Читать книгу Mrs. Jones and me - Marie Lu Pera - Страница 4
Schnüfflerfreie Zone
ОглавлениеEin lautes Geräusch reißt mich aus meinem unruhigen Schlummer. Ich hab kurz das Gefühl, meine Rettung war nur ein Traum. Dementsprechend verkrampfe ich mich auch.
Der entsetzte Laut, der mir aus der Kehle entweicht, erregt die Aufmerksamkeit im Raum. Erst jetzt erkenne ich das Innere eines Helikopters und den Mann, der mich auf seinem Schoß in den Armen hält, der mir ein „Es ist vorbei. Ich bin hier“ ins Ohr flüstert.
Erleichtert lasse ich mich tiefer in Damians Umarmung sinken. Uns gegenüber sitzt ein mir unbekannter Mann, der mich interessiert mustert.
„Wer ist das?“, will ich von Damian wissen.
„Das ist Special Agent Wallice von Interpol. Er leitet die Ermittlungen.“ Prima. Ich hoffe, das ist nicht noch so ein korrupter Möchtegern-Cop wie Connor alias Mike. Jetzt geht die ganze Fragerei sicher wieder von vorne los.
Bei dem Gedanken wird mir bereits wieder Angst und Bange. Ich frage mich, ob jetzt endlich mal Ruhe im Leben der Charlie einkehren könnte.
Eine Frage noch. „Du bringst mich doch nicht ins Krankenhaus?“, will ich eingeschüchtert wissen.
Damian lächelt wissend. „Nein, ich bringe dich nach Hause.“ Erleichtert sinke ich in einen leichten Schlaf, der immer wieder durch Erschütterungen des Helis unterbrochen wird. Aber jedes Mal, wenn mich Damian wieder fester an sich zieht, fühl ich mich in Sicherheit und unendlich geborgen.
Ich kriege noch mit, dass mir kühle Luft entgegenschlägt und ich leicht zu frieren beginne. Verschwommen erkenne ich Thomas, Damians Butler, der mir eine Decke überwirft. Dann fühle ich ein Bett unter mir und einen Körper, der mich weiterhin im Arm hält.
„Schlaf jetzt, Charlie. Ich bleibe bei dir.“ Als hätte mein Körper nur auf dieses Stichwort gewartet, falle ich in einen tiefen, erlösenden Schlaf.
„Charlie.“
„Hm.“
„Charlie.“
„Hm.“ Ich reiße die Augen auf. Wo bin ich? Ich hab gerade ziemliche Orientierungsschwierigkeiten. Noah? Villa? Club? Helikopter?
Blitzlichter der Ereignisse der vergangenen Stunden tun sich vor meinem inneren Auge auf. Schnappatmung setzt bereits wieder ein.
„Damian.“ Suchend blicke ich auf.
„Ich bin hier.“ Damian ist über mich gebeugt und lächelt.
„Du musst kurz aufwachen. Danach kannst du dich wieder ausruhen. Versprochen.“ Okay, also wie lange hab ich geschlafen?
„Wie lange … wie spät … welcher Tag … ähm“, stammle ich wie ein absoluter Vollidiot. Okay, also ich hab echt einen Filmriss. Damian nickt verständnisvoll.
„Es ist kurz nach sechs Uhr morgens und heute ist Freitag.“ Ich war sechs Tage lang gefangen? Verdammte Scheiße nochmal.
„Ich muss zur Arbeit“, ist das Erste, total Bescheuertste, was mir einfällt. Das hatte ich vollkommen vergessen – mein Projekt – mein Leben. Alles fällt mir gerade wie Schuppen von den Augen und ich richte mich abrupt auf. Okay, Kreislaufausfall. Damian stützt meine Schulter.
„Nicht so schnell, Charlie. Dr. Green steht draußen und tritt gleich die Türe ein. Ich kann ihn keine Sekunde länger mehr von dir fernhalten. Genauso wie Agent Wallice.“ Prima, Doktor Frankenstein und die Kavallerie sind hier. Sie haben mich in eine Ecke gedrängt und umzingelt.
Damian scheint wohl meinen Gesichtsausdruck falsch zu deuten, denn er bietet an: „Ich bleibe bei dir, wenn du möchtest.“
„Nein, schon gut. Bitte schick Dr. Green rein.“ Ich brauch einen Plan – ziemlich dringend sogar, bevor sie die ganze Scheiße wieder hundertmal durchkauen und mich bemitleiden. Damian drückt meine Hand und verlässt sogleich den Raum.
Keine Zehntelsekunde später drückt sich ein ziemlich aufgebrachter Elijah durch den Türspalt.
Déjà-vu, sag ich nur. Jetzt geht das alles wieder von vorne los. Ich will das aber nicht. Die sollen mich in Ruhe lassen.
Sein Blick spricht Bände. Er will gerade wieder anfangen, das Ganze aufzuwühlen, als ich ihm mit einem „Stopp“ Einhalt gebiete. Er sieht zwar ziemlich verwirrt aus, hält aber Abstand. Scheiße mein Tattoo. Scheiße mein Arsch. So etwas sollte niemand sehen. Nein, ich pack das nicht.
„Hallo, Elijah. Ja, ich wurde entführt. Nein, ich habe keine Schmerzen. Ich brauche keinen Arzt und danke, dass du vorbeigekommen bist. Machs gut. Wir sehen uns.“ War ja gar nicht so schwer. Völlig überrumpelt schließt er den Mund unverrichteter Dinge, nur um ihn gleich wieder zu öffnen.
„Charlie, ich weiß, du bist sicher total durcheinander und stehst unter Schock, aber ich will dir nur helfen. Lass dich von mir untersuchen, ja? Es geht auch ganz schnell.“ Toll, jetzt lullt er mich wieder ein.
„Ich habe keinen Schock – mir geht’s gut. Ich brauch einfach eine Dusche und etwas Schlaf. Bitte geh einfach wieder.“ Wow, ich kann mich wieder selbst belügen – dachte, die Funktion wär vorübergehend inaktiv.
„Das kann ich nicht und das weißt du auch“, weigert er sich. „Ich muss dich jetzt untersuchen. Sieh nur deine Schläfe an oder deine Arme, da sind lauter Hämatome, die ich mir genauer ansehen will. Und deine Handgelenke, wurdest du gefesselt?“ War ja klar, dass er die schon wieder gesehen hat. Hallo? Hast dus noch immer nicht kapiert?
„Ich will nicht untersucht werden, weil mir nichts fehlt. Das sind nur blaue Flecken, die bald verschwinden werden. Und meine Handgelenke waren vorher schon ramponiert.“ Jetzt hau ab.
„Das kannst du nicht einschätzen, Charlie. Du wurdest verprügelt, könntest innere Verletzungen haben, die sich erst nach einer Weile bemerkbar machen.“ Ph, guter Versuch – leider abgeschmettert. Ich würd doch merken, wenn ich innere Verletzungen hätte.
„Das hatten wir doch alles schon mal, Elijah. Ich bin es wirklich leid, das immer wieder durchzudiskutieren“, erkläre ich erschöpft.
„Und was soll ich deiner Meinung nach in den Polizeibericht schreiben? Patientin hat sich selbst diagnostiziert und hält sich für unversehrt.“ Ja, zum Beispiel.
Schön langsam scheint er die Fassung zu verlieren. Warte mal, er muss mich für den Polizeibericht untersuchen? Er steckt mit denen unter einer Decke. Jetzt mach mal halblang.
„Schreib, dass ich die Untersuchung verweigere“, schlage ich vor. Das scheint ihm den Rest zu geben.
„Du wirst nicht die Untersuchung verweigern, du lässt dich jetzt von mir untersuchen.“ Er knallt seine Tasche auf den Tisch neben dem Bett und beginnt wie wild geworden seine Instrumente auszupacken.
Ich bin kurz erschrocken und halte mir die Hand vor den Mund, um nicht zu schreien. Oooookkay, vielleicht bin ich ein leichtes nervliches Wrack.
Jetzt bin ich im Inbegriff, die Fassung zu verlieren. „Raus hier.“ Meine Stimme ist zwar leise, aber bestimmt.
Ich scheine ihm mit meinem Blick Angst einzujagen, denn er stoppt verunsichert.
Er beginnt mit einem „Charlie, …“, doch unterbreche ihn forsch: „ICH SAGTE, RAUS HIER.“
Elijah schluckt laut, dann packt er seine Sachen wieder zusammen und verlässt sichtlich angepisst das Zimmer, ohne sich nochmal umzusehen.
Ich schüttle den Kopf und begebe mich ins Ankleidezimmer, wo Unterwäsche, eine Jeans und ein Pullover auf einem kleinen Tisch ausgebreitet liegen. Meine Hände zittern.
Die Sachen hat mir anscheinend Damian gekauft.
Als ich das T-Shirt ausziehe, erstarre ich kurz. Das gehört ihm. Kurz kämpfe ich gegen eine aufkommende Panikattacke an, die ich sauber runterschlucke.
Ich verbanne die Gedanken wieder aus meinem Kopf und werfe mir die neuen Sachen über. Gerade rechtzeitig, bevor ein Klopfen an der Schrankraumtür ertönt. Kann man denn hier keine Sekunde in Ruhe gelassen werden?
„Charlie, bist du okay?“ Es ist Damian.
Ich öffne die Tür. „Ja.“
„Doktor Green sagt, du lässt dich nicht von ihm untersuchen.“ Na toll. Natürlich hat er gleich alles ausgeplaudert, was hier zwischen uns gelaufen ist.
„Mir fehlt nichts“, erkläre ich. Bitte mach mir du jetzt auch nicht noch Druck.
Damian nickt. Zu meiner Überraschung versucht er nicht, mich vom Gegenteil zu überzeugen. Er sieht mich einfach nur an. Anscheinend kennt er mich bereits gut genug, um zu wissen, dass jedes Wort zwecklos ist.
Bei genauerer Betrachtung sehe ich, dass auch er ziemlich fertig aussieht. Die Ringe unter seinen Augen sind dunkel gefärbt und sein Haar ist noch wilder als sonst. Der Bart steht ihm zwar, dennoch sieht er gerade so aus, als wäre er um Jahre gealtert. Na toll, jetzt hab ich ein schlechtes Gewissen, weil es ihm sichtlich schlecht geht.
In dem Moment klopft es wieder an der Türe. Toll, der nächste Schnüffler.
Damian drückt meine Hand und meint: „Wir reden später, okay?“ Ich nicke lahm. „Soll ich bei dir bleiben, Charlie?“ Ich schüttle erneut den Kopf und er verlässt den Raum.
Ich gehe zum Fenster rüber, um in den Garten zu blicken.
Ein stocksteifer Anzugträger, der mir auf Anhieb unsympathisch ist, betritt den Raum. Es ist der Typ aus dem Helikopter. Sein Haar ist so kurz geschoren, dass er aussieht, als hätte er eine Glatze. Er ist zwar jung, aber sein Auftreten entspricht dem eines alten Mannes.
Er räuspert sich, was mich dazu bringt, mich ihm widerwillig zuzuwenden.
„Miss Jones“, beginnt er.
„Doktor Jones.“ Korrigiere ich ihn. Wieder dieses Räuspern. Ich habe ihn anscheinend etwas aus dem Konzept gebracht.
„Doktor Jones“, wiederholt er, „Ich bin Special Agent Edgar Wallice.“ Ich lache lauthals auf. Ups, ich hab mich wohl nicht im Griff. Edgar Wallace wie der Schriftsteller, der diese Kriminalbücher geschrieben hat? Wie überaus amüsant.
Das scheint ihn zu verärgern, wahrscheinlich ziehen ihn alle damit auf. Wieder dieses Räuspern.
„Zuerst einmal möchte ich mein tiefstes Bedauern über das ausdrücken, was Ihnen wiederfahren ist.“ Ich bin jetzt schon angewidert von dem schleimigen Schleimer.
Okay, das entwickelt sich hier zu einer Farce. Es wird Zeit, das zu beenden.
„Wieso ersparen Sie mir und sich selbst nicht dieses psychotherapeutische Gequatsche und sagen mir, was Sie von mir wollen, Special Agent Edgar Wallice.“ Stille. Dann erneut ein Räuspern.
Er scheint zunehmend verunsichert zu sein und sieht verstohlen zu seinem Notizbuch. Mann, ist das ein Anfänger, den sie mir hier geschickt haben. Der soll den Fall aufklären? Dass ich nicht lache.
„Zuallererst möchte ich Sie bitten, einer Untersuchung durch Doktor Green zuzustimmen. Der Untersuchungsbericht kann erheblich zur Lösung dieses Falls beitragen. Sie verstehen sicher, dass ich darauf bestehen muss“, klärt er mich auf.
„Ich verstehe, dennoch werde ich Ihrer Bitte nicht nachkommen“, erwidere ich. Er hebt verwundert die Augenbrauen.
„Sie wissen schon, dass ich eine Untersuchung anordnen kann und diese, wenn nötig, auch gerichtlich durchsetzen werde. Das wäre dann der Tatbestand der vorsätzlichen Behinderung der Justiz.“ Ist das zu fassen, er will mir echt mit so einem Rechtsgefasel drohen.
„Das können Sie ja mit meinem Anwalt ausdiskutieren“, schlage ich vor. Er streift sich unbeholfen das Jackett glatt und räuspert sich. Wiedermal.
„Die Kleidung, die Sie bei Ihrer Befreiung aus der Geiselnahme getragen haben. Ich brauche sie für die Spurensicherung“, versucht er vom Thema abzulenken.
„Sie liegt im Schrankraum“, informiere ich ihn mit erneutem Blick auf den Garten.
Ich höre das Rascheln einer Plastiktüte und Schritte. Anscheinend nimmt er die Sachen gleich mit.
„Ich brauche alle Kleidungsstücke“, holt er mich aus meinen Gedanken. Ihm ist die Situation sichtlich unangenehm. Mir auch. Ich lasse mir natürlich, im Gegensatz zu ihm, nichts anmerken.
„Das sind alle Kleidungsstücke, die ich trug“, informiere ich ihn. Ja, ich weiß, wie das jetzt aussieht, okay.
Er räuspert sich erneut. „Ich brauche auch Ihre Unterwäsche.“ Mann kapiers doch endlich. Soll ich dir eine Skizze machen?
„Wie ich bereits sagte, das sind alle Kleidungsstücke, die ich trug“, wiederhole ich. Die Erkenntnis trifft ihn spät. Er sieht mich alarmiert an.
„Sonst noch etwas?“, verlange ich. Ich bin müde und möchte mich endlich wieder aufs Ohr hauen. Es liegt durchaus im Bereich des Möglichen, dass ich etwas unfreundlich bin.
„Ich möchte Sie für die Befragung mit aufs Revier nehmen. Bitte begleiten Sie mich“, verlautbart er mit einer Geste in Richtung Tür.
Was, jetzt? Ich will jetzt noch nicht befragt werden.
„Ich werde morgen dort erscheinen“, erkläre ich.
„Es ist aber vonnöten, dass Sie mich gleich begleiten“, besteht er darauf.
„Ich bin müde.“ Das ist nicht gelogen, ich bin total kaputt, kann mich kaum noch auf den Beinen halten.
„Wir haben Kaffee“, sagt er doch tatsächlich. Spinnst du? Sehe ich so aus, als ob ich einen Kaffee brauche? „Ich werde Sie nicht lange mit meinen Fragen quälen. Sie können mir vertrauen, Doktor Jones.“
„Das hat Agent Connor auch gesagt“, konnt ich mir beim besten Willen nicht verkneifen. Das scheint ihm den Rest zu geben. Er kommt aus dem sich Räuspern nicht mehr heraus.
Nach einer Schweigeminute kommt er zu dem Schluss: „Wir sehen uns dann morgen. Sagen wir sechs Uhr morgens.“
Dann ist er schon zur Tür raus.
Damian betritt soeben wieder den Raum. Ich löse meinen Blick wieder vom Garten. Er kommt auf mich zu und nimmt mich in den Arm. Genau das, was ich gebraucht habe.
„Sag mir, was du brauchst, Charlie“, flüstert er mir ins Ohr.
„Eine Dusche und einen Anwalt.“ Verblüffung steht in seinem Blick geschrieben. „Kannst du bitte Abraham anrufen?“
„Ja natürlich. Was ist denn los?“
„Er will mich verklagen und mich so dazu zwingen, mich untersuchen zu lassen.“ Damian hat sichtlich Schwierigkeiten, seinen Ärger darüber im Zaum zu halten.
„Hat er dir damit gedroht?“, will er wissen.
„Nein, er hat es subtil angedeutet, um mir damit Angst zu machen.“ Und es funktioniert.
„Ich kümmere mich darum.“ Er ist schon dabei, den Raum zu verlassen.
„Damian?“
„Ja.“
„Kommst du nachher wieder?“ Ich will jetzt nicht allein sein.
„Ja natürlich. Ich bin gleich wieder da.“
Die Dusche wirkt erlösend. Ich versuche noch, das Ausmaß der Katastrophe, die sich mein Körper nennt, zu ignorieren. Was ziemlich schwer ist, es sei denn man steht auf Drachen-Tattoos. Außerdem prangt da ein riesiges Hämatom in meiner Magengegend, das absolut abartig aussieht. Und von meinem, in allen Farben schillernden, Arsch fang ich erst gar nicht an.
Gerade als ich das Wasser abdrehen will, sehe ich, dass die Türklinke runtergedrückt wird. Das ist bestimmt Damian. Dieser Wallice hat ihn sicher angeschwärzt, mich unter die Lupe zu nehmen und ihm zu berichten, wie schlimm es um mich steht.
Ich kanns Damian nicht mal verübeln. Er ist total durcheinander. Bedauerlicherweise hab ich die Türe vorsichtshalber abgeschlossen. Sorry, Damian.
Als ich angezogen aus dem Bad komme, steht er am Fenster und lächelt mir zu. Ich werfe mich erschöpft aufs Bett. Damian folgt mir und nimmt mich in den Arm.
„Willst du darüber sprechen?“ War klar, dass die Frage irgendwann einmal kommt.
Ich schüttle den Kopf. „Ich möchte einfach nur schlafen.“
Er haucht mir ein „Okay“ ins Ohr und zieht mich fester an sich heran.
Ein kühler Luftzug weckt mich. Ich spüre eine Hand, die mir behutsam mein Unterhemd aus der Jeans zieht. Ist das zu fassen, jetzt geht er echt zu weit.
„Was machst du da?“, stelle ich ihn zur Rede. Damian hält abrupt inne. Jetzt lüg mich bloß nicht an.
„Ich wollte … nachsehen, ob du verletzt bist“, gesteht er. Ich fühle mich doch ziemlich gekränkt und bloßgestellt.
„Hat er dir gesagt, dass du das tun sollst?“, mutmaße ich. Sein Schweigen spricht Bände. Ich stehe auf und bringe Abstand zwischen uns.
„Ich … Charlie … es macht mich fertig okay, ich weiß nicht, wie ich dir helfen kann?“
„Genau so. Indem du bei mir bist. Nicht indem du mir in den Rücken fällst und mich hintergehst. Ich will nicht untersucht werden. Auch nicht von dir, Damian.“ Meine Worte kränken ihn. Es gelingt ihm kaum, es zu überspielen.
„Okay, also Damian, ich … bin ziemlich durch den Wind und ich sehs dir ja an, dass es dir genauso ergeht, aber darauf kann ich grad keine Rücksicht nehmen. Das hat mich irgendwie aus der Bahn geworfen. Ich versuch grad, damit klarzukommen und mich zusammenzureißen, mich nicht wie eine vollkommene Irre aufzuführen.“ Was mir anscheinend nur bedingt gelingt.
Meine Rede wird durch das Klingeln des Weckers beendet. Ich verschwinde mit den Worten: „Ich muss los“ ins Bad. Na toll, jetzt motz ich ihn auch noch so richtig schön an, obwohl er mich doch gerettet hat.
Ich knalle meinen Kopf ein paar Mal gegen den Badspiegel, um die aufkommenden Kopfschmerzen zu vertreiben, die von dem heillosen Chaos in meiner Rübe herrühren.
Im Schrankraum finde ich einen dunkelblauen Hosenanzug mit schlichter, hochgeschlossener weißer Bluse, den ich sogleich anziehe.
Der sitzt ziemlich locker. Da ich nicht davon ausgehe, dass Damian die falsche Größe erwischt hat, stelle ich erschrocken fest, dass ich doch ziemlich viel Gewicht verloren habe. Wahnsinn, Entführung als Schlankheitsgeheimnis – ich sollte ein Buch schreiben. Prima. Der Sarkasmus ist mir noch nicht vergangen – noch nicht, wohlgemerkt.
Damian steht hinter mir, als ich mir den Blazer überwerfe. „Soll ich dich begleiten?“
„Nein danke. Ich pack das allein“, antworte ich knapp.
„Bitte verschließ dich nicht vor mir. Ich … das ertrag ich nicht, Charlie.“ Tränen schießen mir schlagartig in die Augen.
Patrick, Damians Fahrer, erwartet mich schon vor der Tür. Diesmal hat er kein Grinsen aufgesetzt. Er sieht mich erschrocken an und grüßt mich förmlich. Wunderbar, jetzt verändern sich alle um mich herum. Wieso können sie das nicht einfach ignorieren oder so tun, als ob nichts geschehen wäre?
Die ganze Fahrt über reden wir kein Wort. Ist auch besser so, denn ich ordne gerade gedanklich die Ereignisse der letzten sechs Tage, was mir verblüffend schwerfällt.
Manche Szenen sind verschwommen und mein photographisches Gedächtnis hat Probleme, mit dem Abrufen gewisser Erinnerungen – besonders in Bezug auf Noah.
Bevor ich mir darüber noch mehr Gedanken machen kann, sind wir bereits da.
Ich scheine wohl länger nicht reagiert zu haben, nachdem Patrick mir die Wagentür aufhält, denn er räuspert sich. Na toll, jetzt fängst du auch schon damit an.
In der Eingangshalle kommt mir bereits Abraham entgegen.
Sein Blick ist ebenfalls verändert, als er schweigend vor mir stehenbleibt. Er ringt sichtlich um Fassung, umarmt mich aber dann so fest, dass ich kurzzeitig Probleme beim Atmen habe.
Ich bin erleichtert, dass er nur ein „Auf in den Kampf“ von sich gibt. Noch mehr bemitleidenswerte Kommentare würd ich echt nicht ertragen.
Das Verhör scheint in Wallice’ Büro stattzufinden, denn seine Sekretärin bittet uns unverzüglich in den abartig großen Raum, in den zehn Büros gepasst hätten. Das haben sie ihm wohl zur Verfügung gestellt. Für Interpol muss es wohl das protzigste Büro sein.
Hier drin sieht sogar sein großer Schreibtisch mickrig und vereinsamt aus.
„Ah Doktor Jones und Doktor …“ „Smith“ ergänzt Abraham. „Abraham Smith.“
Mit einem „Bitte“, bietet uns Wallice zwei Stühle an seinem Schreibtisch an, auf denen wir Platz nehmen.
Es scheint fast so, als wäre Mister Wallice nervös, denn er sucht nach Papieren und stößt dabei sein Namensschild um.
„Kommen wir zum ersten Punkt des Tages“, beginnt er kopfkratzend. Sind wir hier in irgendeiner scheiß Politikersitzung, oder was? Der Typ ist echt schräg drauf.
„Ihre Mandantin weigert sich, einer ärztlichen Untersuchung, die entscheidende Erkenntnisse zur Ergreifung ihres Entführers liefern kann, zuzustimmen.“ Warte mal. Ergreifung? Haben die den Kerl noch nicht erwischt?
„Sie haben ihn noch nicht inhaftiert?“, krächze ich. Verblüfft starre ich ihn an.
„Nein, bedauerlicherweise konnte er entkommen, aber dazu später.“ Das sind solche Anfänger hier, ich fass es nicht. Jetzt läuft der Psycho noch draußen frei rum. Ich dachte, die hätten die Sekte hochgehen lassen und die Mädels befreit. Kann man hier alles selber machen, oder was?
Abraham kratzt sich sichtlich verwirrt am Kopf, schweigt aber.
„Also, Doktor Jones, was sagen Sie zu den Vorwürfen gegen Sie?“, fordert mich Wallice heraus. Ich weiß darauf keine Antwort. Zu sehr bin ich damit beschäftigt, die Panik darüber zu verbergen, dass Noah noch frei rumläuft und noch hinter mir her sein könnte.
Sogleich rettet Abraham die Situation: „Meine Mandantin muss sich dazu überhaupt nicht äußern.“
„Da bin ich anderer Meinung, Doktor Smith“, wendet Wallice ein, „In mir erhärtet sich nämlich der Verdacht, dass sie ihren Entführer schützen möchte.“ Ph. So ein Unsinn.
Abraham setzt zum Gegenschlag an: „Agent Wallice. Gehe ich recht in der Annahme, dass ein Mitglied Ihrer Spezialeinheit – ein sogenannter Special Agent Ethan Connor – maßgeblich an der Entführung meiner Mandantin beteiligt war. Ich werte Ihr Schweigen als ein Ja.
Und ist es nicht so, dass dieser genannte Agent meiner Mandantin zahlreiche Delikte anhängen wollte, um ihre Glaubwürdigkeit infrage zu stellen. Eine Anschuldigung davon richtet sich auch gegen den amtierenden Polizeichef, früherer Detective William Taylor.“ William ist also bereits Polizeichef. So viel dazu. „Ach, das war eigentlich keine Frage, denn ich war bei der Vernehmung als Doktor Jones Rechtsbeistand anwesend und werde gerichtlich das dort Gesagte und den dort erfolgten Übergriff gegen meine Mandantin in jeglichem Detaillierungsgrad bezeugen.
Zieht man dies in Betracht – ist es dann nicht verständlich, dass meine Mandantin jegliches Vertrauen in Ihren, sich als wenig kompetent herausgestellten, Stab an Beamten verloren hat. Ich würde sogar so weit gehen zu sagen, das würde einen Misstrauensantrag gegen Ihre Abteilung bei Interpol rechtfertigen. Allemal wäre ich sehr daran interessiert, was der Polizeichef dazu sagt.“ Wallice räuspert sich lautstark. Ich glaube, jetzt hat er den Stier an den Eiern. Einzelne Schweißperlen laufen ihm über die Stirn, die er sich mit einem Stofftaschentuch wegtupft.
„Wollen wir dann zu Punkt zwei kommen“, knickt Wallice ein. Ha, ich liebe Abraham. Er hat mich wiedermal rausgehauen.
Ich sende einschlägige Blicke zu ihm und er erhebt sich wissend. „Nun gut, dass wir das klären konnten. Ich warte vor der Tür Charlize, rufen Sie nach mir, wenn Sie mich brauchen.“
„Danke Abraham.“
Jetzt sind nur noch wir beide übrig. Die Tatsache scheint ihn noch nervöser zu machen als er es bereits ist.
„Schildern Sie die Ereignisse der letzten sechs Tage“, beginnt er sein Verhör. Okay.
„Ich wurde entführt.“ Stille.
„Geht das etwas genauer?“
„Was wollen Sie wissen?“
„Einfach alles.“ Das wird ganz sicher ein langer Tag werden, wenn wir uns jetzt schon gegenseitig auf die Nerven gehen.
„Ich habe Erinnerungslücken“, gebe ich zu. „Das passiert mir eigentlich nie, aber sie sind da und das verwirrt mich ein bisschen.“ Das ist nicht mal gelogen.
„Ja, ja. Fangen wir an dem Abend an, an dem Sie entführt wurden. Sie haben getanzt. In der Staatsoper“, stresst er.
„Ja. Schwanensee. Ich bin für eine Tänzerin eingesprungen, die sich verletzt hat.“
„Ja, ja. Das tut nichts zur Sache, kommen wir also zum spannenden Teil des Abends.“ Mir fällt gerade die Kinnlade runter. Spannender Teil? Er bemerkt meinen Gesichtsausdruck und räuspert sich wieder.
„Sie meinen den spannenden Teil, der mit der Ermordung von Sebastian Anderson endete“, mutmaße ich. Ich bin außer mir vor Wut und könnte gerade an die Decke gehen, bin aber noch damit beschäftigt, die aufkommenden Tränen zu unterdrücken.
„Ähm, so meinte ich das jetzt nicht. Außerdem ist Mister Anderson Senior nicht tot.“ Was? Nein.
„Ich habe gesehen, wie er erschossen wurde, ich habe das Blut gesehen. Ich …“ Die Erinnerungen schießen wieder in meinen Kopf – scheiß photographisches Gedächtnis. Das hab ich natürlich nicht vergessen.
„Ja ähm, also, das war eine kugelsichere Weste mit Kunstbluteinsatz – ist ziemlich realistisch das Ganze.“ Okay, also dann war das doch keine Halluzination, als er mich vor dem Helikopter umarmt hat. Ich atme erleichtert auf. Er lebt – bin ich froh.
„Also, den Teil mit dem … Anschlag auf Mister Anderson habe ich bereits protokolliert. Mister Anderson selbst hat alles genau geschildert, doch was geschah vor dem vermeintlichen Mord, beziehungsweise danach?“ Krampfhaft drücke ich die aufkommenden Tränen zurück. Ich spule gedanklich zu der Stelle.
„Mister Connor kam in den Umkleideraum und hat mich überwältigt“, antworte ich.
„Was hat er zu Ihnen gesagt, als er Sie überwältigt hat?“ Nichts, was dich etwas angeht.
„Keine Ahnung. Er hatte eine Spritze. Ich war danach bewusstlos.“
„Wer war der zweite Mann?“
„Richard, er sagte, er sei Psychiater und Connor hätte ihn beauftragt, mir zu helfen.“
„Sind Sie diesem Richard schon vor dem Abend Ihrer Entführung begegnet?“, will Wallice wissen.
„Ja, ein paar Mal. Er sagte, er sei auch bei Interpol. Nein, warten Sie, genaugenommen habe ich es angenommen und er hat es nicht verneint“, stelle ich klar.
„Was ist dann passiert?“
„Sie haben mich in einen Kofferraum gesteckt und wir sind endlos gefahren.“
„Zu dem Club, in dem Sie eine Nachricht an Mister Anderson Junior schicken konnten?“, mutmaßt er.
„Nein. Ein bewachtes Anwesen.“
„Ist es in der Nähe des Clubs?“
„Keine Ahnung, ich … ich wusste nicht, wo ich bin und hatte jegliches Zeitgefühl verloren.“
„Und was passierte dann?“, verlangt er.
„Mister Connor hat mich an diese Sekte verkauft.“
„Sekte?“
„Ja. Sie halten dort Frauen gefangen, zumindest hat es so ausgesehen, als wären sie nicht freiwillig dort. Ich glaube, sie wurden auch entführt. Ich könnte sie für Sie identifizieren. Man hat sie sicher als vermisst gemeldet“, erkläre ich.
„Ja, Sie können nachher die Karteien durchsehen. Und der Mann, der Sie bei Ihrer Befreiung in seiner Gewalt hatte. Wissen Sie, wer das war? Haben Sie sein Gesicht gesehen?“
„Ja. Noah. Einer der Männer in der Sekte. Ich glaube, er ist ihr Anführer. Mehr weiß ich nicht.“ Wallice räuspert sich erneut – jetzt kramt er wohl die unangenehmen Fragen raus.
„Sie waren sechs Tage in Gefangenschaft. Was ist dort mit Ihnen geschehen?“ Das erzähl ich dir sicher nicht.
„Ich … ich erinnere mich nicht genau“, lüge ich. Die Antwort scheint ihn nicht zu befriedigen.
„Hat man versucht, Sie zu etwas zu zwingen, das Sie nicht wollten? In dem Club, zum Beispiel?“
Stille.
„Wurden Sie gefesselt?“
Stille.
„Wurden Sie geschlagen?“
Stille.
„Wurden Sie vergewaltigt?“
Stille.
„Doktor Jones, ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie weiterhin schweigen.“ Seh ich so aus, als ob ich Hilfe bräuchte.
„Nein, ich wurde nicht vergewaltigt“, stelle ich fest. „Es wäre besser, Sie würden den Frauen helfen, die noch gefangen sind, anstatt meine und Ihre Zeit mit diesen Fragen zu verschwenden.“
„Ich könnte Sie zu einer Aussage zu den unbeantworteten Fragen zwingen lassen“, droht er.
„Tun Sie, was Sie nicht lassen können, doch ich für meinen Teil, würde jetzt gerne die Kartei mit den vermissten Frauen durchsehen.“
„Ich möchte, dass Sie mit den Verbrecherfotos beginnen. Sie haben das Gesicht Ihres Entführers gesehen, vielleicht haben wir ja Glück.“
„Nein, zuerst die Frauen … ich will die Fotos von ihnen zuerst sehen, sonst können Sie das hier vergessen“, verhandle ich.
Er ballt sichtlich erbost die Fäuste, bringt mich aber dann doch in einen Nebenraum. Dort setzt er mich an einen Computer, an dem ich Fotos von hunderten Frauen durchklicke. Es sind so viele. Verdammte Scheiße.
Nach einer halben Ewigkeit hab ich immer noch keine der Frauen in der Kartei entdeckt – ist ja gespenstisch – vielleicht hat Connor ihre Daten gelöscht und dafür auch Geld genommen. Möglich wärs. In der Verbrecherkartei finde ich jedenfalls auch keinen der Männer, die ich gesehen habe.
Das war ja total ernüchternd. Meine Laune und auch die von Wallice hat ihren absoluten Tiefpunkt erreicht, als ich am späten Nachmittag zur Tür raus bin, nachdem ein Zeichner von all den Gesichtern, die mir im Kopf rumspuken, Skizzen angefertigt hat.
Da stehen zwei Anzugträger an einer Ecke und rauchen. Komisch ist, dass sie die Kippen sofort ausmachen, als sie mich erspäht haben. Toll, das sind vielleicht schon die nächsten Kopfgeldjäger, die mich wieder zurück zu Noah schleifen sollen oder Wallice lässt mich bereits beschatten.
Die aufkommende Panik steht mir ins Gesicht geschrieben, denn Patrick entgegnet mir ein „Alles in Ordnung, Miss Jones?“ Ich ignoriere ihn.
„Bringen Sie mich zu Anderson United, Patrick“, verlange ich. Ich muss ihn einfach sehen.
Patrick tut, wonach ich verlange und im Nu stehe ich schon vor dem Bürogebäude.
Bei der Rezeptions-Barbie verlange ich Silvia Chuan, die sie mir sogleich ans Telefon holt.
„Büro von Mister Sebastian Anderson?“
„Hallo Silvia, hier ist Charlize.“ Stille.
„Kommen Sie rauf.“ Gut, sie scheint nicht nachtragend zu sein.
Das lass ich mir nicht zweimal sagen und der Fahrstuhl bringt mich nach oben. Ich muss ihn jetzt einfach sehen, stapfe wie eine Verrückte auf sein Büro zu und ignoriere Silvia, die mir hinterherruft.
Erleichtert reiße ich die Türe auf und … blicke in eine Runde Anzugträger, die mich ansehen, als hätte ich gerade die Börse gesprengt. Ich komme total ungelegen, was mir sowas von scheißegal ist.
„Charlize?“ Sebastian hat sich von seinem Platz an der Tafelrunde erhoben und sieht ganz schön aus dem Wind aus.
Da zeichnet sich sogar ein grauer Dreitagebart auf seinem Gesicht ab.
„Lasst uns allein“, befiehlt er förmlich. Mit diesem Stichwort windet sich ein Strom Anzugträger an mir vorbei. Die abschätzenden Blicke, die sie mir zuwerfen, ignoriere ich.
Dann sind wir allein im Raum und ich weiß plötzlich nicht mehr, was ich sagen wollte. Da sind so viele Gedanken in meinem Kopf, ich kann mich kaum konzentrieren.
Meine Hände zittern. Ich suche händeringend nach irgendeinem Satz, der das ausdrückt, was in mir vorgeht und darüber hinaus noch Sinn ergibt.
Plötzlich steht Sebastian vor mir. Ich war so in Gedanken, dass ich gar nicht mitbekommen habe, dass er auf mich zugekommen ist.
Seine Hände umschließen die meinen. Die Geste allein reicht schon aus, meine Selbstbeherrschung zu verlieren und ich gehe in die Knie.
Sebastian drückt mich fest an sich. Ich heule mir die Seele aus dem Leib, während er mich am Boden kauernd wiegt wie ein Kind.
Die Tränen wollen nicht versiegen – so sehr ich auch dagegen ankämpfe. An seiner Stelle hätte ich mir schon längst eine Ohrfeige verpasst, aber er macht nichts dergleichen. Er hält mich einfach nur fest.
Sanft streichelt er über mein Haar. Als ich aufblicke, liegt ein Lächeln auf seinen Lippen. Meine Tränen versiegen – ich bin sprichwörtlich leergeweint und sein Lächeln steckt mich an. Ich schluchze nur noch unkontrolliert und trompete in das Taschentuch, das er mir hinhält.
„Geht es dir gut?“, ist alles, was mir bis jetzt eingefallen ist.
„Es braucht schon mehr als eine Kugel, um mich in die Knie zu zwingen.“ Tja und zwar mich, wenn ich uns zwei hier anschaue. Er spielt die Sache runter, ich sehs aber in seinen Augen, wie sehr er wirklich daran zu knabbern hat. Er sieht müde aus.
„Wie geht es dir, Charlie?“ Es ist das erste Mal, dass er Charlie statt Charlize sagt.
„Ich komm schon klar.“ Das ist gelogen, aber ich will ihm nicht zeigen, dass ich eine scheiß Angst habe. Er nickt nur.
„Ich habe einen Freund, der kann ziemlich gut zuhören.“ Ich muss lächeln, jetzt kommt er mir auch noch mit einem Seelenklempner.
„Ich schaff das allein“, verkünde ich. Er nickt – er hatte wahrscheinlich schon damit gerechnet.
„Du bist nicht allein, Charlie. Damian ist für dich da und … naja also ich.“ Das scheint ihm etwas unangenehm zu sein.
Dass ich das noch erleben darf, dass ich diesem Mann eine Gefühlsregung entlocken kann. Erschöpft lege ich meinen Kopf an seine Schulter. Sein Jackett ist ruiniert, sag ich nur.
„Ich bringe dich nach Hause.“ Mit den Worten hebt er mich vom Boden hoch und trägt mich aus dem Büro.
Es tut so gut, sich endlich wieder ausruhen zu können. Sebastian nimmt das anscheinend wörtlich, denn wir steigen in eine Limousine. Die ganze Fahrt über lässt er mich nicht los und ich döse an seiner Schulter.
Der Wagen stoppt und ich spüre die kühle Abendluft.
„Vater.“ Damian steht im kleinen Wohnzimmer und mustert uns verblüfft.
„Charlie.“ Louis steht neben ihm, der sogleich auf uns zustürmt und meine Hand erleichtert drückt.
Ich hab ihn so vermisst. Ich deute aus seinem Blick, dass er froh ist, mich wiederzusehen und wir später reden. Da ist wohl auch jemand erst mal sprachlos.
„Soll ich einen Arzt rufen?“ Damian klingt besorgt.
„Nein“, antwortet Sebastian für mich. Danke Mann.
Damian übernimmt mich aus den Händen seines Vaters und informiert ihn mit: „Ich bringe sie nach oben.“
Danach muss ich eingeschlafen sein, denn ich liege in Damians Bett und weiß nicht mehr genau, wie ich hierhergekommen bin. Panisch greife ich an meinen Körper.
Ich hab noch meinen Hosenanzug an. Erleichtert richte ich mich auf.
Damian liegt nicht neben mir, vielleicht kann er auch nicht schlafen. Ich bin hellwach und nehme erst eine Dusche, bevor ich mich in Jeans und weitem Pulli schmeiße.
Im Untergeschoss angekommen, werde ich vom Licht im kleinen Wohnzimmer angelockt.
Zu meinem Erstaunen erkenne ich Damian und Sebastian, die auf der Couch sitzen und sich gegenseitig anschweigen. Sie haben beide Drinks in Händen. Wahnsinn, noch vor einer Woche sind sie schon bei der geringsten Begegnung aneinandergeraten.
Ich meine, sie reden zwar nicht miteinander, doch das ist auf jeden Fall schon ein emotionaler Quantensprung, dass sie es miteinander in einem Raum aushalten.
Sie haben mich im nächsten Moment schon entdeckt und erheben sich synchron. Super, jetzt hab ich sie unterbrochen – bei was auch immer.
„Kannst du nicht schlafen, Charlie?“, mutmaßt Damian.
Tja, ihr wohl auch nicht, sonst würdet ihr nicht um drei Uhr früh im Wohnzimmer hocken und Löcher in die Wand starren.
Ich gehe auf die beiden zu und setze mich schweigend in den freien Bereich zwischen ihnen. Wenig später nehmen beide wieder ihre sitzenden Positionen ein. Nun sind wir zu dritt, die sich anschweigen. Okay. Zeit, das zu beenden.
„Könntet ihr nun endlich damit aufhören. Das ist ja nicht auszuhalten“, mache ich meinem Ärger Luft.
Beide mustern mich verwirrt, also kläre ich sie auf: „Sagt was, oder geht euch meinetwegen an die Gurgel, aber sitzt nicht da und fragt euch nicht, was passiert ist oder was hätte passieren können, denn das tu ich schon die ganze Zeit über. Ihr solltet euch diese Last nicht auferlegen.“ Ich nehme mit der linken Hand Damians Hand in meine und ergreife mit meiner Rechten Sebastians.
„Ich halt das schon aus, ich kann einiges einstecken und jetzt macht dass ihr ins Bett kommt.“ Beide lächeln über den Befehlston, den ich angeschlagen habe und erheben sich.
„Verprügelst du mich wieder, wenn ich es nicht tun sollte?“, fordert mich Sebastian heraus. Etwas wehmütig blicke ich ihn an. Ja, das ist in diesem Raum passiert. Es tut mir nicht leid, wenn er das meinen sollte.
„Komm schon“, beschwichtigt Damian. „Das hat Charlie doch nur gesagt, als sie wütend war und dachte, ich hätte mit Emma geschlafen. Das wirst du ihr doch jetzt nicht nachtragen, Vater.“ Wir tauschen wissende Blicke aus – schweigen aber dazu.
Bevor sie aus dem Zimmer raus sind, knalle ich ihnen noch ein „Und rasiert euch endlich, verdammt nochmal“ hinterher.
Ich trinke aus Damians hier zurück gelassenem Glas. Bäh Whisky, ein furchtbares Gebräu. Ich will gerade aufstehen, da erstarre ich. Da steht jemand an der Tür. Puh, es ist bloß Thomas. So viel zum Thema Angstbewältigung.
Sieht so aus, als wär heut jeder noch auf den Beinen.
„Kann ich mich zu Ihnen setzen?“, lässt mich dann doch überrascht aufsehen.
„Natürlich.“ Wir setzen uns nebeneinander auf die Couch, ohne uns anzusehen.
Ich breche unser Schweigen und plappere wieder das Erstbeste laut aus, was mir in den Sinn kommt: „Sie werden nicht mehr mit mir Schach spielen, oder?“ Ich hab ihn ja ziemlich in die Pfanne gehauen. Er sieht mich verblüfft an.
„Wohl eher nicht.“ Ich nicke.
„Ich verstehe.“
„Miss Jones?“
„Hm.“
„Ich fühle mich dazu verpflichtet, Sie über die Ereignisse, die sich in diesem Hause während der Zeit Ihrer … Abwesenheit abgespielt haben zu informieren.“ Okay, was war los?
„Fahren Sie fort“, bestärke ich ihn weiterzumachen.
„Master Anderson und sein Vater haben unentwegt nach Ihnen gesucht und alles, was in ihrer Macht stand mobilisiert, um Sie zu finden. Sie waren wie vom Erdboden verschluckt. Jede Nacht sind sie hier unten gesessen, haben auf das Telefon und den Computer gestarrt und sich angeschwiegen. Ich habe sie nicht mehr so zusammen in einem Raum gesehen, seit Mistress Julia … Ich fand, Sie sollten das wissen.“ Tränen laufen mir über die Wangen – das ist so süß von ihnen.
„Danke Thomas.“ Er erhebt sich und verlässt den Raum.
Ich kann jetzt nicht schlafen. Im Nebenraum steht der Bösendorfer und es zieht mich zu ihm.
Zumindest für einen Moment kann ich mich an die Musik klammern, bevor mich die Realität einholt.
Im Halbdunkel beginne ich die Melodie von Franz Listzs Transkription von Beethofens Synfonie Nr. 5 zu spielen und ich fühle mich auf Anhieb wohl. Das hat mich schon immer wunderbar beruhigt.
Die letzten Töne verklingen, da sehe ich die Silhouetten von Sebastian und Damian in den beiden Türen des Raumes stehen. Wahrscheinlich hab ich sie durch meine Musik wachgehalten und sie sind nochmal runtergekommen oder – was wesentlich wahrscheinlicher ist – sie haben Angst, ich könnt mir was antun, lassen mich daher nicht mehr aus den Augen.
Sebastian verschwindet im nächsten Moment. Damian kommt auf mich zu und setzt sich hinter mich auf den Klavierhocker. Seine starken Arme umfassen mich. Ich schließe die Augen und lehne mich an ihn.
Ich breche unser Schweigen. „Er hat gesagt, ich gehöre ihm, aber das stimmt nicht …“ „Wer Charlie?“ Ich ignoriere seine Frage.
„Ich … ich gehöre dir Damian. Meine Antwort lautet ja – schon die ganze Zeit über. Ich hatte Angst, du würdest dich nicht mehr für mich interessieren, wenn ich es dir zu leicht mache, aber ich kann das nicht mehr. Ich will mit dir zusammen sein. Ich liebe dich, Damian.“ Er drückt mich fester an sich, erhebt sich daraufhin und zieht mich hoch. Sein Blick wird urfilmauslösend.
„Ich liebe dich, Charlie.“ Unser Kuss ist leidenschaftlich und voller Sehnsucht nacheinander.
Wir lösen uns voneinander.
Sein Ausdruck bewegt sich wieder in Richtung Besorgnis. „Charlie. Bitte sag mir, was man dir angetan hat, das so schrecklich ist, dass du mir deinen Körper nicht zeigen willst. Egal, was es ist – es wird nichts zwischen uns ändern, aber bitte sag es mir – ich halt das nicht mehr länger aus.“ Sein Blick ist gequält.
„Ich kann nicht.“ Noch nicht. Eine Träne läuft unkontrolliert über meine Wange – Mist, Verräter.
„Hat er dich angefasst – ich schwöre dir Charlie, wenn er dir das angetan hat, was ich glaube, dann …“ „Er hat mich nicht …“ Ich kann es nicht aussprechen, aber Damian versteht sofort.
Er zieht mich fest an sich. Ich kann die tonnenschwere Last förmlich hören, die ihm von den Schultern fällt.
„Das ist das zweite Mal, dass dich jemand gewaltsam von mir wegreißt. Ich lasse nicht zu, dass das nochmal passiert, hörst du Charlie?“ Ich nicke und lächle ihn an. Das ist grad so beruhigend. Tränen laufen wieder über meine Wangen.
Damian zieht mich auf das Kanapee, das nicht weit vom Klavier entfernt steht, auf das wir uns aneinander kuscheln. Erschöpft sinke ich an seine Schulter und gebe mich dem rettenden Schlaf hin.