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Ghassan

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Als der Bürgerkrieg in Syrien ausbrach, war Ghassan gerade mal 18 Jahre alt. Bis dahin war er ein fröhlicher und aufgeweckter junger Mensch, der mit seinen Eltern, zwei älteren Schwestern und zwei jüngeren Brüdern in einem kleinen Dorf außerhalb von Homs lebte. Auf meine Frage, was er an seinem früheren Leben denn am meisten vermisse, antwortete er mir, ohne groß zu überlegen: „Die Freiheit!“ Das überraschte mich nicht, denn das Gefühl der Freiheit und Unbeschwertheit ist wohl selbstverständlich für ein Kind, das auf dem Land aufwächst und sich viele Stunden am Tag draußen an der frischen Luft bewegt. Es gefiel Ghassan, seinem Vater auf dem Feld zu helfen, und er scheute sich auch nicht davor, ihn tatkräftig bei der familieneigenen Hühnerzucht zu unterstützen. Seine ersten Jahre waren geprägt von einem Leben im Einklang mit der Natur und dem christlichen Glauben, der in seiner Familie intensiv gelebt wurde.

Ghassan liebte dieses Leben von ganzem Herzen. Zugleich hatte er aber, wie viele junge Menschen seines Alters, Träume, die über diesen kleinen Lebensradius hinausgingen. Er wollte studieren, eine gutbezahlte Arbeit finden, heiraten und eine eigene Familie gründen. Seine Eltern nahmen ihm diese Wünsche, die ihn von der elterlichen Farm wegzogen, nicht übel. Im Gegenteil, sie waren stolz, dass ihr ältester Sohn große Ziele hatte, und wollten ihn auf seinem Weg unterstützen. Ghassan erinnerte sich auch viele Jahre später noch an den Rat, den ihm sein Vater damals nach einer ihrer Unterredungen mit auf den Weg gab: Er solle bei allem, was er tue, mit dem Herzen dabei sein und bei Zweifeln und Unsicherheiten auf Gott vertrauen. Ghassan sollte diesem Grundsatz treu bleiben, auch wenn damals niemand – schon gar nicht Ghassan selbst – hätte vorausahnen können, in welcher Situation ihm dieser Satz besonders helfen sollte.

Die Mehrzahl der Syrer glaubte beim Ausbruch des Krieges 2011 noch, dass es sich nur um eine vorübergehende Krise handeln würde. Auch Ghassan und seine Familie konnten das Ausmaß dessen, was sich da vor ihren Augen abspielte, lange nicht richtig einschätzen. Doch als immer mehr Menschen dazu gezwungen waren, ihre Häuser und Besitztümer zurückzulassen, um vor dem Krieg an einen sicheren Ort zu fliehen, wurde ihnen klar, dass dieser Konflikt nicht einfach aufhören würde. Auch Ghassans Vater sah bald keine andere Möglichkeit mehr, als wenige Monate nach Kriegsausbruch mit seiner Familie in die Küstenregion um Tartus zu fliehen. Dort lernte ich Ghassan schließlich kennen, als er sich einem jungen Team Freiwilliger anschloss, mit dessen Hilfe meine Schwestern und ich uns um die vertriebenen Familien kümmerten.

Die wirtschaftliche Not, die Ghassans Familie erleiden musste, nachdem sie so lange ein unabhängiges Leben geführt hatte, war erheblich und belastete das Familienleben sehr. Am meisten waren die Eltern aber beunruhigt über das Schicksal und die Zukunft ihrer Kinder. Vor allem Ghassan bereitete seinem Vater Kopfzerbrechen, da er in seinem Alter von heute auf morgen in die Armee eingezogen werden konnte. Die Furcht, seinen Sohn auf dem Schlachtfeld eines sinnlosen Krieges zu verlieren, trieb den eigentlich ruhigen Mann fast zur Verzweiflung. Ghassan beschrieb seinen Vater als eine ausgeglichene, hart arbeitende Persönlichkeit, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand. Es habe ihn stark verunsichert, sagte mir Ghassan, seinen Vater plötzlich so aufgebracht zu sehen. „Er hat irgendwie instabil gewirkt“, versuchte Ghassan das neue Bild dieses sonst so starken Mannes zu beschreiben, „als ob er jeden Moment in Tränen ausbrechen oder einen Wutanfall haben könnte. Es brauchte in diesen Wochen nicht viel, um ihn zum Platzen zu bringen.“ Es sei eine sehr konfliktreiche Zeit gewesen, die Nerven lagen blank. Die Kraft, in dieser schweren Zeit zusammenzustehen, zog die Familie vor allem aus dem gemeinsamen Gebet, das nach wie vor ein fester Bestandteil ihres Alltags war, auch wenn sich dieser Alltag inzwischen stark verändert hatte.

Der Vater konnte jedoch nicht zur Ruhe kommen, bevor er nicht für seinen ältesten Sohn eine Lösung gefunden hatte. Da einer von Ghassans Onkeln in den Niederlanden lebte, lagen die nächsten Schritte nahe: Der Vater kontaktierte seinen Bruder und bat ihn, Ghassan zu sich zu nehmen. Tatsächlich gelang es, das nötige Visum zu besorgen, und Ghassans Zukunft schien in den Niederlanden zu liegen. Wie er sich bei dieser Vorstellung gefühlt habe, wollte ich wissen. Ghassan zuckte unwillig mit den Schultern und sagte mehr zu sich selbst als zu mir: „Die Niederlande sind für mich ein fremdes Land mit einem fremden Onkel und einer fremden Sprache. Ich wollte zu Hause bleiben, in Syrien.“ Sowohl seine Familie als auch seine Freunde hätte er so schnell nicht wiedersehen können. Das Unbehagen, das er bei dieser Erinnerung empfinden musste, war ihm deutlich anzusehen. Doch in meiner seelsorgerischen Arbeit höre ich nicht einfach auf, wenn es unbehaglich wird. Also fragte ich weiter, ob er denn mit seinem Vater darüber gesprochen habe? „Nein“, gab er zu. „Ich hatte Angst, ihn zu verärgern, und er litt doch sowieso schon genug unter der Situation.“ So nahm Ghassan ohne Widerrede Visum und Flugticket an sich. Vom libanesischen Beirut sollte es nach Istanbul und von dort nach Amsterdam gehen. Er habe am Abend vor seiner Abreise kein Auge zugetan und Gott immer wieder um Hilfe gebeten, obwohl er nicht sagen konnte, wie diese Hilfe genau aussehen sollte. Wie er schon bald selbst feststellen durfte, erhörte Gott sein Flehen.

Nach einer emotionalen Verabschiedung von seiner Familie machte sich Ghassan also auf den Weg in eine unbekannte Zukunft. „Ich hatte mich noch nie so allein gefühlt wie in diesem Moment des Abschieds“, erinnerte er sich. Gott hatte ihn aber zu keiner Minute je verlassen. Denn als Ghassan zwei Stunden vor seinem Abflug am Flughafen in Beirut (Libanon) ankam, wurde ihm plötzlich klar, dass er seine Heimat nicht verlassen konnte. Ghassan empfand plötzlich eine innere Gewissheit, die er bislang in dieser Form nicht gekannt hatte. Seine nagenden Zweifel verwandelten sich in Fragen, von denen er tief im Herzen wusste, wie sie zu beantworten waren: „Kann ich wirklich meine Familie, meine Freunde, mein ganzes Leben einfach so zurücklassen? Will ich so egoistisch sein und jetzt davonrennen, nur, um dann irgendwo anders ein einfacheres Leben zu haben als all diejenigen, die unser Syrien nicht aufgeben wollen? Lehrt uns das Christentum so ein Verhalten?“ Ghassan gab fast beschämt zu, dass es ihn in diesem Moment selbst schockiert habe, einen solchen Aufbruch überhaupt je in Erwägung gezogen zu haben. Für ihn stand in diesem Moment jedenfalls fest, dass er Syrien nicht verlassen konnte. Sein Vater hatte ihm damals doch gesagt, dass er auf sein Herz hören und Gott vertrauen solle. Genau das tat er nun, denn er spürte, dass Gott ihn in seiner Entscheidung unterstützte: „Meine Zweifel waren wie weggeblasen. Ich nahm mein Gepäck und kehrte gleich mit dem nächsten Bus nach Tartus zurück.“

Direkt nach seiner Ankunft in Tartus suchte mich Ghassan auf und erzählte mir bis ins Detail, was passiert war und dass er es einfach nicht übers Herz gebracht habe, Syrien im Stich zu lassen. Auf seinen Wunsch hin fand ich für ihn ein Zimmer in einem Jesuitenkonvent. Natürlich nahm ich diesen bemerkenswerten jungen Mann sofort wieder in mein Helferteam auf, weil wir genau mit diesen jungen Kräften unser geliebtes Syrien wieder aufbauen werden. Ihn wieder in meinem Helferteam zu haben machte mich sehr glücklich, und ich danke Gott dafür, dass er in diesem einstmals verzweifelten jungen Menschen gewirkt hat.

Ghassans eigene Freude über diese Entscheidung, mit der er endlich alle seine Zweifel abgeschüttelt hatte, stand ihm immer ins Gesicht geschrieben. Er strahlte von innen heraus, so, wie es sonst eher ältere Menschen tun, die an Jahren und Leben gereift sind und irgendwo auf ihrem langen, beschwerlichen Weg gelernt haben, in sich selbst zu ruhen. Auf meine Frage, ob er denn keine Angst mehr davor habe, ins Militär eingezogen zu werden, erwiderte er bestimmt: „Was sein muss, muss sein. Solange ich in meiner Heimat Syrien bleiben kann und Gott an meiner Seite habe, kann ich alles schaffen.“ Es beeindruckte mich sehr, diese Entschlossenheit in ihm zu sehen. Vor die Wahl gestellt, ob er bleiben und sich für seine Heimat einsetzen oder in ein neues, vielleicht einfacheres Leben fliehen wollte, entschied er sich für Syrien. Wenn Sie mich fragen, hat er die richtige Entscheidung getroffen. Solche Momente und Begegnungen motivieren mich, mich noch mehr einzusetzen.

Das Einzige, was Ghassan noch Kopfschmerzen bereitete, war die bevorstehende Begegnung mit seinem Vater. Immerhin hatte er sich dessen Willen widersetzt und befürchtete nun, ihn verärgert oder gar enttäuscht zu haben. Wir sprachen sehr viel zusammen, und irgendwann traute er sich, seinen Vater aufzusuchen. Zuerst wollte er, dass ich ihn zu diesem Treffen begleite, aber ich konnte ihn schließlich davon überzeugen, dass das nicht nötig sein würde. Und so war es auch, denn der Vater war weit davon entfernt, wütend oder enttäuscht zu sein. Er nahm seinen Sohn in die Arme und war stolz darauf, dass dieser eine so schwerwiegende Entscheidung für sich selbst gefällt hatte. Der Vater hatte sich so sehr gewünscht, dass sein Ältester zu einem starken, unabhängigen jungen Mann heranwachsen konnte. Die Furcht vor diesem schrecklichen Krieg hatte ihn glauben lassen, dass dies nur in der Fremde möglich sei. Als sein Sohn dann aber wieder vor ihm stand und seine Liebe zu Syrien bekräftigte, sah der Vater wohl genau das, was ich selbst zuvor auch gesehen hatte: dass sein Sohn nämlich bereits zu einem starken, unabhängigen jungen Mann herangewachsen war.

Ghassan hatte seine Prüfung bestanden und war an der Erfahrung gereift. Bis heute unterstützt er mich mit viel Herzblut bei meiner Arbeit mit bedürftigen Familien. Daneben studiert er an der Universität Tartus Marketing und arbeitet jeden Tag daran, seine großen Ziele doch noch zu erreichen – diesem scheinbar endlosen Krieg und den widrigen Umständen zum Trotz. Es sind solche jungen Menschen, die sich mit Leib und Seele für ihr Land einsetzen, die meine Hoffnung auf eine bessere Zukunft für Syrien lebendig halten. Ich weiß nicht, wie viele es von ihnen in Syrien gibt, aber es sind einige. Jedes Mal, wenn ich Ghassan sehe, denke ich an sie und bete, dass sie in ihrer Treue stark bleiben. Nur so können wir auf eine bessere Zukunft für Syrien hoffen. Wir müssen standhaft bleiben und dürfen unser geliebtes Land nicht aufgeben. Die Geschichte von Ghassan zeigt, dass wir noch hoffen dürfen.



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