Читать книгу Perfekte Trugbilder - Marie Lu Pera - Страница 3
Verrat trägt viele Gesichter
Оглавление„Nebukadneza?“ Mein Blick schwenkt zum Ursprung der Stimme. Der Hauptmann, ein Riese von einem Mann, schreitet auf mich zu. Zahlreiche Narben zieren seine Arme und seinen blank rasierten Schädel.
Einige Sekunden scheint es so, als verliere er sich in meinen Zügen. Das passiert ständig. Man sagte mir, es sei die Symmetrie meines Gesichtes, die einen kurzen Bann auslöst.
Es ist mir unangenehm und wenn ich es könnte, würde ich einen anderen Körper wählen.
„Hauptmann“, grüße ich ihn. Meine Worte holen ihn aus seiner Trance.
„Die neuen Rekruten sind eingetroffen“, erklärt er. Dabei lässt er seinen Blick über meinen Körper schweifen. Beginnend beim Ansatz meines schwarzen Haares, über meinen, an meiner Schulter herabhängenden, Zopf, der mir bis zur Hüfte reicht, zu meiner Brust, zwischen dessen Rundungen sich eine schwarze Kette windet, bis hin zu meinem schwarzen, enganliegenden Kleid. Obwohl er sehr diskret vorgeht, habe ich es dennoch bemerkt.
Ich bin perfekt – das sagen sie zumindest. Perfekte Maße, perfekte Proportionen, perfekte Symmetrie. Für mich ist es eine Hülle – nichts weiter.
Wie es in mir aussieht, vermag niemand zu erkennen. Sie sagen, ich bin privilegiert – gesegnet mit diesem engelsgleichen Gesicht, dem Körper, der jeden Mann um den Verstand bringt und dieser Gabe, Dinge bei Berührung zu sehen. Für mich ist es ein Fluch, der mich zu dem macht, was ich bin. Eine leere Hülle.
Ich bin eine der vier „Auserwählten“, die in der Akademie für den Harem des Königs ausgebildet werden. Kein anderer Mann darf mich berühren. Wir absolvieren gemeinsam spezielle Zusatzunterrichtseinheiten, die uns auf ein Leben im Dienste des Königs vorbereiten sollen.
Wenn mich jemand fragen würde, ob ich diese Zukunft für mich gewählt hätte, würde ich es verneinen. Der König hat hundert Frauen, die in seinem Harem leben. Ich bin ihm nie begegnet, aber er soll alt sein. Mein Körper ist mein eigenes kleines Gefängnis. Meine Hülle nimmt mir die Freiheit, selbst über meine Zukunft zu bestimmen.
„Habt Ihr die Neuigkeiten bereits vernommen?“, will der Hauptmann wissen.
„Ja“, antworte ich.
Es gibt zwei Akademien. Eine für weibliche und eine Militärakademie für männliche Rekruten. Man hat entschieden, sie zusammenzulegen. Auslöser war eine Reihe mysteriöser Angriffe auf die Einrichtung der weiblichen Rekruten.
Dabei wurde eine der Frauen auf brutale Art und Weise angegriffen. Genaugenommen handelt es sich bei der Rekrutin um eine Auserwählte.
„Ihr müsst erleichtert sein“, mutmaßt er. Ich weiß es nicht. Bis jetzt muss ich nur die Blicke der Frauen ertragen. Neid und Hass sind darin gleichermaßen verwoben und die wenigen, die zu den Auserwählten gehören, betrachten einander als absolute Konkurrenz.
Die „Nicht-Auserwählten“ wissen gar nicht, welches Glück sie haben, selbst über ihren Körper und ihre Zukunft bestimmen zu können. Ich würde jederzeit mit einer von ihnen tauschen, hätte ich die Möglichkeit.
Wenn nun die männlichen Rekruten mit uns zusammen studieren, wird es nicht gerade einfacher werden. Natürlich bin ich froh, dass wir unter ihrem Schutz stehen, also nicke ich und bestätige somit die Mutmaßung des Hauptmanns.
„Ich habe entschieden, dass jeder Auserwählten ein eigener Rekrut als Personenschutz zugeteilt wird“, verlautbart er. Das hat mir gerade noch gefehlt. Ein weiterer Starrer, der mich auf Schritt und Tritt verfolgt.
Der Hauptmann tritt näher an mich heran, als wolle er mir etwas sagen, das nur für meine Ohren bestimmt ist. „Ich lasse nicht zu, dass so etwas noch einmal passiert.“ Damit meint er Louisa, die Auserwählte, die angegriffen wurde.
Das soll mir anscheinend die Angst nehmen, aber ich bin mir nicht sicher, was ich fühlen soll. Seit geraumer Zeit herrscht in mir ein stetes Chaos. Es ist dieser Zwiespalt. Einerseits komme ich mir undankbar vor, weil ich, im Gegensatz zu vielen anderen Frauen, ein sehr gutes Leben führe. Die Armut in den Randbezirken ist allgegenwärtig. Auch, wenn sie die Informationen darüber vertuschen, weiß ich, dass es der Wahrheit entspricht. Andererseits hätte ich dieses Leben nie für mich gewählt.
Ich glaube, ich würde es vorziehen, frei und arm, anstatt in diesem goldenen Käfig gefangen zu sein. Obwohl ich nicht genau weiß, was es bedeutet, hungrig zu sein oder kein Dach über dem Kopf zu haben. Beide Leben machen mir irgendwie Angst.
Ich habe mein ganzes Leben noch vor mir. Wieso beschleicht mich aber dennoch das Gefühl, bereits alles hinter mir zu haben?
Meine Zukunft ist gesichert – das sagen sie mir andauernd. Wenn ich die Akademie abgeschlossen habe, stehe ich dem König zur Verfügung. Ich muss mich um nichts sorgen. Er entscheidet, wann und wie ich ihm dienen soll. Manchmal sprechen einige der Auserwählten darüber. Sie schwärmen von diesem Leben im Palast.
Ich kann ihre Euphorie nicht teilen. Wer will schon sein gesamtes Leben vorherbestimmt wissen? Ohne Überraschungen, ohne Perspektiven, ohne freien Willen. Ich will niemandem vollkommen ausgeliefert sein – schon gar nicht einem König, der mich als sein persönliches Eigentum betrachtet.
„Nebukadneza?“, tastet der Hauptmann an. Ich war wohl kurz in Gedanken versunken. „Ist alles in Ordnung?“
Nein. „Ja.“
„Es ist Zeit.“ Der Hauptmann weist mir mit einer galanten Geste den Weg zu den Trainingshallen der Militärakademie. Wäre ich nicht auserwählt, würde er mir seinen Arm darbieten und mich dorthin geleiten, aber er darf mich nicht berühren. Dies ist ausschließlich dem König vorbehalten.
In der weitläufigen Halle betreten wir eine Warte, von der aus man den gesamten Innenbereich überblickt. Geschätzte hundert Rekruten stehen in Reih und Glied.
Ich lasse meinen Blick über die Menge schweifen. Der Verschlag, der die Warte vor fremden Blicken abschottet, verhüllt unsere Gestalten. Sie vermögen nur zu erahnen, dass sie bereits beobachtet werden.
Ich schlage die Kapuze meines Umhangs über mein Haupt und verstecke mein Haar darunter. Mit einem schwarzen Spitzentuch verhülle ich mein Gesicht.
Die Rekruten bekommen kaum Frauen zu Gesicht – diese Verkleidung verhindert, dass ich zu viel Aufsehen errege. Als ob das etwas nützen würde. Außerdem wird sich das ja schon bald ändern, wenn wir uns von nun an die Hörsäle teilen.
Viele von ihnen kommen aus aller Herren Länder des Mauretanischen Reiches. Es ist Pflicht, dass jeder Rekrut für die fünfjährige Ausbildungszeit ausschließlich in der Akademie lebt.
Die Aufnahmetests sind hart. Nur die besten Krieger, die den körperlichen und geistigen Anforderungen gerecht werden, schaffen es in die Ausbildung. Die besten Absolventen werden alle ausnahmslos in die königliche Garde aufgenommen.
„Seid Ihr bereit?“, fragt mich der Hauptmann. Ich nicke bestätigend.
Eine Treppe führt zur untersten Ebene. Jemand brüllt: „STILLGESTANDEN!“, worauf die jungen Männer Haltung annehmen.
Der Hauptmann streckt die Brust raus und schreitet neben mir die Stufen hinab.
Die Soldaten haben ihren starren Blick auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet.
„RÜHRT EUCH“, befiehlt der Hauptmann und ihre Körperhaltung wird schlagartig lockerer.
Nach ein paar kritischen Blicken erklärt er den Rekruten: „Wir kommen nun zum letzten Test, bevor die Aufnahme in die Akademie erfolgt. Eine medizinische Musterung.“ Das ist eine Lüge. Die Rekruten sollen nicht wissen, was wir tatsächlich prüfen wollen – und es ist nicht ihre Gesundheit.
Durch meine Berührung kann ich alles sehen, was ich sehen will. Wenn ich zum Beispiel das schlimmste Erlebnis einer Person erfahren will, so denke ich daran und die dunkelste Stunde desjenigen, den ich berühre, tut sich vor meinem geistigen Auge auf. Ich sehe es so deutlich, wie ich die Männer nun vor mir sehe. Dieser Test soll die Verräter unter ihnen entlarven, also denke ich an Verrat und Mord, wenn ich sie berühre.
Die Feinde des Königs haben sich in der Vergangenheit unter die Akademierekruten gemischt und Anschläge ausgeführt. Seitdem gibt es Kontrollen. Meine „Gabe“ ist dafür prädestiniert – wie sie sagen.
„Rekruten!“, ruft der Hauptmann lautstark. „Los, Hemden ausziehen.“
Blitzschnell reißen sie sich synchron den Stoff über ihre Köpfe. Das macht sie nun zu hunderten, halbnackten Soldaten, die ihre muskelbepackten Körper anspannen.
Ich muss zugeben, das macht mich jedes Mal etwas nervös. Gut, dass sie die Röte meiner Wangen nicht sehen können, die unter dem Tuch verborgen liegt.
Der Hauptmann fährt fort: „Niemand bewegt sich oder spricht unaufgefordert. Das ist ein Befehl. IST DAS KLAR?“, brüllt er so laut, dass mein Herz kurz stolpert. Ich schätze, das war mehr als deutlich.
„JA, HAUPTMANN“, stoßen sie gleichzeitig aus.
Jetzt schwenkt der Blick des Befehlshabers zu mir. „Sie gehören Euch.“ Das ist mein Stichwort, also trete ich an den ersten Rekruten in der vordersten Reihe heran.
Er ist sehr groß, mit beeindruckenden Muskeln. Sein Haar ist millimeterkurz geschoren.
„Wie ist dein Name, Rekrut?“, frage ich ihn.
Mit starrem, über mich hinweg gerichteten, Blick antwortet er: „Arac.“
„Arac, bitte sieh mich an“, fordere ich. Sein Blick sucht den meinen und trifft auf meine, durch das Spitzentuch nahezu verborgenen, Augen.
Das, was er erkennen kann, reicht ihm schon, um fasziniert zu sein. Er versteift sich etwas, als ich mit beiden Händen seinen Nacken berühre. Dabei konzentriere ich mich auf die Emotion, die ein Verrat oder Mord in ihm auslösen würde.
Ich bahne mir einen Weg über seine Schultern, ohne ihn dabei aus den Augen zu lassen. Die Wärme seines Körpers löst in mir eine Sehnsucht aus, berührt zu werden. Das passiert immer, wenn ich den Test mit ihnen durchführe. Ich streiche über seine starken Arme und verschränke seine Finger mit meinen.
Bis jetzt sehe ich nur harmlose Kinderstreiche, bei denen er seine Freunde verraten hat. Nun löse ich meine Finger aus den seinen und streiche mit beiden Händen über seinen trainierten Bauch. Er atmet schwer und hat sichtlich Mühe, stillzuhalten.
Meine Hände wandern weiter nach oben und kommen auf seiner Brust zu liegen. Hier ist die Energie am stärksten, aber ich kann nichts erkennen, was ihn als Verräter entlarven würde. Wenig später lasse ich von ihm ab und trete zurück.
Obwohl ich mich dazu zwinge, es nicht zu tun, wandert mein Blick automatisch nach unten. Er ist erregt. Es fasziniert mich, was die Berührung einer Frau in einem männlichen Körper auslösen kann. Mein Körper reagiert auch auf ihn, aber bei mir ist es weniger offensichtlich.
Im nächsten Moment nehme ich Haltung an und gehe weiter. Ich darf diese Gedanken nicht zulassen. Zumindest nicht für diesen Mann.
Der nächste Rekrut ist strohblond und etwas kleiner. Die Prozedur beginnt von Neuem. Taktan – so heißt er – ist distanziert. Seine Haut fühlt sich kalt an und mir ziehen Schauer über den Rücken. Aber auch er ist frei von Verrat.
Einen nach dem anderen unterziehe ich der Prüfung.
In der Mitte der Reihe stoße ich auf einen Arkadier. Sie stammen aus den Randregionen des Mauretanischen Reiches. Man erkennt sie an einem, in die Haut gestochenen, Zeichen in Form eines kompliziert verschlungenen Symbols, das auf ihrer rechten Brust prangt. Sie gelten als besonders tödliche Krieger. Dementsprechend beeindruckend ist der Körper des Rekruten, der vor Kraft strotzt. Seine Brust zieren zahlreiche Narben. Er hat schwarzes, langes Haar, das ihm bis zur Hüfte reicht und von einem Lederband zurückgehalten wird. Etwas in seinem Gesicht lässt mich ihn länger betrachten, als ich es bei den anderen Soldaten getan habe. Er ist sehr attraktiv – eine Zierde seiner Rasse.
„Wie ist dein Name, Rekrut?“, frage ich ihn.
„Aurelion.“ Seine Stimme ist tief und lässt angenehme Schauer über meine Haut ziehen.
„Aurelion, bitte sieh mich an“, fordere ich. Sein intensiver Blick trifft mich schlagartig. Solch dunkelblaue Augen habe ich noch nie gesehen. Mein Herz scheint verrückt zu spielen.
Es ist so, als würden meine Finger Stromschläge von ihm erhalten, als sie auf seine nackte Haut treffen. Seine Brust hebt und senkt sich in steten Atemzügen.
Der Moment ist so intim, dass sich meine Atemfrequenz automatisch erhöht. Sein männlicher Duft strömt mir in die Nase. Kurz erwische ich mich dabei, mir vorzustellen, wie sich die Berührungen seiner Hände auf meiner nackten Haut anfühlen.
Ich muss mich dazu zwingen, mich auf meine Aufgabe zu konzentrieren, denn mein Schoß pocht und ich spüre eine verräterische Feuchtigkeit zwischen meinen Beinen. Außerdem scheint sich mein Mieder enger um meinen Torso zusammengezogen zu haben.
Seine Brust ist stahlhart und da ich keine Vision erhalte, verweile ich etwas länger an der Stelle als sonst. Ich sehe absolut nichts. Er ist frei von Verrat. Das ist selten. Er scheint ein Mann von Ehre zu sein.
Etwas wehmütig löse ich mich von ihm. Natürlich bin ich neugierig, ob ich bei ihm auch eine solch prickelnde Regung ausgelöst habe, wie er bei mir.
Dementsprechend verstimmt bin ich über die Erkenntnis, wie unbeeindruckt er von meinen Berührungen zu sein scheint. Da ist nichts, nicht einmal eine kleine Erhebung. Sein Blick ist ebenso gleichgültig, wie seine Körpersprache. Innerlich lächle ich. Auch das ist selten.
Schnell gehe ich weiter und treffe auf einen ungewöhnlich aussehenden Soldaten, ein weißhaariger Albino, der mich nach meiner Aufforderung zwar ansieht, aber seinen Blick immer wieder abwendet.
„Wieso weichst du meinem Blick aus, Thomak?“, will ich wissen, nachdem ich in meinen Berührungen innehalte. Wer meinen Augen ausweicht, hat meist etwas zu verbergen.
Die Frage ist ihm sichtlich unangenehm, denn er läuft rot an, schweigt aber.
„Beantworte die Frage, Rekrut“, brüllt der Hauptmann von Weitem.
Jetzt reißt er die Augen auf und stammelt: „So viel Schönheit ist kaum zu ertragen.“ Die Antwort ist forsch. Dennoch muss ich lächeln und trete zurück, denn auch er ist kein feindlicher Spion.
Nun bin ich beim letzten Rekruten dieser Reihe angelangt. Ein Loraner, das sind bleiche Krieger aus dem nördlichsten Winkel des Reiches. Zunthlak, so stellt er sich vor, fixiert mich mit strengem Blick.
Schon als ich ihn am Nacken berühre, prasseln die ersten Bilder eines Gesprächs mit einem vermummten Mann auf mich ein. Bedauerlicherweise sehe ich in meinen Visionen nur stumme Bilder, aber das ist in diesem Fall nicht vonnöten. Die Szene ist auch so eindeutig. Er arbeitet für das gegnerische Reich. Ich erkenne das Keltische Wappen auf dem Brustharnisch seines Gegenübers.
Er ist ohne Zweifel ein Verräter. Jetzt ist es wichtig, die Erkenntnis darüber, so gut wie möglich zu verbergen.
Mit pochendem Herzen streiche ich über seine raue, kalte Brust und trete zurück.
Der Hauptmann und ich haben eine stille Vereinbarung. Sollte ich einen Verräter unter ihnen entlarven, bitte ich ihn um eine Pause, was ich in dem Moment auch tue.
„Hauptmann, der Rekrut ist der letzte Mann in dieser Reihe, darf ich Euch um eine Pause bitten?“
Der Hauptmann nickt leicht und kommt auf mich zu.
Gerade als ich ihm entgegengehen will, tritt der Verräter aus der Reihe und zieht mich grob an sich. Mir bleibt fast das Herz stehen.
Ein kollektives Lufteinziehen geht durch die Reihen. Der Loraner hat mir gerade das Tuch vom Haupt gerissen und ein Messer gezogen, das er mir, mich von hinten umklammernd, an den Hals drückt.
Das ging alles so schnell, ich bin wie erstarrt. Seine Berührung ist mir unangenehm. Er presst mich an sich und zerrt mich rückwärts vor sich her, als wäre ich sein lebendiges Schild.
Der Hauptmann und die Ausbildner haben synchron ihre Waffen gezogen und befehlen den Rekruten, sich nicht zu rühren.
Die Stimme des Hauptmanns reißt mich aus meiner Trance. „Nebukadneza, seht mich an. Er wird Euch nichts tun. So dumm ist er nicht.“
Im nächsten Augenblick spricht der Hauptmann zu dem Verräter. „Sie ist eine der Auserwählten und gehört dem König. Niemand darf sie berühren. Was glaubst du, was er mit dir machen wird, wenn er erfährt, dass du ihr ein Messer an die Kehle hältst. Seine Garde findet dich überall. Lass sie los oder du bist des Todes.“
Der Atem meines Peinigers geht stoßweise. Wir haben die Türe, die aus der Halle führt, beinahe erreicht, da brüllt er: „Sie wird ein Geschenk an den wahren König. Er wird ihr zeigen, was ein Kelte mit einer Mauretanischen Hure macht. Es lebe König Sacharius.“ Seine Worte machen mir unsagbare Angst.
Plötzlich ertönt ein Knacken hinter mir, das mir durch Mark und Bein geht. Im nächsten Augenblick bin ich frei.
Panisch drehe ich mich um und erkenne den Arkadier, der den leblosen Körper des Loraners am Kopf festhält. Er hat ihm das Genick gebrochen. Als er ihn loslässt, fällt sein Leib wie ein nasser Sack zu Boden. Aurelion sieht fast belustigt aus, als er mich anstarrt. Labt er sich etwa gerade an meiner Angst? Mein Atem ertönt unnatürlich laut in meinen Ohren.
Bei vielen Morden war ich bisher Zeuge, doch nur in meinen Visionen – nie war ich selbst dabei. Diesmal ist es real. Dementsprechend zittern meine Beine auch bei der Erkenntnis, wie knapp ich einer Entführung ins gegnerische Reich entkommen bin.
Ich habe keine Zeit, die kurze Geiselnahme zu verarbeiten, denn der Hauptmann ist bereits an meiner Seite und tritt vor mich, damit mir der Blick auf den Leichnam, den ich panisch fixiert habe, verwehrt wird.
„Nebukadneza, seid Ihr verletzt?“ Meine Hand überprüft die Stelle an meinem Hals, an der sich bis vor Kurzem das Messer befand.
„Nein.“ Ich schüttle den Kopf, da nur wenig Blut an meiner Hand zu erkennen ist, doch das reicht dem Hauptmann nicht.
Er kommt auf mich zu und betrachtet die Verletzung aus nächster Nähe. „Nur ein Kratzer“, stößt er vollkommen erleichtert aus. Dabei sorgt er sich nicht um mich, er sieht nur das Eigentum des Königs, das keinen Schaden genommen hat. Die Hure, die ihm zu Diensten sein wird.
„Ich bringe Euch zu einem Arzt“, informiert er mich, doch ich winke ab.
„Nein. Lasst uns weitermachen.“ Ich bin verärgert, da er nur an meiner Hülle interessiert ist und will ihm aus dem Weg gehen. Ganz sicher wird er mich zum Arzt eskortieren und ich weiß nicht, ob ich meine Wut vollständig verbergen kann.
Ich bin ganz schön durch den Wind, doch ich zeige meine Furcht nicht und trete erneut an die Rekruten heran.
Mein Verhalten macht mir selbst Angst. Bin ich etwa schon abgestumpft? Haben mich die zahlreichen Morde, deren Zeuge ich im Geiste war, emotional verkümmern lassen? Vermag meine Hülle noch mein hässliches Inneres zu verbergen?
Nach ein paar Stunden habe ich jeden jungen Soldaten in dem Raum überprüft. Unter den restlichen Männern war kein Attentäter mehr.
Ich berichte dem Hauptmann noch, was den Loraner verraten hat, bevor ich aufstehe und die Warte verlassen will.
„Nebukadneza“, hält mich der Hauptmann zurück. „Bitte bleibt doch noch einen Moment.“ Ich weiß bereits, was er jetzt verlangen wird.
„Die Antwort lautet nein, Hauptmann“, verkünde ich, während ich aus der Warte starre.
„Ich hatte noch gar keine Frage gestellt“, erwidert er.
„Ihr wolltet mich bitten, Informationen über eure Rekruten preiszugeben – Geheimnisse, die ich gesehen habe.“ Manchmal sehe ich Dinge, die für niemanden anderen als für dessen Träger bestimmt sind. Meistens, wenn meine Konzentration nachlässt und ich mich in den Bildern verliere. Manchmal bin ich auch einfach neugierig und sehe Dinge, die mich nichts angehen. Das weiß der Hauptmann, denn er benutzt meine Fähigkeiten oft für die Verhöre inhaftierter Feinde des Königs.
„Nein“, erklärt er. „Ihr habt bereits mehr als deutlich bekundet, dass Ihr über diese Dinge Stillschweigen bewahrt – es sei denn, sie seien von Bedeutung. Ich kenne und respektiere Eure Grundsätze.“ Überrascht drehe ich mich zu ihm um.
„Dann stellt Eure Frage, Hauptmann“, verlange ich.
„Was habt Ihr gesehen, als Euch der Rekrut das Messer an den Hals gehalten hat? Ihr habt ihn doch an der Hand berührt“, stößt er neugierig aus.
„Nicht das, was ich sehen wollte. Meine Panik ließ keine Vision von Bedeutung zu“, gestehe ich.
Er nickt. Daraufhin erkläre ich: „Wenn Ihr mich nun entschuldigen würdet.“
„Natürlich“, entlässt er mich.
Auf dem Weg nach draußen erkenne ich den Arkadier, der unter Aufsicht Klimmzüge an einer Stange absolviert. Das ist wohl seine Strafe, da er sich den Befehlen des Hauptmanns widersetzt hat. Er hätte nicht aus der Reihe treten dürfen.
Ich bin froh, dass er es dennoch getan hat. Die Kelten gelten als grausames Volk. Ihrem König in die Hände zu fallen, würde mein Todesurteil bedeuten. Was eine Erlösung wäre, nachdem sie mir, wie von dem Verräter angekündigt, gezeigt hätten, was sie mit einer Mauretanischen Hure machen.
Als mich Aurelion erblickt, fixiert er mich erneut mit seinem bohrenden Blick. Ich scheine ihn zu amüsieren. Wieder erkenne ich nur zu deutlich die Belustigung in seinem Blick, mit der er mich zu verhöhnen scheint. Was für ein unverschämter Troll. Ich hoffe, der Aufseher lässt ihn noch lange hier hängen.
In meinen Gemächern erwartet mich bereits eine Box. Wie so oft, schickt mir der König Gegenstände, die ich untersuchen soll. Es handelt sich meist um alltägliche Dinge, die jemand berührt hat, den er ausspionieren will.
Da ich ihm gehöre, habe ich keine Wahl, als zu tun, was von mir verlangt wird. In dem Paket finde ich die obligate Liste vor.
Gegenstand Nr. 1: Eine Brosche – Wem gehörte sie ursprünglich?
Gegenstand Nr. 2: Ein Haar – Von wem stammt es?
Gegenstand Nr. 3: Eine Flasche – Wer hat die Flüssigkeit in das Gefäß gefüllt?
Zeit: bis morgen 7:00
Wie immer sind dies all seine Worte, die er für mich übrig hat. Kein Gruß, kein persönliches Wort – nicht einmal eine Unterschrift. Für ihn bin ich nur ein Diener, der Aufgaben erledigt. Nichts weiter.
Erschöpft lasse ich mich auf den Hocker meiner Schminkkommode fallen. Ich bin müde, aber die Zeit der Abgabe ist unumstößlich. Entweder ich gehorche ihm oder ich werde bestraft – so lautet das Gesetz.
Ich will mir gerade den ersten Gegenstand vornehmen, da klopft es an der Tür.
„Herein“, rufe ich und der Hauptmann betritt ein paar Sekunden später das Zimmer. Schnell erhebe ich mich. Er ist nicht allein. Zu meinem Ärgernis hat er den Arkadier im Schlepptau.
„Nebukadneza. Entschuldigt die späte Störung. Ich habe Euch doch von meinem Vorhaben berichtet, jeder Auserwählten des Königs einen Personenschutz zur Seite zu stellen. Nun, das ist der Rekrut, den ich für Euch auserwählt habe.“ Nein. Jeden, bloß ihn nicht. „Darf ich vorstellen, das ist Nebukadneza. Der Rekrut Aurelion ist Euch ja bereits bekannt.“ Ja leider.
Ich nicke leicht. Der Arkadier tritt vor. Diesmal ist sein Blick von höflicher Bestimmtheit. Wahrscheinlich wartet er, bis der Hauptmann gegangen ist, bevor er mich wieder mit seinen Zügen verspottet.
„Der Rekrut wird Euch nicht aus den Augen lassen“, aus dem Munde des Hauptmanns holt mich dann aus meinen Gedanken.
„Wie darf ich das verstehen?“, hinterfrage ich seine Worte.
„Nun, er wird über Euch wachen. Tag und Nacht.“ Er wird hier schlafen? Das kann er vergessen.
„Nichts liegt mir ferner, als Eure Befehle infrage zu stellen Hauptmann, doch erlaubt mir folgenden Einwand: Meine Tür wird von zwei Soldaten bewacht. Die Eingangshalle zu den Gemächern ebenfalls. Dieser Teil der Akademie ist bereits wie eine Festung. Ich bin sicher, Eure Rekruten werden an anderer Stelle dringender gebraucht.“
„Nun, die anderen Auserwählten hatten keine Einwände. Sie haben es mehr als begrüßt, nun beschützt zu sein. Gerade von Euch hätte ich dies ebenso erwartet, den Übergriff auf Louisa und den heutigen Angriff auf Euch im Hinterkopf habend.“
Die Bilder tauchen wieder vor meinem geistigen Auge auf. Ich habe sichtlich damit zu kämpfen, sie wieder zu verdrängen.
„Mir ist der Anschlag auf Louisa durchaus bewusst, Hauptmann“, hauche ich gepresst. Immerhin war ich es, die ihren Körper hinterher berühren musste, da sie unter Schock stand und nicht befragt werden konnte. Ich habe nicht erkannt, um wen es sich bei dem Attentäter handelte, aber er hat sie übel zugerichtet. Er wurde bei seinem Angriff gestört und konnte flüchten.
Der Hauptmann scheint langsam zu bemerken, wie unpassend seine Aussage war. „Verzeiht. Ich wollte Euch nicht vor den Kopf stoßen. Wenn ihr mich jetzt entschuldigen würdet. Ach ja, der Rekrut wurde über Eure ‚Gabe‘ in Kenntnis gesetzt. Ihr müsst sie nicht verbergen.“ Dabei schwenkt der Blick des Hauptmanns zu der Box des Königs.
Im nächsten Augenblick ist er bereits zur Tür raus und lässt mich mit dem Soldaten allein. Wunderbar.
Wie bereits vermutet, ist der Arkadier wieder dazu übergegangen, belustigt auszusehen. Dabei blickt er sich neugierig in meinem Zimmer um.
Er stößt sogar einen Pfeiflaut aus. „Das nenne ich einmal ein Prunkzimmer. Wenn das die Armen auf der Straße sehen könnten, würden sie sicher hier einfallen. Jetzt weiß ich, warum die Wachen draußen stehen.“ Sollte das ein persönlicher Angriff auf mich sein? Ich weiß nicht einmal, was ich darauf erwidern soll, also drehe ich mich einfach um und setze mich wieder an die Kommode.
Ich will gerade nach dem ersten Gegenstand greifen, da ertönt ein dumpfer Laut. Er hat sich doch tatsächlich auf mein Bett fallengelassen. So, jetzt reichts.
„Was tust du da?“, will ich wissen.
Mit hinter seinem Kopf verschränkten Armen liegt er bequem auf meinem Kissen und sieht entspannt aus.
„Ich mache es mir gemütlich“, prustet er selbstverständlich.
„Hast du kein Benehmen? Steig sofort aus meinem Bett“, fordere ich.
Er scheint mich zu ignorieren, zieht mein Seidennachtkleid hinter dem Kissen hervor und betrachtet es amüsiert. „Uhhh, was haben wir denn hier?“
Wütend stapfe ich auf ihn zu und entreiße es ihm.
„Ziehst du das nachher an?“, will er wissen.
Ich bin erneut dazu übergegangen, ihn einfach zu ignorieren und setze mich wieder – mit hochrotem Kopf. Erneut will ich nach der Brosche greifen, doch werde wieder unterbrochen.
„Wieso bekomme ich die prüdeste aller Auserwählten“, beschwert er sich lautstark. Wie bitte? „Oder zierst du dich nur, um mich zappeln zu lassen.“ Was zum … „Bei der Musterung warst du nicht so zurückhaltend.“ Was fällt ihm ein.
Mit offenem Mund fixiere ich ihn durch den Spiegel hindurch.
„Du solltest dein Mieder lockern – würde dir guttun“, rät er mir. „Natürlich bin ich dir gerne dabei behilflich. Leg dich zu mir. Ich verspreche dir, davon wird niemand erfahren.“ Aurelion streckt sogar die Hand aus und will mich damit in meinem eigenen Bett willkommen heißen. Toll. Wieso bekomme ich den Soldaten mit den fehlenden Manieren?
Erbost stehe ich auf, schnappe mir meine Box und verlasse den Raum. Er wagt es tatsächlich, so mit mir zu sprechen. Ist das zu fassen. Als ob ich mich so einem Primaten hingeben würde. Sein Kopf würde rollen, bevor er die nächste Frechheit ausstoßen könnte.
Ich schimpfe in Gedanken vor mich hin, da ist er mir bereits dicht auf den Fersen.
„Warte, wo willst du hin?“, ruft er mir hinterher. Weg von dir.
„In die Bibliothek. Dort herrscht Sprechverbot“, informiere ich ihn.
„Willst du mir damit etwas sagen?“, fragt er doch tatsächlich.
Ich stoppe und erkläre: „Hör zu. Ich habe zu tun, also könntest du aufhören, mich andauernd zu unterbrechen.“
„Wobei denn, beim in den Spiegel Sehen?“ Das sagt er so abschätzig, dass ich einen Schritt zurücktrete und weitergehe. Für wie oberflächlich hält er mich eigentlich?
„Was hast du denn? Lag ich etwa falsch oder erträgst du die Wahrheit nicht?“, mutmaßt er. Das ist ja die Höhe.
„Ich weiß nicht, was du vorhast, Aurelion, aber es wird nicht funktionieren, also gibs auf“, rate ich ihm.
Wir betreten die Bibliothek, da meint er überheblich: „Das wollen wir ja mal sehen.“
Ich lächle und zähle innerlich von drei rückwärts. Im nächsten Moment brüllt der Bibliothekar: „Hier herrscht absolute Stille, Rekrut. Soll ich es dir buchstabieren?“
„Nein Sir“, stößt er aus und salutiert. Der Bibliothekar ist sogar ranghöher als ein Rekrut im ersten Semester. Die Erkenntnis erheitert mich durchaus.
An meinem Platz angekommen, habe ich immer noch ein Lächeln auf den Lippen.
„Lachst du mich etwa aus?“, will Aurelion flüsternd wissen.
Ich schüttle den Kopf und wechsle den Stuhl, als er mir gegenüber Platz genommen hat. Er folgt mir natürlich.
Das Spiel mit dem Platzwechsel geht einige Male vonstatten, bis er genervt den Kopf schüttelt und sich in einiger Entfernung auf einen Stuhl niederlässt.
Da er mich immer noch im Blickfeld hat, wende ich ihm den Rücken zu. Endlich herrscht Stille. Dass ich das noch erleben darf.
Erschöpft öffne ich die Box und wickle die Brosche aus dem roten Samttuch. Ich konzentriere mich auf die Frage, wem sie ursprünglich gehörte, da fluten bereits die ersten Bilder meinen Geist.
Epoche für Epoche gehe ich in der Zeit zurück und gelange so an den ursprünglichen Besitzer, eine ältere Dame, die das Schmuckstück an ihrer Bluse trägt.
Ich suche nach Anhaltspunkten ihres Namens und werde bei einem Brief, der sich vor ihr auf einem Schreibtisch befindet, fündig.
Als ich die Augen öffne, blicke ich in dunkelblaue Ozeane. Wunderbar, er ist mein ganz persönlicher Alptraum – wie bereits vermutet.
„Was tust du da?“, will er flüsternd wissen.
Ich kann ihm nicht antworten, denn ich skizziere bereits das Gesicht der Frau auf ein Stück Pergament. Wenn ich das nicht schnell mache, vergesse ich wichtige Details. Dafür setze ich mich wieder an einen anderen Tisch. Er folgt mir natürlich und sieht mir dabei zu.
„Wer ist die alte Frau? Deine Großmutter? Oder etwa deine Mutter? Wie alt bist du überhaupt? Dreißig?“ Was? Dreißig? Der Mann treibt mich noch in den schier sicheren Wahnsinn. Wieso teilt mir der Hauptmann diesen ungehobelten Arkadier zu? Will er mich damit etwa quälen?
„Neunzehn“, flüstere ich.
Im nächsten Moment steht der Bibliothekar vor uns und hat die Hände in die Hüften gestemmt.
„Raus hier, Rekrut“, fordert er wild.
„Ich habe den Befehl, die Auserwählte nicht aus den Augen zu lassen, Sir“, erklärt er salutierend.
„Nebukadneza“, fordert der Bibliothekar. Ich gebe mich geschlagen und verlasse den Raum. So viel dazu.
„Gehen wir zu Bett?“, will er dämlich grinsend vor der Tür der Bibliothek wissen. Wieso habe ich den latenten Drang, ihn zu schlagen?
Kaum im Zimmer angekommen, öffnet er meine Schränke. Perplex starre ich auf ihn, als er bereits eins meiner Kleider rausgezogen hat.
„Hör auf damit“, rüge ich ihn, doch er ignoriert mich und fischt eins meiner Höschen aus der Schublade.
„Was für ein Hauch von Nichts“, schwärmt er.
Ich bin es leid, ihn zu maßregeln, also lasse ich mich einfach wieder auf meinen Hocker fallen. Sieht so aus, als würde das eine lange Nacht werden.
Ich schnappe mir den nächsten Gegenstand – das Haar. Dabei versuche ich, seine anzüglichen Kommentare und den Fakt, dass er wahrscheinlich gerade meine ganze Kommode durchpflügt, zu ignorieren.
Die Essenz auf dem Gegenstand ist schwach und so dauert es ziemlich lange, bis ich den Eigentümer ausfindig mache. Es ist ein Mann, den ich ebenfalls porträtiere.
Als ich kurz Pause mache, finde ich den Arkadier friedlich schnarchend in meinem Bett vor. Es ist bereits drei Uhr morgens. Wunderbar.
„Ich fühle mich schon viel sicherer“, spotte ich vor mich hin, als ich nach der Flasche greife.
Ich dachte, es wäre einer der einfachsten Gegenstände, also habe ich ihn mir bis zuletzt aufgespart. Das war ein Fehler.
Ich erkenne, dass der Mann, der die Flasche gefüllt hat, ein Arzt ist. Er träufelt die Flüssigkeit aus dem Gefäß unbemerkt in ein Glas Wein, das er beim gemeinsamen Mahl einer Frau reicht.
Sie trinkt lächelnd. Man sieht ihr an, dass sie in ihn verliebt ist. Ihre Augen verraten es. Er sieht ihr dabei zu, wie sie genüsslich an dem Glas nippt. Der Wein ist vergiftet.
Er lacht sogar, als ihr schon Schaum aus dem Mund tropft. Sein belustigter Blick, der sich am Leid seiner Geliebten labt, lässt mich schwer atmen.
Ich halte das nicht aus und versuche, die Vision abzubrechen. Es gelingt mir erst, als er ihren leblosen Körper im Moor versenkt.
Panisch ziehe ich Luft in meine Lunge. Über mir erkenne ich Aurelion, der die Augenbrauen hochgezogen hat. Ich muss wohl vom Hocker gekippt sein, denn ich liege auf dem Boden.
„Was ist mit dir?“, will er wissen.
Schnell rapple ich mich hoch und greife mir an den pochenden Schädel. Ich habe Tränen in den Augen, die ich sogleich wegwische. Erst jetzt erkenne ich, dass es Blut ist, das aus meinen Augenwinkeln tropft.
„Nebukadneza. Soll ich einen Arzt rufen?“ Seine Zornesfalte ist stark ausgeprägt. Er mustert mich intensiv, so, als wolle er nicht die kleinste Regung in meinem Gesicht verpassen.
„Nein.“ Mühevoll erhebe ich mich.
„Du hast mich doch nicht berührt?“, frage ich ihn misstrauisch. „Du darfst mich nicht berühren, hörst du?“, befehle ich forsch.
Er hält die Hände abweisend hoch. „Ich hänge an meinem Leben.“ Das reicht mir als Antwort.
„Du blutest aus den Augen. Ich rufe jetzt einen Arzt.“ Er will bereits das Zimmer verlassen, da halte ich ihn mit den Worten „Nein. Das passiert immer, wenn ich meine Gabe zu oft einsetze. Ich brauche keinen Arzt. Ich muss einfach nur schlafen“ zurück.
Schnell skizziere ich das Gesicht des Mörders, stecke es zusammen mit meinen Notizen in die Box und verschließe sie.
Mit meinem Nachtkleid verschwinde ich ins Badezimmer. Ich sehe zum Fürchten aus. Das Blut hat zwei dicke, rote Spuren in meinem Gesicht hinterlassen. Wunderbar.
Dass er mich in dem rückenfreien Hauch von Nichts sehen kann, ist mir egal. Was einzig und allein zählt ist, dass mein Bett nun frei ist.
Der vollkommenen Erschöpfung nahe, lasse ich mich in die Kissen fallen. Sie riechen nach Mann – nach ihm, um genau zu sein.
Meine anfängliche Euphorie für den Rekruten hat sich in blanken Ärger gewandelt. Besonders, nachdem er eins meiner Gefäße mit der Ringelblumensalbe fallengelassen hat, was mich aufschrecken ließ.
Ich habe keine Kraft mehr, mich darüber aufzuregen, also ignoriere ich seinen Fluch mitsamt belustigtem Ausdruck und lege mich wieder hin.