Читать книгу Wer braucht schon Zauberkerle? - Marie Lu Pera - Страница 4

Thomas

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Etwas kitzelt meine Nase. Ich öffne kichernd die Augen und blicke in das Gesicht einer Möwe, die munter drauflospikt. Panisch zucke ich zusammen. Okay, Totalabsturz.

Sag mal, hatte ich Halluzinationen? Das, oder ich hab tatsächlich mit einem Wassermann geknutscht. Ich lächle – nein, da ist wieder meine kranke Phantasie mit mir durchgegangen oder ich war einfach nur high.

Ganz sicher bin ich hier zusammengesackt und hab geträumt. Obwohl es schon komisch ist, dass ich nackt unter einem Algenteppich liege. Überall suche ich nach meinem Kleid, das wohl den Fluten zum Opfer gefallen ist. Wenigstens liegt Henrys Jackett in Reichweite, sonst wären die Wagenschlüssel auch dahin gewesen.

Auf meiner kühlen Haut zeichnet sich ein leichter Seegeruch ab, was mich überzeugt, dass ich wohl baden war und dabei meine Unterwäsche verloren habe. Die Strümpfe hab ich aber noch an. Mann, ich war wohl echt total hinüber.

Das Jackett reicht gerade mal so über meinen Arsch und gibt ziemlich viel Dekolleté frei. Trotzdem hab ich ein Dauergrinsen aufgesetzt – ich fühl mich wie neu geboren.

Vergnügt schließe ich die Wohnungstür auf und erkenne meine Brüder, die sich synchron von meiner Couch erheben. Ich stoße einen Freudenschrei aus und laufe Artis direkt in die Arme.

Mit einem „Ufff“ quittiert er meinen Frontalangriff, schließt mich aber nach einer Schrecksekunde in seine Arme. Dabei streift er meinen Po, der durch meine gestreckten Arme um seinen Hals vollkommen frei liegt.

„Ähm, Raven?“, setzt er irritiert an, aber da falle ich schon Junus um den Hals, der ebenso überrascht zu sein scheint.

„Bist du darunter nackt?“, fragt mich Artis, der seine Stimme wiedererlangt hat.

„Jap“, pruste ich fröhlich.

„Was hast du mit deinen Haaren gemacht?“, stößt Junus beinahe krächzend aus. Ich ignoriere ihn lächelnd. Tja, das ist mein neues Ich. „Wo warst du und wieso gehst du nicht ans Telefon?“, fährt Junus fort.

„Wo ist der Mann, der zu dem Jackett gehört?“, will Artis daraufhin wissen.

Ich löse mich von meinem Bruder, ziehe die Schultern hoch und erkläre: „Keine Ahnung.“

„Wer bist du und was hast du mit meiner Schwester gemacht?“, fragt mich Junus etwas zu ernsthaft für meinen Geschmack.

„Bist du betrunken?“, fragt Artis, bevor ich darauf eingehen kann.

„Nein“, antworte ich grinsend.

„Hat dir jemand was ins Glas getan?“, geht die Fragerunde lustig weiter, während Junus meine Pupillen beäugt.

Ich stoße ihn sanft von mir und verteidige mich: „Macht euch mal locker, ich war bloß aus und hatte jede Menge Spaß.“ Naja, zumindest ab der zweiten Hälfte der Nacht.

„Das sieht man. Ich hoffe, du hast aufgepasst, Fräulein“, tadelt mich Junus.

„Ja, Dad“, spotte ich lächelnd.

„Eigentlich hätte ich mit einem Häufchen Elend gerechnet, als die Tür aufgegangen ist. Nicht mit dieser Partymaus, die ein Dauergrinsen im Gesicht hat“, stellt Junus fest.

„Wieso denn das?“, will ich wissen.

„Man munkelt, du hast Beliar abgeschossen. Er hätte dir sogar einen Heiratsantrag gemacht, den du abgelehnt hast“, informiert mich Artis. Woher wissen sie das?

„Ich habe niemandem davon erzählt, wie kann es da schon Gerüchte geben?“, will ich halbherzig wissen.

„Also ist es wahr“, stößt Artis aufgebracht aus. „Du hast tatsächlich den Antrag des mächtigsten, weißen Hexers abgelehnt.“ Auf den Schreck hin muss er sich erstmal setzen.

Ich kuschle mich fest an ihn, weil ich ihn so vermisst habe. Dabei entblöße ich wohl mehr, als sich ziemt, denn Artis rückt räuspernd das Jackett zurecht. Ich kichere sogar, weil das so amüsant ist, wie er auf mein Outfit reagiert. Scheiße, hab ich echt gerade gekichert?

„Das waren sicher diese verdammten Whisperer“, mutmaßt Junus haareraufend.

„Was soll das sein?“, frage ich grinsend, während ich mit Artis‘ Haaren spiele.

„Die sind wie Paparazzi, nur eben magisch“, klärt mich Junus auf.

„Du willst mich verarschen“, pruste ich ungehalten.

„Keineswegs“, verlautbart Junus.

Artis ist immer noch vollkommen fertig. „Wieso hast du überhaupt ‚Nein‘ gesagt? Ich dachte, du liebst Beliar.“ Mann, hak es ab. „Hast du dir das nicht die ganze Zeit über gewünscht?“, fragt er etwas versöhnlicher, während er mir über die Wange streicht.

Junus stößt einen belustigten Laut aus und verkündet: „Ich habe ihm geraten, Raven seine Liebe zu gestehen, nicht, dass er ihr gleich einen Antrag macht. Sie ist sechzehn. Man heiratet hier nicht so früh. Wahrscheinlich hat er sich auch angestellt wie ein Tölpel. Immerhin hat er Raven damit sicher vollkommen überrumpelt. Da hätte ich auch ‚Nein‘ gesagt.“

Artis‘ Zornesfalte tritt hervor. „Die Whisperer sind Beliar wahrscheinlich gefolgt, als er hier aufgetaucht ist oder sie beschatten Raven bereits seit geraumer Zeit. Bald weiß es jeder. So etwas ist mehr als ein Schlag ins Gesicht für einen Mann, der im Mittelalter lebt. Er wird zum absoluten Gespött in seinem Zirkel werden“, wirft ihm Artis vor.

„Auf welcher Seite stehst du eigentlich? Immerhin geht’s hier um unsere Schwester. Sie hatte sicher ihre Gründe. Noch dazu hat er sie sitzengelassen, als sie aus dem Koma erwacht ist“, kontert Junus. Naja, daran war ich nicht ganz unschuldig, immerhin war ich es, die ihn fortgeschickt hat.

„Er hat die Herrschaft über den Zirkel für sie aufgegeben. Wenn das kein Liebesbeweis ist, weiß ich auch nicht mehr“, funkelt Artis zornig. Ich seh nur von einem zum anderen Bruder, fasziniert davon, wie lange sie noch so tun wollen, als wär ich nicht anwesend.

„Was weißt du schon von Liebesbeweisen“, erklärt Junus hochnäsig.

Artis zieht krampfhaft die Luft ein und sieht total verletzt aus. Junus realisiert gerade, was er im Streit gesagt hat.

Wieso hab ich eigentlich immer das Gefühl, alle auseinanderzubringen? Dabei tu ich doch gar nichts.

Das zieht mich gerade dermaßen runter – dieses Unruhegefühl baut sich erneut in mir auf. Die Wirkung der Substanz scheint auch schon wieder nachzulassen, aber ich schaffe es noch, das warme Gefühl in mir zu konzentrieren, schnappe Junus‘ Hand und ziehe ihn neben mir auf die Couch. Nun nehme ich meine Brüder in den Schwitzkasten und presse sie fest an mich.

„Was soll das werden?“, protestiert Junus.

„Gruppenkuscheln. Ihr sollt euch liebhaben, nicht streiten“, soll sie in die richtige Stimmung bringen.

„Du solltest dir lieber etwas anziehen“, tadelt mich Artis, der erneut versucht, mit Stoff gegen meine nackte Haut anzukämpfen und zu retten, was noch zu retten ist.

Plötzlich hämmert jemand wild an meine Wohnungstür und brüllt: „Mach die Tür auf Miststück oder ich trete sie ein.“ Ups. Das ist Henry.

„Wer ist das?“, will Junus aufgebracht wissen.

„Ähm, der Typ, der zu dem Jackett gehört?“, gestehe ich grinsend.

Plötzlich schwingt die Tür mit einem Knall auf. Hey, ich dachte, meine Schutzkräuter würden die Harmonie drinnen und Hexer draußen halten – stand zumindest auf der Packung.

Ein fuchsteufelswilder Henry stapft zur Tür rein, die er hinter sich zuwirft. Erst jetzt scheint er meine ebenso wütenden Brüder zu bemerken, die alarmiert aufgesprungen sind und schaltet einen Gang runter.

Artis knurrt verächtlich. „Hast du gerade meine Schwester ein Miststück genannt und ihre Tür eingetreten?“ Seine Stimme ist ruhig – schlechtes Zeichen.

Henry schluckt laut, hebt die Arme beschwichtigend in die Höhe und erklärt: „Hey, Mann. Die hats faustdick hinter den Ohren. Außerdem hat sie mein Auto geklaut.“ Beide meiner Brüder blicken gleichzeitig auf mich und fordern mimisch eine Erklärung von mir.

„Die Schlüssel sind im Briefkasten deines Großvaters“, informiere ich ihn.

„Hast du meine Schwester angefasst?“, schaltet sich Junus ein, dem gleich Dampf aus den Ohren schießt, so rot ist sein Schädel.

„Nein, Mann. Ich schwörs. Zuerst hat sie mich aufgegeilt und dann herumgezickt, als ich sie flachlegen wollte“, beschwichtigt Henry.

„Falsche Antwort, Arschloch“, raunt Junus und will auf Henry losgehen, der einen Feuerball in seiner Hand erzeugt. Ich stelle mich zwischen sie und verlange: „Hört auf. Ich kann selbst auf mich aufpassen.“ Ich spüre förmlich die Aggressionen, die von Junus ausgehen. Sie prickeln über meine Haut wie elektrische Schläge.

„Du hast zwei Sekunden, um zu verschwinden, bevor ich dich windelweich prügle. Und wenn du meiner Schwester nochmal zu nahe kommst, lernst du mich kennen“, droht ihm Artis.

„Sie hat noch etwas, das mir gehört“, verlangt Henry mit ausgestreckter Hand. Es geht ihm nicht um seine Jacke, er will seine Drogen zurück. Tja, da wird er sein blaues Wunder erleben.

Ich lächle, knöpfe das Teil auf und lasse es mir über die Schultern rutschen. Henry hat gerade Stielaugen bekommen und den Kiefer runtergeklappt.

Und nicht nur ihm ergeht es so. Meine Brüder haben denselben Gesichtsausdruck drauf. Wie gebannt starren sie auf meine nackte Haut – besser gesagt meine Tattoos. Tja, ich hatte in den letzten vier Monaten eine leichte Identitätskrise, muss ich an dieser Stelle zugeben. Da sind noch ein paar Symbole dazugekommen. Dunkle Symbole, wohlgemerkt – passend zu meiner Stimmung – also bevor ich pure Sonne in Form der Götterspeise getankt habe.

Als ich Henry sein Jackett zuwerfe, blinzelt er zum ersten Mal wieder, doch da hab ich mich schon wieder umgedreht und mache mich daran, Kaffee aufzusetzen. Ich kann nur noch hören, wie die Tür ins Schloss fällt und meine Brüder krampfhaft Luft ausstoßen.

„Raven, du machst mir Angst“, gibt Junus zu.

„Du hast mich doch schon so oft nackt gesehen. Wenn ich mich recht erinnere, haben wir monatelang ein Bett geteilt – ebenfalls nackt“, werfe ich ein.

„Wer hat dir das tätowiert?“, will er wissen.

„Galahad“, stoße ich selbstverständlich aus. Ich habe ihn ein paar Mal hier in Chicago getroffen.

„Ich bring ihn um“, raunt Junus ärgerlich. Ich drehe mich lächelnd um und summe vor mich hin, während ich den Tisch für ein Frühstück decke.

Artis krächzt alarmiert. „Wo sind deine Haare?“ Sag bloß, ihm ist mein Kurzhaarschnitt erst jetzt aufgefallen. Sein geschockter Blick auf meine privateste Stelle erklärt dann, welche Haare er meint.

„Einem Brazilian Waxing zum Opfer gefallen“, antworte ich.

„Du bist sechzehn“, tadelt mich Junus.

„Wusste nicht, dass man dafür einundzwanzig sein muss. Das hat mir Bob vom Schönheitssalon um die Ecke wohl verschwiegen“, verarsche ich sie. Junus hab ich gleich so weit, dass er an die Decke geht, bei Artis dauerts noch ein bisschen.

„Könntest du dir bitte etwas anziehen? Das passt so gar nicht zu dir, dass du dich vor einem wildfremden Hexer entblößt“, tadelt mich Artis.

„Er wollte sein Jackett zurück. Außerdem ist er nicht wildfremd – er ist der Enkel meines Nachbars“, rede ich mich raus, während ich mir einen Pullover überziehe, damit er endlich Ruhe gibt.

„Wo hast du überhaupt deine Kleider gelassen? Doch nicht etwa bei dem Arschloch“, will Junus wissen.

„Nein, die hab ich am See verloren“, gebe ich zu.

„Am See“, wiederholt Artis ungläubig.

„Ja, ich war schwimmen“, lächle ich, während ich Kaffee in Tassen eingieße.

„Um diese Jahreszeit? Bist du von Sinnen?“, prustet Junus, der auf mich zukommt und mir an die Stirn fasst. „Du hast leichtes Fieber. Wahrscheinlich hast du dir eine Lungenentzündung eingefangen. Wie viel hast du gesoffen, dass du im April nackt in den Michigansee baden gehst?“

„Seit wann bist du so ein Spießer?“, werfe ich ihm vor. Ich wende mich Artis zu und frage: „Ist er sonst auch so ein Langweiler?“

Artis öffnet seinen Mund für eine Antwort, klappt ihn aber – eingeschüchtert von dem stechenden Blick seines Freundes – unverrichteter Dinge zu.

„Ich hätte dich nicht allein herziehen lassen sollen. Du bist noch zu jung, um für dich selbst zu sorgen. Ich wusste, dass etwas nicht stimmt, als du dich mit diesen fadenscheinigen Ausreden um einen Besuch bei uns gedrückt hast. Dein Haar, die Symbole … alles Zeichen dafür, dass du Hilfe brauchst. Du kommst wieder mit nach New York“, befiehlt Junus. Ich schnappe nach Luft.

„Nur weil ich mir die Haare geschnitten und mich tätowieren hab lassen, hältst du mich für nicht allein lebensfähig?“, stoße ich belustigt aus.

„Das ist nicht witzig, Raven. Du hast dich irgendwie verändert. Das gefällt mir nicht“, erwidert er.

„Ach, das gefällt dir also nicht, dass ich mich verändere, Bruder. Nur zu deiner Information, ich bin hier glücklich. Zum ersten Mal.“ Okay, da spricht die bewusstseinserweiternde Droge aus mir. „Mit wem ich ausgehe, ist meine Sache. Ich bin Single und lebe das auch aus. Wer weiß, vielleicht probier ichs mal mit einer Frau? Wer braucht schon Kerle, die einem die ganze Zeit auf die Brüste glotzen oder den Hexenmeister raushängen lassen. Frauen haben ja außerdem sowieso mehr Feingefühl als Männer.“ Das war ein Scherz. Damit will ich ihn nur auf die Palme bringen. Ich steh auf Jungs – definitiv.

Bei meinem Bruder hat Schnappatmung eingesetzt. Artis klopft ihm beruhigend auf die Schulter. „Wir sollten gehen, wir sind bereits spät dran“, wechselt er das Thema, um Junus abzulenken.

„Darüber reden wir noch, Fräulein“, droht mir Junus mit erhobenem Zeigefinger. Ich hätte so richtig Lust, ihm die Zunge rauszustrecken, aber so stoned bin ich auch wieder nicht. „Jetzt bringen wir dich erst mal zu deinem Vater, der nämlich den ‚Hexenmeister‘ raushängen lässt und auf eine Hinrichtung von Tiberius und Nadar besteht. Der ursprüngliche Plan war eigentlich, dich mit Beliars Hilfe mit Glücksgefühlen vollzupumpen, bevor du da durch musst, aber das ist ja nach hinten losgegangen“, fährt Junus fort. Verdammt, ich dachte, mein Vater lässt sich noch etwas mehr Zeit mit dieser grotesken Hinrichtungs-Geschichte.

„Vater besteht darauf, dass du – wie von dir gewünscht – vorher noch mit beiden sprechen kannst, bevor er über sie richten wird“, ergänzt Artis.

Ja, ich will sie noch ausquetschen, ob sie etwas über meine leibliche Mutter wissen, aber hatte gehofft, das einfach mal länger hinauszuzögern, damit ich doch noch irgendwie meinen Vater dazu bringen kann, Gnade walten zu lassen. Ich meine, die Todesstrafe ist doch echt ätzend. Dieses Angstgefühl steigt an die Oberfläche und durchbricht soeben die rosa Wolke, die den ganzen Scheiß bis jetzt abgefangen hat.

„Ich will aber nicht“, stoße ich lahm aus.

Beide meiner Brüder lächeln. „Wenn du nicht freiwillig mitgehst, wird er dich dazu zwingen. Und glaub mir, die ‚Kerle‘, die er schicken wird, haben noch weniger ‚Feingefühl‘ als wir es haben“, erklärt Junus. Danke übrigens für den Seitenhieb.

Toll, wie komm ich da jetzt wieder raus? Meine rosa Wolke macht sich schön langsam aus dem Staub.

„Aber so nehmen wir dich nicht mit uns. Wir müssen das mit deiner Frisur wieder hinbekommen. Du würdest viel zu viel Aufsehen erregen, wenn du mit einer Männerfrisur im Mittelalter auftauchst“, knallt mir Artis vor den Latz.

„Ich will mich aber nicht für andere verändern“, schmolle ich.

Junus seufzt. „Geh erst mal unter die Dusche Kleines, da klebt der halbe Strand an dir.“ Genervt ziehe ich in Richtung Bad Leine.

Als das Wasser auf mich niederprasselt, ist es so, als würden mich die Emotionen mit der vollen Breitseite treffen. Alles kommt grad wieder hoch und die ersten Tränen vermengen sich mit dem Duschwasser. Beliars Gesicht, als ich ihn weggestoßen habe, die bereits verdrängte Angst vor dem Aufeinandertreffen mit Tiberius und Nadar, das Chaos der letzten Nacht, die Droge – alles kommt hoch.

In Henrys Jackentasche waren zwei Ampullen von dem Zeug. Die zweite Spritze hab ich mir im Auto in die Handtasche gesteckt.

Ich schließe die Augen, ersehne das warme Gefühl, das mich erfüllt hat, als ich mir das Serum in die Vene gejagt habe. Erneut bekomme ich Angst. Bin ich jetzt abhängig, weil ich daran denke, es zu nehmen? Nein, ich hab das unter Kontrolle. Nur noch ein einziges Mal, damit ich die Hinrichtung besser ertrage – das würde jeder verstehen. Doch meine Brüder dürfen davon nichts mitkriegen – die würden durchdrehen, wenn sie davon erfahren.

Ich lasse das Wasser laufen und schiele auf den Flur hinaus. Die Luft scheint rein zu sein. Schnell tapse ich rüber zur Garderobe und kralle mir meine Handtasche.

Auf dem Weg zurück erhasche ich Wortfetzen des Gesprächs meiner Brüder.

„Ich mach mir Sorgen um sie.“ Junus.

„Sie ist kein kleines Kind mehr, Junus.“ Artis.

„Ich musste mich zurückhalten, um dem Typen nicht die Fresse zu polieren.“ Junus.

„Ja, ich mich auch. Aber trotzdem wirst du sie erzürnen, wenn du sie zwingst, mit uns nach New York zu gehen.“ Artis.

„Das ist mir egal. Ich will in Zukunft wissen, mit wem sie sich rumtreibt. Ihr könnte sonst was passieren. Womöglich wird sie von so einem Affen schwanger oder holt sich Aids.“ Junus. Mann, er führt sich echt auf, als wär er mein Vater.

„Glaubst du, was sie über Beliar sagen?“ Artis.

„Meinst du das Gerücht, er würde sich seit seiner Rückkehr durch das halbe Mittelalter vögeln, weil er so gefrustet ist, dass ihn unsere Schwester verschmäht hat. Schon möglich.“ Okay, das bestärkt mich nur noch mehr, mir den Schuss Glücksgefühle zu verpassen.

„Raven liebt Beliar. Aber ich verstehe nicht, wieso sie nicht mit ihm zusammen sein will?“ Artis.

„Vielleicht ist sie zu verletzt. Sie ist sechzehn und eine Frau, wer versteht schon Frauen. Das ist übrigens auch ein Grund, warum ich Männer bevorzuge. Die sind weniger kompliziert.“ Junus. Vielen Dank aber auch.

„Eine sehr weise Entscheidung.“ Artis. Daraufhin vernehme ich Knutschgeräusche, die mich vertreiben.

Fassen wir mal zusammen: Beliar bespringt – gerüchteweise – eine Hofdame nach der anderen und hat wahrscheinlich gerade den Spaß seines Lebens, während ich hier Gewissensbisse habe, einen Hexer zu daten – die hatte ich nämlich. Das hört ab sofort auf. Wollen mal sehen, wer hier Spaß hat. Das Zeug ist schneller in meinem Organismus, als ich „Eine Phiole pures Glück, bitte“ sagen kann.

Die wohlige Wärme zaubert schlagartig ein Lächeln auf meine Lippen. Quietschvergnügt trete ich vor meine Brüder, die erst nach dreimaligem Räuspern die Zungen aus ihren Rachen zurückziehen.

„Bin startklar“, verlautbare ich.

„Nimm das Amulett ab, Kleines“, verlangt Junus, als er sich von der Couch erhebt. Weil ich keinen Bock auf Diskussionen habe, tue ich, wonach er verlangt.

Nach einem kurzen Schauer, der mir über den Rücken zieht, beginnen meine Haare zu wachsen. Einen Wimpernschlag später hab ich die Lockenmähne wieder, die meinen Kopf schwer runterzieht. Na toll, fünfzig Mäuse für den Friseurbesuch in den Wind geschossen.

Junus lächelt verträumt. „So gefällst du mir wieder.“ Sein Kuss landet auf meiner Stirn, die er sogleich kritisch untersucht. „Du hast immer noch leichtes Fieber“, informiert er mich beunruhigt.

„Quatsch, meine Haut ist durch die Dusche erhitzt, sonst nichts. Ich fühl mich großartig“, stelle ich richtig.

Das scheint ihm nicht ganz geheuer zu sein, doch er lässt von dem Thema ab. Schnell lege ich das Amulett wieder an, bevor er Verdacht schöpft und Zauber einsetzt, um mich auszuquetschen oder mein Brazilian Waxing zum Schluss auch noch für den Arsch war.

Artis legt mir den Arm um die Schulter, als wir zum Auto gehen. Lächelnd kuschle ich mich an ihn.

Die ganze Autofahrt lang trällere ich die Hits im Radio nach. Junus schüttelt sogar schon den Kopf, weil ihm meine gute Laune nicht geheuer ist. Artis ist nur am Grinsen.

Ich lache befreit, als mich Junus huckepack durch den Wald trägt und mir andauernd einreden will, dass ich untergewichtig bin. Mit dem Fortschreiten seines Studiums, lässt er wohl immer mehr den Arzt raushängen.

Im Nu sind wir im Mittelalter – vorher hat mich Artis aber, unter Androhung diverser Gräueltaten, genötigt, mein Amulett abzulegen, damit er mir ein Kleid hexen konnte. Was soll ich sagen, ich wollte eine Hose, da hat er nur genervt mit den Augen gerollt.

Obwohl ich zugedröhnt bis unters Dach bin, spüre ich schlagartig das Unbehagen, das diese Epoche in mir auslöst, als wir uns vom Steinkreis entfernen.

Bilder meiner Folter blitzen vor meinem inneren Auge auf. Okay, das müssen starke Emotionen sein, die mich in die Knie gezwungen hätten, wenn sie es ungedämpft durch die rosa Wolke geschafft hätten.

Energisch schüttle ich die dunklen Gedanken ab und ergreife die Hand von Artis, der mich vor sich auf sein gezaubertes Pferd zieht.

Mein holder Arsch hat es kaum vom Pferd geschafft, da werde ich von Junus bereits wieder untersucht. Mit zusammengekniffenen Augen fühlt er die Temperatur meiner Stirn und schüttelt den Kopf. „Bei dem Fieber müsstest du eigentlich total erschöpft sein. Bist du sicher, dass du dich wohlfühlst?“, hakt er nach.

„Jaaaaa“, stoße ich genervt aus. Mein Körper fühlt sich wohlig warm an – zum ersten Mal friere ich nicht, wie ich es meistens tue. Schwacher Kreislauf, sag ich nur. Meine Haut ist von einem leichten Schweißfilm überzogen, der mir aber nichts ausmacht.

„Du könntest dir eine Geschlechtskrankheit geholt haben. Habt ihr ein Kondom benutzt?“, hat er jetzt nicht grad echt gesagt. Das wird schön langsam lästig.

„Das nächste Mal vielleicht, wenn wir wieder in den Swingerclub gehen“, verarsche ich ihn lächelnd.

Junus hält mich grob am Arm fest. „Raven, ich kann nur Verletzungen mit meiner Magie heilen, keine Krankheiten. Nimm das nicht auf die leichte Schulter.“

Mein Ziehvater, der mit beidseitig ausgestreckten Armen auf mich zukommt, befreit mich dann aus der strengen Musterung meines Bruders, mit der er anscheinend jeder Ferndiagnostik alle Ehre machen will. Vergnügt lasse ich mich in seine Umarmung fallen.

„Hoppla, du bist aber stürmisch, meine Tochter“, stellt er fest, während er mich an sich drückt. Ich schließe die Augen, weil das gerade total guttut.

Zu seiner Verblüffung presse ich meine Lippen auf seine Wange und richte ihm seinen Mantel zurecht, der meiner Knuddel-Attacke zum Opfer gefallen ist. Auch ihn habe ich seit dem Rauswurf aus meinem Krankenzimmer nicht mehr gesehen.

„Lass dich ansehen“, verlangt er, mit beiden Händen an meinen Wangen. „Du wirst von Tag zu Tag schöner“, schwärmt er. „Komm, ruh dich aus.“

Beschwingt greife ich nach seiner mir dargebotenen Hand und lasse mich von ihm in die Burg geleiten.

Dabei ist mir der feindselige Blick, mit dem er Junus bedacht hat, nicht entgangen. Mein Vater scheint die Verbindung meiner Brüder wohl nicht so recht gutzuheißen. Naja, war irgendwie klar. Zumindest lässt er ihn rein, das ist ja schon mal ein gutes Zeichen. Dennoch ramme ich meinem Vater den Ellbogen in die Seite, was er mit angehobenen Augenbrauen quittiert.

„Keine bösen Gedanken solange ich hier bin. Hier herrscht Liebe und sonst gar nichts“, befehle ich.

Mein Vater lächelt gequält. „Du vermagst also meine Gedanken zu lesen, Tochter. Ganz ohne Zauberkräfte.“

„Nenn mir eine Frau, die Zauberkräfte braucht, um im Gesicht eines Mannes lesen zu können. Es verrät euch alle“, erkläre ich rechthaberisch.

„Und was lest Ihr in meinem Gesicht, Mylady?“, kommt es von einer fremden Stimme. Ja toll, mal die Klappe wieder ganz weit aufgerissen, Raven. Ein fetter Edelmann verbeugt sich schleimspurlegend vor mir.

„Darf ich vorstellen: Lord Loxvill Sussex und sein Sohn Thomas. Meine Tochter Rose Anne Victoria Erin Nazire Owen“, stellt uns mein Vater vor.

Also sein Sohn ist definitiv schnucklig, der kommt wahrscheinlich nach seiner Mutter, denn da ist alles am rechten Platz und wohlgeformt in stahlharter Muskelmasse verpackt. Er scheint aber etwas schüchtern zu sein, denn er hält meinem Blick keine zwei Sekunden stand. Oder er ist schwul.

„Und?“, fordert der Lord ungeduldig. Ach ja, ich muss ja noch das Häschen aus dem Hut zaubern und in seiner hässlichen Visage lesen.

Ich lasse meinen Blick kurz über ihn schweifen und erkläre: „Ihr hattet Gulasch zu Mittag.“ Ich habe wohl den Nagel auf den Kopf getroffen, denn er zieht verblüfft die Augenbrauen hoch. „Woher wusstet Ihr das?“, fragt er mich alarmiert.

„Teile davon hängen noch in Eurem Bart“, fand er jetzt nicht so prickelnd. Sein Sohn schon, der versucht gerade, sich ein Grinsen zu verkneifen – ohne Erfolg, so wie es aussieht. Als ich mich umdrehe, bemerke ich die amüsierten Gesichter meiner Brüder.

Mein Vater verabschiedet uns und flüstert mir ein „Man munkelt, Lord Sussex plane einen Anschlag auf mich“ ins Ohr.

„Dann hast du ja Glück, Vater“, wende ich ein.

„Wie darf ich das verstehen?“, hakt er etwas erzürnt nach.

„Er ist ein Dummkopf“, lässt meinen Vater dann wieder schmunzeln.

Artis bringt mich in ein Zimmer, in dem ich mir die Hände in einer Schüssel wasche.

Dabei umarmt mich mein Bruder von hinten. „Geht es dir wirklich gut?“, will er wissen.

„Als ich eine Trauerweide war, habt ihr mich das nicht ständig gefragt, warum jetzt, wo ich doch bester Laune bin?“, will ich wissen. Er lächelt nur und tritt zur Tür.

„Ähm Artis?“, halte ich ihn zurück. „Borgst du mir vier Goldstücke?“

„Ja natürlich, wofür brauchst du sie?“, hinterfragt er mein Schnorren.

„Ähm, für einen höheren Zweck“, rede ich mich raus.

Artis lächelt und wirft mir einen klimpernden Beutel zu. „Shoppen gehört aber keinem höheren Zweck an.“ Ich lächle gekünstelt und warte, bis er weg ist, bevor ich eine innerliche Schimpftirade ablasse. Seh ich so aus, als ob ich shoppen gehen würde? Mann, ich fass es nicht, dass er das gerade gesagt hat. Soviel zum Feingefühl von Kerlen.

Kurzerhand beschließe ich, nach draußen zu gehen – es ist definitiv viel zu schönes Wetter, um in der Burg rumzuhängen.

Im Innenhof vernehme ich lautes Waffengeklimpere. Ein paar junge Männer üben sich gerade im Schwertkampf. Thomas ist unter ihnen. Wow, ich erkenne gerade, dass alle ausnahmslos gutaussehend sind. Das ist irgendwie verdächtig. Vor allem, weil ich die Typen hier noch nie gesehen habe.

Irgendwie beschleicht mich der Verdacht, mein Vater könnte hier ganz „zufällig“ die heiratsfähigen Kerle eingeladen haben. Hm, ja, er hat ja schon mal so einen Kommentar abgelassen, ich würde mit meiner Art nie einen Ehemann erhaschen. So will er mir vielleicht zu meinem Glück verhelfen. Vielleicht denkt er, ich krieg sonst nie einen Kerl ab, wenn er mir nicht unter die Arme greift. Hab ich ein Glück – spotte ich in Gedanken.

Als sie sich dann auch noch alle gentlemenlike verbeugen, muss ich fast automatisch wie eine Hormongesteuerte grinsen. Ganz zum Leidwesen der weiblichen Hofdamen, die in einiger Entfernung Stellung bezogen haben und die Männer kichernd beäugen. Jetzt, da ich in ihr Revier eingedrungen bin, ist ihr Kichern einem bösen Funkeln gewichen.

„Leistet uns doch etwas Gesellschaft, Lady Raven“, fordert Thomas. Er ist wohl doch nicht so schüchtern, wie ich dachte. Oder er ist genauso wenig Gentleman, wie ich eine Lady bin – da bin ich mir noch nicht ganz so sicher. Das ist mir hier eigentlich zu viel geballtes Testosteron, aber ich bin gut drauf, also nicke ich keck.

„Lasst uns ein Spiel spielen“, schlägt eine wunderhübsche, blonde Hofdame vor und trifft auf sehr viel Zuspruch bei der weiblichen Brigade. Wieso hab ich das ungute Gefühl, die planen etwas gegen mich? Naja, die interessierten Blicke der Männer, die lästig häufig über meinen Körper schwenken, lassen den Verdacht erhärten, dass sie die Konkurrenz ausschalten wollen. Da bin ich ja mal gespannt.

„Wie wäre es mit: ‚Rettet die jungfräuliche Hexe‘“, schlägt die blonde Frau vor, die etwa in meinem Alter sein dürfte. Die Mädels kichern wie wild. Anscheinend ist das somit beschlossene Sache.

„Raven beginnt“, bestimmt sie lächelnd. Dabei zieht es mir die Gänsehaut auf.

„Was soll ich tun?“, will ich wissen. Die Frage, ob es für das Spiel relevant ist, noch Jungfrau zu sein, verkneif ich mir lieber. Die sind ja hier nicht so aufgeschlossen für das Thema.

„Kennst du das Spiel denn nicht?“, faucht sie, einen Hauch zu unfreundlich für meinen Geschmack. Davon lasse ich mich aber nicht beeindrucken.

„Nie davon gehört“, gebe ich schulterzuckend zu.

Sie tauschen Blicke aus, die ungefähr das bedeuten: „Von welchem Knusperhäuschen vom Arsch der Welt kommt die denn her?

Genervt erklärt sie: „Die Herren stellen sich vor dem Glöckchen auf.“ Dabei zeigt sie auf eine Glocke, die ziemlich weit oben an einer Steinmauer befestigt ist. „Die Jungfrau muss es schaffen, an das Glöckchen zu kommen, um es zu läuten. Dann ist sie in Sicherheit“, ergänzt sie.

Toll, die Mini-Highlander nehmen bereits Aufstellung. Es steht zehn gegen einen und ich hab keine Zauberkräfte, was mich nicht mal zu einer halben Portion macht. Das ist ein Freibrief für jegliche Grapsch-Attacke, was die Jungs nur allzu genau wissen, denn es steht in ihren lüsternen Augen geschrieben.

„Habt keine Angst, Lady Raven“, ruft mir Thomas zu. „Ich beschütze Euch vor den Wüstlingen.“ Wers glaubt. Das löst ein Lachen bei allen Beteiligten aus. Na wartet.

Ich lächle, gehe auf den Berg mit den Waffen zu, die sie abgelegt haben und kralle mir eine Axt.

„Lady Raven, Ihr werdet Euch verletzen“, setzt Thomas an, als ich vor sie trete. Mach dir nicht in die Strumpfhose, Robin Hood.

Ihnen steht das Unbehagen ins Gesicht geschrieben, aber keiner will den Schwanz einziehen, daher bleiben sie wie angewurzelt stehen. Sie haben wohl Angst, ich treffe damit ihr ganz persönliches Glöckchen. Ihre Gesichter sollte jemand fotografieren und posten. Das wär der Knaller. „Wüstlinge fürchten um ihr Würstchen“, wär der geeignete Kommentar dazu.

Das Glöckchen ist viel zu weit weg, das treff ich nie, aber die Axt dient als gutes Ablenkungsmanöver.

Ich lasse die Waffe einmal in meiner Hand schwenken – um anzugeben. Daraufhin ziele ich, brülle laut und schleudere sie weg. Ein paar von ihnen haben sich sogar leicht geduckt. Natürlich schauen alle der Waffe nach, die gerade von der Burgmauer abgeprallt ist – natürlich ohne das Glöckchen zu treffen. Das braucht sie auch nicht, denn was die Jungs nicht gesehen haben, ist der Sprint, den ich hinter ihrem Rücken hingelegt habe und mein fliegender Schuh, der das Glöckchen bimmeln lässt.

Überrascht drehen sie sich synchron um. Die Erkenntnis, dass ich sie gerade gewaltig verarscht habe, dämmert ihnen schön langsam – spätestens als sie erkennen, dass ich mich gerade über sie schlapplache.

Sie tauschen Blicke aus und stürmen mit den Worten „Fangt die Jungfrau“ auf mich zu. Ich schreie theatralisch und nehme Reißaus. Thomas holt mich schon bald ein und umklammert mich von hinten.

„Das kostet Euch einen Kuss“, droht er. Beinahe wär mir ein „Frösche küss ich aber nicht“ rausgerutscht.

Die anderen Männer umzingeln uns bereits, da reiße ich mich von Thomas los und drehe mich inmitten der Horde Jungs lachend im Kreis.

„Ein Kuss“, fordern sie, doch das bringt mich nur noch mehr zum Lachen.

Ein „Raven“, das von den Burgmauern hallt, wischt es mir dann endgültig von der Backe und lässt mich abrupt stoppen. Mein Vater steht zusammen mit meinen Brüdern an der Burgmauer, die gemeinsam mit ihm unser Treiben mit undurchdringlicher Miene betrachten.

„Komm zu mir, Tochter“, verlangt er emotionslos. Ich tue, wonach er verlangt und trete in die Burg, wo die drei bereits die Treppe hinunterkommen.

Wieso fühl ich mich gerade so, als hätte ich was angestellt? Vater hat sicher gesehen, dass ich die Axt geworfen habe, daher wappne ich mich schon mal innerlich für die nächste Abreibung.

Ich versuche, das Thema zu wechseln und nestle, unter den entgeisterten Blicken meiner Zuschauer, das Papier aus meinem Ausschnitt, das ich dort vor meinen Brüdern versteckt hatte, als wir von Chicago aufgebrochen sind.

„Was ist das?“, will mein Vater von mir wissen, nachdem ich es notdürftig glattstreiche und ihm das Schriftstück überreiche.

„Mach es auf“, schlage ich vor.

„Ein Gnadengesuch“, stellt mein Vater verblüfft fest. Gut, dass er es als solches erkennt, ich habs gegoogelt und dann die Worte von einem Foto einer alten Schriftrolle abgeschrieben.

„Raven, was zum …“, setzt Junus an, ihm fehlen aber anscheinend die Worte, um den Satz zu beenden.

„Ich finde es grausam, jemanden für ein Verbrechen zu töten. Wieso können sie nicht einfach im Gefängnis bleiben?“, wende ich ein.

„Meines Wissens habe ich dir das bereits mehrmals erklärt, aber wie es scheint, bist du in dieser Hinsicht schwer von Begriff, Tochter.“ Na vielen Dank aber auch. „Nun, dann noch ein letzter Versuch: Sie wurden verurteilt, da Beliar und ich – als Hauptgeschädigte – ihren Tod fordern“, erklärt mir mein Vater ungeduldig.

„Ihr fordert ihren Tod und ich fordere Gnade“, verkünde ich.

„Raven, das wird mich nicht umstimmen und Beliar ebenso wenig. Es wird nur das Unausweichliche weiter verzögern“, stößt mein Vater grimmig aus. Was soll ich sagen, ich bin sein schlimmster Alptraum – und ebenfalls unausweichlich.

Okay Strategiewechsel. „Bitte Vater, hab Erbarmen“, flehe ich förmlich, während ich mein Um-den-Finger-wickel-Gesicht aufsetze, das als Kind meistens funktioniert hat.

Er hat es durchschaut und lächelt amüsiert, daraufhin wird er wieder ernst. „Zieh dein Gnadengesuch zurück, Tochter. Du wirst nichts damit erreichen“, herrscht er mich an. Na toll, das klappt also auch nicht mehr.

Tja, ich sehs mal so, vielleicht erreiche ich einen Tag, den sie länger am Leben bleiben. Ich weiß nicht, obwohl sie mir so viel Kummer und Schmerz zugefügt haben, will ich nicht, dass sie sterben. Das ist falsch.

Nun mach ich wieder das, was Mädchen am besten können – nämlich zicken. Völlig in meinem Element stemme ich trotzig die Hände in die Hüften und stoße ein entrüstend ruhiges „Nein“ aus.

Mein Vater malmt die Zähne aufeinander und befiehlt einem seiner Männer, nach dem er rufen ließ: „Hol Beliar her.“ Als der Kelte weg ist, ergänzt er: „Wir müssen das Gnadengesuch dieses sturen Frauenzimmers diskutieren.“

„Wie der Vater, so die Tochter“, spotte ich lächelnd. Er muss sich sichtlich im Zaum halten, mich nicht übers Knie zu legen und mir den Hintern zu versohlen.

Warte mal, jetzt check ich es erst, Beliar kommt hierher. Toll, klassisches Eigentor, sag ich nur. Hoffentlich hält das Glücksgefühl noch eine Zeitlang an, sonst wird das hier echt hässlich werden.

„Komm mit, Tochter“, fordert mein Vater forsch.

„Wo gehen wir hin?“, frage ich.

„In den Kerker. Du wolltest doch noch vor der Hinrichtung ein paar Fragen an die Gefangenen richten“, informiert er mich.

„Der geplanten Hinrichtung“, korrigiere ich ihn. „Das ist noch keine beschlossene Sache.“

Mein Einwand entzieht ihm ein ärgerliches Knurren. Okay, ich sollte jetzt lieber die Klappe halten – zu meiner eigenen Sicherheit, versteht sich.

Jede Treppenstufe zieht mich noch weiter runter – also besser gesagt meine Gefühlswelt. Meine Brüder steigen hinter mir in das Verlies hinab, aber das trägt nur minimal zu meinem Wohlbefinden bei.

Vor der Zelle zögere ich. Artis bemerkt mein Unbehagen und erklärt: „Dir kann nichts passieren. Das lass ich nicht zu.“ Irgendwie beruhigt mich das kaum, denn ich hab keine Angst um mich. Eher vor den Gefühlen, die das Wiedersehen auslösen wird.

Als die Zellentür aufgeht und ich in Tiberius‘ blutverschmiertes Gesicht sehe, fällt mir die Kinnlade runter. Seine Arme sind unnatürlich verdreht und er hat fast keine Zähne mehr im Mund. Das weiß ich so genau, weil er mich angrinst. Okay, jetzt fällts mir wieder ein, warum ich das Mittelalter hasse.

Mein Vater drückt mich auf einen Stuhl an einem Tisch gegenüber meinem Onkel.

Sein „Hallo, Süße“ reicht schon, um mir einen Schlag ins Gesicht zu verpassen. Ich bin wie gelähmt, Tränen fluten meine Augen und laufen ohne mein Zutun über mein Gesicht.

„Hat es dir die Sprache verschlagen, Mädchen?“, fragt mich Tiberius.

„Ja“, gestehe ich, reiße mich aber sogleich zusammen. „Weißt du etwas über meine Mutter?“, hauche ich mit zugeschnürter Kehle.

„Und wenn es so wäre, wieso sollte ich dir verraten, was ich weiß?“, aus seinem Munde macht dann alle Hoffnungen zunichte, er könnte mir sagen, wer ich wirklich bin. Ich nicke und stehe auf. Hier drin ist es irgendwie gerade unerträglich eng und stickig.

An der Tür hält er mich mit den Worten „Es gab ein Gerücht“ zurück.

Ich wende mich ihm wieder zu, da fährt er fort: „Man munkelte, es war kein Hexer, der deiner Mutter Gewalt angetan hat.“ Was?

„Was sollte er sonst gewesen sein?“, frage ich irritiert.

„DER TEUFEL“, brüllt er lachend. Mein Vater befreit mich aus der Schockstarre und zieht mich aus der Zelle.

„Willst du immer noch, dass ich Gnade walten lasse?“, fragt er mich vor der Tür, aber ich ignoriere ihn. Wie kann er ihn nur so zurichten? Das ist barbarisch.

Gemeinsam betreten wir Nadars Zelle. Er sieht noch übler aus, als Tiberius. Wieder muss mich mein Vater zum Stuhl schieben und mich darauf drücken. Mein Gehirn funktioniert nicht. In meiner Panik fixiere ich Nadar, der lächelt.

„Du bist das Schönste, was ich seit Langem zu Gesicht bekommen habe“, erklärt er. Erneut bahnen sich Tränen einen Weg über meine Wangen.

„Weißt du etwas über meine Mutter?“, stoße ich monoton aus. „Hast du sie vielleicht gesehen, in einer deiner Visionen?“

Er lacht so laut auf, dass ich zusammenzucke. Mein Vater legt mir seine Hand auf die Schulter, damit ich mich beruhige.

„Ja, aber ich nehme es mit ins Grab“, fährt er mich speiend an.

„Bitte sag mir, was du weißt, Nadar“, flehe ich förmlich.

„Wieso sollte ich das tun?“, raunt er mit zusammengekniffenen Augen.

Die Antwort kommt prompt über meine Lippen: „Weil du mich liebst. Du warst immer an meiner Seite – bereits als Kind. Hast mich beschützt. Du warst der Rabe, der mich stets begleitet hat. Der immer da war, wenn ich traurig war.“

Sein Blick ist unergründlich. „Es war der Auftrag meines Vaters, sonst nichts“, stellt er kaltherzig fest.

„Nein, ich habe deine Gefühle gespürt, als du in der Form des Raben warst. Darin war tiefste Zuneigung verwoben“, argumentiere ich.

„Du hast das gespürt, was ich dich spüren hab lassen“, stößt er mürrisch aus. So etwas in der Art habe ich mir bereits gedacht. Das war also auch nur Illusion, so wie seine Gestalt. Einen Versuch war es trotzdem wert.

Ich nicke erschöpft und will bereits aufstehen, da sagt er: „Ich habe eine Vision von dir erhalten.“

„Du sagtest, du siehst mich nicht in deinen Vorahnungen“, hinterfrage ich seine Aussage.

„Das tue ich auch nicht. Diese Vision war anders. Ich glaube, sie ist für dich bestimmt. Als wäre ich nur der Bote“, erklärt er.

„Was hast du gesehen?“, will ich wissen.

„Was hast du im Austausch dafür anzubieten?“, fragt er überlegen lächelnd. Mein Blick sucht den meines Vaters, der keine Anstalten macht, die Begnadigung anzubieten, also gestehe ich: „Nichts. Ich habe gar nichts anzubieten.“

„Ich will einen Kuss. Einen letzten Kuss, Raven“, meint er doch tatsächlich. Meine Brüder haben lautstark die Luft eingezogen.

Junus raunt: „Das ist ein Trick. Er wird sie töten.“

„Willst du es sehen oder nicht?“, fordert mich Nadar heraus. Scheiße, was mach ich denn jetzt?

„Ich will es sehen“, stelle ich fest.

„Nein. Was, wenn er dir ein Trugbild einpflanzt oder dich wieder manipuliert. Er könnte dich vergewaltigen oder Schlimmeres“, protestiert Junus.

Nadars Blick ist nur starr auf mich gerichtet. „Wirst du mir wehtun?“, frage ich ihn.

„Nein“, antwortet er. Ich weiß nicht, ob es an den Glücksgefühlen liegt, mit denen ich vollgepumpt bin, aber ich glaube ihm. Als ich mich erhebe, drückt mich mein Vater sofort zurück auf den Stuhl.

„Nein“, erklärt er forsch.

„Es ist meine Entscheidung, Vater“, wende ich ein.

„Du bist meine Tochter. Er könnte dir den Verstand rauben. Dieses Risiko gehe ich nicht ein“, stellt er fest.

„Aber ich muss es sehen. Sonst erfahre ich nie, wer ich wirklich bin“, argumentiere ich.

„Du weißt, wer du bist“, korrigiert mich mein Vater. Nein, weiß ich nicht, aber seinem Ton zufolge, sind Widerworte zwecklos.

Plötzlich lässt Nadar einen Zauber los, der meine Begleiter mit einer Druckwelle an die Wand befördert. Seine Arme schnellen vor und ziehen mich brutal über den Tisch vor sich.

Dabei legen sich seine langen Ketten, mit denen seine Arme und Beine fixiert sind, aus Zauberhand über meinen Körper und pressen mich an ihn. Das ging alles so schnell, dass ich den spitzen Gegenstand, den er mir an die Kehle drückt, erst jetzt wahrnehme.

„Hmmmm, du riechst gut“, schwärmt Nadar und versenkt seinen Kopf in meinen Locken. Mein Vater hat die Augen vor Zorn aufgerissen. Junus und Artis sind in Kampfposition, was Nadars Griff um meinen Körper noch verstärkt.

„Du tust mir weh“, keuche ich unter Schmerzen, weil er mir das scharfkantige Teil, was immer das auch sein mag, tiefer in den Hals drückt.

Die rosa Wolke schirmt mich zwar weitgehend vor den Todesängsten ab, aber ich spüre dennoch ein tiefes Unbehagen in mir.

„Lass meine Tochter los“, fordert mein Vater mit ruhiger Stimme. Das kommt so autoritär rüber, dass ich erneut stöhne.

„Ich werde sie töten, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn du mich nicht vorbeilässt, Onkel“, droht Nadar meinem Vater.

„Ganz ruhig, Raven“, versucht mir Artis Mut zu machen.

„Okay“, hauche ich.

Aus dem Weg“, herrscht sie Nadar an. Als sie nicht gleich reagieren, greift er nach meiner Hand und drückt zu. Ein Knacken gefolgt von unsagbarem Schmerz lässt mich schreien. Meine Knie geben sogleich nach. Ich atme stoßartig, um nicht zusammenzuklappen.

Als das Pfeifen in meinen Ohren nachlässt, wird mir bewusst, dass er mir gerade das Handgelenk gebrochen hat.

Meinen Brüdern steht der Schock darüber ins Gesicht geschrieben. „Wenn ihr weiterhin zögert, breche ich ihr nacheinander jeden Knochen in ihrem wunderschönen Körper“, verlautbart Nadar. Ich atme wieder schneller, damit ich nicht ohnmächtig werde. Verdammt, er macht ernst – bewegt euch endlich, anstatt mich anzuglotzen.

„Wir ziehen uns zurück“, befiehlt mein Vater und verlässt mit meinen Brüdern den Raum, ohne mich dabei für eine Sekunde aus den Augen zu lassen. In dem Moment bricht er mir das andere Handgelenk und mein Brüllen hallt durch das gesamte Verlies. Erneut stellen meine Beine die Arbeit ein.

Nadar presst mich fester an sich und küsst meine Wange. „Schhhh, meine Schönheit. Ich halte dich“, haucht er mir ins Ohr.

„Dafür wirst du durch meine Hand fallen“, stößt mein Vater zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er zittert sogar vor rasender Wut.

„Das war nur als kleine Demonstration gedacht, damit ihr nicht auf dumme Gedanken kommt“, verlautbart Nadar. Ich bin gerade nur noch am Krepieren, verliere immer wieder die Orientierung.

Der Schmerz lässt nicht nach, ich kann kaum einen Fuß vor den anderen setzen, als sich der Seher mit mir in Bewegung setzt.

„War das die Rache dafür, dass ich dich meinem Vater ausgeliefert habe?“, hauche ich.

„Mir gelüstet es nicht nach Rache, Raven“, flüstert er und küsst erneut meine Wange.

Junus knurrt verächtlich. Die Körpersprache meiner Brüder, die rückwärts durch die Gänge vor uns schreiten, ist mehr als angespannt.

„Gibt es die Vision von mir wirklich oder wolltest du mich damit nur heranlocken, um mich als Geisel zu benutzen?“, frage ich flüsternd, während wir die Treppen emporsteigen.

„Die Vision gibt es wirklich“, antwortet er.

„Erzähl mir davon“, fordere ich atemlos.

Wir treten durch die große Halle hinaus auf den Innenhof. Thomas und die Männer, die sich immer noch ihrem Schwertkampf widmen, stoppen abrupt und ziehen scharf die Luft ein.

Die Hofdamen haben zu kreischen begonnen und flüchten sich hinter ihre Beschützer. Das ringt mir ein Lächeln ab, das ich zu spät unterdrücken kann.

„Küss mich, dann bekommst du sie von mir“, fordert Nadar. Sein blutverschmierter Mund taucht vor meinem inneren Auge auf und lässt meinen Körper verkrampfen.

„LASST LADY RAVEN UNVERZÜGLICH FREI“, brüllt Thomas mit erhobenem Schwert. Ich rolle gedanklich mit den Augen. Mann, steck den Mini-Highlander wieder ein. Nadar kommentiert es mit einem hinterlistigen Lachen, das mir die Gänsehaut aufzieht.

Wir haben schon die Mitte des Platzes erreicht, da tritt Thomas mit stolz geschwellter Brust zwischen meine Brüder und verkündet: „An mir kommt Ihr nicht vorbei.“

Sogleich drückt Nadar meinen Brustkorb mit den Ketten, die mich wie in einem Schraubstock umschließen, zu. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib, während ich versuche, bei Bewusstsein zu bleiben und hoffe, meine Rippen halten das aus.

Mein Vater brüllt: „AUS DEM WEG, THOMAS. KEINE HELDENTATEN. DAS WAR EIN BEFEHL.“

Als ich die Augen öffne, stürmt ein Reiter durch das Burgtor – Beliar. Unsere Blicke treffen sich. Mein Herz ist kurz stehengeblieben, weil es eine Welle der Emotion aus der Watte schafft.

„Sieh mal einer an. Der weiße Ritter. Bereit für die nächste Heldentat, um seine geliebte Hure zu retten“, spottet Nadar hinter mir und drückt mir den spitzen Gegenstand tiefer in die Haut, sodass ich Blut spüre, das in einem Rinnsal über meine Haut läuft. In meinen Augen flackern bereits schwarze Punkte auf.

„Ich machs“, flüstere ich gequält, während ich meinen Kopf zu ihm drehe. „Aber beeil dich, ich kipp gleich weg“, krächze ich.

Nadar stößt einen genussvollen Laut aus, zeichnet eine Rune, die die Zeit einzufrieren scheint, denn die Taube, die sich gerade an der Burgmauer in die Luft erhoben hat, wird deutlich langsamer.

Meine kurze Ablenkung nutzt er, krallt sich in meinen Nacken und presst seine Lippen auf die meinen. Eigentlich wollte ich vorher mein Amulett ablegen, aber das ging alles so schnell. Seine Zunge zwängt meine Lippen auf, was mir die Übelkeit aufsteigen lässt. Als ich Blut schmecke, wehre ich mich dagegen, aber er bedient sich an meinen Lippen, als wären sie ein Anker, an den er sich klammert.

Seine kehligen Laute scheinen aus der Ferne zu kommen. Da ich kaum zu Atem komme, knicken meine Knie bereits weg. Nadar presst mich fester an sich, um sich weiter zu nehmen, was er will.

Nur bruchstückhaft bekomme ich mit, dass er sich von mir löst und die Zeit wieder normal abläuft.

Irgendwie hat es Beliar geschafft, zu uns zu gelangen, der nun nahe vor mir steht. Bevor Nadar reagieren kann, packt ihn Beliar am Kopf und bricht ihm das Genick. Seine Arme um meinen Körper inklusive der Ketten erschlaffen blitzschnell.

Mit einem Laut, als würde ein schwerer Sack auf die Erde auftreffen, ist meine Geiselnahme beendet.

Wenn das wahr ist, wieso fühl ich mich dann verängstigter als vorher? Mein Atem geht stoßweise. Beliars Lippen bewegen sich, aber ich verstehe ihn nicht, als würde ich in einer Käseglocke stecken, die jeden Laut abschirmt.

Ich vermag es nicht, mich zu bewegen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. Beliars Hemd ist oben etwas aufgesprungen und entblößt frische Kratzer – wahrscheinlich von einer der Frauen, von der er gerade kommt.

Er bemerkt meinen Blick und zieht sich sein Hemd zu. Die Situation ist grad so grotesk, dass ich aus einem Impuls heraus zu lächeln beginne. Das Pfeifen in meinen Ohren lässt sogleich nach.

„Sie steht unter Schock. Berührt sie bloß nicht, sonst könnte sie einen Nervenzusammenbruch erleiden“, rät ihm Junus, der hinter mir steht. Aus meinem Grinsen wird ein herzhaftes Lachen.

„Raven, komm zu dir“, verlangt Beliar.

Ich hebe die Hand an seine Brust. Noch in der Bewegung erkenne ich, dass sie leblos herabhängt. Die Panik darüber geht in einem Meer von rosa Wölkchen unter, das mich wieder umgibt. Ich spür auch gar keine Schmerzen mehr.

„Lasst Ihr Zeit“, beschwört Junus den Hexer vor mir, der mich intensiv mustert, als wäre er jederzeit bereit, meine nahende Ohnmacht abzufangen, aber den Gefallen tu ich ihm nicht.

Ich trete an ihn heran und flüstere ihm ins Ohr: „Du riechst nach ihrem Parfum.“ Dabei streifen meine Lippen seine Wange. Ich lächle, drehe mich um und stolziere davon.

Meinem Vater und meinen Brüdern steht der Mund offen. Thomas sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen. Die Hofdamen erwachen sensationslustig aus ihren gespielten Ohnmachten und schreien beim Anblick meiner Handgelenke gleich wieder munter weiter. Das entzieht mir das nächste herzhafte Lachen. Ich winke ihnen sogar zu – okay, das war abartig, sogar für meine Verhältnisse. Ein paar von ihnen schmeißen sich erneut in die Arme der Männer. Der Rest schreit sich die Seele aus dem Leib.

„Du bist ein Alien“, wirft mir Junus vor, der gerade dabei ist, meine Brüche zu heilen. „Nicht mal mit der Wimper hast du gezuckt, als Beliar ihn getötet hat und dann stapfst du lachend an uns vorbei, als würdest du einen Spaziergang im Hof unternehmen.“

„Sie ist eine wahre Owen. Erträgt den Schmerz wie ein Krieger. Sie ist nicht so eine verweichlichte Hofdame, die sich in die erstbeste Ohnmacht flüchtet“, verteidigt mich mein Vater stolz. Beliar steht in einigen Metern Entfernung am Fenster und scheint in Gedanken versunken zu sein.

Junus hält mir wieder die Hand an die Stirn. „Das Fieber ist angestiegen. Ich verstehe das nicht, du müsstest schon längst bewusstlos werden, bei der Körpertemperatur.“

„Wieder ein Zeichen ihrer Stärke. Selbst ohne Zauberkräfte hält sie extremsten Körperbelastungen stand“, schwärmt mein Vater. Naja, schön wärs.

„Und du fühlst dich tatsächlich wohl?“, hakt Junus ungläubig nach. Meine Augen wandern erneut zu Beliar, der mich keines Blickes würdigt.

„Mir geht’s bestens“, erkläre ich vergnügt.

Junus‘ Zornesfalte tritt hervor. „Als du das das letzte Mal gesagt hast, hab ich dich mehr tot als lebendig aus der Dusche gezogen, weil du dich umbringen wolltest.“ Moment mal. Das ist ja die Übertreibung des Jahrhunderts. Nun habe ich Beliars Aufmerksamkeit – und nicht nur seine.

Wie war das?“, hinterfragt mein Vater Junus‘ Worte. Sieht so aus, als wär ich doch nicht jeder Körperbelastung gewachsen.

„Ich wollte mich nicht umbringen“, rede ich mich raus.

„Du weißt schon, was passiert, wenn die Körpertemperatur unter einen gewissen Bereich sinkt. Ich frage mich, wie lange du das Eiswasser noch über dich laufen lassen hättest, hätte ich dich nicht rausgezogen. Ein paar Minuten länger und du wärst ohnmächtig geworden. Nicht auszudenken, was hätte passieren können, hätte ich dich nicht gefunden“, stichelt mein Bruder weiter. Ich will jetzt nicht darüber nachdenken, also ignoriere ich seine Worte.

„Raven.“ Artis ist an meine Seite gekommen und mustert mich mit sorgenvoller Miene.

Jetzt wendet sich Junus Beliar und meinem Vater zu. „Ich mache mir Sorgen. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr. Sie benimmt sich eigenartig. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie steht unter einem Zauber.“

„Würdest du aufhören, so zu tun, als wär ich nicht anwesend“, tadle ich ihn halbherzig. Meine gute Laune kann so schnell nichts trüben.

Mein Vater hebt die Hand und lässt sie in der Luft über meinen Körper gleiten. Daraufhin erklärt er: „Ich kann keinen Zauber feststellen. Beliar, es würde die Sorgen eines Vaters erheblich lindern, wenn du dies auch bestätigen würdest.“

Sogleich tritt er näher. Interessiert beobachte ich ihn dabei, wie er dasselbe wie mein Vater mit mir abzieht.

Resümierend stellt er fest. „Ich spüre ebenso nichts.“ Die Antwort lässt mein Herz zusammenkrampfen. Sind wir also schon so weit, dass er nichts mehr spürt, wenn er mich ansieht. Ich weiß, wie er die Worte gemeint hat, aber es tut trotzdem weh, dass er sie so unüberlegt ausstößt. Vielleicht war das ja auch Absicht, um mir eins reinzuwürgen.

„Nun gut“, stellt mein Vater abschließend fest. „Dann widmen wir uns dem Grund, warum ich dich herbeordern ließ, Beliar.“

„Wartet, was ist mit Raven? Die Sache ist noch nicht vom Tisch. Mir gefällt das nicht“, versucht es Junus erneut und erntet einen bösartigen Blick meines Vaters, der Marke „Wenn-Blicke-töten-könnten“.

„Was hab ich dir vorhin gesagt, Vater? Es ging um Liebe. Also, nur zu deiner Erinnerung“, weise ich ihn zurecht.

„Entweder ihr verhaltet euch jetzt ruhig oder ich werfe euch hinaus“, droht uns mein Vater. Daraufhin klärt er Beliar auf: „Es gibt ein Gnadengesuch, das wir zu besprechen haben. Zumindest für Tiberius. Die Hinrichtung von Nadar hat sich ja somit erledigt.“ Wie kann er nur das Wort „erledigt“ in den Mund nehmen? Hat der Mann denn keine Gefühle?

Beliars Augenbrauen schnellen hoch. „Welch Narr winselt um Gnade für einen Verbrecher wie Tiberius oder Nadar.“

Lächelnd wende ich winkend ein: „Der Narr war ich.“

Damit hätte er wohl nicht gerechnet, denn er sieht meinen Vater ungläubig an, der nur mit den Schultern zuckt und ihn informiert: „Ich habe es abgelehnt.“

„Dafür hast du mich herholen lassen – für dieses Gesuch, das an Absurdität nicht zu überbieten ist“, herrscht er mich an.

„Oooooooohhh“, stoße ich überspielt theatralisch aus. „Das tut mir aber leid, dass ich dich davon abhalte, dich durch das halbe Mittelalter zu vögeln.“ Meinen Brüdern ist soeben jegliche Farbe aus dem Gesicht gewichen. Die Erkenntnis, dass ich ihr Gespräch mitbekommen habe, bereitet ihnen ziemlich großes Unbehagen.

Raven“, zischt mein Vater.

Beliars Fäuste ballen sich so fest, dass man sogar so ein Knatschen hört und die Knöchel weiß hervortreten. Er ist sichtlich im Zwiespalt, mich anzuschnauzen oder lieber doch gleich zu verkloppen.

Lächelnd wende ich mich von ihm ab und trete zur Tür.

„Wo willst du hin, Tochter? Wir sind hier noch nicht fertig“, ermahnt mich mein Vater.

„Spazieren. Auf dieser Burg gibt es ja eine erstaunlich hohe Dichte an hübschen Kerlen. Weißt du, ich weiß bis heute nicht, was der Ausdruck ‚Jemandem den Hof machen‘ tatsächlich bedeutet. Vielleicht erklärts mir ja einer von ihnen und stopft meine klaffende Wissenslücke. Vielleicht vögeln wir auch eine Runde. Wer weiß, was der Tag noch so bringt?“ Ups. Hab ich das gerade laut gesagt?

Artis“, zischt mein Vater. „Du hast die Erlaubnis, deine Schwester, unter Zuhilfenahme gewisser fördernder Mittel, auf ihr Zimmer zu geleiten, um ihre klaffende Wissenslücke zu füllen, wie sich eine Lady bei Hofe zu benehmen hat.“

Ich lache laut auf. „Da wird vorher aus Artis ein Hetero, bevor aus mir eine Lady wird.“ Der ärgerliche Blick meines Bruders schlägt mich in die Flucht. Kichernd stürme ich aus der Burg.

Ein fuchsteufelswildes „RAVEN“ aus dem Munde meines Vaters hallt mir hinterher, doch da hab ich bereits einem jungen Mann – schätze es ist der Stallbursche – der gerade ein Pferd über den Innenhof führt, die Zügel entrissen, bin aufgesessen und jage die Zugbrücke entlang. Artis nimmt sicher die Verfolgung auf, daher wähle ich einen anderen Weg in die Stadt.


Wer braucht schon Zauberkerle?

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