Читать книгу Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman - Marie Francoise - Страница 12

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Der Notruf erreichte die Waldsee-Klinik gegen ein Uhr morgens. Für den Chefarzt Dr. Wolfgang Metzler, der heute Nachtdienst hatte, gab es kein Zögern.

»Ich komme mit!« rief er den beiden Sanitätern zu, als sie auf den Krankenwagen zuliefen, dann drehte er sich zur Nachtschwester um. »Alarmieren Sie das Team, außerdem Dr. Daniel. Unter den Verletzten soll eine schwangere Frau sein.«

Schwester Irmgard hob eine Hand zum Zeichen, daß sie verstanden hatte, dann eilte sie zum Telefon, während hinter Dr. Metzler die Hecktüren zuschlugen und der Wagen mit Blaulicht und Martinshorn losbrauste.

Das Bild, das sich dem Arzt und den Sanitätern bot, war grauenvoll. Die beiden Autos hatten sich dermaßen ineinander verkeilt, daß die Feuerwehrmänner größte Mühe hatten, die Insassen zu bergen.

»Wenn da nur einer noch am Leben ist, dann wäre es ein Wunder«, murmelte einer der beiden Sanitäter, während sie schnellstens die erste fahrbare Trage herausholten.

»Der Fahrer des Sportwagens ist tot«, informierte ein Feuerwehrmann den Chefarzt. »Die schwangere Frau müßten wir in Kürze aus dem zweiten Wrack herausbekommen, aber für den anderen Fahrer sehe ich schwarz. Er hat sich seit zehn Minuten nicht mehr bewegt.«

Dr. Metzler nickte nur, dann wartete er ungeduldig, bis die Feuerwehrmänner endlich die schwangere Frau befreit hatten. Sie stöhnte leise und versuchte immer wieder, ihre Beine anzuziehen, was wegen der Knochenbrüche jedoch nicht möglich war.

Dr. Metzler untersuchte sie rasch, aber mit der gebotenen Vorsicht, dann legte er eine Infusion und ließ die Verletzte schließlich zum Krankenwagen bringen.

»Fahren Sie die Patientin in die Klinik, und kommen Sie danach umgehend hierher zurück«, ordnete Dr. Metzler an. »Ich muß hierbleiben, damit ich mich um den anderen Verletzten kümmern kann. Beeilen Sie sich.«

Dieses Nachsatzes hätte es gar nicht bedurft. Die beiden Sanitäter wußten auch so, daß hier Eile geboten war. Einer von ihnen setzte sich ans Steuer, während sich der andere um die verletzte Frau kümmerte, Blutdruck und Puls kontrollierte und schon die ersten kleineren Wunden versorgte. Allem Anschein nach hatte sie es nicht so schwer erwischt, wie man angesichts der verbeulten und total ineinander verkeilten Autos hätte annehmen müssen. Ob die Schwangerschaft allerdings erhalten werden konnte, stand in den Sternen.

Als der Krankenwagen vor der Klinik anhielt, lief Dr. Robert Daniel gleich heraus, und ein erster Blick auf die Patientin ließ ihn ahnen, daß sich hier eine Katastrophe anbahnte.

»Blutdruck hundert zu sechzig, Puls neunzig«, meldete der Sanitäter, während er seinem Kollegen half, die fahrbare Trage in die Notaufnahme zu schieben. Er warf Dr. Daniel einen kurzen Blick zu, bevor er im Telegrammstil fortfuhr: »Schock wurde behandelt. Unterschenkelfraktur beidseits, ansonsten keine großen Verletzungen. Mittelstarke Unterleibsblutungen.«

Dr. Daniel nickte knapp, dann übernahm er die Patientin.

»Mein Baby«, stammelte die junge Frau.

»Keine Angst, Frau Probst«, bat Dr. Daniel in beruhigendem Ton. »Wir werden für Sie und das Baby tun, was in unserer Macht steht.«

Melanie Probst begann zu weinen, und Dr. Daniel wußte, welche Ängste sie jetzt ausstand. Sie hatte auf diese Schwangerschaft so lange warten müssen, und jetzt, da es endlich geklappt hatte…

»Brauchen Sie mich?« fragte der Anästhesist Dr. Jeffrey Parker, der im Laufschritt den Flur entlangkam.

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Erika wartet schon im kleinen OP. Wolfgang wird Sie brauchen, Jeff. Es kommt noch ein Schwerverletzter.«

Dr. Parker eilte weiter, während Dr. Daniel die fahrbare Trage in den kleinen Operationssaal der Gynäkologie schob. Der junge Assistenzarzt Dr. Rainer Köhler folgte ihm, ebenso die Gynäkologin der Klinik, Dr. Alena Reintaler.

Zwischen den Ärzten waren nicht viele Worte nötig. Sie wußten alle, worum es ging, und arbeiteten lange genug zusammen, um sich allein durch Blicke und knappe Bemerkungen zu verständigen.

Dr. Erika Metzler, die Ehefrau des Chefarztes und zweite Anästhesistin der Klinik, gab der Patientin eine leichte Narkose, während Dr. Köhler schon begann, die beiden Unterschenkelbrüche zu behandeln.

»Hoffentlich kann man ihr die Schwangerschaft erhalten«, murmelte Alena Reintaler, während sie zusah, wie Dr. Daniel eine gründliche Untersuchung vornahm.

Vorsichtig tastete der Arzt den Muttermund ab, doch er erkannte sofort, daß hier jede Hilfe zu spät kam. Der Muttermund war geöffnet und der Fetus bereits ausgestoßen.

Resigniert zog Dr. Daniel die Hand zurück.

»Nichts mehr zu machen«, meinte er niedergeschlagen. »Die Fehlgeburt muß bereits am Unfallort passiert sein.«

»Die arme Frau«, erklärte Alena teilnahmsvoll, während sie Dr. Daniel schon die Dehnungsstifte reichte, mit denen er die Zervix weiten mußte, um eine instrumentelle Ausräumung vorzunehmen, da die anhaltende Blutung darauf schließen ließ, daß Teile der Plazenta in der Gebärmutter zurückgeblieben waren.

Dr. Daniel ging dabei sehr vorsichtig zu Werke, obwohl der Gebärmutterkanal jetzt noch nicht so brüchig war, wie es zu einem späteren Zeitpunkt der Schwangerschaft der Fall gewesen wäre. Mit Hilfe der Kürette nahm er eine gründliche Ausschabung vor, dabei tat ihm das Herz weh. Melanie und Karlheinz Probst hatten sich so sehr auf ihr Baby gefreut…

»Blutdruck fällt rapide«, meldete sich Erika in diesem Moment.

Alarmiert blickte Dr. Daniel auf. Die Blutungen aus dem Uterus waren mit Beendigung der Kürette zum Erliegen gekommen. Sie konnten also nicht die Ursache für den plötzlichen Blutdruckabfall sein. Das bedeutete, daß Melanie andere innere Blutungen haben mußte. Als Dr. Daniel vorsichtig die Bauchdecke abtastete, bekam er auch gleich die Bestätigung für seinen Verdacht.

»Skalpell«, verlangte er und setzte ohne zu zögern den Bauchschnitt. Er war kein Chirurg, aber er wußte, daß jede Verzögerung für Melanie Lebensgefahr bedeutete.

»Rainer, assistieren Sie mir«, ordnete er an, und der junge Assistenzarzt nahm sofort seinen Platz auf der anderen Seite des Operationstisches ein. Er setzte die Haken an, um Dr. Daniel freie Sicht zu verschaffen.

Im nächsten Moment sahen sie das Ausmaß der Bescherung. Der gesamte Bauchraum war voller Blut, und zumindest im ersten Moment war nicht zu erkennen, woher es kam.

»Nur die Milz kann solche Blutungen verursachen«, meinte Dr. Köhler.

Dr. Daniel nickte zustimmend. Dieser Gedanke war auch ihm gekommen.

»Absaugen«, befahl er, und Schwester Bianca kam seiner Aufforderung sofort nach. Sie war zwar eigentlich Stationsschwester, mußte heute aber im Operationssaal aushelfen, weil die OP-Schwester Petra Döllig auf der Chirurgie gebraucht wurde.

Als Dr. Daniel freie Sicht hatte, erkannte er, daß tatsächlich ein unscheinbarer Milzriß die heftigen Blutungen verursacht hatte.

»Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe«, ordnete er an. »Anschließend Bluttransfusion.« Er blickte kurz zu Alena zurück. »Holen Sie mir den Oberarzt her.«

Im Laufschritt verließ die junge Gynäkologin den Operationssaal und kehrte keine zwei Minuten später mit dem Oberarzt Dr. Gerrit Scheibler zurück.

»Milzriß«, informierte Dr. Daniel ihn knapp.

Dr. Scheibler, der sich gerade frische, keimfreie Handschuhe überstreifen ließ, stutzte. »Hat Wolfgang das denn nicht bemerkt?«

»Konnte er wohl nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Der Riß ist sehr klein und hat erst etwas später zu den erheblichen Blutungen geführt.«

Währenddessen hatte sich der Oberarzt einen ersten Überblick verschafft und begann nun mit geübten Griffen die gerissene Milz zu entfernen.

»Das hätten Sie eigentlich auch machen können«, meinte er, und die kleinen Fältchen, die sich um seine Augen bildeten, bewiesen, daß er lächelte.

»Ich bin Gynäkologe, kein Allroundgenie«, hielt Dr. Daniel dagegen, dann mußte auch er ein wenig lächeln. »Schließlich will ich nicht riskieren, daß ich als Direktor von Ihnen eine Rüge einstecken muß, weil ich mich in Sachen einmische, die mich nichts angehen und die ich nicht kann.«

»Gekonnt hätten Sie es mit Sicherheit«, erwiderte Dr. Scheibler, vergewisserte sich, daß er wirklich nichts übersehen hatte, und trat dann zurück. »Sie sind nämlich nicht nur als Gynäkologe erstklassig.« Dann wies er auf das offene Operationsfeld. »Damit muß ich Sie jetzt leider im Stich lassen. Wolfgang braucht mich drüben dringend.«

»Gehen Sie nur«, meinte Dr. Daniel und begann schon, die Wunde zu schließen. Rainer Köhler ging ihm mit Geschick zur Hand.

»Er ist ein begnadeter Chirurg«, flüsterte er beinahe andächtig.

Dr. Daniel warf ihm einen kurzen Blick zu. »Da haben Sie recht, Rainer. Wer hier in der Waldsee-Klinik als Patient landet, ist sicher in den besten Händen.«

»Nicht nur als Patient«, entgegnete Dr. Köhler. »Der Chefarzt ist streng, aber er und Dr. Scheibler sind genau die Ärzte, zu denen man voller Bewunderung aufblicken kann.« Er errötete ein wenig. »Sie natürlich auch.«

Dr. Daniel mußte lächeln. »Ich habe Sie schon richtig verstanden, Rainer. Sie wollen Chirurg werden, und da orientieren Sie sich verständlicherweise nicht vorrangig an einem Gynäkologen.«

Dr. Köhler war erleichtert. Er mochte Dr. Daniel von Herzen gern und schätzte ihn auch als Arzt, aber seine großen Vorbilder waren tatsächlich Dr. Metzler und Dr. Scheibler. So gut wie sie wollte er auch einmal werden.

»Ich habe in den paar Monaten, seit ich hier bin, doppelt so viel gelernt wie in einem Jahr an dieser Privatklinik, an der ich vorher gearbeitet habe«, erklärte er, und Dr. Daniel hörte die Dankbarkeit aus seinen Worten heraus. Dr. Köhler hatte die Assistentenstelle in der Waldsee-Klinik wie ein Geschenk angenommen, und er würde gewiß einmal ein hervorragender Arzt werden.

Dr. Daniel verknotete jetzt den letzten Faden, dann blickte er voller Mitgefühl auf seine junge Patientin. Die unerwartete Operation, die plötzlich notwendig geworden war, und das Gespräch mit Dr. Köhler hatten ihn abgelenkt, doch jetzt war alles wieder da. In ein paar Stunden würde er Melanie Probst die grausame Wahrheit sagen müssen… eine Wahrheit, die sie wieder in ein entsetzliches seelisches Loch stoßen würde.

*

Während Melanie Probst auf die Intensivstation gebracht wurde, kämpften die Ärzte im großen Operationssaal der Chirurgie um das Leben ihres Mannes Karlheinz. Er hatte bei dem Unfall die weitaus schwerwigenderen Verletzungen davongetragen.

Jetzt stieß Dr. Köhler zu dem Operationsteam und nahm ohne viele Worte seinen Platz an der Seite von Dr. Scheibler ein. Er war inzwischen lange genug hier, um zu wissen, worauf es bei der Arbeit mit Chefarzt und Oberarzt ankam. Ungefragt übernahm er die Operationshaken, so daß Dr. Scheibler nun voll mitarbeiten konnte.

Zwischen ihm und Dr. Metzler waren keine großen Gespräche nötig. Jeder kannte die Arbeitsweise des anderen fast so gut wie seine eigenen.

»Wie geht’s der Frau?« wollte Dr. Scheibler wissen.

»Ihr Zustand ist stabil«, antwortete der junge Assistenzarzt. »Sie liegt aber sicherheitshalber noch auf Intensiv. Dr. Daniel ist bei ihr.«

»Sein Zustand wird kritisch«, meldete sich in diesem Moment Dr. Parker.

»Kein Wunder«, knurrte der Chefarzt. »Er sieht aus, als hätte man ihn durch den Fleischwolf gedreht. Und das alles wegen dieses verflixten Rasers, der die Landstraße offensichtlich für den Nürburgring gehalten hat.« Mit beispielhafter Verbissenheit bemühte er sich, die entsetzlichen Verletzungen seines Patienten unter Kontrolle zu bringen, doch es schien, als wäre dieser Kampf aussichtslos.

»Kammerflimmern!« rief der Anästhesist.

»Nein, verdammt!« stieß Dr. Metzler zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Holt den Defi.«

Er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da stand die OP-Schwester schon mit dem Defibrillator bereit.

»Auf 200 laden«, befahl Dr. Metzler und drückte die Defibrillatorpaddel auf Karlheinz’ Brust. »Weg vom Tisch!« Im nächsten Moment jagte ein kurzer Stromstoß durch den Körper des Patienten. Das Herz nahm seine Arbeit wieder auf, doch die Ärzte wußten, daß es der Belastung nicht mehr lange standhalten würde.

»Mach jetzt bloß nicht schlapp, Junge«, murmelte Dr. Scheibler wie beschwörend. »Du hast eine Frau, die dich noch braucht.«

Dr. Metzler warf ihm einen kurzen Blick zu. Er wußte, wie sein Schwager diese Worte meinte, aber unwillkürlich mußte er an die schweren Verletzungen denken, die er behandelt hatte, als Dr. Scheibler zu Dr. Daniel gerufen wurde.

»Das Baby, das seine Frau jetzt von ihm erwartet, wird mit Sicherheit das letzte sein, das er gezeugt hat«, erklärte er, während er versuchte, der vielen Verletzungen Herr zu werden.

Die Worte jagten Dr. Köhler förmlich einen Schauer über den Rücken.

»Seine Frau hatte eine Fehlgeburt«, brachte er mühsam hervor.

Für den Bruchteil einer Sekunde legte sich lähmende Stille über das Operationsteam. Sie alle waren keine Maschinen, sondern Ärzte, die am Schicksal ihrer Patienten regen Anteil nahmen.

»Ich sehe endlich Land«, meinte Dr. Metzler schließlich.

»Zeit wird’s«, brummte der Anästhesist. »Herz und Kreislauf sind in einem jämmerlichen Zustand, und allmählich gehen mir die Ideen aus, wie ich ihn noch am Leben halten könnte.«

»Weitere Ideen sind nicht nötig«, meinte Dr. Metzler, vergewisserte sich, daß er nichts übersehen hatte, und trat dann zurück. »Er wird leben.«

»Ja, aber wie?« wandte Dr. Scheibler ein, während er begann, den großen Bauchschnitt zu schließen.

»Er lebt«, hielt Dr. Metzler dagegen. »In meinen Augen ist das das Wichtigste. Die ersten Monate wird er noch im Rollstuhl verbringen müssen, aber ich habe ihn vor einer Querschnittslähmung bewahrt. Er wird wieder laufen können und auch sonst ein einigermaßen normales Leben führen. Mehr kann man nach einem solchen Unfall nicht verlangen.«

Dr. Scheibler wußte, daß der Chefarzt recht hatte. Karlheinz Probst war eher tot als lebendig in die Klinik eingeliefert worden. Sie hatten an ihm nicht nur eine, sondern gleich drei Operationen vorgenommen und dabei sein Leben gerettet. Trotzdem war Dr. Scheibler nicht zufrieden. Vor Karlheinz Probst lag ein schmerzvoller, beschwerlicher Weg, an dessen Ende aller Wahrscheinlichkeit nach keine völlige Genesung stehen würde.

*

Melanie erwachte, als die Wundschmerzen einsetzten. Die Nachwirkungen der Narkose ließen noch keine klaren Gedanken zu, und das starke Schmerzmittel, das sie direkt in die Infusion gespritzt bekam, ließ sie sofort wieder einschlafen.

Als sie das zweite Mal zu sich kam, war es draußen schon wieder dunkel… oder noch immer? Melanie hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Sie wußte nicht, ob sie wenige Minuten oder statt dessen ein paar Tage geschlafen hatte.

»Frau Probst, können Sie mich verstehen?«

Sie hörte Dr. Daniels Stimme, doch es kostete sie Mühe, den Kopf zu wenden und ihn anzusehen. Sie nickte schwach zum Zeichen, daß sie verstanden hatte.

»Haben Sie Schmerzen?«

Melanie schüttelte den Kopf. Sie wollte etwas sagen… etwas fragen, doch kein Ton kam über ihre Lippen. Sosehr sie sich bemühte, sie schaffte es nicht einmal, den Mund richtig zu öffnen.

Dr. Daniel bemerkte ihre fruchtlosen Anstrengungen und legte behutsam eine Hand auf ihre Stirn.

»Nicht, Frau Probst«, bat er leise. »Sie haben eine starke Narkose bekommen, die noch etliche Stunden nachwirken wird. Versuchen Sie möglichst wieder zu schlafen.«

Melanie gehorchte. Sie wußte nicht, mit welch besorgten Blicken Dr. Daniel sie bedachte. Das bemerkte sie erst, als sie zum dritten Mal erwachte. Jetzt nahm sie auch ihre Umgebung wahr und erkannte, daß sie in einem hellen, luftigen Zimmer lag. Die Stunden auf der Intensivstation hatte sie fast durchweg verschlafen, ebenso ihre Verlegung auf die Gynäkologie. Ihre überraschend gute Verfassung hätte eine längere Intensivüberwachung aber nicht mehr gerechtfertigt.

»Was ist… passiert?«

Leise und krächzend kamen die Worte hervor.

»Sie hatten einen sehr schlimmen Unfall«, antwortete Dr. Daniel.

Im selben Moment konnte sich Melanie erinnern. Sie und Karlheinz waren auf dem Nachhauseweg gewesen. Der Abend bei ihrer Zwillingsschwester Manuela und ihrem Mann Horst war angenehm und harmonisch verlaufen, und genau in dieser Stimmung hatten sie sich auch noch im Auto befunden. Doch plötzlich war ein roter Sportwagen in wahnwitzigem Tempo auf ihrer Straßenseite auf sie zugeschossen. Wie eine Rakete hatte er sich in die Kühlerhaube ihres Autos gebohrt. Melanie erinnerte sich an stechende Schmerzen in den Beinen, an Karlheinz’ qualvolle Schreie und auch an ihre eigenen, als sie den schier unerträglichen Druck im Unterleib gespürt hatte.

»Mein Baby…«, stammelte sie.

Mit einer sanften Geste griff Dr. Daniel nach ihrer Hand und hielt sie fest.

»Sie müssen jetzt sehr tapfer sein, Melanie.« Er wählte absichtlich ihren Vornamen, um ihr das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln… das Gefühl, einen Freund in der Nähe zu haben.

»Nein«, wimmerte Melanie. Sie wußte bereits, was Dr. Daniel sagen würde.

»Melanie, ich konnte nichts mehr tun.« Dr. Daniels Stimme war leise und einfühlsam, trotzdem konnte sie den Worten ihre Härte nicht nehmen. Für das, was mit Melanie in jener Nacht geschehen war, gab es keinen Trost und keine Linderung.

»Fast zwei Jahre hat es gedauert«, schluchzte Melanie verzweifelt. »Zwei Jahre…«

Dr. Daniel wußte nicht, was er darauf erwidern sollte. Er hatte Melanie und Karlheinz durch diese beiden Jahre begleitet, ihnen immer wieder Mut gemacht, wenn sie nahe daran gewesen waren zu verzweifeln, und er hatte sich mit ihnen gefreut, als es endlich geklappt hatte.

Er kannte Melanies Werdegang zur Genüge. Jahrelang hatte sie unter ihrer Kinderlosigkeit gelitten und den reichen Kindersegen ihrer Zwillingsschwester, die mittlerweile dreifache Mutter war, voller Neid verfolgt. Melanies Sehnsucht nach einem Kind war schließlich so groß geworden, daß sie sich in einem schwachen Moment sogar ein Umstandskleid gekauft und sich mit Hilfe eines Kissens eine Schwangerschaft vorgegaukelt hatte. Dabei war sie von ihrer Schwester überrascht worden und hatte nicht den Mut zur Wahrheit gefunden. Monatelang hatte sie allen eine schwangere Frau vorgespielt, bis Dr. Daniel die Wahrheit erkannt hatte. Melanies Ehe mit Karlheinz wäre beinahe zu Bruch gegangen, und auch das Verhältnis zu ihrer Zwillingsschwester hatte einen tiefen Riß bekommen, vor allem weil Melanie in einem Anflug tiefster Depression Manuelas neugeborenen Sohn aus der Klinik entführt hatte. Zwar hatte sie den kleinen Peter sofort wieder zurückgebracht, doch eine Weile hatte es ganz so ausgesehen, als könne die tiefe Liebe, die zwischen den Zwillingen geherrscht hatte, nie wieder zurückgeholt werden.

Nach vielen Gesprächen, die Dr. Daniel geschickt zwischen Melanie und Karlheinz herbeigeführt hatte, war es gelungen, die Ehe in Ordnung zu bringen, und auch zwischen Melanie und Manuela war es zu etlichen langen Aussprachen gekommen. Schließlich hatten sich Melanie und Karlheinz sogar zu einer Kinderwunschbehandlung durchgerungen, obwohl das eine erneute Belastung für ihre noch immer nicht vollkommen stabile Ehe bedeutet hatte. Es war dann allerdings zu einigen Krisen gekommen, und ohne Dr. Daniels Hilfe wäre die Ehe vielleicht wirklich zu Bruch gegangen, doch die Bemühungen waren schließlich von Erfolg gekrönt gewesen, als Melanie endlich schwanger geworden war. Und nun hatte dieser schreckliche Unfall ihre so glückliche Zukunft zerstört.

»Sie dürfen jetzt nicht verzweifeln, Melanie«, bat Dr. Daniel leise. »Ich weiß schon, das ist leichter gesagt als getan, aber… es hat schon einmal geklappt, und es wird wieder klappen. Sie und Ihr Mann sind noch immer jung genug, um…«

»Kalle«, stieß Melanie erschrocken hervor. »Was ist mit ihm? Geht es ihm gut?«

»Er liegt auf der Intensivstation«, erwiderte Dr. Daniel in beruhigendem Ton. »Ich selbst hatte noch keine Gelegenheit, zu ihm zu gehen, aber der Chefarzt sagte mir, sein Zustand wäre zufriedenstellend, und das ist schon sehr viel, wenn man bedenkt, was für ein schrecklicher Unfall es gewesen ist.«

Melanie nickte. Sie war erleichtert, weil Karlheinz am Leben war. Alles andere war für sie jetzt zweitrangig.

»Wann darf ich zu ihm?« fragte sie, obwohl sie bereits jetzt, nach diesem relativ kurzen Gespräch, Mühe hatte, die Augen offenzuhalten.

»Wenn es Ihnen ein bißchen besser geht«, antwortete Dr. Daniel. »Im Augenblick brauchen auch Sie noch sehr viel Ruhe.«

Er war nicht sicher, ob Melanie noch alles gehört hatte, denn während er gesprochen hatte, waren ihr die Augen zugefallen. Dr. Daniel betrachtete sie eine Weile, dann stand er mit einem tiefen Seufzer auf. Er wußte, daß auf Melanie eine sehr schwierige Zeit zukommen würde.

*

Als Karlheinz Probst das erste Mal zu sich kam, fühlte er nur die Schmerzen, die in Wellen durch seinen ganzen Körper fluteten… nein, eigentlich nicht durch seinen ganzen Körper, sondern nur durch Bauch, Brust und Arme. Sein Kopf dröhnte, als würde jemand mit einem Vorschlaghammer gegen seine Schädeldecke schlagen. Karlheinz wollte rufen, doch nur ein gequältes Stöhnen entrang sich seiner Brust.

Im nächsten Moment beugte sich ein Mann mit dunklen Locken und sanften, rehbraunen Augen über ihn.

»Versuchen Sie nicht zu sprechen«, riet ihm der Mann. »Sie haben einen Schlauch im Mund.«

Mit der Zunge wollte Karlheinz den Schlauch ertasten, doch es ging nicht. Irgendwie schien sein ganzer Körper lahm zu sein.

»Ich bin Dr. Metzler, der Chefarzt«, stellte sich der Mann jetzt vor, dann betrachtete er Karlheinz aufmerksam. »Haben Sie Schmerzen?«

Karlheinz nickte schwach.

»Ich gebe Ihnen gleich etwas in die Infusion«, versprach Dr. Metzler. Er ging weg, kam aber schon wenig später zurück und hielt eine Spritze in der Hand, die er direkt in die Infusionskanüle injizierte.

Es dauerte nicht lange, bis die Schmerzen nachließen. Karlheinz schloß die Augen. Für einen Moment dachte er an Melanie, doch dann war er schon wieder eingeschlafen.

»Was ist mit ihm?« wollte Dr. Daniel wissen. Er war von Melanies Zimmer aus direkt zur Intensivstation gegangen, um sich nach Karlheinz’ Zustand zu erkundigen. Allerdings sprach bereits der besorgte Gesichtsausdruck des Chefarztes Bände.

»Ich fürchte, das wird sich erst noch herausstellen«, meinte Dr. Metzler ein wenig orakelhaft.

Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Was soll das heißen? Gestern sagtest du noch, sein Zustand wäre zufriedenstellend. Hast du mich etwa angelogen?«

Dr. Metzler schüttelte den Kopf. »Nein, Robert, natürlich nicht.« Er seufzte leise, dann verließ er die Intensivstation. Dr. Daniel folgte ihm, doch erst, als sie das Chefarztbüro erreicht hatten, fuhr Dr. Metzler fort: »Wenn man sich vor Augen hält, wie er hier in der Klinik angekommen ist und wie seine Überlebenschancen standen, dann ist sein Zustand wirklich zufriedenstellend. Allerdings… ganz gesund wird er wohl nie wieder werden.«

Dr. Daniel erschrak sichtlich. »Davon hast du gestern aber keine Silbe verlauten lassen.«

»Wann denn?« hielt der Chefarzt dagegen. »Du bist doch ohnehin ständig in Eile.

»Rede dich nicht auf meinen Zeitmangel hinaus«, verlangte Dr. Daniel streng. »Du weißt genau, daß du immer mit mir sprechen kannst, wenn du es willst. Und ich denke, genau das ist der Punkt, mein Freund.«

Dr. Metzler senkte den Kopf.

»Ja, du hast recht«, räumte er widerwillig ein. »Ich wollte es dir nicht sagen, weil…« Er zuckte die Schultern. »Ach, ich weiß es auch nicht.«

»Wolfgang, hör auf, mich anzulügen. Das kann ich auf den Tod nicht leiden.« Er betrachtete ihn eingehend. »Du hattest einen guten Grund, mir die Wahrheit zu verschweigen.«

Dr. Metzler schluckte.

»Du kennst mich viel zu gut«, murmelte er, dann hob er den Blick. »Ich… nein, wir… Gerrit und ich… wir haben getan, was wir konnten, aber… es gibt Grenzen.«

Dr. Daniel nickte. »Das weiß ich, Wolfgang. Ich bin auch Arzt und wurde gestern ebenfalls mit meinen Grenzen konfrontiert. Ich wollte Frau Probst unter allen Umständen die Schwangerschaft erhalten, aber es war nicht mehr möglich. Der Fetus war bereits abgegangen.« Er legte dem Chefarzt eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie schwer es auch dir fällt, Grenzen zu akzeptieren, aber das mußt du lernen, Wolfgang. Du bist nicht Gott, du kannst nicht immer gewinnen. Das ist schmerzlich, jedoch nicht zu ändern. Und es hat auch keinen Sinn, wenn du dich in einem solchen Fall mir gegenüber um die Wahrheit herumdrückst. Irgendwann mußt du sowieso damit herausrücken, wie du gerade wieder gesehen hast.«

Niedergeschlagen ließ sich Dr. Metzler auf seinen Sessel fallen. Dr. Daniel wartete, doch der Chefarzt hüllte sich in Schweigen.

»Na, komm schon, Wolfgang, sprich es dir von der Seele«, ermunterte Dr. Daniel ihn. »Wenn du darüber redest, wird es vielleicht besser. Es wird dir helfen, einiges deutlicher zu sehen.«

Dr. Metzler zögerte noch einen Moment, dann begann er leise zu erzählen.

»Es dauerte mehr als eine Stunde, bis die Feuerwehrleute den Verletzten endlich befreien konnten. Ich stand daneben und sah im ersten Moment nur Blut und entsetzlich verkrümmte Arme und Beine. Die Feuerwehrleute wollten ihn herausheben und auf die Trage legen, die schon bereitstand, aber da war etwas, was mich warnte. Ich kann es nicht erklären… es war nur so ein Gefühl. Auf meine Veranlassung hin wurde Herr Probst mitsamt dem Fahrersitz herausgehoben und zum Krankenwagen gebracht.« Er schwieg kurz. »Die Wirbelsäule war verletzt, und die geringste Bewegung hätte eine Querschnittlähmung zur Folge gehabt.«

»Und da sprichst du von Grenzen?« warf Dr. Daniel ein.

Dr. Metzler zuckte die Schultern. »Ein Leben im Rollstuhl konnte ich ihm ersparen, aber… er wird über Jahre hinweg… vielleicht sogar sein Leben lang ein Stützkorsett tragen müssen. Schwimmen, Radfahren… jede Art von Sport ist für ihn nicht mehr möglich. Er darf nicht mehr schwer heben oder tragen… er… ist noch nicht vierzig und wird ein Leben führen, das man einem Achtzigjährigen nicht wünschen würde.«

Dr. Daniel dachte eine Weile nach.

»Siehst du da nicht ein bißchen zu schwarz?« fragte er endlich. »Herr Probst wird sich lange schonen müssen, aber die Prognose, die du gerade aufgestellt hast, ist etwas verfrüht, Wolfgang. Wie willst du heute schon voraussehen, was in ein paar Jahren sein wird?«

»Die Wirbelsäulenverletzung ist instabil«, entgegnete Dr. Metzler, dann stand er auf und trat zu dem Bildschirm, an dem Röntgenaufnahmen hingen. Er schaltete das Licht ein und wies auf einen Teil der Wirbelsäule. »Die Verletzung liegt hier. Ich habe alles versucht, aber…« Niedergeschlagen wandte er sich ab. »Ich habe mein möglichstes getan, und vielleicht genügt es, wenn er künftig ein Korsett trägt, aber…« Er senkte den Kopf. »Ich fürchte, daß auch später noch eine unbedachte Bewegung oder womöglich ein weiterer Unfall zu einer Rückenmarkverletzung führen könnte. In meinen Augen gäbe es nur eine Möglichkeit, das sicher zu vermeiden, und das wäre eine operative Versteifung der betroffenen Wirbel. Unter Umständen kann das aber bedeuten, daß er ständig Rückenschmerzen haben wird.« Mit einem tiefen Seufzer ließ sich der Chefarzt wieder auf seinen Sessel fallen, dann sah er Dr. Daniel an. »Was soll ich nur tun?«

Dr. Daniel zog die Augenbrauen hoch. »Das fragst du ausgerechnet mich? Wolfgang, ich bin Gynäkologe. Welche Antwort erwartest du von mir?«

»Wenn du an seiner Stelle wärst… was würdest du tun – welchen Rat würdest du von deinem Arzt erwarten?«

»Die Auswahl ist nicht groß«, meinte Dr. Daniel. »Wenn er sich gegen die Operation entscheidet, muß er ein Leben lang befürchten, irgendwann querschnittgelähmt zu sein. Stimmt er dem Eingriff zu, erwartet ihn vielleicht ein Leben voller Schmerzen.« Er seufzte leise. »Eine einfache Entscheidung wird es da nicht geben, Wolfgang. Herr Probst wird letztlich abwägen müssen, was für ihn persönlich wichtiger ist.«

»Und welchen Rat soll ich ihm geben?«

»Gar keinen«, antwortete Dr. Daniel schlicht. »Dazu wirst du nämlich nicht in der Lage sein, oder willst du über sein künftiges Leben entscheiden?«

»Ich möchte nur, daß er gesund wird«, murmelte Dr. Metzler.

Dr. Daniel schwieg. Hierin waren die beiden Ärzte einig.

*

Stefan, der Sohn von Dr. Daniel, erreichte den Steinhausener Kindergarten in letzter Minute. Da ging nämlich auch schon die Tür auf, und die Kinder liefen freudestrahlend ihren Müttern, Vätern, Omas oder Opas entgegen, die gekommen waren, um sie abzuholen.

»Stefano!«

Mit einem fröhlichen Jauchzer sprang die kleine Tessa Daniel ihrem Stiefbruder entgegen und stürzte sich in seine Arme. Es war für sie jedesmal ein kleiner Festtag, wenn sie von Stefan abgeholt wurde, denn normalerweise kam Irene Hansen, Dr. Daniels ältere, verwitwete Schwester, die der Familie den Haushalt führte, zum Kindergarten.

»Hallo, kleine Springmaus.«

Stefan fing das quirlige Mädchen auf und hob es hoch über seinen Kopf. Tessa quietschte vor Vergnügen, dann schlang sie ihre Arme um Stefans Nacken und drückte einen innigen Kuß auf seine Wange.

Seit fast einem Jahr gehörte Tessa nun zur Familie, und mittlerweile dachte niemand mehr daran, welchen Wirbel es einst um ihre Adoption gegeben hatte. Für die Allgemeinmedizinerin Steinhausens – Manon Carisi – war damals, kurz nach ihrer Verlobung mit Dr. Daniel, eine Welt zusammengebrochen, als sie hatte erfahren müssen, daß ihr verstorbener Mann Angelo auf Sardinen eine uneheliche Tochter hatte. Allerdings hatte die kleine Tessa, die kurz nach der Geburt ihre Mutter verloren und seitdem bei dem recht betagten Monsignore Antonelli gelebt hatte, ihr Herz und auch das von Dr. Daniel im Sturm erobert. Unmittelbar nach der Hochzeit hatten sie die kleine Tessa adoptiert, und seitdem wirbelte die kesse Italienerin Dr. Daniels Haushalt gehörig durcheinander.

»Wieso bist du heute hier, Stefano?« fragte Tessa und streichelte dabei zärtlich durch seine dichten Locken.

Er lächelte sie an. »Weil ich ausnahmsweise keinen Dienst habe und weiß, wie sehr sich mein geliebtes Schwesterchen freut, wenn ich es vom Kindergarten abhole.«

Tessa strahlte übers ganze Gesicht. Sie liebte ihre Adoptiveltern über alles, aber Stefan war ihr ganz großer Held. Deshalb benutzte sie auch grundsätzlich die italienische Form seines Namens, obwohl sie schon fließend Deutsch sprach.

Weder Tessa noch Stefan bemerkten die traurigen Blicke der kleinen Julia Merkl, die ein wenig abseits stand und darauf wartete, von der Sekretärin ihres Vaters abgeholt und für den restlichen Nachmittag zur Tagesmutter gebracht zu werden.

»Julia, du hast ja immer noch deine Hausschuhe an!« erklang in diesem Moment die tadelnde Stimme von Doris Beckmann. Ungeduldig schaute sie auf die Uhr. »Beeil dich, Kind. Ich muß zusehen, daß ich wieder ins Büro komme. Dein Vater braucht mich.«

Stumm schlüpfte Julia aus ihren Hausschuhen und in die schwarzen Lackstiefelchen. Dabei wanderte ihr sehnsüchtiger Blick zu Tessa, die an der Hand ihres Bruders zum Ausgang hüpfte. Jetzt drehte sie sich um.

»Julia!« rief sie. »Kommst du heute zu mir?«

»Ich… ich weiß nicht«, stammelte Julia und warf Doris Beckmann einen bittenden Blick zu.

»Beeil dich endlich!« mahnte diese nur.

Tessa war zurückgelaufen und sah nun mit treuherzigem Blick die junge Frau an, die ungeduldig neben Julia wartete.

»Darf Julia zu mir kommen, Fräulein Beckmann?«

»Das kann ich nicht bestimmen, Kleine«, wich Doris aus. Sie hatte keine Lust, sich hier länger als nötig aufhalten zu lassen. Das Abholen vom Kindergarten war ihr ohnehin schon lästig genug. Sie sagte nur deshalb nichts dazu, weil sie das gute Verhältnis mit ihrem Chef auf keinen Fall belasten wollte.

»Julia kann gleich mit uns mitgehen«, bot Stefan an, der seinem kleinen Schwesterchen gefolgt war. »Ich rufe Herrn Merkl an und sage ihm Bescheid, daß er Julia heute abend bei uns abholen kann.«

»Ich weiß nicht…«, murmelte Doris zögernd. »Wir werden ja eigentlich von Frau Simmer erwartet… das ist die Tagesmutter, die Julia betreut«, fügte sie hinzu. Viel mehr als das wurmte sie jedoch, daß sie möglicherweise umsonst zum Kindergarten gegangen war.

»Kein Problem«, urteilte Stefan. »Auch da kann ich anrufen.« Er lächelte Julia an. »Na, was ist? Hast du Lust mitzukommen?«

Das Mädchen nickte glücklich. »Ja, Stefan, natürlich.«

»Herr Daniel, heißt das«, belehrte Doris die Kleine streng.

Doch Stefan schüttelte den Kopf. »Nein, nein, Stefan war schon ganz richtig. Herr Daniel – das ist mein Vater.« Er grinste entwaffnend. Ohne weiter mit der jungen Sekretärin zu diskutieren, nahm er Tessa und Julia bei der Hand. »In so charmanter Begleitung war ich ja schon lange nicht mehr.«

Die beiden Mädchen kicherten. Von Julias Traurigkeit war kaum noch etwas zu spüren. Sie würde heute einen herrlichen Tag verbringen, und das entschädigte das kleine Mädchen für so manches.

*

Es war schon kurz nach sieben Uhr abends. Dr. Daniel war gerade im Begriff, seine Praxis zu verlassen, als es an der Haustür klingelte. Er öffnete und sah sich dem jungen Ingenieur Harald Merkl gegenüber.

»Guten Abend, Herr Merkl«, grüßte Dr. Daniel mit dem ihm eigenen herzlichen Lächeln. »Sie kommen sicher, um Ihr Töchterchen abzuholen.«

Harald nickte und wurde dabei ein wenig verlegen. »Ihr Sohn hat mich heute aber ziemlich überrumpelt.« Er schwieg kurz. »Ich muß gestehen, es ist mir recht unangenehm, daß Julia den ganzen Tag hier verbracht hat… ich meine… sie ist manchmal recht lebhaft und schließlich…«

»Ich bitte Sie, Herr Merkl«, fiel Dr. Daniel ihm ins Wort. »Julia hat uns überhaupt nicht gestört, und Tessa ist überglücklich, wenn sie eine Freundin bei sich hat.«

»Na ja, trotzdem…« Harald wand sich sichtlich. »Wissen Sie, ich kann mich da nicht revanchieren. Ich bin praktisch den ganzen Tag außer Haus und…« Hilflos zuckte er die Schultern. »Ich müßte wieder heiraten, aber… es ist nun mal nicht so einfach, eine Frau zu finden, die…« Er stockte. Die mich liebt und bereit ist, Mutter für ein sechsjähriges Mädchen zu sein, hatte er sagen wollen, doch er brachte die Worte nicht über die Lippen – schon gar nicht einem eher Fremden gegenüber. Sicher, seine verstorbene Frau war Patientin von Dr. Daniel gewesen, aber er selbst hatte mit dem Arzt bisher kaum ein Wort gesprochen – von ein paar Höflichkeitsfloskeln, wenn man sich in Steinhausen begegnete, einmal abgesehen.

Impulsiv legte Dr. Daniel jetzt eine Hand auf Haralds Schulter. Er wußte nur zu gut, was der junge Mann durchgemacht hatte, schließlich war er bei Julias Geburt ja dabeigewesen… hatte miterleben müssen, wie Simone Merkl unter seinen Händen weggestorben war. Er hatte sich damals schrecklich hilflos gefühlt, hatte sich eine Weile sogar Vorwürfe gemacht – ungerechtfertigterweise, denn ihn hatte am Tod der Patientin wirklich keine Schuld getroffen. Ein Aneurysma, das sich so versteckt gebildet hatte, daß es bei keiner Untersuchung entdeckt worden war, war unter den Anstrengungen der Geburt gerissen. Simone Merkl war innerlich verblutet, bevor man sie vom Kreißsaal ins OP hatte bringen können.

»Es ist immer schlimm, wenn man so früh Witwer wird«, meinte Dr. Daniel teilnahmsvoll. »Und als alleinerziehender Vater hat man es besonders schwer.«

»Ich habe einfach zu wenig Zeit für Julia«, seufzte Harald, dann blickte er zu Boden. »Ich habe für viele Dinge zu wenig Zeit.«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »So dürfen Sie das nicht sehen, Herr Merkl. Sie können Julia nicht Vater und Mutter gleichzeitig sein, Sie können nur versuchen, das Beste aus Ihrer Situation zu machen, und das tun Sie meines Erachtens schon.«

Wieder seufzte Harald. »Ich weiß nicht… dieser Meinung bin ich leider überhaupt nicht. Manchmal fühle ich mich so… so unfähig. Und Julia leidet unter dieser Situation, das merke ich ganz deutlich. Aber…« Hilflos zuckte er die Schultern, dann wurde er wieder verlegen. »Meine Güte, ich langweile Sie ja mit meinen Sorgen. Bitte entschuldigen Sie, Herr Doktor.«

»Da gibt es nichts zu entschuldigen«, entgegnete Dr. Daniel schlicht. »Im übrigen haben Sie mich nicht gelangweilt. Ich nehme die Sorgen anderer Menschen sehr ernst, und gerade in diesem Fall kann ich gut nachempfinden, was in Ihnen vorgehen muß. Meine erste Frau ist ja auch sehr früh gestorben, und obwohl meine beiden Kinder damals schon annähernd erwachsen waren, war es eine schwierige Zeit für mich. Um wieviel schlimmer muß es dann erst sein, wenn man plötzlich mit einem Baby allein dasteht.«

Harald preßte die Lippen zusammen. Obwohl das alles nun schon sechs Jahre zurücklag, schmerzte ihn die Erinnerung noch immer. Anfangs hatte er sogar die kleine Julia für den Tod seiner geliebten Frau verantwortlich gemacht, doch dann war die Zuneigung zu seinem Kind größer geworden, und er hatte sein niedliches Töchterchen von Herzen liebengelernt.

»Julia und ich…«, begann er leise und stockend. »Wir müssen zusammenhalten, wenn wir… wenn wir es schaffen wollen und…« Kraftlos senkte er den Kopf. »Ich möchte ihr so viel geben…«

»Das tun Sie doch schon, Herr Merkl«, versicherte Dr. Daniel. »Julia weiß, daß sie geliebt wird. Alles andere muß sich mit der Zeit finden.«

Harald blickte auf. Ein kaum sichtbares Lächeln umspielte seine Lippen.

»Danke, Herr Doktor«, flüsterte er. »Sie haben mir sehr geholfen.«

»Ich habe nichts getan«, wehrte Dr. Daniel bescheiden ab.

»Doch, Sie haben mir zugehört, und Sie haben mir dadurch wieder Mut gemacht.«

*

Sie haben mir wieder Mut gemacht.

Die Worte von Harald Merkl gingen Dr. Daniel lange nicht aus dem Kopf, und er wünschte, er könnte auch Melanie Probst Mut machen, doch im Augenblick meinte es das Schicksal wieder einmal gar nicht gut mit der jungen Frau.

Seit sie aufstehen durfte, verbrachte sie viel Zeit bei ihrem Mann, der noch immer in einem Gipskorsett auf der Intensivstation liegen mußte. Melanie sah natürlich, daß es um Karlheinz nicht gerade gut stand, aber die volle Wahrheit hatte man ihr noch nicht gesagt. Sie war nach dem Unfall und der Fehlgeburt noch nicht gefestigt genug, um weitere Schicksalsschläge auszuhalten.

Auch jetzt saß Melanie neben Karlheinz’ Bett und streichelte immer wieder seine Hand. Langsam öffnete der junge Mann die Augen, doch sein Blick war verschleiert, und Melanie wußte mittlerweile aus Erfahrung, daß er sie nicht wirklich wahrnehmen würde. Tränen rollten über ihre Wangen.

»Kalle«, flüsterte sie zärtlich, doch von ihm erfolgte keine Reaktion.

»Er bekommt starke Schmerzmittel.«

Erschrocken fuhr Melanie herum, als sie so unerwartet von hinten angesprochen wurde. Dr. Daniel hatte die Intensivstation betreten und an den zuckenden Schultern seiner Patientin gesehen, daß sie weinte. Den Grund dafür konnte er sich denken.

Dr. Daniel zog sich einen Stuhl heran und nahm neben Melanie Platz. Tröstend legte er eine Hand auf ihren Arm.

»Ich weiß, wie grau und düster Ihr Leben momentan aussieht«, meinte er. Seine Stimme war sanft und einfühlsam, ein wohltuender Balsam auf Melanies wunde Seele.

»Wird es denn jemals wieder anders, Herr Doktor?« fragte sie kläglich, dann vergrub sie das Gesicht in den Händen. »Gerade jetzt war es so schön. Kalle und ich… wir waren so glücklich…«

Dr. Daniel hätte gern gesagt, daß es wieder so werden würde doch als verantwortungsbewußter Arzt durfte er das nicht tun, denn im Augenblick sah es leider nicht so aus, als würde das Leben dieses jungen Ehepaares wieder völlig in Ordnung kommen.

»Ihr Mann wurde bei dem Unfall sehr schwer verletzt«, erklärte Dr. Daniel in diesem einfühlsamen Ton, der die Worte erträglicher machte. »Es kommt beinahe einem Wunder gleich, daß er überlebt hat. Dafür sollten Sie dankbar sein, Frau Probst.«

Melanie nickte. »Das bin ich ja auch, Herr Doktor, aber…« Ihr Blick wanderte zu Karlheinz. »Warum mußte es überhaupt geschehen? Warum mußte dieser andere Fahrer so rasen…« Sie stockte, dann sah sie Dr. Daniel wieder an. »Was ist eigentlich mit ihm?« Sie wurde ein wenig verlegen. »Wahrscheinlich ist es herzlos von mir, diese Frage erst jetzt zu stellen, aber… er hat so vieles zerstört…«

»Es ist nicht herzlos«, entgegnete Dr. Daniel. »Ich finde es sogar erstaunlich, daß Sie sich in dieser Situation überhaupt um ihn Gedanken machen.« Er schwieg kurz. »Sein rücksichtsloser Fahrstil hat ihn leider das Leben gekostet.«

»Wie schrecklich«, flüsterte Melanie betroffen. Für den Fahrer selbst konnte sie eigentlich kaum Mitgefühl aufbringen – ihr Gedanke galt mehr den Menschen, die er trauernd zurückgelassen hatte… einer ihr unbekannten Frau oder Freundin, Eltern, Geschwistern… Menschen, die ihn geliebt hatten.

»Ja, Frau Probst«, stimmte Dr. Daniel zu. »Derartige Unfälle sind immer schrecklich, vor allem, weil sie vermieden werden könnten, wenn gewisse Autofahrer bei dem, was sie tun, ein wenig mitdenken würden.«

*

Julia Merkl zehrte noch lange von dem Tag, den sie im Hause Daniel verbracht hatte. Immer wieder ließ sie die Stunden vor ihrem geistigen Auge Revue passieren, wenn sie im Haus der Tagesmutter oder in ihrem Zimmer war. Die nette Frau Hansen, die Julia so spontan angeboten hatte, sie Tante Irene zu nennen, genauso wie Tessa das tat, Tessas großer Bruder Stefan, der mit den beiden Mädchen im Garten herumgetobt hatte, ihre ältere Schwester Karina, die am frühen Abend gekommen war und mit den beiden kleinen Mädchen das lustige Gespensterspiel gemacht hatte und vor allen Dingen natürlich Tessas Mama.

Julia kannte die nette Frau Dr. Daniel, die vor ihrer Heirat Carisi geheißen hatte, von einigen Arztbesuchen aus der Zeit, in der Steinhausen noch keinen Kinderarzt gehabt hatte. Jetzt gab es hier den freundlichen Dr. Leitner, und obwohl Julia ihn unheimlich gern mochte, schlug ihr kleines Herz ebenfalls noch sehr für Manon Daniel. Die äußerst sympathische Frau war genauso, wie Julia sich eine Mutti immer vorgestellt hatte, und sie beneidete ihre Freundin Tessa glühend um ihre Mama.

Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman

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