miene an – ich kann ihn durch die Reflexion des Spiegels vor mir sehen.
Plötzlich fühlt sich mein Mieder wie eine Fessel an und ich atme gepresst. Was ich auch tue, die Luft scheint meine Lungenflügel nicht zu erreichen. Wie eine Verrückte stürme ich zum Fenster und öffne es, was kalte Luft in meine Kammer strömen lässt. Auch das verschafft mir keine Erleichterung und ich gehe schnappatmend zu Boden.
Im nächsten Moment poltert es an der Tür. Ich wische mir die Tränen von den Wangen und kämpfe mich hoch.
Keine zwei Sekunden später dringt der Hauptmann in mein Gemach ein. Als er die Zeichen meiner Schwäche entschlüsselt hat, grinst er schief.
„Ich konnte den Schlag bis nach draußen hören.“ Er kommt näher, nimmt mein Kinn in seine Hand und dreht damit meinen Kopf, um meine Wunde näher zu betrachten. Wütend entreiße ich mich seiner Berührung und wende mich ab.
„Ein Jammer, die Wunde entstellt Euer liebliches Gesicht. Ich schlage Eurem Onkel vor, das nächste Mal ein anderes Körperteil zu wählen, wenn er Euch den Gehorsam einprügelt“, raunt er eitel.
„Jeder bekommt das, was er verdient, Hauptmann.“ Etwas irritiert lächelt er.
„Das Essen ist angerichtet. Euer Onkel wartet bereits.“
„Wieso geht Ihr nicht schon mal vor, Hauptmann?“ Er nickt und verlässt das Zimmer. Schnaubend zerre ich an meiner Korsage, die einfach nicht lockerer werden will.
An der Tür übermannt mich der Schwindel erneut und ich pralle gegen das Holz. Um ein Haar hätten meine Beine nachgegeben. Panisch sauge ich wieder Luft in die Lunge, um die Schwärze hinter meinen Lidern zu vertreiben. Der Sklave mustert mich wieder angestrengt. Mein Onkel hat mich doch schwerer erwischt, als ich dachte.
Widerwillig und mit einem Sklaven im Schlepptau, mache ich mich zum großen Saal auf, in dem mein Onkel bereits an einer langen Tafel sitzt. Als er mich bemerkt, erhebt er sich und ich nehme ihm gegenüber, in gefühlten zehn Metern Abstand, Platz. Der Hauptmann steht etwas abseits und kostet alles, was wir essen, vor.
„Du hast mich warten lassen“, tadelt mich mein Onkel. Ich ignoriere ihn, während mir mein Sklave Wein eingießt. Ich kann ihn nicht ansehen – ich schäme mich so.
„Wie gefällt dir dein neuer Sklave?“, will mein Onkel wissen. Ja. Prima. Spotte nur über mich.
„Wieso tust du das, Onkel? Macht es dir eigentlich Spaß, mich zu quälen?“
„Ja.“ Ich presse hörbar die Luft aus meiner Lunge.
„Morgen ist das Lichterfest“, fährt er fort. „Hast du einen speziellen Wunsch?“
„Du weißt, dass es nur eins gibt, wonach mein Herz sich sehnt. Und es wird dich wütend machen.“
Er knallt seine Faust auf den Tisch.
„Fang jetzt nicht wieder damit an“, stößt er zwischen zusammengebissenen Zähnen aus.
„Sag ich doch, es wird dich wütend machen. Und ich habe es noch nicht einmal ausgesprochen.“
„Die Antwort lautet nein“, knallt er mir hin.
„Nein“, wiederhole ich monoton.
„Nein“, bestärkt er forsch. Also gut, Strategieänderung.
„Bitte Onkel. Ich appelliere an deine“, nonexistente, „Barmherzigkeit.“ Er lacht laut auf.
„Das war ja jämmerlich, du stures Weib.“ Jetzt kommt er bestimmt wieder mit der alten Leier. „Und so dankst du es mir, dass ich dich wie mein eigen Fleisch und Blut aufgenommen habe.“ Sag ich doch. „Du rebellierst und verhöhnst mich vor meinen Männern.“
„Du verhöhnst dich selbst. Lichterfest, dass ich nicht lache. Die Dunkelheit herrscht über dieses Land. Wie kannst du das nur tun? Wie kannst du nur die Sonne beherrschen? Hör auf damit Onkel, ich bitte dich“, beschwöre ich ihn.
„In mir erhärtet sich langsam der Verdacht, dass du schwer von Begriff bist, Nichte. Hast du durch den Schlag von vorhin nichts gelernt?“
„Von dir kann ich nichts lernen, Onkel. Außer die Grausamkeit.“ Er lacht laut auf.
„Es ist die Pflicht eines Herrschers, grausam zu sein. Die Dunkelheit lehrt dem Volk Gehorsam, jeden Tag aufs Neue.“
„Wieso tust du das?“, fordere ich ihn heraus.
„Ich tue es, weil ich es kann“, stellt er überheblich fest.
„ES IST MIR EGAL, OB DU ES KANNST. ES IST FALSCH!“, brülle ich wie von Sinnen und erhebe mich. Wein läuft in Sturzbächen über den Tisch. Ich muss ihn wohl in meiner Rage umgeworfen haben.
„Setz dich“, verlangt mein Onkel. Seine Stimme ist beherrscht und ruhig. Schlechtes Zeichen.
„Und wenn nicht? Schlägst du mich wieder?“
„Ja.“ Ich schlucke laut.
„Das wird nichts ändern“, erkläre ich. „Wie du bereits festgestellt hast, bin ich schwer von Begriff.“
„Hauptmann“, ruft mein Onkel. „Sag mir noch einmal, was ich mit Untertanen mache, die nicht gehorsam sind.“
Der Hauptmann meldet sich zu Wort. „Ihr lasst sie auspeitschen oder ihnen Gliedmaßen abtrennen.“
Davon lasse ich mich nicht beeindrucken. Zumindest versuche ich, es mir nicht anmerken zu lassen.
„Hauptmann, was würdest du meiner Nichte abtrennen?“, fragt er weiters.
„Die Zunge. Ohne das vorlaute Mundwerk wäre sie ein ganz passables Weib.“
Im nächsten Moment zückt mein Onkel ein Messer und befiehlt: „Halte sie fest, Hauptmann.“ Angst erfüllt mich und ich bin wie erstarrt. Ich will flüchten, doch es ist bereits zu spät. Der Hauptmann umklammert mich von hinten und ich winde mich in seinem Griff.
„Lasst mich los.“ Er ignoriert meinen Protest.
Vor Anstrengung keuche ich, aber sein Griff ist unerbittlich. Im nächsten Augenblick steht mein Onkel bereits vor mir – das Messer erhoben.
„Wie überaus schade. Ein Engelsgesicht, aber eine Teufelszunge“, flüstert er mit diesem mördermäßigen Blick, den er bis zur Perfektion beherrscht.
„Ich verabscheue dich, Onkel. Aus tiefster Seele“, herrsche ich ihn in meiner Verzweiflung an. Er lacht wieder laut und krallt seine Faust in mein Haar.
„Noch irgendwelche letzten Worte? Aber wähle sie weise, mein Kind.“
„Fahr zur Hölle.“
Mein Schrei hallt durch den Saal, als er das Messer an meine Wange hält und ich einen dumpfen Schmerz an meinem Schopf spüre.
Das grausame Lachen meines Onkels erfüllt den Raum, was mich die Augen aufreißen lässt. Vor mir hält er mein Haar in seiner Faust, das er nun stolz in die Lüfte hebt. Der Zopf ging mir bis über die Hüfte und nun baumelt er leblos in seiner Pranke.
Ohne dass ich es kontrollieren kann, sinke ich erschöpft in die Dunkelheit.
Meine Lider sind schwer und nur mühsam schaffe ich es, sie zu öffnen. Erst beim dritten Versuch bleiben sie mit großer Anstrengung offen und ich blicke in grüne Augen. Der Asgard-Sklave. Er sitzt mir gegenüber und hat die Beine an seinen Körper gezogen.
Wir sind im Verlies. Der Gestank von verfaultem Fleisch lässt mich fast würgen, aber ich schlucke die Übelkeit hinunter. Als ich mich bewege, erkenne ich, dass meine Hand- und Fußgelenke in Ketten gelegt worden sind. Das volle Programm also diesmal. Kaltes Gemäuer drückt sich in meinen Rücken und ich zittere leicht vor Kälte.
„So gefällt Ihr mir am besten, Prinzessin. In Ketten und gezähmt.“ Der Hauptmann steht vor der Zelle und grinst verschmitzt. Schnell richte ich mich auf. Meine Bewegung wird vom melodiösen Rasseln meiner Ketten begleitet.
„Und Ihr gefallt mir immer noch nicht, Hauptmann. Egal, was Ihr tut.“ Sichtlich erbost öffnet er die Zellentüre. Sie war wohl nicht verschlossen. Warum auch. Ich kann hier sowieso nicht weg.
Nach nur wenigen Schritten ist er bei mir und presst seinen Körper an den meinen, während er mich mit bohrendem Blick fixiert.
„Wärt Ihr nicht die, die Ihr seid, würde ich Euch auf der Stelle zeigen, was ein Mann mit einem ungehorsamen Weib macht.“ Was soll das denn heißen?
„Und wärt Ihr nicht der, der Ihr seid … wartet, nein … nicht mal dann.“ Er knurrt erbost und ohrfeigt mich. Meine Wange steht in Flammen, doch ich drehe meinen Kopf in seine Richtung und halte seinem Blick stand. Das macht ihn sichtlich wütend. Auf dem Absatz kehrtmachend wendet er sich ab und schließt die Zellentür mit lautem Scheppern.
„Hauptmann“, halte ich ihn zurück. Überrascht dreht er sich um. „Ich liege zwar in Ketten, aber ich bin nicht gezähmt.“
Ein kaum hörbares „Noch nicht“ hallt durch den Kerker. Daraufhin ist er auch schon verschwunden.
Ein Lächeln ziert meine Lippen. Der Asgard sieht so aus, als ob er mich gerade für verrückt erklären würde.
„Was für ein Idiot“, schimpfe ich amüsiert. Erst jetzt scheint der Sklave den Schlüsselbund in meiner Hand zu bemerken. Der Hauptmann trägt ihn immer an derselben Stelle seines Gürtels und es war mir ein Leichtes, ihm den Bund zu entwenden.
Schnell lasse ich mich auf meinen Po fallen und schließe meine Fußfesseln auf. Meine Zehen bugsieren den Schlüssel ins Schloss meiner Handfesseln. Ich drehe ihn mit meinen Zähnen so weit, bis das Schloss klackend aufschnappt. „Ich liebe dieses Geräusch“, stelle ich lächelnd fest.
Mein Sklave beobachtet das Schauspiel interessiert und zieht die Augenbrauen hoch, als ich mich an seinen Fußfesseln zu schaffen mache.
Für einen Moment habe ich Angst, er könnte mir etwas tun, wenn ich ihn freilasse. Ich zögere kurz und blicke in seine Augen. Sie sind von solch intensiver Farbe, dass ich fürchte, mich darin zu verlieren.
Für das, was ihm mein Volk angetan hat, könnte ich verstehen, wenn er Rache an mir üben würde. Ich kann ihn aber nicht zurücklassen. Sie würden ihn töten.
Ich weiß nicht wieso, aber er sieht irgendwie nicht so aus, als würde er mir gleich den Schädel einschlagen, also schließe ich seine Ketten auf.
„Komm.“ Ohne zu zögern folgt er mir in den, mit Fackeln beleuchteten, Gang. Hoffentlich hat der Hauptmann das Fehlen seines Schlüssels noch nicht bemerkt.
Die Zellentür schwingt mit einem lauten Knarren hinter uns zu und wir laufen los. Es gibt einen Geheimgang aus der Burg, den ich manchmal benutze, um mich rauszuschleichen. Ganz praktisch.
Er liegt hinter einer Statue verborgen. Der Spalt ist eng – man passt gerade mal so dazwischen. Ich drücke meinen Sklaven in den Hohlraum. Er ist so dünn, dass er mühelos hindurchpasst.
Hier ist es so beengend, unsere Körper berühren sich unweigerlich. Es ist stockdunkel. Nur sein schneller Atem durchstößt die Stille. Wenn man so ausgehungert ist, ist selbst die kleinste Bewegung eine Anstrengung. Ich taste nach seiner Hand und ziehe ihn weiter.
Der Tunnel ist schmal und es riecht modrig. Nach ein paar Metern stoppe ich, was mein Anhängsel an meinen Rücken stoßen lässt. „Ich hab doch hier irgendwo … Verdammt. Ah, hier ist es.“
Ich drehe mich um und taste nach dem Sklaven. Den Umhang, den ich hier gebunkert habe, werfe ich ihm über die Schultern. So fällt er wenigstens nicht mehr so auf. Naja, bis auf seinen Gestank. Aber so würde sicher jeder riechen, wenn es einem verboten wäre, sich zu waschen. Eine weitere Demütigung, die er durch mein Volk erfahren hat, auf die ich nicht stolz bin.
Nach ein paar Sekunden schnappe ich wieder nach seiner Hand und ziehe ihn weiter. Schier endlos windet sich der Gang und nach einigen hundert Metern haben wir den Ausgang erreicht. Durch dichtes Efeu führt ein Weg in den Wald.
Die Dunkelheit hüllt uns unerbittlich ein und kühle Luft weht mir entgegen.
Ohne zu verweilen, laufe ich weiter und ziehe den Asgard mit mir durch dichtes Gestrüpp. Ich kenne den Weg. Selbst die Dunkelheit kann mich nicht beirren. Der Mond bietet mir ausreichend Licht.
Das laute Atmen des Asgard geht nach nur einigen hundert Metern in ein Keuchen über und er lässt sich immer schwerer in dem, von mir vorgegebenen, Tempo ziehen.
„Bald kannst du dich ausruhen. Nur noch ein Stück“, mache ich ihm Mut. Er stolpert immer wieder und kämpft sich durch, doch er wird bald schlappmachen.
Endlich erreichen wir den Baum. Seine Wurzeln ragen aus dem Waldboden und bilden einen geschlossenen, mit Moos überwachsenen, Hohlraum, in dem wir Schutz suchen können.
Ich hebe das Geäst etwas an und schlüpfe hinter dem Asgard hindurch. Der Hohlraum ist klein. Man kann kaum aufrecht sitzen, aber es ist ein ideales Versteck.
Meine Finger tasten nach der Lampe, die ich hier versteckt habe, mit der ich nun Licht mache. Das Moos ist so dicht, dass wir hier unbemerkt verweilen können.
Erst jetzt sehe ich seinen, von Schweiß überzogenen, Leib. Er sieht unglaublich erschöpft aus und hält sich seine Seite.
„Alles in Ordnung?“ Er antwortet nicht. Ich reiche ihm das Trockenfleisch, das ich ebenfalls hier verwahrt habe.
Zuerst sieht er mich nur an, aber greift im nächsten Moment mit zittrigen Fingern danach und schlingt es gierig hinunter. Den Wasserschlauch reißt er mir förmlich aus den Händen, aus dem er gierig das Nass in seinen Schlund laufen lässt.
„Wir müssen bald wieder los. Ich will an Bord der ersten Fähre sein, bevor sie merken, dass ich weg bin. Wenn wir zusammen einsteigen, fallen wir nicht so auf.“ Nachdem keine Regung seinerseits kommt, greife ich nach dem Trinkschlauch.
Seine Hand schnellt vor und fixiert mein Handgelenk. Erschrocken schnappe ich nach Luft. Dann dreht er es so, dass meine Handinnenflächen nach oben zeigen. Sichtlich verärgert mustert er meine Tätowierungen.
Beschämt weiche ich seinem Blick aus. Ich trage das Mal der Asgard – eine Sonne – auf jedem Handgelenk. Mein Onkel hat mich dazu gezwungen. Er sagte, es würde mir die Türen ins feindliche Gebiet öffnen und mir Schutz bieten. Es erlaubt mir, auf den feindlichen Planeten zu reisen, also hatte er mit einer Sache wohl recht.
Wenn ich mir aber das Gesicht meines Feindes gerade ansehe, will ich lieber nicht wissen, was die Asgard normalerweise mit einem Presperianer machen, der ihr Zeichen trägt.
„Du tust mir weh.“ Abrupt lässt er mich los. Ich glaube, er weiß ebenfalls, dass wir zusammen besser dran sind als allein. Hoffentlich.
Ich reibe meine Arme, denn ohne Umhang ist es doch unangenehm kalt. Der Stoff meines Kleides ist dünn und ich bereue es, hier nicht auch Decken versteckt zu haben.
Meinem Zeitmesser zufolge haben wir noch drei Stunden, bis die Fähre ablegt. Ich versuche, ein bisschen zu schlafen und kauere mich auf dem Boden zusammen.
Bereits nach ein paar Minuten zittere ich stark. Verdammt, ist das kalt hier auf dem Waldboden. Ich drehe meinen Kopf zu meinem Begleiter, der auf der Seite liegt und ebenfalls am Zittern ist. So, jetzt reichts.
Ich rutsche zu ihm rüber, was ihn überrascht die Augen öffnen lässt.
Ohne auf seine Reaktion zu warten, schmiege ich mich mit dem Rücken an ihn und schließe die Augen. Vielleicht erreicht mich ja seine Körperwärme und ich hol mir hoffentlich nicht so schnell den Tod hier draußen.
Sein Körper verkrampft sich spürbar hinter mir. Da muss er jetzt wohl durch. Für mich ist das sicher unangenehmer als für ihn. Er riecht wirklich abartig.
Das Vibrieren meines Zeitmessers weckt mich und ich fühle einen Umhang über mir – inklusive einem dazugehörigen Arm und Fuß. Der Asgard hat mich wohl im Schlaf fest an sich gezogen.
Ich muss zugeben, dass mir das grad etwas Angst macht. Immerhin sind das furchtlose, gut ausgebildete Krieger, die dich mit bloßen Händen töten können.
Schnell löse ich mich aus seiner Umklammerung, was dazu führt, dass er im nächsten Moment hochschreckt. Sein Gesicht wirkt entspannter als noch vor ein paar Stunden und er hat ein bisschen mehr Farbe im Gesicht – sofern man das im schwachen Licht der Lampe beurteilen kann.
„Wir müssen gehen.“ Er folgt mir aus unserem Versteck. Es ist bereits etwas heller, sodass ich ihn nicht mehr an der Hand durch den Wald ziehen muss. Wenn wir uns beeilen, können wir noch unbemerkt im Schutz der Dämmerung an Bord gehen.
Am Fluss reiße ich eine Blüte von einem Strauch und reiche sie dem Sklaven. Etwas irritiert zieht er die Augenbrauen hoch.
„Das ist eine Blüte des Sirox-Strauches. Wenn man sie befeuchtet und drückt, erhält man wunderbar duftenden Schaum. Also, nichts für ungut, aber dein Duft ist etwas aufdringlich. Die Kleider solltest du in den Fluss werfen. In der Stadt holen wir uns neue.“ Kurz scheint er zu überlegen, streift sich aber dann den Umhang ab, den ich ihm abnehme.
Ohne zu zögern schreitet er in die Fluten und taucht mit dem Kopf unter. Sein zerfetztes Hemd streift er über den Kopf und beginnt, die Blüte über seinen Körper zu reiben. Einstweilen lasse ich mich auf einem Stein nieder, um kurz zu rasten.
Mein Magen knurrt laut. Beinahe ertappt suche ich mit meinen Blicken nach dem Sklaven, der sich immer noch wäscht. Ich bin grad nur unsagbar froh, dass er es nicht hören konnte. Es würde ihn noch mehr verhöhnen, denn ich habe eigentlich keinen Grund, hungrig zu sein.
Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass er schon wieder neben mir steht.
Ein „Prinzessin“ lässt mich erschrocken hochfahren. Er steht nackt vor mir. Ich zwinge mich dazu, ihm in die Augen zu sehen und meinen Blick nicht über seinen Körper streifen zu lassen.
Erst Sekunden später entschlüssle ich die Geste seiner ausgestreckten Hand und drücke ihm den Umhang entgegen, den er sich sogleich um die Schultern wirft.
„Ich bin Lilu. Wie ist dein Name?“ Wieder runzelt er die Stirn.
„Neraim.“
Ich lächle. „Puh, bin ich froh.“
„Ich verstehe nicht“, stellt er irritiert fest.
„Ich dachte, sie hätten dir die Zunge rausgeschnitten. Komm. Wir sind spät dran.“
Wieder hetzen wir durch den Wald und erreichen wenig später das Tor zur Stadt. Wir haben Glück – die Wachablöse ist gerade in vollem Gange, was uns unbemerkt durch das Tor bringt.
Die Sonne geht auf, was mich ein „Verdammt“ ausstoßen lässt.
„Was hast du?“, will Neraim wissen.
„Er wird wissen, dass ich weg bin.“
„Wie kommst du zu dem Schluss?“
„Ich weiß es einfach. Wahrscheinlich sind sie schon unterwegs. Komm. Schnell. Wir haben keine Zeit mehr.“
Von einem unbeaufsichtigten Marktstand ziehe ich einen schwarzen Umhang, den ich mir sogleich um die Schultern schlage. Mein Gesicht versuche ich, so gut es geht mit der Kapuze zu verbergen.
Am Hafen angekommen, reihen wir uns in die Schlange der Wartenden ein.
Hinter uns lässt sich hektisches Treiben ausmachen. Ich erkenne den Hauptmann, der von seinem Ross steigt und seinen Blick über die Menge schweifen lässt.
„Verdammt. Sieh nicht hin, aber er ist hier und sucht uns“, warne ich meinen Begleiter.
„Sollen wir eine spätere Fähre nehmen?“, will er wissen.
„Nein. Sie werden den Hafen abschotten.“ In der Schlange hinter uns ertönt lautes Stöhnen von Frauen. Ich riskiere einen Blick. Fehler. Der Hauptmann zieht ihnen reihenweise die Kapuzen vom Kopf. Verdammt. Ich brauch einen Plan.
Neraim spannt seinen Körper an. Ich nehme seine Hand in meine und schmiege mich an ihn. Die erzürnten Laute der Männer, gepaart mit den Klagelauten der Frauen kommen immer näher und bald hat er uns erreicht.
„Lilu. Wir müssen verschwinden“, haucht Neraim. Das wär ja überhaupt nicht auffällig, wenn wir jetzt abhauen. Wir hätten keine Chance.
Er hat uns fast erreicht. Ich kneife die Augen zusammen und stoße ein „Verzeih mir“ aus. Im nächsten Augenblick ziehe ich ihn am Nacken zu mir runter, stelle mich auf die Zehenspitzen und küsse ihn inbrünstig.
Damit hatte er wohl nicht gerechnet, denn erst nach ein paar Sekunden umschlingt er mich mit seinen Armen, greift nach meinem Nacken und erwidert den Kuss. Seine Zunge stößt in meinen Mund, was mich überrascht aufkeuchen lässt. Sein Kuss ist zärtlich und forsch zugleich. In meinem ganzen Körper breitet sich ein Kribbeln aus.
Ich versuche gerade den Gedanken zu verdrängen, dass er unter seinem Umhang nackt ist, was mir nur schwer gelingt, als sich etwas Hartes an meinen Bauch drückt.
Immer wieder saugt er an meinen Lippen. Nach einer gefühlten Ewigkeit fährt er mit dem Mund meinen Nacken entlang und platziert sanfte Küsse an dieser empfindlichen Stelle.
Wie ich, hat er diese Liebkosung dafür genutzt, um zu sehen, ob die Luft rein ist, was der Fall ist.
Der Hauptmann hat seine Suche in einer anderen Richtung fortgesetzt, daher lösen wir uns voneinander.
Die Situation ist etwas beklemmend und wir blicken beide scheu zur Seite. So viel dazu. Aber es hat funktioniert.
Wir sind schon fast bei der Kontrolle angelangt. „Überlass das Reden mir“, fordere ich von meinem Begleiter, bevor ich mir seinen Arm um meine Schulter schlage. Er versteht sofort und zieht mich näher an sich.
„Ave“, grüße ich den Kontrolleur, der mich mit zusammengekniffenen Augen mustert. Hier weiß niemand, wer ich wirklich bin – zum Glück. Es dient zu meinem Schutz, sagt zumindest mein Onkel. Naja, immerhin hilft es uns jetzt. Ich setze mein breitestes Lächeln auf. Er räuspert sich unbeholfen.
„Grund der Reise“, fordert er monoton.
„Wir sind frisch verheiratet und wollen in die Flitterwochen nach Lysien. Dort gibt es wunderbar weichen Sandstrand und das Meer soll atemberaubend sein um diese Jahreszeit. Wart Ihr schon einmal dort? Ich habe gehört …“ Er winkt uns genervt durch und ich lächle wieder breit. Das funktioniert doch jedes Mal. Ich sehe einfach so unschuldig aus, wenn ich wirres Zeug plappere. Wenn er wüsste …
Wir gehen in den hinteren Bereich des Schiffes und ich lasse mich erschöpft auf eine Treppe fallen.
Der Asgard nimmt neben mir Platz.
„Was hast du jetzt vor?“, will er wissen.
„Frei sein.“ Im selben Moment bereue ich meine Antwort bereits. Sie mag in seinen Ohren als purer Hohn klingen. Ich blicke ihm in die Augen, aber zu meiner Verblüffung sieht er nicht verärgert aus – eher interessiert.
Sein Daumen fährt über mein Handgelenk, das ich blitzschnell wegziehe.
„Und du?“, will ich wissen.
„Nach Hause gehen.“ Ich nicke.
„Darf ich dich etwas fragen?“, will ich wissen.
„Nur zu.“
Ich zögere.
„Lilu?“
„Ich … ach vergiss es einfach. War nicht wichtig.“ Ich winke ab.
Der Schlafentzug fordert bald seinen Tribut und mir fallen die Augen zu. Immer wieder schüttle ich den Kopf, um wach zu bleiben.
„Lilu?“
„Hm.“
„Es ist Zeit.“ Panisch reiße ich die Augen auf. Ich kauere in den Armen des Asgard und reibe mir die Augen.
„Verzeih, ich … muss wohl eingeschlafen sein.“
„Ich steige hier aus“, informiert er mich. Ich nicke. „Wo willst du hin, Lilu?“
„Weiß noch nicht. Ich glaube, ich lasse mich einfach treiben.“ Er lächelt und erhebt sich, als das Schiff angedockt wird.
„Warte. Hier“, halte ich ihn zurück und stehe ebenfalls auf. „Das kannst du tauschen, um schneller nach Hause zu kommen.“ Ich löse eine meiner Ketten von meinem Hals und lege sie in seine Hand. Er blickt ungläubig auf das Metall.
„Nein. Das kann ich nicht annehmen.“ Ich ignoriere ihn.
„Ave, Neraim.“ Ich lege beide Hände zuerst an mein Herz, dann an meine Stirn und breite sie schließlich vor ihm aus.
„Ave, Lilu.“ Er berührt mit der Faust sein Herz und hebt sie dann zum Gruß.
Ich stehe auf, drehe mich um und entferne mich schnell. Dabei laufen mir unentwegt Tränen über die Wangen. Sieht so aus, als wäre ich jetzt auf mich allein gestellt.
Ich kauere mich in eine Ecke des Schiffes und versuche, nicht aufzufallen. Ich weiß, dass sie mich suchen werden und deshalb gehe ich an den Ort, an dem sie mich niemals vermuten würden.