Читать книгу Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman - Marie Francoise - Страница 9

Оглавление

Unruhig wälzte sich Christina Walther im Bett hin und her. Ihr Leben… ihre Zukunft… alles hatte so klar vor ihr gelegen, doch jetzt war alles in Unordnung geraten.

»So allein, schöne Frau?«

Damit hatte es angefangen, und Christina glaubte noch immer, die tiefe, warme und sehr männliche Stimme zu hören. Sie hatte aufgeblickt und direkt in zwei smaragdgrüne Augen, die in krassem Gegensatz zu seiner Stimme standen, gesehen. Harte, kalte Augen, die dennoch so faszinierend und anziehend gewesen waren, daß Christina sekundenlang nicht fähig gewesen war, einen klaren Gedanken zu fassen.

»Ich bin verrückt«, flüsterte sie sich selbst zu und erkannte dabei die Zweideutigkeit ihrer Worte. Ja, sie war verrückt… vor lauter Liebe zu ihm. Alex Simoni. Sein Name klang so außergewöhnlich wie er war.

Christina richtete sich im Bett auf und starrte in die Dunkelheit. Wie hatte es nur passieren können? Mit einem tiefen Seufzer stand sie auf, ging eine Weile im Schlafzimmer auf und ab und trat schließlich auf den Flur und zum Telefon. Sie wußte, daß sie ihre Freundin Tamara aus dem Bett scheuchen würde, aber sie mußte jetzt einfach mit irgend jemandem sprechen.

»König«, meldete sich Tamara nach schier endlosem Klingeln mit verschlafener Stimme.

»Ich bin’s, Christina«, gab sich die Freundin zu erkennen. »Ich muß mit dir reden.«

»Jetzt?« fragte Tamara entsetzt zurück. »Bist du noch zu retten? Es ist drei Uhr früh.«

»Ich weiß«, gab Christina zurück. »Es tut mir ja auch leid, aber… ich habe mich verliebt.«

Ein Seufzen war das einzige, was als Antwort an Christinas Ohr drang.

»Vor zwei Tagen, als wir in der kleinen Weinstube verabredet waren und du mich versetzt hast«, fuhr Christina fort. »Ich war gerade im Begriff zu gehen, da stand er plötzlich vor mir. Tamara, es war Liebe auf den ersten Blick, und… ich war die ganze Nacht mit ihm zusammen.«

»Du spinnst«, urteilte Tamara hart. »Wie konntest du so etwas tun? Du bist mit Rudi so gut wie verlobt, und er hat es nicht verdient…«

»Das weiß ich auch«, fiel Christina ihr ins Wort. »Aber ich kann einfach nichts dagegen tun. Wenn ich an Alex nur denke, wird mir schon heiß und kalt. Mit Rudi… mit ihm war es nie so…«

»Ein kleines Feuer, das dich wärmt fürs ganze Leben, ist viel stärker als die Flammen einer Nacht«, zitierte Tamara die erste Zeile eines Schlagertextes. »Mag sein, das du das für eine Schnulze hältst, aber es steckt doch ein Körnchen Wahrheit drin. Rudi ist ein anständiger Kerl, und ich will ganz ehrlich sein, Christina – ich würde sehr froh sein, wenn ich ihn zum Freund hätte. Dein Alex mag noch so ein Traummann sein…«

»Ich liebe ihn.« Wieder fiel Christina ihrer Freundin ins Wort. »Und ich will ohne ihn nicht mehr leben.«

»Du wirst mit Rudi also Schluß machen«, folgerte Tamara.

»Was soll ich denn sonst tun?« fragte Christina, und plötzlich klang aus ihrer Stimme Verzweiflung.

»Ich fürchte, diese Frage stelltt du mir zu spät«, meinte Tamara. »Du hast deine Entscheidung ja längst getroffen. Aber ich sag’s dir gleich, Christina, wenn du Rudi wegschickst, dann begehst du damit den größten Fehler deines Lebens.«

*

Rudi Keller war wie vor den Kopf gestoßen.

»Es ist… aus?« wiederholte er fassungslos. »Einfach so?«

Christina schaffte es nicht, in die ehrlichen braunen Augen zu sehen, die einen so attraktiven Kontrast zu seinem mittelblonden Haar darstellten. Rudi war nicht die schillernde Erscheinung wie Alex, aber er war zuverlässig, rücksichtsvoll und treu.

»Es tut mir leid, Rudi«, murmelte Christina verlegen. »Die Liebe hat mich getroffen wie ein Blitz. Er… er weckt Empfindungen in mir, die ich bisher überhaupt nicht kannte.« Sie schwieg, weil sie Rudi nicht verletzen wollte, indem sie die Vorzüge von Alex Simoni im einzelnen schilderte. »Es tut mir leid.«

»Nächste Woche wollten wir Verlobung feiern.« Rudis Stimme war leise… sehr traurig. »Am Samstag vor genau fünf Jahren haben wir uns kennengelernt. Unsere Verlobung sollte…«

»Bitte, Rudi«, fiel Christina ihm ins Wort. »Mach es uns beiden doch nicht noch schwerer. Ich verlasse dich bestimmt nicht leichten Herzens. Wir hatten in diesen fünf Jahren so viel Schönes…« Sie stockte. »Ich habe versucht, Alex zu vergessen, aber… es geht nicht. Ich liebe ihn. Bitte, verzeih mir«, fügte sie kaum hörbar hinzu.

Abrupt drehte sich Rudi um.

»Geh«, verlangte er hart.

Instinktiv spürte Christina, daß sie im Begriff war, einen großen Fehler zu begehen, doch ihre Sehnsucht war stärker als die innere Stimme, die sie zurückzuhalten versuchte. Sie stieg in ihr Auto und fuhr los – ihr Herz war schon bei Alex.

Mit brennenden Augen sah Rudi ihr nach, und der Gedanke, daß sie in wenigen Minuten mit diesem anderen zusammen sein würde, grub sich schmerzhaft in sein Herz.

»Rudi.«

Er fuhr herum. Tamara stand in der offenen Tür und sah ihn vol-ler Mitleid an.

»Sie ist verrückt, dich sitzenzulassen«, urteilte sie, dann gab sie wieder einen ihrer Sprüche von sich, für die sie eine besondere Vorliebe hatte. »Schönheit schützt vor Fehlern nicht.«

Rudi mußte lächeln, obwohl ihm im Augenblick eher zum Weinen zumute war.

»Wo hast du denn diese Weisheit her?« wollte er wissen.

Tamara zuckte die Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ein Kalenderspruch. Er paßt im Moment leider ausgezeichnet auf Christinas Verhalten.« Dann legte sie eine Hand tröstend auf Rudis Arm. »Sie wird wieder zur Vernunft kommen. Warte ein paar Wochen, dann kehrt sie mit fliegenden Fahnen zu dir zu-rück.«

Sinnend blickte Rudi in die Ferne. »Fragt sich bloß, ob es dann nicht zu spät ist.«

*

Mit feuchten Händen und einem mulmigen Gefühl im Magen saß Billy Stevens in dem Flugzeug, das ihn von San Francisco nach Frankfurt bringen würde. Dabei ließ sich seine entsetzliche Flugangst kaum unter Kontrolle bringen.

»Billy, du bist ein Hasenfuß«, urteilte die hübsche Stewardeß Heather Curren lächelnd. »Dabei weißt du genau, daß Roger ein ausgezeichneter Pilot ist, und neben ihm sitzt Derek. Wie oft war er bei dir schon Co-Pilot?«

»Weiß ich nicht mehr«, knurrte Billy, dann seufzte er tief auf. »Könnte sich Roger nicht hierhersetzen und mich fliegen lassen? Sobald ich im Cockpit sitzen würde, wäre meine Flugangst verflogen.«

Heather lachte. Sie kannte Billy Stevens schon seit etlichen Jahren. Eine Weile hatte es eine lose Beziehung zwischen ihnen gegeben. Damals waren sie, Derek und Billy, fester Bestandteil einer oftmals wechselnden Crew gewesen. Heather wußte, welch ausgezeichneter Pilot Billy war.

»Du kannst Roger ja mal fragen«, schlug sie vor. »Allerdings schätze ich, daß er sich deinen Flugkünsten genauso wenig anvertrauen will wie umgekehrt du den seinen.«

Billy grinste, und Heather spürte, wie ihr Herz rascher zu klopfen begann. Billy war kein überaus gutaussehender Mann, aber er hatte Herz, Humor und viel Charme. Sein Grinsen erinnerte an den Lausbuben, der er einmal gewesen sein mochte. Bei dieser Mimik blitzte in seinen himmelblauen Augen der Schalk, aber er konnte auch anders. Dabei war ihm vermutlich gar nicht bewußt, wie liebenswert er lächeln konnte, wie sanft und zärtlich seine Augen dann waren…

»Ich bin besser als Roger«, behauptete Billy jetzt und riß Hea-ther damit aus ihren Gedanken.

»Und du bist überhaupt nicht eingebildet«, fügte sie hinzu.

Noch immer grinsend schüttelte Billy den Kopf. »Ich sage nur die Wahrheit.« Dann schnitt er eine Grimasse und preßte eine Hand an die Magengegend. »Wenn Roger mich nicht umgehend ins Cockpit und ans Steuer läßt, dann fürchte ich, daß ich dir eine Menge Schmutz und Arbeit bereiten werde.«

»Das ist üble Erpressung, Billy«, entgegnete Heather. »Im übrigen haben wir die Reiseflughöhe schon erreicht, und es spricht nichts dagegen, daß du die kommenden Stunden auf der Toilette verbringst.«

»Du bist herzlos, Heather. Dabei ist mir wirklich schlecht vor lauter Angst, und wenn ich das noch zehn Stunden aushalten muß…«

Abwehrend hob Heather beide Hände. Dann nahm sie ihn beim Arm. »Na komm, du Quälgeist.«

Er grinste wieder, weil er sein Ziel erreicht hatte. Zwei Minuten später stand er im Cockpit.

»Wie sieht’s aus, Roger?« wollte er wissen. »Hast du Lust, dich ein bißchen zu entspannen?«

»Das tue ich gerade«, entgegnete dieser schmunzelnd, weil er genau wußte, worauf sein Kollege hinauswollte. »Vor fünf Minuten habe ich den Autopiloten eingeschaltet, der uns sicher nach Frankfurt bringen wird.« Dabei lehnte er sich auf dem Pilotensitz zurück, schlug die Beine übereinander und verschränkte die Arme. Der riesige Jumbo-Jet flog vollautomatisch, aber das hatte Billy natürlich gewußt, und jetzt, wo er im Cockpit stand, fühlte er sich seltsamerweise völlig sicher. Vermutlich war es das Gefühl, im Notfall eingreifen zu können, obwohl das bei so erstklassigen Piloten wie Roger Benton und Derek McCormick wirklich nicht nötig gewesen wäre. Sie hatten mehr Flugstunden auf dem Buckel als Haare auf dem Kopf.

Roger grinste herausfordernd. »Was ist los, Billy? Willst du bis zur Landung hier im Cockpit stehenbleiben? Das wird anstrengend für dich, alter Junge.«

Billy seufzte händeringend. »Womit habe ich nur soviel Boshaftigkeit verdient?« Mit Dackelblick sah er Roger an. »Ich kann doch auch nichts für meine Flug-angst.«

Lachend schüttelte Roger den Kopf. »Ein Pilot mit Flugangst. Meine Güte, Billy, das laß bloß keinen hören.«

Mit dem Kinn wies Billy zum Pilotensitz. »Wenn ich da vorne sitze, kenne ich keine Flugangst. Ich vertraue mein Leben eben nur ungern anderen Piloten an.«

»Was treibt dich überhaupt nach Frankfurt?« wollte Derek nun wissen, um Roger von seinen Neckereien abzubringen, damit Billy nicht ständig wieder mit seiner Flugangst konfrontiert wurde.

Billy zuckte die Schultern. »Meine Eltern stammten ursprünglich aus Deutschland, sind aber schon Jahre vor meiner Geburt nach San Francisco ausgewandert. Jetzt will ich mir meine Beinahe-Heimat mal ein bißchen anschauen.«

Das war jedoch nur die halbe Wahrheit. Billys Eltern, die vor mittlerweile zehn Jahren kurz nacheinander gestorben waren, stammten zwar wirklich aus Deutschland, doch der Heimat seiner Eltern galt Billys Interesse nicht. Die Liebe war der Grund für seine Reise – eine unglückliche und völlig aussichtslose Liebe, denn die Frau, die vor fünf Jahren wie ein Wirbelsturm in sein Herz gefegt war, hatte sich damals gerade auf der Hochzeitsreise befunden.

Billy klappte den Notsitz herunter und setzte sich.

»Darf ich hierbleiben?« fragte er.

Roger grinste wieder. »Wenn dir das nicht zu unbequem ist – bitte.«

Billy schüttelte den Kopf, dann fuhr er sich mit gespreizten Fingern durch die dichten blonden Locken. Er war verrückt, diese Reise ins Ungewisse zu unternehmen. Er kannte drüben in Deutschland keine Menschenseele, hatte keine Wohnung und keine Arbeit Und die Chance, dort die Frau zu finden, die selbst nach fünf Jahren noch in seinem Kopf und vor allem in seinem Herzen herumspukte, war äußerst gering. Außerdem… selbst wenn er sie tatsächlich finden sollte, dann war sie ja vermutlich noch immer verheiratet.

Sicher ist sie inzwischen glückliche Mutter und mit ihrem Leben restlos zufrieden, dachte Billy, und plötzlich bereute er, daß er sich zu dieser Reise entschlossen hatte. Es war der pure Wahnsinn gewesen, für eine völlig unrealistische Hoffnung in den Staaten alles zurückzulassen und in einem fremden Land völlig von vorn beginnen zu wollen…

*

»Mami, gehst du schon wieder aus?«

Schmollend zog die vierjährige Sissi ihre Unterlippe hoch und sah ihre Mutter vorwurfsvoll an.

»Immer muß ich mit Nini allein bleiben«, fügte sie hinzu, und bei diesen Worten rollten zwei Tränen über ihre runden Pausbäckchen.

Spontan ging Diana Wieland in die Hocke und nahm ihr Töchterchen zärtlich in die Arme.

»Aber, Mäuschen«, entgegnete sie tröstend, »ich dachte, du hättest immer viel Spaß mit Nadine, wenn ich ausgehe. Soviel ich weiß, hat sie ein ganz neues Spiel mitgebracht.«

Doch damit konnte Diana ihre kleine Tochter heute nicht aufmuntern. Normalerweise war Sissi ja ganz vernarrt in ihr Kindermädchen Nadine, das sie der Einfachheit halber zärtlich Nini nannte, doch heute wollte sie ihre Mutter nicht hergeben. Instinktiv spürte sie wohl, daß Diana zu keinem Geschäftsessen gehen würde.

»Ich will kein neues Spiel«, wehrte Sissi energisch ab. »Ich will, daß du mich ins Bett bringst und mir eine Geschichte vorliest.«

Diana seufzte leise. Sie ging nur selten einmal privat aus, weil Sissi ohnehin oft genug auf ihre beruflich sehr eingespannte Mutter verzichten mußte, und Diana wollte ihrem Kind so viel Zeit wie möglich widmen, mußte sie für Sissi ja Mutter und Vater zugleich sein. Doch heute…

»Morgen bringe ich dich ins Bett, Schatzele«, versprach sie. »Und dann lese ich dir auch eine ganz lange Geschichte vor, einverstanden?«

Doch Sissi schüttelte den Kopf, daß die hellbraunen Locken nur so flogen.

»Nein, heute«, beharrte sie.

Diana zögerte, war aber schon drauf und dran, ihre Verabredung abzusagen, weil sie es nicht ertragen hätte, Sissi weinend bei dem Kindermädchen zurückzulassen. Der Abend mit Alex würde ihr ja doch keinen Spaß machen, wenn sie wußte, daß ihr Töchterchen traurig war.

»Sissi, ich habe eine ganz tolle Idee«, mischte sich in diesem Moment Nadine ein. »Wenn deine Mami ausgeht, dann gehen wir beide einfach auch aus.« Vertraulich zwinkerte sie dem kleinen Mädchen zu. »Mein Idefix muß unbedingt noch mal Gassi geführt werden. Ich nehme die große Taschenlampe mit, und dann werden wir beide so lange mit Idefix draußen herumlaufen, bis es dunkel ist. Was glaubst du, wie lustig das wird.«

In Sissis Gesichtchen ging die Sonne auf. Nadines Hund, eine liebenswerte Promenadenmischung, war ihr ein und alles. Dazu noch eine Nachtwanderung mit Taschenlampe… etwas besseres hätte dem Kindermädchen gar nicht einfallen können. Diana warf ihr einen dankbaren Blick zu und verabschiedete sich dann sehr zärtlich von Sissi, die es jetzt kaum noch erwarten konnte, bis ihre Mutter endlich das Haus verlassen hatte.

Diana bestieg ihren schnittigen Sportwagen und fuhr zu dem kleinen Weinlokal am Ortsrand von Steinhausen. Als sie ausstieg und auf die schwere Eingangstür zuging, bekam sie heftiges Herzklopfen. Seit dem Tod ihres Mannes vor mehr als vier Jahren hatte es in ihrem Leben nur noch Sissi und ihre Arbeit gegeben – für die Liebe sollte da kein Platz mehr sein, denn ein Teil ihres Herzens war mit Michael gestorben. Doch nun war Alex in ihr Leben getreten, und Diana fühlte, daß es auch für sie noch Liebe gab… eine Liebe, so groß und gewaltig, wie sie sie vorher nur bei Michael kennengelernt hatte.

»Diana.«

Mit einem charmanten Lächeln kam er ihr entgegen, und wieder fielen Diana die seltsam kalten, smaragdgrünen Augen auf, die so gar nichts von den Gefühlen preisgaben, zu denen er fähig war. Voller Herzlichkeit erwiderte sie sein Lächeln.

»Alex.«

Er nahm sie in die Arme und küßte sie, bevor er sie zu dem verschwiegenen kleinen Nischentisch begleitete, den er zuvor bereits ausgewählt hatte.

»Ich dachte schon, du würdest gar nicht kommen«, erklärte er, und in seiner Stimme schwang leiser Vorwurf mit.

Diana seufzte. »Ach, weißt du, Alex, es ist nicht immer leicht für mich, von zu Hause wegzukommen. Durch das riesige Unternehmen, das ich nach Michaels Tod geerbt habe, bin ich beruflich viel unterwegs. Sogar jetzt, nach mehr als vier Jahren, habe ich mich noch immer nicht restlos eingearbeitet, weil es so viel ist, worum ich mich kümmern muß. Und ich will Sissi wegen des Unternehmens keinesfalls vernachlässigen. Wenn ich dann auch noch privat ausgehe…« Sie schütelte den Kopf. »Ich will Sissi nicht ständig allein lassen. Sie hat ja nur mich. Ihren Vater hat sie nie kennengelernt…« Sie stockte. Die Erinnerung an den schrecklichen Unfall, bei dem Michael damals ums Leben gekommen war, tat noch immer weh. Zu dieser Zeit war sie mit Sissi im siebten Monat schwanger gewesen, und wenn sich ihr Frauenarzt Dr. Robert Daniel nicht so rührend um sie gekümmert hätte – Diana wußte nicht, wie sie die ersten schrecklichen Monate, die Probleme mit dem riesigen Unternehmen, das sie plötzlich von heute auf morgen hatte leiten müssen, und nicht zuletzt auch Sissis Geburt, überstanden hätte.

»Ich will nicht, daß Sissi nur von Kindermädchen erzogen wird«, fügte sie leise hinzu. »Sie soll wissen, daß sie eine Mutter hat, die trotz aller Verpflichtungen immer da ist, wenn sie sie braucht.«

Alex zeigte sein charmantes Lächeln und legte eine Hand auf die von Diana.

»Vielleicht sollten wir bald heiraten, Liebes«, schlug er vor. »Dann würde ich mich um das Unternehmen kümmern, und Sissi hätte ihre Mutter ständig um sich.« Sein Lächeln wurde inniger. »Im übrigen hätte sie dann endlich einen Vater.« Der diesem verzogenen Fratz ganz gehörig den Hosenboden strammziehen würde, fügte er – vorsichtshalber nur in Gedanken – hinzu.

Ein seliges Leuchten erhellte Dianas Gesicht. »Alex, das wäre zu schön, um wahr zu sein.« Sie wurde wieder ernst. »Das Unternehmen verlangt mir eine Menge Arbeit ab, und Sissi… sie wird größer und braucht mich immer dringender.«

Sie braucht eine harte Hand, die ihr zeigt, wo ’s langgeht, dachte Alex grimmig. Aber das wird sie bei mir schon lernen.

»Dann sollten wir das Aufgebot bestellen«, meinte er laut und sein Gesicht verriet dabei nicht, was in seinem Innern vorging. »Je eher wir verheiratet sind, um so besser für dich und Sissi.« Und für mich, fügte er in Gedanken hinzu. Wenn ich dein Vermögen erst mal in Händen habe, bin ich ein gemachter Mann und kann leben, wie es mir gefällt.

*

Alle Anzeichen sprachen für sich, und so war Christina Walther nicht sonderlich überrascht, als der Schwangerschaftstest positiv ausfiel. Es erschreckte sie nicht einmal, denn ihre Liebe zu Alex Simoni war so tief, daß es für sie keine Frage war, wie er reagieren würde.

Beschwingt eilte sie zu dem Haus, in dessen Dachgeschoß Alex eine kleine Wohnung hatte. Hier trafen sie sich regelmäßig und genossen ihre traute Zweisamkeit, doch heute schien Alex über ihr unverhofftes Erscheinen gar nicht erfreut zu sein.

»Was willst du hier?« entfuhr es ihm, als er die Tür öffnete und sich Christina gegenübersah. »Soweit ich weiß, waren wir für heute nicht verabredet.« Er schwieg kurz, machte aber keine Anstalten, Christina in die Wohnung zu lassen. »Du kannst nicht einfach unangemeldet bei mir auftauchen.«

Im ersten Moment war Christina geschockt, doch dann mußte sie lächeln. »Ach komm, Alex, du tust ja ganz so, als hättest du eine fremde Frau im Kleiderschrank versteckt.«

Es sollte ein Scherz sein, doch Alex lachte durchaus nicht.

»Also, was ist los?« hakte er nach.

Befremdet sah Christina ihn an. »Willst du mich denn nicht hineinlassen?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn du mir etwas zu sagen hast, dann kannst du es auch hier tun. Ansonsten läßt du mir bitte meine Ruhe.«

Fassungslos starrte Christina ihn an. War das noch derselbe Mann, der ihr erst vor zwei Tagen süße Worte der Liebe ins Ohr geraunt hatte?

»Alex…«, begann sie entsetzt.

Da trat er ganz dicht vor sie hin, und Christina erschrak vor dem kalten Glitzern in seinen smaragdgrünen Augen.

»Hör zu«, zischte er, »ich habe da drin eine für mich sehr wichtige Frau sitzen, und ich denke nicht daran, mir diese Geschichte von dir vermiesen zu lassen, nur weil du beschlossen hast, rührselig zu werden. Also noch einmal im Klartext: Sag, was du zu sagen hast, und dann verschwinde.«

Christina schluckte schwer. Sie begriff noch immer nicht ganz, was hier vorging.

»Ich… ich bin schwanger«, stammelte sie.

Ungerührt zuckte Alex die Schultern. »Dein Problem. Sieh zu, wie du damit fertig wirst.«

Damit schlug er ihr die Tür einfach vor der Nase zu. Christina starrte auf das zerkratzte Holz, das auch mehrere Lackschichten nicht ansehnlicher machten, und fragte sich, ob sie eben einen Alptraum erlebt hatte. Die Wirklichkeit konnte es jedenfalls nicht sein. Alex war doch gar nicht so, wie er sich jetzt gegeben hatte.

»Vielleicht habe ich einfach nur einen ungünstigen Zeitpunkt erwischt«, murmelte sie sich zu. »Er war anscheinend mitten in einer wichtigen Besprechung.«

Unwillkürlich lauschte sie, doch das Haus war solide gebaut, und selbst die altersschwachen Türen schlossen noch erstauntlich gut. Nicht das geringste Geräusch drang nach draußen, und auf den Gedanken, daß der Interessenaustausch von Alex und der angeblich so wichtigen Frau möglicherweise ganz wortlos vor sich gehen könnte, kam Christina nicht, weil sie sich Alex’ Liebe völlig sicher war.

Langsam drehte sie sich um und ging die Treppe hinunter. Sie hatte sich das alles so schön vorgestellt… wie sie es Alex sagen würde, wie er eine Flasche Sekt kaltstellen und dann mit ihr Verlobung feiern würde. Doch er hatte nur von einem »Problem« gesprochen, nicht von der Frucht ihrer Liebe.

*

»Wer war das, Liebling?« wollte Diana wissen, als Alex ins Wohnzimmer zurückkehrte, sich wieder neben sie setzte und sie zärtlich in die Arme nahm.

»Niemand von Bedeutung«, raunte er ihr zu und ließ seine Lippen von ihrem Ohrläppchen über den Hals zu den schmalen Schultern gleiten. Diana erschauerte unter den sanften Liebkosungen, und ihr schlechtes Gewissen, Sissis Kindergartenvormittag ausgenutzt zu haben, um sich mit Alex zu treffen, anstatt einer wichtigen Vorstandssitzung beizuwohnen, schwand ein wenig.

»Wann bestellen wir denn nun das Aufgebot?« flüsterte Alex ihr zu.

Diana wich ein wenig zurück. »Bevor wir diesen Schritt vollziehen, solltest du erst Sissi kennenlernen, meinst du nicht? Außerdem hat sie auch ein Recht zu erfahren, wenn ihre Mutter zu heiraten gedenkt.«

Sein zärtliches Lächeln gab nicht preis, was in seinem Innern vorging. Der Gedanke, Dianas Tochter gegenüberzutreten, entzückte ihn nicht gerade, vor allem, weil er spürte, daß sie ihre endgültige Entscheidung von Sissis Reaktion abhängig machen würde.

»Du hast natürlich vollkommen recht«, stimmte Alex scheinheilig zu. »Eigentlich hätte ich ja selbst darauf kommen müssen.« Er küßte sie wieder. »Aber die Liebe zu dir macht es mir völlig unmöglich, einen klaren Gedanken zu fassen.«

Zärtlich streichelte Diana sein Gesicht. »Du machst wunderschöne Liebeserklärungen.« Sie schwieg einen Moment und wurde dann seltsam ernst. »Weißt du, Alex, die Begegnung mit Sissi könnte für dich… wie soll ich sagen… es ist möglich, daß sie dich nicht auf Anhieb in ihr Herz schließen wird.«

Unwillkürlich hielt Alex den Atem an.

»Seit sie geboren ist, hat sie mich immer ganz für sich allein gehabt«, fuhr Diana fort, »es ist möglich, daß sie dich als Rivalen betrachtet. Wir müssen vermutlich viel Geduld haben.«

»Die habe ich bestimmt«, versicherte Alex. Er fühlte sich wieder sicherer, weil er Dianas tiefe Liebe spürte. Trotzdem wollte er sich über ihre Entscheidung vergewissern.

»Wenn Sissi mich nun ganz massig ablehnen würde… ich meine, wenn sie sich gar nicht überzeugen ließe, daß du sie auch nach der Hochzeit mit mir noch genauso sehr liebst… wie würdest du dich dann entscheiden?« fragte er.

Diana senkte den Kopf.

»Es wäre eine schwierige Entscheidung«, räumte sie ein, dann schwieg sie eine Weile. »Ich weiß nicht, was ich tun würde. Vermutlich müßte ich erst vor dieser Situation stehen, um zu wissen, was mir wichtiger wäre. Ich liebe dich, Alex, aber Sissi ist mein ein und alles. Sie ist mein Kind, und ich könnte es nicht ertragen, wenn sie unglücklich wäre. Andererseits… sie wird eines fernen Tages einen jungen Mann kennenlernen und ihren Weg gehen.« Gegen ihren Willen mußte sie lächeln. »Auch wenn ich mir das jetzt noch überhaupt nicht vorstellen kann.« Sie wurde wieder ernst. »Sissi wird einmal ihr eigenes Leben führen, und ich bleibe dann vielleicht auf der Strecke. Aber wozu machen wir uns schon jetzt Gedanken darüber.« Liebevoll umarmte sie Alex. »Sicher wird sie dich auf Anhieb ins Herz schließen, und unsere ganze Diskussion wird sich als gegenstandslos erweisen.«

*

Billy Stevens hatte es in Frankfurt nicht lange ausgehalten. Die Stadt war ihm zu laut und zu groß. Er war im Napa Valley groß geworden, auf einem kleinen Weingut, das idyllisch zwischen sanften Hügeln eingebettet gelegen hatte.

Billys Vater war Münchner gewesen. In Gedanken an seinen liebenswert-rauhbeinigen Vater mußte Billy schmunzeln. Josef Schröder hatte er geheißen, doch in Amerika war daraus der Einfachheit halber Joe Stevens geworden. Aber trotz dieses Namens war es seinem Vater nie ganz gelungen, ein wirklicher Amerikaner zu werden. Wie oft hatte er Billy vom Hofbräuhaus, vom Viktualienmarkt und vom Rathaus mit seinem Glockenspiel erzählt? Von den Bergen, in die er so gern gegangen war, und von den vielen idyllisch gelegenen Seen.

Ganz spontan löste Billy eine Fahrkarte nach München, stieg in den Zug und ließ sich aufatmend auf seinen Sitz fallen. Vielleicht würde München das Richtige für ihn sein… oder irgendein kleiner Ort an einem der idyllischen Seen, von denen sein Vater so oft gesprochen hatte. Billy runzelte nachdenklich die Stirn. Wenn er sich nur an die Namen erinnern könnte. Es dauerte eine Weile, dann kamen sie langsam in sein Gedächtnis zurück: Schliersee, Spitzingsee, Kochelsee… aber einen dieser Seen hatte sein Vater ganz besonders geliebt, und genau der wollte Billy beim besten Willen nicht einfallen.

Er schaute aus dem Fenster auf die vorbeibrausende Landschaft. Städte, Dörfer, Felder, Wiesen und Wälder… alles ließ er hinter sich, in der Hoffnung, dort, wo sein Vater so glücklich gewesen war, eine neue Heimat zu finden. Die Sehnsucht nach dem Napa Valley drohte ihn einzuholen, aber auch die Sehnsucht nach seinen Freunden und Kollegen. Dabei wurde er das Gefühl nicht wieder los, als hätte er mit seiner Reise hierher einen Fehler gemacht.

Der Zug nahm die Geschwindigkeit zurück und fuhr wenig später in den Münchner Hauptbahnhof ein. Billy nahm seinen Koffer und machte sich auf die Suche nach einem Hotelzimmer. Danach schlenderte er die Fußgängerzone hinunter, bewunderte wie viele andere Touristen das Glockenspiel des Rathauses und ging dann weiter in Richtung Viktualienmarkt, als ihm ein Werbeplakat auffiel.

Bayrische Meisterschaften in Karate las er halblaut und mußte dabei unwillkürlich an seinen Schulfreund Jeffrey Parker denken. Nach den Abschlußprüfungen hatten sie sich aus den Augen verloren, denn Jeff hatte studiert, um Arzt zu werden, während Billys Herz für die Fliegerei geschlagen hatte. Aber damals, als sie sich das letzte Mal gesehen hatten, hatte Jeff immerhin schon den blauen Gürtel gehabt. Er war bestimmt ein guter Karateka geworden, denn Jeff hatte ja bei-

nahe überall zu den Besten ge-hört.

Billy seufzte leise. Wieder ergriff ihn die Sehnsucht nach der Heimat, und ohne genau zu wissen, warum, besorgte er sich eine Karte für die Meisterschaftskämpfe, obwohl er sich nur wenig für diesen Sport interessierte. Wahrscheinlich war es einfach die Erinnerung, die er mit Karate verband.

Als er dann knapp einen Monat später in der Halle saß, in der die Kämpfe ausgetragen werden sollten, fühlte er sich entsetzlich fehl am Platze. Er hatte keine Ahnung von Karate, und wenn er sich vor vier Wochen in diesem Anfall von Sentimentalität nicht eine Karte gekauft hätte, wäre er sicher nicht hergekommen.

»Meine Damen und Herren, ich darf Ihnen den amtierenden Bayrischen Meister in Karate vorstellen: Dr. Jeffrey Parker!«

Billy fuhr hoch. Er hatte das Gefühl zu träumen. Da vorne, keine zehn Meter Luftlinie von ihm entfernt, stand Jeff Parker, sein Schulfreund, den er zuletzt vor mehr als fünfzehn Jahren gesehen hatte.

Billy konnte das Ende der Veranstaltung kaum erwarten, dann machte er sich auf die Suche nach Jeff. Es kostete ihn einige Mühe, bis zu ihm vorzudringen, aber schließlich war es geschafft.

»Jeff, erkennst du mich noch?« fragte Billy und wußte, daß er im umgekehrten Falle hätte verneinen müssen. Wäre ihm Jeff auf der Straße begegnet, wäre er sicher ohne Zögern an ihm vorbeigegangen. Mit den dunkelblonden Haaren, die ihm gerade bis zum Nacken reichten, und dem kurz geschnittenen Vollbart sah er so ganz anders aus als damals beim Schulabschluß.

Jeff drehte sich zu ihm um, musterte ihn eine Weile und lächelte dann. »Billy. Billy Stevens.« Er schlug ihm freundschaftlich auf die Schulter. »Meine Güte, wie kommst du denn nach München?«

Billy grinste… etwas, was er seit Wochen nicht mehr getan hatte, doch Jeff vermittelte ihm durch seine bloße Anwesenheit bereits ein Stück Heimat.

»Mit dem Flugzeug«, antwortete er, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, eigentlich mit dem Zug.« Er wurde wieder ernst. »Mann, ist das schön, dich zu sehen.«

Jeff betrachtete ihn und entdeckte in seinen Augen etwas, was einem weniger aufmerksamen Beobachter sicher entgangen wäre.

»Du mußt einsam sein.«

Billy senkte den Kopf, zögerte einen Moment und nickte dann. »Entsetzlich einsam sogar.« Er blickte wieder auf. »Es war ein Fehler hierherzukommen, aber… drüben habe ich es auch nicht mehr ausgehalten.«

Jeff hörte den Hilferuf, der in diesen Worten lag. Spontan legte er eine Hand auf Billys Schulter.

»Warte hier auf mich«, bat er. »Ich muß mich duschen und umziehen, dann fahren wir zu mir nach Hause.«

»Du wohnst hier?« fragte Billy erstaunt.

Jeff lächelte. »Nicht direkt in München, sondern ein Stück außerhalb, in einem idyllischen kleinen Vorgebirgsort.« Er sah auf die Uhr. »In zehn Minuten bin ich zurück.«

Es dauerte wirklich nicht lange, bis Jeff in Jeans und Hemd zurückkehrte und zusammen mit Billy zum Parkplatz ging. Er warf seine Trainingstasche in den Kofferraum, dann schloß er die Beifahrertür auf, bevor er sich hinters Steuer setzte.

»Ich nehme nicht an, daß du ohne Gepäck nach Deutschland gekommen bist«, meinte Jeff, während er den Motor anließ.

»Einen Koffer habe ich im Hotel«, antwortete Billy. »Alles andere liegt in der Gepäckaufbewahrung am Bahnhof.« Wieder blickte er verlegen zu Boden. »Ich wußte nicht, wohin damit.«

Jeff nickte, dann bog er aus dem Parkplatz auf die Straße. »Das holen wir morgen. Fürs erste bleibst du selbstverständlich bei mir.«

Billy brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Was wird denn deine Frau dazu sagen?«

»Ich bin nicht verheiratet«, entgegnete Jeff, dann lächelte er. »Und meine geliebte Freundin hat im Augenblick herzlich wenig Zeit für mich.« Er sah Billy kurz an, bevor er sich wieder auf die Straße konzentrierte, die zu dieser späten Stunde kaum noch befahren war. »Karina ist Assistenz-ärztin in der Thiersch-Klinik, und eigentlich wollte sie bei den heutigen Kämpfen zusehen, aber der gute Professor ist entsetzlich streng mit seinem Personal, und gerade den Assistenzärzten verlangt er eine Menge ab. Der lange Rede kurzer Sinn: Karina muß heute überraschend Nachtdienst verrichten.«

»Arbeitest du auch in dieser Klinik?« wollte Billy wissen.

Jeff schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin Anästhesist in der Waldsee-Klinik in Steinhausen. Dort wohne ich auch.«

»Waldsee!« wiederholte Billy, als plötzlich die Erinnerung an die Worte seines Vaters zurückkehrte. »Meine Güte, genau das war es. Der Waldsee… dort muß Dad oft gewesen sein, als er noch in Deutschland lebte.«

»Es ist ein wunderschönes Fleckchen Erde, du wirst sehen«, versicherte Jeff. »Und wenn du erst mal ein bißchen zur Ruhe gekommen bist, werden wir sicher Gelegenheit haben, uns eingehend zu unterhalten.«

*

Christina Walther hatte vergeblich auf einen Anruf von Alex gewartet. Schließlich hielt sie es nicht länger aus und suchte ihn erneut in seiner kleinen Dachwohnung auf.

»Was willst du denn schon wieder?« fragte Alex unwirsch, doch diesmal ließ er sie wenigstens nicht auf dem Flur stehen, sondern ging ihr voran ins Wohnzimmer.

»Alex, ich verstehe nicht…«, stammelte Christina. »Ich dachte… du liebst mich, doch jetzt… jetzt habe ich das Gefühl, als wäre ich dir nur im Weg.« Sie schwieg kurz. »Ist es… wegen des Babys?«

Völlig desinteressiert winkte Alex ab. »Hör mal, Schätzchen, ob du ein Baby bekommst oder nicht, ist mir herzlich egal.«

Entsetzt starrte Christina ihn an. »Aber… es ist doch auch dein Kind!«

Alex zog die Augenbrauen hoch. »Wer sagt denn das? Ich war schließlich nicht rund um die Uhr mit dir zusammen, meine Liebe. Woher soll ich wissen, mit wem du dich sonst noch alles herumgetrieben hast?«

Christina schnappte hörbar noch Luft. »Alex!«

»Reg dich nicht auf, Schätzchen«, entgegnete Alex in einem Ton, als würde er mit einem törichten kleinen Kind sprechen, dann berührte er Christinas Gesicht. »Du bist schön.« Er lächelte. »Die Schwangerschaft tut dir anscheinend gut. Andere Frauen, die Babys erwarten, sehen blaß und elend aus, aber du… meine Güte, ich wußte gar nicht, wie schön du bist.« Er beugte sich zu ihr und küßte sie.

Mechanisch erwiderte Christina seinen Kuß – unsicher, wie sie sein seltsames Verhalten nun eigentlich deuten sollte.

Alex zwang sie auf das Sofa, seine Küsse wurden leidenschaftlicher und steckten Christina schließlich an. Doch als sie ihre Arme um seinen Nacken schlang, wich er plötzlich ein wenig zurück – gerade so weit, daß er sie anlächeln konnte.

»Ich glaube, wir sollten diese Affäre jetzt noch nicht beenden«, meinte er und schien Christinas entsetztes Gesicht gar nicht zu bemerken.

»Affäre!« stieß sie hervor und versuchte sich aufzurichten, doch Alex’ Körper hielt sie weiterhin in der halbliegenden Stellung gefangen. »Bin ich für dich denn nicht mehr als eine Affäre?«

Alex lächelte wieder, doch diesmal sah Christina nicht auf seinen Mund, sondern in seine Augen und fröstelte vor der Kälte, die ihr entgegenschlug.

»Hast du das etwa angenommen?« fragte er zurück, dann richtete er sich auf. »Du hast mir gefallen, und ich muß gestehen, du gefällst mir noch immer. Darauf kannst du stolz sein, Schätzchen. Ich vergnüge mich normalerweise nicht länger als ein, zwei Wochen mit demselben Mäd-chen. Wir beide sind nun schon fast drei Monate zusammen. Das ist für meine Verhältnisse ganz beachtlich.« Er nahm eine von Christinas blonden Locken und wickelte sie um seinen Finger. »Wenn es nach mir geht, müssen wir die Affäre auch noch nicht beenden. Wir sollten in den kommenden Wochen nur ein bißchen vorsichtig sein.«

Jetzt stand er auf, zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief, ehe er fortfuhr: »Ich gedenke zu heiraten.«

Christina fühlte sich wie in einem aberwitzigen Alptraum, und irgendwie glaubte sie, sie müsse im nächsten Moment aufwachen und erkennen, daß alles gar nicht wahr sei. Doch sie wachte nicht auf.

»Meine zukünftige Frau ist natürlich steinreich«, fuhr Alex fort. »Genau aus diesem Grund habe ich sie ja ausgewählt. Mein Leben wird nach der Hochzeit sehr luxuriös verlaufen. Da gehört eine Geliebte sozusagen zur Grundausstattung hinzu.« Mit der Zigarette im Mund beugte er sich so weit zu Christina hinunter, daß der Rauch sie zum Husten reizte. »Diese Geliebte wirst du sein, mein Schatz – zumindest vorläufig.«

»Du bist ja verrückt«, stieß Christina heiser hervor.

»Verrückt?« wiederholte Alex, dann schüttelte er lachend den Kopf. »Nein, mein Mädchen, verrückt bin ich ganz bestimmt nicht. Ich bin klug, und ich weiß genau, was ich will. Also, Schätzchen, du hast die Wahl. Entweder du erklärst dich mit diesem Arrangement einverstanden, dann werden du und der Balg, den du zur Welt bringen wirst, in gediegenem Wohlstand leben, oder du ziehst Leine, dann allerdings kannst du zusehen, wie du dich und deinen Bastard durchbringst.«

Christina schluckte schwer.

»Du mieser…«, begann sie, doch weiter kam sie nicht, denn Alex griff grob in ihr dichtes Haar und zog sie hoch.

Christina schrie auf vor Schmerz und versuchte, ihre Haare aus Alex’ Hand zu lösen, doch das erwies sich als aussichtslos.

»Reiß dich bloß zusammen!« zischte Alex, während sich seine Hand noch fester in ihrem Haar verkrallte. Ihre Kopfhaut brannte wie Feuer.

»Laß mich los«, wimmerte sie. »Bitte, Alex, laß mich los.«

Er stieß sie brutal von sich. Christina taumelte und fiel wieder auf das Sofa zurück. Ihr war, als würden tausend Nadeln in ihrem Kopf stecken. Leise weinend preßte sie eine Hand gegen die schmerzende Stelle.

»Ich nehme an, du hast deine Entscheidung getroffen«, erklärte Alex kalt, dann nahm er sie mit festem Griff am Arm, zog sie wenig charmant durch die Wohnung und vor die Tür. »Adieu, mein Schatz.«

Im nächsten Moment stand Christina allein in dem kalten Hausflur. Sie starrte die zerkratzte Tür an, die hinter ihr ins Schloß gefallen war. Wären die Schmerzen an der Stelle, wo Alex ihre Haar gepackt hatte, nicht allzu deutlich gewesen, hätte sie wohl noch immer geglaubt, daß sie nur einen schrecklichen Traum geträumt hätte. So aber stand die Wirklichkeit sehr schmerzhaft vor ihr.

Mit langsamen, schleppenden Schritten und noch immer weinend quälte sich Christina die Treppe hinunter und trat auf die Straße. Sie bemerkte nicht, wie sich Passanten nach ihr umdrehten und sie teils neugierig, teils besorgt mit Blicken verfolgten.

»Fräulein Walther.«

Christina zuckte beim Klang der männlichen Stimme erschrocken zurück und taumelte, weil die rasche Bewegung zu einem plötzlichen Schwindelgefühl geführt hatte. Eine kräftige Hand griff stützend an ihren Arm, und dann erkannte Christina, von wem sie da angesprochen worden war. Es war der Gynäkologe Dr. Robert Daniel. Sie selbst gehörte ja auch zu seinem Patientenkreis, hatte sich bis jetzt aber gescheut, ihn wegen ihrer Schwangerschaft aufzusuchen.

»Was ist denn los?« fragte Dr. Daniel besorgt. »Fühlen Sie sich nicht wohl?«

»Es… es geht schon«, stammelte Christina und wollte ihren Weg fortsetzen, doch so leicht ließ sich Dr. Daniel jetzt nicht abwimmeln. Er machte sich Sorgen um sie… berechtigte Sorgen.

»Das Gefühl habe ich nicht«, erwiderte er, dann wies er zu seinem Auto, das auf der gegenüberliegenden Straßenseite stand. »Soll ich Sie nach Hause fahren?«

Christina schüttelte den Kopf und versuchte ihren Weg allein fortzusetzen, doch das Schwindelgefühl kehrte zurück. Sie taumelte erneut, dann sackte sie in die Knie. Dr. Daniel griff sofort helfend zu, doch da war der Schwächeanfall schon vorüber. Allerdings war Dr. Daniel nun erst recht nicht mehr bereit, sich mit fadenscheinigen Erwiderungen abspeisen zu lassen.

»Fräulein Walther, ich bringe Sie jetzt zu mir in die Praxis.« Er überlegte kurz. »Nein, noch besser gleich in die Waldsee-Klinik.«

»Das ist wirklich nicht nötig, Herr Doktor«, widersprach Christina leise. »Ich hatte gerade ein… ein sehr unerfreuliches Erlebnis, das ist alles. Ich werde mich zu Hause ein bißchen hinlegen.«

»Seien Sie doch vernünftig«, fiel Dr. Daniel ihr sanft ins Wort. »Eine Untersuchung schadet nichts, und wenn es wirklich nur an diesem unerfreulichen Erlebnis liegen sollte…« Er zögerte kurz. »Vielleicht möchten Sie darüber sprechen.«

Christina schüttelte den Kopf, ging ein paar Schritte und blieb dann stehen. Sie fühlte sich schwach und müde. Ihre Knie zitterten, als würden sie jeden Moment wieder nachgeben.

»Vielleicht sollte ich doch mitkommen«, räumte sie ohne rechte Überzeugung ein. Sie wollte nicht ins Krankenhaus, andererseits war die Aussicht auf einen einsamen Heimweg auch nicht verlockend. Außerdem war sie schwanger und die erste Untersuchung längst überfällig.

Fürsorglich begleitete Dr. Daniel die junge Frau zu seinem Auto, hielt ihr die Beifahrertür auf und setzte sich dann hinters Steuer. Mit dem Wagen war die Fahrt zur Waldsee-Klinik in wenigen Minuten bewältigt. Jetzt, da sie sitzen konnte, fühlte sich Christina schon wieder besser, und fast bereute sie, daß sie sich hierher hatte bringen lassen.

»Ich glaube… ich sollte…«, begann sie unsicher, doch Dr. Daniel sah sie mit seinen gütigen blauen Augen an und griff dann beinahe väterlich nach ihrer Hand.

»Ich glaube, Sie sollten sich untersuchen lassen«, meinte er. »Kommen Sie, Fräulein Walther.«

Ergeben folgte Christina ihm in die Klinik, legte sich im Untersuchungsraum gehorsam auf die Liege und ließ zu, daß Dr. Daniel Puls und Blutdruck kontrollierte, Herz und Lunge abhörte und sie über ihr Befinden befragte. Ob sie Kopfschmerzen habe, Schwindelanfälle, Gleichgewichtsstörungen, wollte er wissen.

Christina antwortete mechanisch und ohne sonderliches Interesse. Ihr war, als wäre sie innerlich erloschen… abgestorben… tot. Alex hatte ihre Liebe verraten… ihre Gefühle miß-braucht.

»Ich erwarte ein Baby«, flüsterte sie. Sie wußte nicht, ob Dr. Daniel ihr eine Frage gestellt hatte – sie sprach es einfach aus.

Spontan setzte sich Dr. Daniel neben Christina auf die Untersuchungsliege.

»Das klingt, als wären Sie nicht sehr glücklich darüber«, stellte er fest.

Christina nickte, dann sah sie Dr. Daniel an. »Als ich die Schwangerschaft bemerkte, habe ich mich darüber gefreut, aber jetzt…« Sie blickte wieder zu Boden.

»Ich nehme an, daß das mit dem unerfreulichen Erlebnis zusammenhängt, das Sie auf der Straße erwähnten«, vermutete Dr. Daniel. »Hat Ihr Freund… Schluß gemacht?« Er wußte, daß Christina schon seit vielen Jahren einen festen Freund hatte.

Jetzt schüttelte sie den Kopf. »Es ist leider alles… viel schlimmer… komplizierter.«

»Zu kompliziert, um darüber sprechen zu können?« hakte Dr. Daniel behutsam nach.

Christina zuckte die Schultern, dann seufzte sie. »Nein, eigentlich nicht. Sie wissen vermutlich, daß ich seit fünf Jahren mit Rudi Keller zusammen bin.«

»Ich weiß, daß Sie seit etlichen Jahren einen festen Freund haben, aber ich wußte nicht, wer es war«, berichtigte Dr. Daniel. Er kannte Rudi Keller nur flüchtig, hatte aber einen sehr guten Eindruck von ihm.

Christina atmete tief durch. »Wir standen unmittelbar vor der Verlobung, als ich mich Hals über Kopf in Alex verliebte und mit Rudi Schluß machte.« Sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte hilflos. »Das war wohl der größte Fehler meines Lebens, aber jetzt… jetzt gibt es kein Zurück mehr. Ich erwarte von Alex ein Baby…«

»Und Sie haben festgestellt, daß Sie Rudi noch immer lieben«, mutmaßte Dr. Daniel.

»Ich weiß es nicht«, gab Christina offen zu. »Im Moment weiß ich überhaupt nichts mehr. Ich bin in eine schreckliche Sackgasse geraten. Es gibt keinen Weg nach vorn, aber auch keinen mehr zurück. Ich stehe vollkommen allein da… allein mit dem Baby eines Mannes, der…« Sie konnte das Angebot, das Alex ihr gemacht hatte, nicht aussprechen. Es war einfach zu beschämend.

»Nein, Fräulein Walther, allein stehen Sie nicht da«, entgegnete Dr. Daniel tröstend. »Ich bin auch noch da, und ich werde versuchen, Ihnen zu helfen, soweit es in meiner Macht steht.« Er überlegte kurz. »Fürs erste bleiben Sie mal hier in der Klinik. In Ihrem momentanen Zustand können Sie nicht arbeiten. Im übrigen würde ich Sie auch gern zur Beobachtung hierbehalten. Außerdem müssen wir ein paar Untersuchungen durchführen, um festzustellen, ob es Ihrem Baby gutgeht.«

Christina nickte, dann sah sie Dr. Daniel dankbar an. »Ich bin froh, daß ich Ihnen vorhin auf der Straße begegnet bin. Wenn ich jetzt allein wäre…« Sie beendete den Satz nicht, weil sie nicht wußte, was sie in diesem Fall getan hätte. Ihr ganzes Leben lag plötzlich in Scherben vor ihr, und sie hatte den Eindruck, als würde es sich nie wieder reparieren lassen.

*

Diana Wieland war schrecklich nervös, was ihrem Töchterchen Sissi nicht entging. Aufmerksam sah sie ihre Mutter an.

»Mami, hast du Angst?« fragte sie mit leicht schräg geneigtem Kopf, wie sie es immer tat, wenn sie etwas zu ergründen versuchte.

»Nein, Mäuschen, Angst habe ich nicht«, antwortete Diana und zog die Kleine auf ihren Schoß. Liebevoll hielt sie das Mädchen umfangen, das sich vertrauensvoll an sie schmiegte. »Es ist nur…« Sie stockte, weil sie nicht recht wußte, wie sie einer Vierjährigen erklären sollte, was mit ihr geschehen war. Sicher, Sissi war sehr aufgeweckt und in ihrer Entwicklung anderen Gleichaltrigen weit voraus. Trotzdem würde sie noch nicht begreifen, was Liebe war… Liebe zwischen Mann und Frau.

»Weißt du, ich habe da jemanden kennengelernt«, begann Diana. »Einen sehr netten Mann, den ich…« Wieder stockte sie. »Er wird uns heute besuchen.«

Sissi spürte, wie wichtig dieser Besuch für ihre Mutter war, und sie spürte auch, daß es mit diesem Mann mehr auf sich hatte als mit den anderen Gästen, die gelegentlich hierher kamen.

»Ist er nett?« wollte Sissi wissen.

Diana nickte ohne zu zögern. »Ja, Mäuschen, er ist sehr nett.«

Sissi lauschte diesen Worten nach. Noch nie hatte ihre Mutter in diesem Ton von einem Bekannten gesprochen, und plötzlich konnte die Kleine es kaum noch erwarten, diesen geheimnisvollen Mann, den ihre Mutter offensichtlich so sehr mochte, kennenzulernen.

Als es am späten Nachmittag dann klingelte, war Sissi die erste, die an der Haustür war. Aufmerksam betrachtete sie den großen, schlanken Mann mit dem gewinnenden Lächeln. Doch ihr Gespür war besser als das ihrer Mutter. Für den Charme, den Alex versprühte, war sie noch nicht empfänglich – sie sah nur den Menschen, seine Augen, die sie kalt musterten, und die großen Hände, die ihre unwillkürlich Angst einjagten.

»Hallo, Sissi«, begrüßte er sie und versuchte, seiner Stimme einen fröhlichen Klang zu geben, was ihm angesichts des sehr ernsten Gesichtsausdrucks der Kleinen jedoch mißlang. »Ich habe dir eine Tafel Schokolade mitgebracht.«

»Mag ich nicht«, gab Sissi pampig zurück, was normalerweise gar nicht ihre Art war. Durch die Geschäftsbeziehungen ihrer Mutter war sie den Umgang mit Fremden gewohnt und sonst überaus höflich.

Entsprechend schockiert war denn auch Diana.

»Sissi, so etwas sagt man doch nicht«, ermahnte sie ihre Tochter.

Mit offenem Blick sah Sissi zu ihrer Mutter auf, deutete dabei aber auf Alex. »Den mag ich nicht.« Sie sagte es nicht aggressiv und auch nicht trotzig. Es war eine schlichte Feststellung, aus der die ganze Aufrichtigkeit des Kindes sprach.

Diana schluckte schwer. Sie hatte damit gerechnet, daß es Schwierigkeiten geben würde, wenn Sissi erfuhr, daß sie und Alex zu heiraten gedachten. Doch eine so massive Ablehnung unmittelbar nach dem Kennenlernen hatte sie nicht erwartet.

»Aber, Mäuschen, du kennst Alex doch gar nicht«, wandte

Diana ein, während sie mit ihrem Töchterchen an der Hand dem jungen Mann voraus ins Wohnzimmer ging.

»Er hat böse Augen«, urteilte Sissi und rückte dann mit ihrer kindlichen Logik heraus. »Er hat dieselben Augen wie der Kater von Frau Sebaldt, und der hat mich mal gekratzt. Er ist böse. Er kratzt alle Kinder.«

Alex versuchte die Situation zu retten, indem er zu lachen begann. »Ich bin aber doch kein Kater, Sissi, und ich werde dich auch ganz bestimmt nicht kratzen.«

Mißtrauisch musterte die Kleine ihn, dann schüttelte sie den Kopf. »Ich weiß, daß du kein Kater bist, aber böse bist du trotzdem.«

»Sissi, jetzt reicht’s!« erklärte Diana energisch. »Bitte, benimm dich anständig, sonst mußt du auf dein Zimmer.«

Sissi preßte die Lippen zusammen und schwieg, doch die Blicke, die sie auf Alex abschoß, sprachen Bände, und er begann sich in Anwesenheit dieses Kindes äußerst unbehaglich zu fühlen.

Sehr viel früher als beabsichtigt verabschiedete er sich. Diana brachte ihn zur Tür.

»Es tut mir leid, daß es so gelaufen ist«, entschuldigte sie ihre Tocher. »Noch nie hat sich Sissi einem Gast gegenüber so unmöglich benommen.« Hilflos zuckte sie die Schultern. »Vermutlich spürt sie, daß zwischen uns mehr ist als eine harmlose Bekanntschaft. Wahrscheinlich sieht sie in dir einen Rivalen.«

Alex nickte, dann wandte er sich zum Gehen, doch nach wenigen Schritten drehte er sich wieder um.

»Ich verlasse mich darauf, daß du das Richtige tun wirst, Diana«, meinte er, und seine Stimme klang dabei merkwürdig hart. »Du wirst dir hoffentlich nicht von einem Kind diktieren lassen, was du tun und lassen möchtest. Unsere Liebe sollte dir einen Kampf wert sein – notfalls auch gegen deine Tochter. Sissi darf nicht über unser Leben bestimmen, das wirst du ihr hoffentlich unmißverständlich klarmachen.«

Diana stand sekundenlang wie erstarrt. Sie konnte nicht glauben, daß diese Worte von Alex kamen, der noch vor wenigen Tagen behauptet hatte, mit Geduld und Liebe könne man Sissi sicher davon überzeugen, daß sie die Mutter durch eine Ehe mit ihm nicht verlieren würde. Seine jetzigen Worte standen in krassem Gegensatz dazu.

»Ich glaube, wir… wir sollten Sissi einfach Zeit lassen«, stammelte sie unsicher. »Sie muß sich erst daran gewöhnen, daß ich…« Diana verstummte. In den vergangenen vier Jahren hatte sie sich zu einer selbstsicheren Geschäftsfrau gemausert, doch jetzt, in dieser Situation… als eine liebende Frau, die wahrscheinlich bald vor dem Problem stehen würde, sich zwischen ihrem Kind und dem Mann ihres Herzens zu entscheiden, war sie wieder so unsicher wie damals, als sie den steinreichen Michael Wieland kennengelernt hatte. Aus Angst vor dem Reichtum, der hinter ihm gestanden hatte, hätte sie sich fast gegen ihr Herz entschieden, doch Michael hatte das nicht zugelassen. Ganz behutsam und liebevoll hatte er sie in seinen Kreisen eingeführt, und spätestens nach seinem tragischen Tod war sie dann buchstäblich über sich hinausgewachsen, hatte die Leitung des riesigen Unternehmens übernommen und sich hier bestens etabliert. Doch tief in ihrem Innern war sie das schüchterne, unsichere Mädchen geblieben, das sie im Grunde immer gewesen war.

Alex nickte nur und schwor sich insgeheim, daß er sich dieser Sache selbst annehmen würde. Er würde eine Gelegenheit finden, um sich die verzogene kleine Göre gehörig zur Brust zu nehmen. Notfalls mußte sie ein paar kräftig hintendrauf bekommen, damit sie kuschte. Alex hatte jedenfalls keine Lust, auf das Wieland-Vermögen zu verzichten, nur weil Sissi ihn für so böse hielt, wie er wirklich war.

*

»Also, Billy, raus mit der Sprache«, verlangte Dr. Jeffrey Parker. »Warum hast du die Staaten verlassen?«

Billy Stevens senkte den Kopf. Seit einem Monat lebte er nun schon bei Jeff, doch über die wahren Beweggründe seiner Reise nach Deutschland hatte er sich bisher in Schweigen gehüllt. Jeff hatte es respektiert, doch nun war für ihn Billys Schonzeit abgelaufen.

»Jeff, bitte…«, versuchte er auszuweichen, doch Dr. Parker schüttelte den Kopf.

»Keine Chance, mein Freund«, entgegnete er fest. »Du wirst jetzt reden. Ich habe mir dein Elend lange genug mit angeschaut.«

Billy schluckte. »Wenn ich es dir erzählte, wirst du mich für verrückt erklären.«

Wieder schüttelte Jeff den Kopf. »So schnell erkläre ich niemanden für verrückt, und dich schon gar nicht.«

Billy seufzte tief aus. »Also schön, ich habe mich verliebt. Unglücklich verliebt.«

»Und weiter?«

»Genügt das nicht?« fragte Billy zurück.

»Nein«, antwortete Jeff. »Das war mir nämlich von vornherein klar. So wie du sieht nur einer aus, der großen Liebeskummer hat.«

Wieder seufzte Billy. »Ich weiß nichts über sie, außer daß sie Deutsche ist und vor fünf Jahren geheiratet hat. Sie und ihr Mann verbrachten die Flitterwochen in Kalifornien und flogen von dort noch für vierzehn Tage nach Hawaii. Ich war der Pilot, und über die Stewardeß ließen sie mich fragen, ob sie einen Blick ins Cockpit werden dürften. Es wäre ihre Hochzeitsreise und so weiter.« Höchst verlegen fuhr er sich über die Stirn.

Dr. Parker wartete gespannt auf die Fortsetzung der Geschichte.

»Sie trat ins Cockpit… wie ein Engel«, setzte Billy leise hinzu. »Ein Blick und mein Herz stand in Flammen.« Er schwieg, bevor er nahezu tonlos hinzufügte: »Und brennt immer noch.«

»Du hast sie niemals wiedergesehen?« fragte Jeff teilnahmsvoll.

Billy schüttelte den Kopf, dankbar, daß Jeff sein Problem nicht einfach als puren Unsinn abtat.

»Im Vergleich mit den Staaten ist Deutschland zwar klein«, meinte Dr. Parker, »trotzdem dürfte es praktisch unmöglich sein, diese Frau zu finden, vor allem, weil du ja anscheinend rein gar nichts über sie weißt.«

»Sie und ihr Mann unterhielten sich, als sie bei mir im Cockpit waren«, erwiderte Billy. »Sie sprachen zwar hochdeutsch, aber der schwache Akzent erinnerte mich an das Deutsch, das mein Vater immer gesprochen hat.« Er mußte lächelnd. »Meine Mutter schimpfte sehr, wenn er mir bayrische Ausdrücke beibrachte. Vermutlich waren sie nicht salonfähig.«

»Du glaubst also, daß die junge Frau aus dieser Gegend stammte«, folgerte Dr. Parker.

Billy zuckte die Schultern. »Keine Ahnung, aber es hörte sich zumindest so an… soweit ich überhaupt in der Lage bin, deutsche Akzente richtig zuzuordnen.«

»Du sprichst fließend Deutsch«, meinte Jeff. »Im übrigen hat der Dialekt deines Vaters dein Ohr fürs Bayrische geschult. Allerdings ist auch Bayern zu groß, um eine Frau zu finden, deren Namen du nicht kennst.« Er schwieg kurz. »Ganz davon abgesehen, daß sie ja verheiratet ist.«

Aufmerksam sah Billy seinen Freund an. »Sei ehrlich, Jeff, hältst du mich für verrückt?«

Dr. Parker lächelte. »Ja, aber das warst du schon während der Schulzeit – auf eine sehr liebenswerte Art. Deshalb lagen dir auch immer alle Mädchen zu Füßen.«

Billy grinste. »Du hast dich auch nicht verändert, Jeff.« Dann wurde er wieder ernst. »Es tut mir unheimlich gut, bei dir zu sein.«

*

Der Zustand von Christina Walther wurde immer besorgnis-erregender. Sie lag fast aus-schließlich im Bett und starrte blicklos vor sich hin, anstatt die von Dr. Daniel angeregten Spaziergänge zu unternehmen. Ihr Essen ließ sie nahezu unberührt wieder zurückgehen, und abends verlangte sie immer öfter ein Schlafmittel.

»So geht’s nicht weiter, Fräulein Walther«, meinte Dr. Daniel kopfschüttelnd und fand dabei genau den richtigen Ton zwischen Einfühlungsvermögen und Bestimmtheit.

Ihr Blick schien von ganz weit her zu kommen.

»Herr Doktor, ich weiß einfach nicht, was ich tun soll«, flüsterte sie. »Ich erwarte ein Kind von einem Mann, der mich nicht liebt… nie geliebt hat und…« Sie sprach nicht weiter, weil sie nicht eingestehen wollte, was sie fühlte… daß sie sich nach Rudi sehnte…

Doch Dr. Daniel spürte, in welche Richtung ihre Gedanken gingen. Spontan griff er nach Christinas Hand und hielt sie fest.

»Manches läßt sich nur durch ein Gespräch klären«, meinte er.

Christina schüttelte sofort den Kopf. »Das nicht.« Ihre Augen suchten Dr. Daniels Blick. »Sie sind ein Mann. Wie würden Sie denn reagieren, wenn Ihre Frau Sie verlassen hätte und nach ein paar Monaten wieder zurückkommen würde – schwanger von einem anderen Mann?«

»Eine schwierige Frage«, gab Dr. Daniel zu. Er und seine Frau Manon führten ja eine denkbar glückliche Ehe.

»Ich weiß nicht, wie ich reagieren würde«, antwortete Dr. Daniel nach einigem Zögern.

Christina ließ den Kopf zurücksinken. »Ich hatte von Anfang an Vertrauen zu Ihnen, Herr Doktor, aber jetzt… ich weiß nicht, wie ich beschreiben soll, was in mir vorgeht. Ihre Ehrlichkeit… egal, welche Frage man Ihnen stellt… ich bin so froh, daß ich hier bin.«

Dr. Daniel lächelte. »Ihr Kompliment freut mich zwar, aber damit sind wir der Lösung Ihres Problems leider noch keinen Schritt nähergekommen.«

»Das werden wir auch nicht«, meinte Christina niedergeschlaen. »Ich kann nicht zu Rudi hingehen und sagen, alles wäre nur ein Irrtum gewesen. Ich kann ihn nicht bitten, mir zu verzeihen.« Sie schwieg kurz. »Das könnte ich vielleicht, wenn es die Schwangerschaft nicht gäbe, aber so…« Sie schüttelte den Kopf. »Irgendwie muß ich versuchen, selbst mit meinem Leben fertigzuwerden.«

»Das bedeutet aber auch, daß Sie Ihr Kind akzeptieren müssen«, erklärte Dr. Daniel. »Und zumindest das tun Sie im Augenblick überhaupt nicht, denn alles, was Sie jetzt machen, schadet Ihrem Baby. Sie essen nicht, gehen nicht an die frische Luft und nehmen zuviel Medikamente. Ihr Baby wird darüber nicht sehr glücklich sein.«

»Ich bin über das Baby auch nicht glücklich«, entfuhr es Christina, dann senkte sie schuldbewußt den Kopf und berührte ihren Bauch, dem man die Schwangerschaft noch nicht ansehen konnte. »Ich weiß, es ist ungerecht. Das Kleine kann nichts dafür, daß ich blind, dumm und leichtsinnig war, aber… ich kann es nicht lieben. Ich wünschte, es gäbe eine Möglichkeit, es wegzumachen. Wenn ich mir vorstelle, es könnte ein kleiner Alex werden… egoistisch, rücksichtslos…« Unwillkürlich schüttelte sie sich. »Andererseits… es ist ja auch ein Teil von mir…«

»Das ist der Punkt, an den Sie immer denken sollten, Fräulein Walther«, entgegnete Dr. Daniel. »Ihr Kind trägt nicht nur Alex’ Erbanlagen in sich, sondern auch die Ihren – und vor allem das, was Sie mit Liebe aus ihm machen werden. Mutterliebe und Umwelteinflüsse formen einen Menschen zu dem, was er später einmal wird. Würde Ihr Kind bei Alex aufwachsen, würde ich mir um seine Zukunft wirklich Sorgen machen, aber dieses Kind wird bei Ihnen aufwachsen, und wenn Sie vergessen können, daß es von einem rücksichtslosen, egoistischen Menschen gezeugt worden ist, wenn Sie ihm mit viel Liebe begegnen, dann wird sich sein Charakter entsprechend entwickeln können.«

Lange lauschte Christina diesen Worten nach, dann brachte sie ein kaum sichtbares Lächeln zustande. »Vielleicht haben Sie recht.« Wieder berührte sie ihren Bauch. »Trotzdem kann ich mich noch nicht auf das Baby freuen.«

»Das ist unter diesen Umständen auch nicht ungewöhnlich«, erwiderte Dr. Daniel. »Sie sollen sich zu nichts zwingen. Ich möchte nur, daß Sie Ihrem Baby in Zukunft keinen Schaden mehr zufügen. Unternehmen Sie ab und zu einen Spaziergang in unserem Klinikpark. Die würzige Luft wird Ihnen und dem Baby guttun. Essen Sie regelmäßig, wenn auch nur kleine Portionen, und verzichten Sie auf Schlafmittel oder andere starke Medikamente. Wenn Sie Einschlafstörungen haben, dann gibt es andere, harmlosere Mittel dagegen. Ein Glas warme Milch mit Honig oder eine Tasse Ehrenpreistee zum Beispiel.« Er schwieg kurz, dann fügte er hinzu: »Im übrigen bin ich überzeugt, daß Ihre Schlafstörungen der Vergangenheit angehören werden, wenn Sie erst mal Ihre Probleme gelöst haben – so oder so.«

Christina seufzte tief auf. »Das ist leichter gesagt als getan.«

»Das weiß ich«, meinte Dr. Daniel ernst. »Aber es ist mit Sicherheit keine Lösung, vor den Schwierigkeiten davonzulaufen. Irgendwann müssen Sie sich dem Leben wieder stellen, und Sie können sicher sein, daß ich Ihnen helfen werde, soweit es in meiner Macht steht.«

»Danke, Herr Doktor«, flüsterte Christina ergriffen und blickte ihm versonnen nach, als er das Zimmer verließ.

Sich dem Leben wieder stellen… die Probleme lösen…

Entschlossen griff Christina nach dem Telefonhörer, überlegte kurz und wählte dann die Nummer ihrer Freundin Tamara.

»Christina!« stieß diese hervor. »Du lebst ja noch! Meine Güte, ich habe mir schon solche Sorgen gemacht.«

»Nicht ganz grundlos«, meinte Christina. »Ich bin in der Waldsee-Klinik.«

Tamara erschrak. »Ein Unfall?«

»Nein, ich… ich bin schwanger«, gestand Christina.

Sekundenlang herrschte darauf Schweigen.

»Ach, herrje«, brachte Tamara dann hervor »Ich nehme nicht an, daß das Kind von Rudi ist.«

»Tamara, was soll ich tun?« fragte Christina fast tonlos.

»Rudi ist in keiner guten Verfassung«, entgegnete Tamara, was keine Antwort auf Christinas Frage war. »Er ist beinahe krank vor Sehnsucht nach dir.« Sie machte eine Pause. »Wir haben uns in den vergangenen Wochen oft gesehen, und ich will ehrlich sein, Christina – ich hätte es ihm nicht schwergemacht.«

Christina schluckte. Der Gedanke, Tamara und Rudi könnten inzwischen ein Paar sein, tat ihr fast körperlich weh, und spätestens in diesem Moment wurde sie sich der tiefen Liebe bewußt, die sie noch immer für Rudi fühlte. Wie hatte sie nur so verrückt und verblendet sein können, das feste Band, das zwischen Rudi und ihr bestanden hatte, zu zerschneiden und sich auf das Abenteuer mit Alex einzulassen. Alex hatte sie fasziniert, er hatte ihr den Kopf verdreht, aber war das wirklich Liebe gewesen? Rudi war doch der Mann, der in ihrem Herzen war.

»Rudi und du… ich meine…« Christina verstummte, doch Tamara wußte genau, was sie fragten wollte.

»Ich sagte doch, ich hätte es ihm nicht schwergemacht, aber Rudi… er liebt nur dich.«

Wieder ließ Christina diese Worte in sich nachklingen, und für einen Augenblick begann ihr Herz rascher zu klopfen, doch dann zwang sie sich in die graue Wirklichkeit zurück. Sie erwartete ein Baby – von Alex. So groß könnte auch Rudis Liebe niemals sein, daß er ihr das verzeihen würde.

»Das ist vorbei«, flüsterte sie traurig. »Ohne meine Schwangerschaft gäbe es vielleicht einen zweiten Anfang… aber so…« Kraftlos ließ sie den Hörer sinken, dann brach sich ihr ganzer Kummer in eine schier endlosen Tränenstrom Bahn. Christina hatte das Gefühl, als müsse sie zerfließen… als würde ihr ganzes Leben mit den Tränen fortgeschwemmt…

»Rudi«, schluchzte sie verzweifelt. »Rudi…«

*

Als Diana Wieland merkte, daß sie schwanger war, wußte sie nicht recht, ob sie sich nun darüber freuen sollte. Die Liebe zu Alex hatte sie leichtsinnig sein lassen, und nun war es passiert. Sie erwartete ein Baby. Eigentlich wäre das ja kein großes Problem gewesen, da sie und Alex ohnehin in Kürze heiraten wollten, aber andererseits stand Sissi Alex auch nach fast vier Wochen noch genauso feindselig gegenüber wie am Anfang.

Dabei benahm sich Alex ganz reizend zu ihr. Erst kürzlich hatte er Sissis langgehegten Wunsch erfüllt und ihr eine sündhaft teure Babypuppe mitgebracht, die lachen, weinen und aufs Töpfchen gehen konnte. Diana wußte nicht mehr, wie oft Sissi vor dem Schaufenster des Spielwarengeschäftes gestanden und diese Puppe mit sehnsuchtsvollem Blick angeschaut hatte, doch jetzt lag sie in der hintersten Ecke ihres Kinderzimmers, und Sissi hatte noch nicht ein einziges Mal mit ihr gespielt.

Diana konnte ihr Töchterchen nicht verstehen, und das schockierte sie um so mehr, weil ihr das noch nie zuvor passiert war. Mit einem tiefen Seufzer bestieg Diana ihren Wagen und fuhr zur Praxis von Dr. Daniel. Im Grunde bedurfte es zwar keiner Bestätigung für ihre Schwangerschaft, aber sie war gewissenhaft genug, um diesen Termin einzuhalten.

»Frau Wieland, das ist aber eine Überraschung«, meinte Dr. Daniel, während er mit besonderer Herzlichkeit ihre Hand ergriff. Der Mut und die Tapferkeit, die Diana nach dem tragischen Tod ihres Mannes bewiesen hatte, hatten seinen ganzen Respekt hervorgerufen. »Sie waren doch erst vor gut zwei Monaten zur Routineuntersuchung bei mir.« Sein Gesichtsausdruck wurde ernst. »Sie haben doch hoffentlich keine Beschwerden?«

Diana schüttelte den Kopf und lächelte ein wenig. »Nein, Herr Doktor, jedenfalls keine Beschwerden, die auf eine Krankheit hindeuten würden. Ich glaube, ich erwarte ein Baby… das heißt, ich bin mir eigentlich ganz sicher.«

Aufmerksam musterte Dr. Daniel sie. »Aber sehr erfreut scheinen Sie darüber nicht zu sein.« Nebenbei deutete er mit einer einladenden Handbewegung auf einen der beiden Sessel, die seinem Schreibtisch gegenüberstanden.

Mit einem leisen Seufzer nahm Diana Platz und strich dann ihr langes blondes Haar zurück.

»Normalerweise würde ich mich schon freuen, denn Alex und ich sind uns einig, daß wir heiraten wollen«, begann Diana, dann blickte sie auf ihre im Schoß verschränkten Hände. »Es ist nur… Sissi… sie steht Alex sehr… sehr ablehnend gegenüber.«

»Das ist in einem solchen Fall nicht ungewöhnlich«, entgegnete Dr. Daniel und wunderte sich insgeheim, daß man in Steinhausen nichts von Dianas Heiratsabsichten mitbekommen hatte. Durch das Unternehmen, das sie von ihrem Mann geerbt hatte, und durch den damit verbundenen Reichtum gehörte sie in dem verhältnismäßig kleinen Ort zur Prominenz, und gerade den Klatschtanten Steinhausens entging so etwas eigentlich nie.

»Sissi hatte Sie immer ganz für sich allein«, fuhr Dr. Daniel fort. »Es ist einen große Umstellung für die Kleine, wenn sie Sie plötzlich mit jemandem teilen muß. Im übrigen haben Kinder ein sehr gutes Gespür für die Liebe. Sissi weiß also sicher, wie tief das Gefühl ist, das Sie und Ihren zukünftigen Mann verbindet.«

Diana nickte. Genau diese Gedanken waren ihr ja auch die ganze Zeit durch den Kopf gegangen.

»Ich glaube nicht, daß Sissi bisher unter meiner Liebe zu Alex leiden mußte«, wandte sie trotzdem ein.

»Das glaube ich Ihnen gern«, stimmte Dr. Daniel sofort zu. »Es geht in diesem Fall auch gar nicht darum, was sich zwischen Ihnen und Sissi jetzt tatsächlich ereignet, sondern darum, wie sie dieses neue Verhältnis interpretiert. Sicher schenken Sie ihr Ihre Liebe im gleichen Maße wie zuvor, aber Sissi ist vermutlich dennoch davon überzeugt, jetzt weniger geliebt zu werden.«

Diana seufzte wieder. »Das heißt, daß ich auf Alex verzichten muß, wenn ich Sissi nicht unglücklich machen will.«

Das war nun schon das vierte Mal, daß sie den Namen Alex erwähnte, und jedesmal hatte er in Dr. Daniel eine ungute Erinnerung anklingen lassen, doch er hatte sie nicht konkret greifen können. Erst jetzt fiel ihm ein, wo er diesen Namen schon einmal gehört hatte. Christina Walther erwartete doch von einem gewissen Alex ein Baby. Konnte das in einem kleinen Ort wie Steinhausen ein Zufall sein? Andererseits war Diana Wieland nicht die Frau, die einen Mann heiraten würde, dessen Vergangenheit oder gar Gegenwart dermaßen bedenklich erschien.

»Ich glaube nicht, daß Sie auf Ihr Glück ganz verzichten müssen«, erwiderte Dr. Daniel jetzt. »Sie sollten Sissi nur viel Zeit lassen, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Schenken Sie ihr gerade jetzt besonders viel Liebe und Zärtlichkeit. Sie muß spüren, daß sich durch Ihre Beziehung zu diesem Mann nichts an Ihrer Liebe zu ihr ändern wird. Auch Ihr Partner sollte versuchen, Sissi behutsam näherzukommen.«

»Alex ist ganz reizend zu Sissi«, betonte Diana sofort »Bei jedem Besuch bringt er ihr etwas mit, vor einigen Wochen sogar eine Puppe, sie sich Sissi sehnlichst gewünscht hatte, doch jetzt schaut sie sie überhaupt nicht an.«

Auch das war für Dr. Daniel nicht schwer nachzuvollziehen.

»Man kann sich die Liebe eines Kindes nicht mit Geschenken erkaufen«, entgegnete er ernst. »Ihr Partner muß Sissi nicht jedesmal etwas mitbringen, um von ihr akzeptiert zu werden. Vielmehr sollte er versuchen, auf die Kleine einzugehen. Vielleicht machen Sie beide gemeinsam mit ihr einmal ein Gesellschaftsspiel. Ich bin sicher, daß Sissi altersgerechte Spiele hat, mit deren Hilfe eine lockere Atmosphäre entstehen könnte. Auch ein gemeinsamer Zoobesuch könnte die Situation positiv beeinflussen, vielleicht genügt sogar ein Nachmittag auf dem Spielplatz. Sissi hatte nie einen Vater, weiß aber sicher von Freundinnen, wie toll es ist, mit dem Papa einen Drachen zu basteln oder mal ganz wilde Spiele zu machen. Da könnte Ihr Partner ebenfalls ansetzen. Er könnte Sisi spielerisch vermitteln, wie schön es für sie wäre, auch einen Papa zu haben.«

Diana dachte lange über diese Worte nach. So, wie Dr. Daniel das sagte, klang es ganz einleuchtend. Allerdings fiel es Diana

irgendwie schwer, sich Alex

beim Drachenbasteln vorzustellen. Unwillkürlich drängte sich ihr der Vergleich mit Michael auf. Wie sehr hatte er sich damals auf sein Baby gefreut, und er war auch der Typ gewesen, der viel mit seinem Kind unternommen hätte. Alex schien für eine solche Vaterrolle dagegen nicht geschaffen zu sein.

Rasch schüttelte Diana diese Gedanken ab. Sie liebte Alex, und deshalb wollte sie glauben, daß sich alles zum Guten wenden würde. Alex war doch so nett zu Sissi. Er würde sicher einen guten Vater abgeben. Das versuchte sich Diana jedenfalls einzureden. Tief in ihrem Innern war sie allerdings nicht sehr überzeugt davon.

*

Als Christina Walther aus der Waldsee-Klinik entlassen wurde, konnte ein guter Beobachter schon ihr kleines Bäuchlein ausmachen. Christina bemühte sich auch gar nicht mehr, es zu verstecken. Sie hatte die Tatsache, daß sie ein Baby erwartete, akzeptiert, wenn sie sich auch noch immer nicht darüber freuen konnte.

»Fräulein Walther, jetzt nach Ihrer Entlassung aus der Klinik stehe ich Ihnen natürlich auch weiterhin jederzeit zur Verfügung«, betonte Dr. Daniel, als er ihren deprimierten Gesichtsausdruck erkannte. »Gleichgültig, worum es geht – Sie können zu mir kommen, wann immer Ihnen danach zumute ist… auch außerhalb der Sprechzeiten.«

Da brachte Christina sogar ein Lächeln zustande. »Vielen Dank, Herr Doktor. Wenn Sie nicht wären…« Sie beendete den Satz nicht, aber Dr. Daniel wußte auch so, was sie hatte sagen wollen. Er hatte diese Worte nun schon so oft gehört… von vielen Patientinnen, die in körperlichen oder seelischen Nöten gesteckt hatten und denen er seine Hilfe auf ähnliche Weise angeboten hatte. Dabei wünschte er immer, er könnte viel mehr tun – auch in diesem Fall. Christina war so furchtbar unglücklich, und sie bereute ihren Fehler so sehr, doch nicht alles im Leben ließ sich rückgängig machen.

Ähnliche Gedanken verfolgten auch Christina, als sie den Weg nach Hause einschlug. Steinhausen war ein hübscher Vorgebirgsort. Die schmalen, gewundenen Gassen erinnerten Christina an so manchen Spaziergang, den sie früher mit Rudi unternommen hatte… an verstohlene Küsse, die sie am Anfang ihrer Beziehung getauscht hatten. Damals waren sie beide noch so schrecklich jung gewesen, und die Eltern hatten ihre Liebe nicht erfahren sollen. Doch mit den Jahren hatte sich ihre Freundschaft gefestigt, sie hatten von einer gemeinsamen Zukunft gesprochen und sich gegenseitig den Eltern vorgestellt. Alles war so harmonisch verlaufen.

»Bis ich dann durchgedreht bin«, murmelte Christina traurig vor sich hin.

»Du mußt wissen, was du tust«, hatte ihre Mutter nur gesagt, als sie vom Ende ihrer Beziehung zu Rudi erzählt hatte. Christina hatte ihre Mißbilligung deutlich bemerkt, aber nicht einsehen wollen, daß ihre Mutter ganz recht hatte. Erst jetzt wußte sie, was sie wirklich aufgegeben hatte. Sie hatte ein glückliches Leben verschenkt… für ein paar selige Stunden mit einem Casanova, der sich den Teufel um ihre Gefühle scherte.

»Chrissie.«

Beim Klang des vertrauten Kosenamens zuckte Christina förmlich zusammen. Sie war so in Gedanken versunken gewesen, daß sie gar nicht bemerkt hatte, wohin sie ihre Schritte gelenkt hatten. Keine hundert Meter vor ihr stand das Haus, in dem Rudi wohnte, und er stand ihr nun direkt gegenüber.

»Rudi.«

Christinas Stimme war kaum mehr als ein Flüstern, dann blickte sie beschämt zu Boden.

»Ich… ich wollte gar nicht hierherkommen«, behauptete sie, dabei war es doch ihre Sehnsucht gewesen, die sie getrieben hatte.

Allerdings fühlte auch Rudi das schier unwiderstehliche Bedürfnis, Christina zu berühren. Erst jetzt, da er ihr gegenüberstand, wußte er, wie schrecklich er sie vermißt hatte.

In diesem Moment fiel sein Blick auf Christinas Bauch, der sich unter dem Kleid ein wenig wölbte. Unwillkürlich wich er einen Schritt zurück.

»Chris… Christina, du… du erwartest ein Baby?«

Schmerzlich wurde ihr bewußt, daß er bei ihrem Kosenamen gestockt und dann statt dessen ihren vollen Vornamen ausgesprochen hatte.

»Rudi, ich… ich kann es dir nicht erklären… es ist…«

Abwehrend hob er die Hand. »Eine Erklärung ist auch gar nicht nötig. Zwischen uns ist es aus, also bist du mir gegenüber zu nichts verpflichtet.« Dabei konnte er den Schmerz, den er bei seinen eigenen Worten empfand, kaum noch ertragen.

Auch Christina stiegen nun Tränen in die Augen. Sie sehnte sich danach, von Rudi in die Arme genommen zu werden, und wußte doch, daß er das niemals mehr tun würde.

»Ich hoffe, du wirst glücklich… mit ihm«, fügte er leise hinzu.

Christina preßte die Lippen zusammen, um nicht aufzuschreien vor lauter Qual. Sie nickte nur, quälte ein kaum hörbares »danke« hervor und eilte dann so schnell weiter, daß es einer Flucht gleichkam.

Mit brennenden Augen blickte Rudi ihr nach. Als Christina auf das Haus zugekommen war, in dem er wohnte, hatte er einen Augenblick lang gedacht, alles würde wieder in Ordnung kommen, doch jetzt… jetzt war ihm, als hätte er Christina zum zweiten Mal verloren – und diesmal endgültig.

*

»Warum hast du es ihm nicht gesagt?« fragte Tamara, als Christina ihr unter Tränen von der Begegnung mit Rudi erzählt hatte.

Christina schüttelte nur den Kopf.

Seufzend stand Tamara auf. »Ich habe es Rudi schon einmal gesagt: Schönheit schützt vor Fehlern nicht.« Ärgerlich winkte sie ab. »Meine Güte, Christina, wenn ich so aussehen würde wie du, dann wüßte ich auch etwas damit anzufangen.«

»Was soll das heißen?« fragte Christina kläglich.

»Das heißt, daß ich an deiner Stelle um Rudi kämpfen würde und zwar mit allen Mitteln«, meinte Tamara.

Jetzt war es Christina, die abwinkte. »Um ihn kämpfen. Das könnte ich, wenn eine andere Frau im Spiel wäre, aber so… die Suppe, die ich mir eingebrockt habe, muß ich jetzt eben auch selbst auslöffeln.«

Tamara zog die Augenbrauen hoch. »Der Spruch könnte von mir sein.« Sie setzte sich neben Christina und legte freundschaftlich einen Arm um ihre Schultern. »Hör mal, ich bin seit dem Kindergarten deine beste Freundin, und ich glaube, niemand kennt dich so gut wie ich – nicht einmal deine Eltern. Ich weiß, wie sehr du unter der Trennung von Rudi leidest. Okay, du bist selbst schuld daran, aber das ändert nichts daran, daß du mir leid tust. Eine solche Situation, wie du sie jetzt hast, würde ich nicht mal meinem ärgsten Feind wünschen, schon gar nicht meiner besten Freundin. Aber – und das ist der Punkt – dein Rudi leidet mindestens genauso wie du.« Sie schwieg kurz. »Als ihr beide noch zusammen wart, war er für mich tabu. Der Freundin den Freund auszuspannen, ist in meinen Augen so ziemlich das Mieseste, was man tun kann. Aber als du Schluß mit ihm gemacht hattest, bestanden für mich andere Voraussetzungen. Ich wartete zwei Wochen, weil ich dachte, du würdest mit fliegenden Fahnen zu ihm zurückkehren, aber als das nicht der Fall war, habe ich selbst versucht, mit ihm zu flirten.«

Christina nickte. »Du hast bereits erzählt, daß du es ihm nicht schwergemacht hättest.«

»Ich hätte vor Rudi einen Striptease-Tanz abziehen können – er hätte mich überhaupt nicht bemerkt … jedenfalls nicht als begehrenswerte Frau. Weißt du eigentlich, was ich mir während unserer Verabredungen alles anhören durfte?« Sie gab die Antwort gleich selbst. »Wir sprachen nur von dir und davon, wie sehr Rudi dich vermißt. Keine Frau wird jemals mehr eine Chance bei ihm haben. Er liebt dich – nur dich.«

Christina seufzte tief auf. »Das mag ja bis vor zwei Stunden richtig gewesen sein, aber jetzt weiß er, daß ich ein Baby erwarte – von einem anderen Mann. Meinen Fehltritt mit Alex hätte er mir vielleicht verzeihen können, aber…«

»Versuch es doch wenigstens«, fiel Tamara ihr heftig ins Wort. »Du mußt ja nicht mal lügen. Sag einfach die Wahrheit… daß das mit diesem Alex ein schlimmer, unverzeihlicher Irrtum war und daß du nie aufgehört hast, Rudi zu lieben. So ist es doch, oder?«

Christina nickte unter den erneut aufsteigenden Tränen. »Natürlich liebe ich ihn! Und wenn ich alles, was mit Alex passiert ist, rückgängig machen könnte, dann würde ich es tun, aber…« Sie berührte ihren Bauch. »Das läßt sich nicht mehr rückgängig machen.« Traurig sah sie Tamara an. »Gleichgültig, wie du darüber denkst – ich kann Rudi nicht bitten, mich mit einem Kind zu nehmen, das nicht von ihm ist.«

*

»Du erwartest ein Kind von mir?« wiederholte Alex Simoni gedehnt, dann strahlte er auf einmal. »Das ist ja wunderbar! Wir werden sofort das Aufgebot bestellen und in vier Wochen heiraten.«

Doch Diana blieb zurückhaltend. »Ich bin erst im zweiten Monat. Wir können uns also noch ein wenig Zeit lassen.«

Ärgerlich schüttelte Alex den Kopf. »Wegen Sissi. Also weißt du, Diana, allmählich verliere ich die Geduld. Ich bemühe mich redlich, mit deiner Tochter zurechtzukommen, aber sie macht es mir ja wahrlich nicht leicht. Sei mir nicht böse, aber ich glaube, du hast sie zu sehr verwöhnt, weil sie ohne Vater aufwachsen mußte. Das ist aus deiner Sicht zwar verständlich, aber ich denke nicht daran, auf mein Glück mit dir und unserem gemeinsamen Kind zu verzichten, nur weil deine Tochter sich nicht an den Gedanken gewöhnen kann…«

»Bitte, Alex, sprich nicht so über Sissi«, bat Diana leise. »Ich habe sie nicht verwöhnt. Sie ist ein kleines Mädchen, das Angst hat, ihre Mutter zu verlieren.«

»So ein Unsinn!« brauste Alex auf.

»Das ist kein Unsinn«, entgegnete Diana entschieden. »Dr. Daniel sagt auch, daß Sissi etwas Zeit braucht.«

Alex hatte Mühe, nicht die Beherrschung zu verlieren. Mußte dieser Dr. Daniel Diana auch noch einen solchen Floh ins Ohr setzen! Voller Zorn ballte Alex die Fäuste – natürlich so, daß

Diana es nicht sehen konnte. Er wollte diese Frau jetzt endlich heiraten! Er wollte nicht mehr länger warten… wollte ein Leben in Luxus genießen. Und das Kind, das Diana erwartete, war seine persönliche Garantie dafür, daß die Ehe Bestand haben würde, auch wenn Diana bemerken sollte, worum es Alex in Wirklichkeit gegangen war. Dem Kind zuliebe würde sie sich niemals von ihm scheiden lassen.

Blieb also nur noch das Problem Sissi. Doch Alex gedachte, dieses Problem jetzt endgültig aus der Welt zu schaffen. Mit Güte und Geschenken war bei der verzogenen Göre nichts zu erreichen, also mußte es mit Strenge, notfalls auch mit ein paar gezielten Schlägen geschehen.

»Tut mir leid, Liebling, daß ich so heftig geworden bin«, entschuldigte sich Alex jetzt scheinheilig und zog Diana in seine Arme. »Ich bin nur ungeduldig, weil ich nicht länger von dir getrennt sein möchte.«

Vertrauensvoll schmiegte sich Diana an ihn. »Mir geht es doch genauso, Alex, aber ich will Sissi nicht weh tun. Sie soll sich auf das Zusammenleben mit dir genauso freuen wie ich. Sie soll in dir den Papi sehen, den sie bisher nie hatte.«

Alex schwieg dazu. Er verband das Wort »Papi« gerade bei Sissi mit einer völlig anderen Vorstellung, als Diana es tat. Sissi würde lernen müssen zu gehorchen, und zwar ohne Widerspruch, ansonsten würde er es ihr auf seine Weise beibringen.

»Vielleicht sollten wir mit einem ganz einfachen Schritt beginnen«, schlug er vor. »Ich könnte Sissi ab morgen vom Kindergarten abholen. Das würde Nadine entlasten und könnte der Grundstein zu einem besseren Verhältnis zwischen Sissi und mir sein.«

Diana dachte eine Weile nach, dann nickte sie. »Das ist vielleicht gar keine schlechte Idee. Ich werde sie darauf vorbereiten und…«

»Findest du das gut?« fiel Alex ihr ins Wort. »Ich meine, sie ist erst vier. Wenn du sie jetzt schon daran gewöhnst, daß ihre Zustimmung für alles grundsätzlich nö-tig ist, dann wird sie dir in ein paar Jahren gehörig auf der Nase herumtanzen. Ich werde Sissi künftig vom Kindergarten abholen, sie wird das sehen, wenn die Tür aufgeht und sie herauskommt. Ich finde, das genügt völlig.«

Diana war in diesem Punkt anderer Meinung, wollte jetzt aber keinen Streit mit Alex beginnen. Wenn er erst einmal selbst Vater war, würde er bestimmt erkennen, daß ihre Erziehungsmethode nicht so schlecht war, wie er es jetzt noch dachte.

Und so erklärte Diana ihrer Tochter am nächsten Morgen, als sie gemeinsam beim Frühstück saßen, daß nicht Nadine, sondern Alex sie vom Kindergarten abholen werde.

Sissi zog einen Schmollmund. »Ich will aber, daß Nini kommt! Alex ist böse.«

»Nein, Mäuschen, das ist er nicht«, widersprach Diana ruhig, aber bestimmt. »Er hat dich sehr lieb. Im übrigen war Nadine in letzter Zeit so eingespannt, daß sie ganz froh sein wird, wenn sie in den nächsten Tagen erst am Nachmittag kommen muß.«

»Ich will aber nicht, daß Alex kommt«, widersprach Sissi noch einmal. »Er mag mich nicht.«

»Du magst ihn nicht«, korrigierte Diana, dann zog sie die Kleine auf ihren Schoß. »Sissi-Mäuschen, Alex würde sich so freuen, wenn er dein Papi werden könnte.«

Entsetzt starrte Sissi ihre Mutter an. »Mein Papi? Aber… aber ein Papi ist doch nur ein Mann, der mit einer Mami verheiratet ist. Das hast du selbst mal gesagt.«

Diana erinnerte sich noch gut an das Gespräch. Sissi hatte wissen wollen, weshalb ihre Freun-dinnen einen Papi hatten und sie nicht.

»Damals hättest du so gern einen Papi haben wollen«, betonte Diana.

»Ja, aber nicht so einen wie Alex«, gab Sissi schlagfertig zurück, und für einen Augenblick fragte sich Diana, wie solche Worte eigentlich aus dem Mund einer Vierjährigen kommen konnten.

»Nun, diese Diskussion müssen wir ja nicht unbedingt jetzt fortsetzen«, erklärte sie schließlich. »Wir müssen zusehen, daß du in den Kindergarten kommst und ich in mein Büro.«

Eine knappe Viertelstunde später hielt der Chauffeur vor dem bunt bemalten Gebäude, und

Diana stieg mit Sissi aus, brachte sie in ihr Gruppenzimmer und informierte die Erzieherin, daß ihr Verlobter Sissi bis auf weiteres aus dem Kindergarten abholen würde.

Wenn die Erzieherin darüber erstaunt war, ließ sie sich jedenfalls nichts anmerken, und als Alex gegen ein Uhr mittags kam, sprühte er vor Charme und machte auf sie einen denkbar guten Eindruck. Niemand konnte verstehen, weshalb die kleine Sissi sich so sehr sträubte, mit ihm zu gehen.

»Du tust mir weh!« beschwerte sie sich und versuchte ihr Handgelenk aus Alex’ Griff zu befreien, doch seine Finger schlossen sich nur noch um eine Spur fester. Er zog die Kleine ein Stück in den angrenzenden Wald, umfaßte auch ihr zweites Handgelenk und ging dann vor ihr in die Hocke. Dabei schoß er einen seiner harten, eisigen Blicke auf sie ab.

»Jetzt hör mir mal gut zu, du kleines Miststück«, fuhr er das Mädchen an. »Ich habe mir deine Launen lange genug gefallen lassen, aber nun ist Schluß. Deine Mutter und ich werden heiraten, hast du verstanden?«

»Nein!« rief Sissi, und ihr zartes Stimmchen bebte vor Angst. »Mami wird dich nicht heiraten! Du bist böse!«

Alex verpaßte ihr mit dem Handrücken einen schmerzhaften Klaps auf den Mund. Aus weit aufgerissenen, erschrockenen Augen starrte Sissi ihn an. Sie war noch niemals geschlagen worden, daher war sie so sehr geschockt, daß sie im ersten Moment nur stumm dastand. Dann begann sie zu weinen.

»Ich werde dein lieber Papi sein, ist das klar?« Alex’ Stimme klang drohend.

»Du hast mir weh getan«, schluchzte Sissi. »Du bist böse.«

Ein zweiter Schlag auf den Mund war Alex’ Antwort auf den Vorwurf der Kleinen.

»Du bist doch schon ein kluges Mädchen«, fuhr Alex fort. »Also wirst du auch keine Schwierigkeiten haben zu verstehen, was ich dir jetzt sage. Deine Mami wird mich erst heiraten, wenn du Rotzgöre einverstanden bist. Also wirst du ihr heute sagen, daß du den lieben Alex zum Papi möchtest, weil er heute so nett zu dir war. Tust du das nicht, dann werde ich morgen deinen nackten Popo noch viel mehr verhauen, als ich es heute mit deinem Mund gemacht habe.«

»Ich werde Mami sagen, was du getan hast!« rief Sissi unter Tränen. »Dann wird sie dich auch nicht mehr mögen!«

Alex biß die Zähne zusammen, daß es knirschte. Wie konnte ein vierjähriges Mädchen nur eine so harte Nuß sein? Kurz entschlossen zog er Sissi den Slip herunter und gab ihr schon jetzt ein paar schmerzhafte Schläge auf die zarte Kehrseite.

»Wirst du deiner Mami immer noch sagen, was ich getan habe?« wollte er dann wissen.

Weinend schüttelte Sissi den Kopf.

»Sehr schön«, urteilte Alex, zog ihr das Höschen wieder hoch und nahm sie mit festem Griff bei der Hand. »Also, Sissi, du weißt jetzt, was dir blüht, wenn du deine Mami nicht dazu bringst, mich zu heiraten.« Jetzt, da Sissi wußte, was Schläge waren, fiel ihm eine wirksame Drohung ein. »Ich werde dich jeden Tag so verhauen, wie ich es jetzt getan habe, bis deine Mami endlich einwilligt, mich zu heiraten. Du siehst, mein Schätzchen, es liegt nur an dir. Je schneller du zu deiner Mami sagst, daß du mich zum Papi möchtest, um so weniger Schläge wirst du bekommen.«

Sissi nickte, während noch immer dicke Tränen über ihre Wangen kullerten. Ihr Händchen zitterten vor Angst, und als sie endlich zu Hause war, rannte sie, so schnell sie konnte, auf ihr Zimmer. Befriedigt sah Alex ihr nach. Er war sicher, daß Sissi nun kein Problem mehr darstellen würde.

*

Nadine war erstaunt, als sie ihren Dienst antrat und Sissi allein im Kinderzimmer antraf – verängstigt und mit roten, vom Weinen völlig verquollenen Augen.

»Sissilein«, sprach sie das Mädchen zärtlich an. »Was ist denn passiert?«

Heftig schüttelte die Kleine den Kopf. »Gar nichts, Nini.«

Nadine glaubte ihr kein Wort. Liebevoll nahm sie die Kleine in die Arme und spürte, wie sich Sissi sofort versteifte. Irgend etwas Schwerwiegendes mußte heute vorgefallen sein.

»Hat Babsi dich ausgeschimpft?« wollte sie wissen. Babsi war eine der beiden Erzieherinnen, aber bisher war es noch nie zu einem Zwischenfall gekommen. Sissi gab eigentlich auch keinen Anlaß zum Schimpfen.

Wieder schüttelte die Kleine den Kopf.

»Sissi! Nadine!« drang in diesem Moment von unten Dianas Stimme herauf.

Nadine ging zur Tür. »Wir sind im Kinderzimmer.« Sie eilte ihrer Chefin entgegen und fügte leise hinzu: »Sissi benimmt sich sehr seltsam. Sie hat geweint und scheint völlig verängstigt zu sein. Ich vermute, daß irgend etwas vorgefallen ist, konnte bis jetzt aber nichts aus ihr herausbekommen.«

Seufzend winkte Diana ab. »Es wird nichts passiert sein. Alex… mein Verlobter hat mich schon angerufen und mir Bescheid gesagt. Sissi muß sich entsetzlich aufgeführt haben, weil er sie vom Kindergarten abholte. Er hat sich furchtbar geniert, weil Sissi in aller Öffentlichkeit ein solches Geschrei veranstaltete, deshalb hat er sie wohl ein bißchen barsch zur Ordnung gerufen. Sissi wird nur selten ausgeschimpft, daher ging ihr die Ermahnung meines Verlobten natürlich ziemlich nahe. Vielleicht kamen auch noch ein paar Tränen der Wut dazu, weil sie ihr kleines Köpfchen nicht durchsetzen konnte und sie sich gegen ihre eigenen Wünsche von Alex abholen lassen mußte.«

Nadine nickte zwar, doch das alles war in ihren Augen durchaus keine ausreichende Erklärung für Sissis sonderbares Verhalten. Allerdings fiel auch Diana auf, daß ihr Töchterchen angesichts der angeblich recht harmlosen Auseinandersetzung, die sie mit Alex gehabt haben sollte, doch sehr verstört reagierte.

»Schätzchen, was Alex heute zu dir gesagt hat, tut ihm leid«, meinte Diana und nahm die Kleine tröstend in die Arme, dann zauberte sie unter ihrem Blazer einen kleinen Plüschhasen hervor. »Schau, das hat er für dich besorgt – zum Trost.«

Mit sichtlichem Widerwillen nahm Sissi den Hasen entgegen, dann zwang sie sich, ihn liebevoll an sich zu drücken.

»Alex ist sehr nett«, hauchte sie.

Erstaunt sah Diana sie an. Damit hatte sie nun am allerwenigsten gerechnet. Noch heute früh hatte Sissi behauptet, Alex sei böse, und jetzt war ihre Meinung über ihn plötzlich ins Gegenteil umgeschlagen. Das hätte Diana weniger überrascht, wenn Alex nicht gerade heute mit ihr hätte schimpfen müssen. Normalerweise würde Sissi ihn jetzt doch noch viel unsympathischer gefunden haben.

Oder hat sie Respekt vor ihm bekommen und sieht ihn dadurch objektiver, redete sich Diana ein.

Das war nun so ziemlich die unlogischste Erklärung, die sie hatte finden können, aber durch ihre Liebe zu Alex kam sie nicht auf einen weitaus naheliegenderen Gedanken, daß es nicht allein beim Ausschimpfen geblieben war. Sie vertraute dem Mann ihres Herzens bedingungslos und hielt ihn für viel zu sanftmütig, als daß er einem unschuldigen Kind etwas hätte antun können.

»Wird Alex mein Papi?« fragte Sissi leise und riß Diana damit aus ihren Gedanken.

»Möchtest du das?« wollte sie wissen und kam dabei aus dem Staunen nicht mehr heraus.

Sissi nickte nur, dann schob sie ihr Händchen in das von Diana. »Werde ich morgen wieder von Nini abgeholt?«

»Nein, mein Schätzchen. Nadine hat sich nun natürlich darauf verlassen, daß sie die ganze Woche über erst am Nachmittag kommen muß.« Sie lächelte ihr Töchterchen an. »Aber jetzt, wo Alex bald dein Papi wird, hast du doch sicher nichts dagegen, wenn er dich auch weiterhin vom Kindergarten abholt, nicht wahr?«

Sissi schluckte schwer, dann schüttelte sie den Kopf. Dabei war ihr schlecht vor lauter Angst, wenn sie nur daran dachte, daß Alex sie wieder auf den Popo oder auf den Mund schlagen könnte.

*

Diana fand den ganzen Tag über keine rechte Ruhe. Nach dem Gespräch mit Sissi war sie wieder ins Büro gefahren und hatte eine kurze geschäftliche Sitzung hinter sich gebracht, während der sie mit ihren Gedanken nicht ganz bei der Sache gewesen war. In Sissis Verhalten gab es zu viele Ungereimtheiten, die Diana nicht aus dem Kopf gingen.

Schließlich hielt sie es nicht länger aus. Sie sagte ihrer Sekretärin Bescheid, daß sie in den nächsten beiden Stunden bei Herrn Simoni zu erreichen wäre und anschließend nach Hause fahren würde. Im Grunde war ja nicht damit zu rechnen, daß um diese Zeit noch irgendwelche Probleme auftreten könnten, die ihre Anwesenheit erforderlich machten.

Alex war höchst erstaunt, als Diana ihn am frühen Abend so unverhofft besuchte. Ihr ernster Gesichtsausdruck erschreckte ihn ein wenig. Sollte er Sissi etwa nicht genügend eingeschüchtert haben? Hatte sie ihrer Mutter am Ende doch die Wahrheit erzählt? Nun ja, selbst dann konnte er die Kleine immer noch als Lügnerin hinstellen. Einen Beweis für die Schläge, die er ihr verabreicht hatte, gab es nicht. Er hatte Sissi ganz bewußt nur so mißhandelt, daß keine sichtbaren Spuren zurückgeblieben waren – abgesehen von ihren Tränen, deren Ursprung er leicht auf andere Weise erklären konnte.

»Sissi hat sich deine strengen Worte sehr zu Herzen genommen«, eröffnete Diana das Gespräch. »Sie war ziemlich verstört, als ich für zwei Stunden zu Hause war.«

Alex seufzte. »Es tut mir ja auch wirklich leid, daß ich gleich so barsch geworden bin, aber…« Theatralisch zuckte er die Schultern. »Sie hat es auch einfach zu bunt getrieben… geschrien, nach mir getreten… ich mußte ihr irgendwie Einhalt gebieten.«

Diana nickte zerstreut und rief sich dabei Sissis seltsame Reaktionen ins Gedächtnis.

»Barsch«, wiederholte sie nachdenklich, dann sah sie Alex ins Gesicht. »Sonst ist nichts passiert? Ich meine… wenn sich Sissi so aufgeführt hat…« Es fiel ihr schwer auszusprechen, was ihr unwillkürlich durch den Kopf geschossen war. »Dir könnte die Hand ausgerutscht sein…«

Entsetzt starrte Alex sie an. »Diana! Wie kommst du nur auf einen solchen Gedanken! Ich liebe Sissi! Niemals könnte ich ihr weh tun!«

Diana schlang die Arme um ihn und drückte sich an ihn. »Es tut mir leid, daß ich überhaupt an so etwas gedacht habe, aber… Sissi war so merkwürdig. Heute früh war sie noch voller Haß auf dich, und dann… sie wirkte total verängstigt, sagte aber gleichzeitig, daß sie dich als Papi möchte. In meinen Augen paßt das einfach nicht zusammen.«

»Findest du?« fragte Alex zurück und rieb sich im Geiste schon die Hände. Das klappte ja besser, als er gedacht hatte. Noch zwei oder drei Lektionen dieser Art, und Sissi würde so gefügig sein, wie er sie brauchte. »Deine Tochter hat heute zum ersten Mal erlebt, wie es ist, einen Vater zu haben. Vielleicht hat sie mich sogar von Anfang an gar nicht wirklich abgelehnt, sondern wollte lediglich austesten, wie weit sie mit mir gehen kann. Jetzt wurde ihr Einhalt geboten, sie bekam Grenzen gesetzt, und das akzeptiert sie offensichtlich.«

Diana nickte nur, doch so ganz einleuchtend war diese Erklärung für sie nicht, obwohl sie noch vor einigen Stunden ähnliche Gedankengänge gehabt hatte.

»So wird es wohl sein«, murmelte Diana, dann warf sie einen Blick auf die Uhr. »Es ist schon spät. Ich muß nach Hause.« Sie küßte Alex zerstreut »Wir sehen uns morgen wieder, ja?«

Er nickte lächelnd, dann streichelte er durch Dianas blondes Haar. »Soll ich Sissi morgen wieder abholen?«

Unwillkürlich zögerte Diana. Sissis Stimmchen klang in ihren Ohren noch nach: »Werde ich morgen wieder von Nini abgeholt?«

»Ich glaube, Sissi und ich sollten jetzt viel Zeit miteinander verbringen«, meinte Alex, als er Dianas Zögern bemerkte. »Das kann für unser Verhältnis nur gut sein.«

»Ja«, stimmte Diana schließlich zu. »Wahrscheinlich hast du recht.«

Doch als sie eine halbe Stunde später an Sissis Bettchen stand und sah, wie es im Gesicht des schlafenden Kindes zuckte, war sie nicht mehr sicher, ob sie die richtige Entscheidung getroffen hatte. Unruhig warf sich Sissi im Bett herum und weinte immer wieder kläglich auf. Zärtlich streichelte Diana das kleine Gesichtchen, doch Sissi zuckte unter der Berührung nur zusammen.

Entschlossen trat Diana zum Telefon, um Alex anzurufen. Er sollte morgen nicht zum Kindergarten gehen. Sie selbst würde ihr Töchterchen abholen. Irgendwie würde sie das schon bewerkstelligen können.

Diana hatte den Hörer noch nicht in der Hand, als ein dumpfer Schmerz sie förmlich erstarren ließ. Ihre Hände fuhren an den Unterleib, ein leises Stöhnen entrang sich ihrer Brust. Mehrere Minuten lang tobte der Schmerz in ihrem Bauch, dann war er plötzlich wieder weg.

Diana hob den Telefonhörer auf, doch sie wählte nicht Alex’ Nummer, sondern die von Dr. Daniel. Sie wußte, daß die Sprechstunde zwar längst zu Ende war, doch sie kannte den Arzt lange genug, um zu wissen, daß sie auch bei ihm zu Hause anrufen konnte. Er ging auch gleich selbst an den Apparat.

»Guten Abend, Herr Doktor, hier ist Wieland«, gab sich Diana zu erkennen. »Es tut mir leid, daß ich Sie um diese Zeit noch störe, aber… ich hatte gerade ganz seltsame Schmerzen, und nun habe ich Angst, daß mit meiner Schwangerschaft etwas nicht in Ordnung sein könnte.«

»Kein Problem, Frau Wieland«, versicherte Dr. Daniel. »Ich bin in ein paar Minuten bei Ihnen.«

»Vielen Dank, Herr Doktor«, erwiderte Diana erleichtert, dann legte sie auf. Fast im selben Moment kehrte der schier unerträgliche Schmerz im Unterleib zu-rück. Mit einem qualvollen Stöhnen krümmte sich Diana zusammen, dann fühlte sie etwas Warmes, Feuchtes über ihre Beine laufen.

Diana sackte zu Boden, registrierte noch, daß sie blutete, und kroch mit Mühe zur Haustür. Dr. Daniel mußte jeden Moment eintreffen. Sie hatte das Gefühl, als wären Stunden vergangen, seit sie mit ihm telefoniert hatte, dabei konnten es nicht einmal fünf Minuten gewesen sein, als sein Wagen vor dem Portal hielt.

Nur mit Mühe erreichte Diana die Türklinke, drückte sie herunter und lehnte sich kraftlos gegen den Rahmen. Im Laufschritt kam Dr. Daniel auf die Eingangstür zu und beugte sich besorgt über

Diana, die ganz offensichtlich noch immer Schmerzen hatte. Mit kurzem Blick erkannte er, daß hier Eile geboten war, und hielt sich nicht lange mit Fragen oder Untersuchungen auf, sondern trat zum Telefon und alarmierte die Waldsee-Klinik.

»Sissi«, stieß Diana kaum hörbar hervor.

»Keine Sorge, Frau Wieland, ich kümmere mich um alles«, versprach Dr. Daniel. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen. Der Krankenwagen wird gleich da sein.«

Der Arzt kannte das junge Kindermädchen, das sich für gewöhnlich um Sissi kümmerte. Obwohl es schon nach zehn Uhr abends war, wählte er Nadines Nummer, nannte seinen Namen und entschuldigte sich für die späte Störung.

»Frau Wieland muß dringend ins Krankenhaus…«

Weiter kam er gar nicht, denn Nadine fiel ihm gleich ins Wort. »Ich bin schon unterwegs.«

Mit Blaulicht und Martinshorn traf der Krankenwagen ein, und als Diana auf der fahrbaren Trage aus dem Haus gebracht wurde, war Nadine bereits zur Stelle.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Frau Wieland!« rief sie ihrer Chefin nach. »Ich kümmere mich um Sissi!«

Im selben Augenblick wurden die Hecktüren des Krankenwagens zugeschlagen, und dann ging es in rasanter Fahrt zur Waldsee-Klinik. Hier stand das Operationsteam schon bereit.

»Wer hat Sie denn alle alarmiert?« wollte Dr. Daniel wissen, während er die Vorbereitungen für die Untersuchungen traf, die er im Krankenwagen noch nicht hatte durchführen können.

»Unser Mädchen für alles«, antwortete der Anästhesist Dr. Parker, und Dr. Daniel wußte, daß damit die Sekretärin Martha Bergmeier gemeint war.

Er nickte knapp. »Halten Sie sich bereit. Es ist möglich, daß wir operieren müssen.«

Dr. Daniels Verdacht bestätigte sich rasch. Schon bei seinem Eintreffen in der Wieland-Villa hatte er damit gerechnet, daß Diana eine Fehlgeburt erlitten hatte, doch jetzt erkannte er auch den Grund dafür. In der Gebärmutter hatte sich eine Geschwulst gebildet, und ihrem schnellen Wachstum zufolge war zu befürchten, daß es sich um eine bösartige Wucherung handelte.

Diana war von den Schmerzen und dem hohen Blutverlust fast besinnungslos.

»Sofort in den OP«, ordnete Dr. Daniel an, und die Nachtschwester Irmgard Heider kam seiner Aufforderung schnellstens nach. Dr. Daniel lief neben der fahrbaren Trage her, bog dann aber in den Waschraum ab.

»Informieren Sie den Oberarzt!« rief er Irmgard noch nach, bevor sich die Schwingtüren hinter ihm schlossen.

Die Gynäkologin der Klinik, Dr. Alena Reintaler, war gerade dabei, sich die Hände zu schrubben. Während Dr. Daniel es ihr gleichtat, schilderte er in knappen, präzisen Worten den Fall. Dann ließen sich die Ärzte von der OP-Schwester Petra Dölling die keimfreien Handschuhe überstreifen.

»Tubus ist drin«, meldete Dr. Parker. »Sie können gleich anfangen.«

Rasch und geschickt setzte Dr. Daniel den Bauchschnitt. Als er den Uterus öffnete, schoß ihm ein Schwall Blut entgegen.

»Blutgruppenbestimmung und Kreuzprobe«, ordnete Dr. Daniel an. »Anschließend Transfusion einleiten.«

Dr. Parker kam dieser Aufforderung umgehend nach, während Schwester Petra das Blut absaugte, um Dr. Daniel freie Sicht auf das Operationsfeld zu verschaffen.

»Unvollständiger Abort«, erklärte Dr. Daniel und ging schon daran, die in der Gebärmutter zurückgebliebenen Reste der Planzenta zu entfernen. Die Blutung kam allmählich zum Stillstand.

»Blutdruck achtzig zu fünfzig«, meldete Dr. Parker.

Dr. Daniel nickte nur. Mit solchen Werten hatte er aufgrund des hohen Blutverlustes rechnen müssen.

»Sie verliert kein Blut mehr, und mit Hilfe der Transfusion müßten die Werte langsam besser werden«, meinte er, während er begann, die fast orangengroße Geschwulst aus der Muskulatur der Gebärmutter zu entfernen.

»Meine Güte«, stieß Alena hervor. »Die ist ja riesig.« Sie warf Dr. Daniel einen kurzen Blick zu. »Ich will Sie nicht kritisieren, Robert, aber… hätten Sie eine so große Wucherung nicht bei der Schwangerschaftsvorsorge ertasten müssen?«

»Das ist es ja, was mir Sorgen macht«, entgegnete Dr. Daniel. »Vor vier Wochen gab es diese Geschwulst noch nicht, sonst hätte ich sie mit Sicherheit ertastet.«

Alena wußte, was diese Antwort bedeutete. »Sie ist doch noch so jung.«

Dr. Daniel nickte. »Und sie hat ein kleines Kind.«

In diesem Moment trat der Oberarzt Dr. Gerrit Scheibler in den Operationssaal.

»Sie haben mich rufen alssen, Robert?«

»Einen Moment noch, Gerrit«, bat Dr. Daniel, dann gelang es ihm endlich, die Geschwulst aus der Uteruswand zu lösen. »Untersuchen Sie das bitte, und… ich wünsche mir einen negativen Befund. Hoffentlich müssen Sie nicht sagen, daß diese Frau Krebst hat.«

»Wir werden sehen«, entgegnete der Oberarzt schon im Hinausgehen.

»Blutdruck steigt langsam«, meldete sich Dr. Parker zu Wort.

Dr. Daniel nickte. Der momentane Zustand seiner Patientin war zufriedenstellend. Weit mehr Sorge bereitete ihm jetzt das Ergebnis der Gewebeuntersuchung, die Dr. Scheibler durchführte. Das Resultat war durchaus nicht zufriedenstellend.

»Ich würde sagen, der Befund ist negativ«, erklärte Dr. Scheibler, als er in den Operationssaal zurückkehrte.

Dr. Daniel runzelte die Stirn. Eine solche unklare Bemerkung hatte er von dem Oberarzt bisher noch nie gehört.

»Was soll das heißen, Gerrit? Ist der Befund nun negativ oder nicht?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Dr. Scheibler. »Ich bekomme kein eindeutiges Ergebnis, und ich will ganz ehrlich sein – ich weiß nicht, woran das liegt. Wir können die Gewebeprobe nur einschicken und im histologischen Institut untersuchen lassen. Ich habe bei Gewebeuntersuchungen viel Erfahrung, aber für diesen Fall reicht sie leider nicht aus.«

Dr. Daniel zögerte. Hätte es sich bei der Patientin um eine ältere Frau gehandelt, wäre ihm die Entscheidung für das, was jetzt zu tun war, leichter gefallen. Aber Diana war noch im gebärfähigen Alter, da konnte er ihr nicht einfach die Gebärmutter entfernen, nur um sicherzugehen, daß der Krebs – wenn er es wirklich war – nicht weiterwuchern würde. Bei einem negativen Befund des histologischen Instituts wäre die Entscheidung, die Gebärmutter nicht zu entfernen, richtig. Bei einem positiven Befund dagegen würde er Diana mit einer solchen Entscheidung womöglich zum Tode verurteilen.

»Wie hoch schätzen Sie die Chance ein, daß Ihr ermittelter negativer Befund richtig ist?« wollte Dr. Daniel wissen.

Dr. Scheibler überlegte kurz. »Sechzig zu vierzig, würde ich sagen.« Er fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Bitte, Robert, nageln Sie mich nicht fest. Ich weiß es nicht genauer.«

»Diese Frau ist verlobt und möchte wieder heiraten«, erwiderte Dr. Daniel. »Im übrigen hat sie gerade durch eine Fehlgeburt ihr Baby verloren. Ein positiver Befund würde mich zu einer Totaloperation zwingen. Wäre das Ergebnis eindeutig negativ, könnte ich ihr die Gebärfähigkeit erhalten.«

Dr. Scheibler war lange genug Arzt, um zu wissen, welche Gratwanderung das für Dr. Daniel war. Die Gefahr, eine falsche Entscheidung zu treffen, lag in einem solchen Fall auf der Hand.

Der Oberarzt atmete tief durch. »Das Ergebnis war nicht eindeutig negativ und nicht eindeutig positiv. Es war… mehr negativ als positiv, etwas anderes kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«

Sekundenlang schloß Dr. Daniel die Augen. Er wog alles gegeneinander ab – den unsicheren Befund, seine eigene Erfahrung mit gut- und bösartigen Tumoren. Dann rang er sich zu einer Entscheidung durch.

»Alena, machen Sie die Patientin zu«, ordnete er an. »An-schließend kommt sie auf Intensiv. Ich werde die Nacht über bei ihr bleiben.«

»Sie lassen den Uterus drin?« vergewisserte sich die junge Gynäkologin.

Dr. Daniel nickte, dann wandte er sich dem Oberarzt wieder zu. »Gerrit, ich verlasse mich darauf, daß Sie die Gewebeprobe unverzüglich ins histologische Institut bringen – und zwar persönlich. Schon heute früh will ich den Befund haben.« Und dann kann ich nur hoffen, daß meine Entscheidung richtig war, fügte er in Gedanken hinzu.

*

Christina Walther erwachte mitten in der Nacht, ohne zu wissen warum. In der Wohnung war alles ruhig, und sie hatte auch nicht schlecht geträumt, abgesehen davon, daß sich ihre Träume Nacht für Nacht verdächtig glichen. In ihren Träumen spielte immer Rudi die Hauptrolle, und jeden Morgen nach dem Aufwachen wünschte sie sich, er würde es auch in ihrem wirklichen Leben wieder tun. Doch der Weg zu Rudi war ihr für immer versperrt, wie sie wußte.

Christina berührte ihren Bauch, und plötzlich wußte sie, weshalb sie wach geworden war. Da war ein plötzlicher, stechender Schmerz gewesen, und jetzt verspürte sie ein seltsames Ziehen – es tat nicht wirklich weh, war aber irgendwie unangenehm. Langsam stand Christina auf und ging zur Toilette. Dabei spürte sie wieder diesen eigenartigen Druck im Bauch. Erst in diesem Moment bemerkte sie, daß sie vom Schlafzimmer zur Toilette eine Spur hinterlassen hatte. Erschrocken blicke sie nach unten und sah, wie beständig Blut auf den Boden tropfte.

Eine Fehlgeburt, durchzuckte es sie. Ich muß in der Klinik anrufen…

Doch sie blieb wie festgenagelt stehen. Eine Fehlgeburt. Wäre das nicht die Lösung ihrer Probleme? Ohne das Kind gäbe es für sie und Rudi vielleicht ja doch einen neuen Anfang. Ohne das Kind… aber… es war doch auch ihr Kind, nicht nur das von Alex.

Noch immer stand Christina bewegungslos im Raum. Ein Schwindelanfall ergriff sie, sie fühlte Übelkeit aufsteigen und bemerkte, wie ihr Herz zu rasen begann. Von plötzlicher Angst ergriffen, taumelte sie zum Telefon. Sie wollte die Nummer der Waldsee-Klinik heraussuchen, fühlte aber, daß sie dazu nicht mehr in der Lage war. Sie sah nur noch verschwommen, dunkle Punkte begannen vor ihren Augen zu tanzen. Im nächsten Moment spürte Christina, wie sie mit den Knien auf dem Boden aufschlug. Wie blind griff sie um sich, erreichte nur durch Zufall das Telefon und ertastete mit zitternden Fingern die einzige Nummer, die ihr in diesem Augenblick durch den Kopf schoß.

»Keller«, hörte sie wenig später die vertraute, jetzt reichlich verschlafen klingende Stimme.

»Rudi!« stieß Christina hervor, war aber nicht sicher, ob sie den Namen wirklich ausgesprochen oder nur noch gedacht hatte, denn sie hörte seine Stimme fragend rufen: »Hallo? Wer ist denn da?«

»Rudi!« Mit letzter Kraft schrie sie seinen Namen, doch es wurde nur ein heiseres Flüstern. »Rudi… hilf mir…« Dann versank sie in undurchdringlicher Finsternis.

*

Wie betäubt stand Rudi Keller neben dem Telefon. Ein heiseres Stöhnen war das einzige, was an sein Ohr gedrungen war, und doch hatte er irgendwie das Gefühl, als hätte er gerade Christinas Stimme gehört.

»Unsinn«, murmelte er sich zu, legte den Hörer auf und wollte schon wieder zu Bett gehen, doch der seltsame nächtliche Anruf ließ ihn nicht zur Ruhe kommen.

Er zog Jeans und Pulli über seinen Schlafanzug, stieg in sein Auto und fuhr zu dem Haus, wo Christina ihre kleine Wohnung hatte. Er blickte die Fassade empor, doch oben war alles dunkel.

Sie erklärt mich für verrückt, wenn ich sie mitten in der Nacht aus dem Bett klingele, dachte er, dennoch gelang es ihm nicht, seine innere Unruhe zu unterdrücken. Wieder rief er sich die Geräusche am Telefon in Erinnerung, dann ging er um das Haus herum. In einem Raum von Christinas Wohnung brannte Licht, und Rudi wußte, daß es das Badezimmer war. Sollte vielleicht doch irgend etwas nicht in Ordnung sein?

Er zögerte noch kurz, dann drückte er auf den Klingelknopf, aber auch nach dem zweiten und dritten Klingeln rührte sich nichts. Rudis Unruhe wuchs. Inzwischen war er fast überzeugt, daß etwas nicht in Ordnung war. Er holte das Schlüsselbund aus der Tasche, an dem noch immer Christinas Wohnungsschlüssel hing. Eigentlich hatte er ihn ihr ja längst zurückgeben wollen…

Hastig schloß Rudi die Haustür auf, lief die Treppe hinauf und öffnete dann die Wohnungstür.

»Chrissie?« rief er fragend, doch er bekam keine Antwort. Er tastete nach dem Lichtschalter. Die Lampe im Flur flammte auf, und im selben Moment sah er sie. Zusammengekrümmt lag sie im Wohnzimmer am Boden. Der Telefonhörer war ihrer Hand entglitten.

Mit zwei Schritten war Rudi bei ihr.

»Chrissie! Um Himmel willen…«

Er riß den Telefonhörer an sich, blätterte hastig im Telefonbuch und wählte dann die Nummer der Waldsee-Klinik.

»Keller!« stieß Rudi hervor, als sich die Nachtschwester meldete. »Meine Freundin…« Für einen Moment kam ihm zu Bewußtsein, daß Christina eigentlich gar nicht mehr seine Freundin war, »sie ist bewußtlos… und sie ist schwanger…«

»Beruhigen Sie sich, Herr Keller«, drang Schwester Irmgards Stimme an sein Ohr. »Sagen Sie mir bitte den vollen Namen und die Adresse ihrer Freundin. Ich schicke Ihnen sofort einen Krankenwagen.«

Rudi hatte Mühe, sich zu konzentrieren, weil ihn die Angst und Sorge um Christina schier um den Verstand brachten. Es dauerte keine zwei Minuten, bis der Krankenwagen mit blinkendem Blaulicht vor dem Haus stand. Außer den Sanitätern war auch die Gynäkologin der Klinik, Dr. Alena Reintaler, mitgekommen, die sich nach der Operation von Diana Wieland noch in der Klinik befunden und mitbekommen hatte, daß es um eine schwangere Patientin ging.

Jetzt erkannte sie, wie sehr es eilte.

»Kann ich mitkommen?« fragte Rudi atemlos. Alena nickte nur, während sie den Sanitätern nach unten folgte. Kaum im Krankenwagen, nahm sie sofort eine Messung von Blutdruck und Puls vor, dann schloß sie mit geübten Bewegungen eine Infusion an. Rudi – noch immer starr vor Angst und Anspannung – sah ihr zu und bemerkte, daß sie genau wußte, was zu tun war. Das beruhigte ihn ein wenig, wenn ihm Christinas anhaltende Bewußtlosigkeit auch große Sorgen machte.

»Was… was ist mit ihr?« fragte er zaghaft.

»Sie hat einen Schock erlitten«, antwortete Alena. »Die Ursachen können vielfältig sein, aber das werden wir in der Klinik gleich feststellen.«

Rudi schluckte schwer, dann streckte er eine Hand aus und berührte Christina sanft. Im selben Moment hielt der Krankenwagen mit einem Ruck an. Erschrocken zog Rudi seine Hand zurück. Da wurden die Hecktüren aufgerissen, und die Sanitäter zogen die Trage heraus.

»Heute herrscht hier wirklich Hochbetrieb«, stellte einer von ihnen fest, während er die Räder der Trage nach unten klappen ließ und zusammen mit seinem Kollegen die Patientin in die Notaufnahme schob.

»Irmgard, rufen Sie Dr. Daniel herunter«, ordnete Alena an. »Ich nehme an, er ist noch auf der Intensivstation.«

Es dauerte keine Minute, bis Dr. Daniel zur Stelle war. Alena informierte ihn in knappen Worten über das, was sie bis jetzt wußte. Dr. Daniel hatte aufgrund der Symptome sofort einen konkreten Verdacht, der sich durch eine Ultraschallaufnahme bestätigte.

»Eine vorzeitige Plazentaablösung«, erklärte er, dann wies er die beiden Sanitäter an: »Bringen Sie die Patientin sofort wieder in den Krankenwagen. Wir müssen schnellstens nach München.«

Rudi erschrak. »Bis nach München? Aber sie ist doch bewußtlos!«

»Eben deswegen«, entgegnete Dr. Daniel knapp, dann wandte er sich Alena zu. »Rufen Sie bei Dr. Sommer an – privat. Sagen Sie ihm bitte, daß ich mit einer Notfallpatientin zu ihm unterwegs bin. Neunundzwanzigste Schwangerschaftswoche, vorzeitige Plazentaablösung, kindliche Herztöne momentan noch stabil, kann sich aber jederzeit ändern.«

»Darf ich mitkommen?« fragte Rudi, als Dr. Daniel schon zum Krankenwagen unterwegs war.

»Ja, beeilen Sie sich.«

Die Hecktüren schlugen hinter Rudi zu, dann brauste der Krankenwagen los.

»Ist das sehr gefährlich?« fragte Rudi.

»Ja«, gab Dr. Daniel zu. »Und zwar sowohl für das ungeborene Kind als auch für die Mutter. Die sich ablösende Plazenta blutet überwiegend nach innen, so daß der genaue Blutverlust bis zur Operation nicht abzuschätzen ist. Dazu kommt, daß auch das Kind bluten kann. Nur ein sofortiger Kaiserschnitt kann beide retten.«

Rudis Hände begannen zu zittern. »Warum fahren wir denn dann noch nach München? Ich meine… die Waldsee-Klinik ist doch… Sie hätten den Kaiserschnitt doch auch dort machen können, oder?«

Dr. Daniel nickte. »Ja, aber das wäre für das Baby einem Todesurteil gleichgekommen. Es ist zwar außerhalb des Mutterleibs schon lebensfähig, aber nur auf einer bestens ausgerüsteten Frühgeborenen-Intensivstation. Über die verfügt die Waldsee-Klinik jedoch nicht.«

Rudi senkte den Kopf. »Das Baby.« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern, trotzdem hörte Dr. Daniel den eigenartigen Unterton heraus. Behutsam legte er ihm eine Hand auf die Schulter.

»Ich weiß, wie schmerzlich das für Sie ist, Herr Keller«, meinte er.

Rudi blickte auf. Tränen glitzerten in seinen Augen. »Ich liebe sie.«

»Auch das weiß ich«, entgegnete Dr. Daniel, dann seufzte er leise. »Es tut mir immer weh, meine Patientinnen so unglücklich zu sehen, und noch schlimmer ist es, wenn andere noch zusätzlich mitleiden müssen.«

Unwillkürlich runzelte Rudi die Stirn. »Unglücklich? Aber…« Sein Blick wanderte zu Christina, die noch immer ohne Bewußtsein war. In regelmäßigen Abständen kontrollierte Dr. Daniel Blutdruck und Puls, außerdem die kindlichen Herztöne. Dazwischen fand er tatsächlich noch Zeit, sich mit Rudi auf einfühlsame Weise zu unterhalten.

Jetzt sah er den jungen Mann aufmerksam an. »Sie hat es Ihnen also nicht gesagt.«

Rudi begann die Zusammenhänge langsam zu begreifen. Die Begegnung in der Nähe des Hauses, in dem er wohnte, ihre Zurückhaltung, als er ihr Glück gewünscht hatte, jetzt die Bemerkung von Dr. Daniel. Das alles ließ doch nur einen Schluß zu.

»Er hat sie sitzenlassen.«

Dr. Daniel nickte nur.

In Rudis Herz herrschte totaler Aufruhr. Wenn er das gewußt hätte…

»Herr Doktor…« Er kam nicht mehr dazu, den Satz zu beenden, denn in diesem Moment bog der Krankenwagen in die Einfahrt der Sommer-Klinik und hielt vor der Notaufnahme mit einem Ruck an. Wieder wurde die fahrbare Trage herausgezogen und dann eiligst in die Klinik ge-

schoben. Das Operationsteam um Dr. Georg Sommer, der seit vielen Jahren Dr. Daniels bester Freund war, wartete bereits, ebenso der Frühgeborenen-Spezialist Dr. Bruno Senge.

»Warten Sie hier, Herr Keller«, bat Dr. Daniel, während er sich dem Waschraum zuwandte. »Ich komme zurück, sobald ich Ihnen etwas sagen kann.«

Rudi nickte nur. In seinen Gesicht stand die nackte Angst, aber auch Entschlossenheit. Der andere Mann war aus Christinas Leben gegangen, jetzt galt es für Rudi, um Christina zu kämpfen.

*

Der Kaiserschnitt verlief problemlos, doch die Chancen des Babys standen schlecht. Auch der Blutverlust, den Christina erlitten hatte, war ziemlich hoch, wenn auch nicht lebensbedrohlich. Dennoch verlegte Dr. Sommer sie sofort auf die Intensivstation.

»Fragen Sie mich nicht, ob die Kleine durchkommen wird«, bat Dr. Senge, als Dr. Daniel und Dr. Sommer die Frühgeborenen-Intensivstation betraten. »Ich weiß es nicht. Sie ist ziemlich klein und nicht besonders gut entwickelt.«

Dr. Daniel seufzte. »Die Patientin hatte am Anfang der Schwangerschaft ernste psychische Probleme und hat sich aus diesem Grund nur mangelhaft ernährt.«

»Wir werden für die Kleine alles tun, was möglich ist«, versprach Dr. Senge. »Vielleicht haben wir ja Glück.«

Dr. Daniel bedankte sich, dann trat er auf den Flur, wo Rudi unruhig hin und her ging.

»Herr Keller«, sprach der Arzt ihn an.

Erschrocken blickte Rudi auf, dann eilte er Dr. Daniel entgegen »Was ist mit Chrissie? Und mit dem Baby?«

Dr. Daniel empfand große Sympathie und viel Bewunderung für den jungen Mann, der sich nach dem Kind erkundigte, als wäre es sein eigenes.

»Fräulein Walther liegt zwar auf Intensiv, ist aber außer Lebensgefahr«, antwortete er. »Ich bin auch sicher, daß Dr. Sommer nichts dagegen haben wird, wenn Sie bei ihr bleiben, bis sie aus der Narkose aufwacht.«

»Richtig«, stimmte der Chefarzt zu, der die Worte seines Freundes gehört hatte. »Es ist zwar nicht üblich, aber ich glaube, in diesem Fall kann der jungen Frau gar nichts Besseres passieren, als in Ihre Augen zu blicken, wenn sie aufwacht.«

»Dem kleinen Mädchen geht es nicht sehr gut«, fügte Dr. Daniel hinzu. »Aber hier in der Klinik wird alles getan, damit sie überlebt.«

Zusammen mit Dr. Sommer begleitete er Rudi zur Intensivstation und sah noch zu, wie sich der junge Mann neben Christinas Bett setzte.

»Das ist wahre Liebe«, erklärte er zu Dr. Sommer gewandt. »Das Baby ist nämlich nicht von ihm.«

Dr. Sommer schüttelte den Kopf. »Wie kann eine Frau einen solchen Prachtburschen nur betrügen?«

»Das hat sie nicht«, entgegnete Dr. Daniel. »Sie hat nur einen folgenschweren Fehler begangen.« Er sah, wie Rudi vorsichtig nach Christinas Hand griff und sie zärtlich festhielt. »Aber es sieht aus, als würde sich dieser Fehler doch noch ausmerzen lassen.« Dann warf er einen Blick auf die Uhr. »Ich muß schnellstens nach Steinhausen zurück. In der Waldsee-Klinik liegt ebenfalls eine Patientin von mir auf Intensiv, und ich möchte bei ihr sein, wenn sie zu sich kommt.«

*

Als Diana erwachte, saß Dr. Daniel bereits an ihrem Bett.

»Mein Baby«, flüsterte sie schwach. »Ich habe… mein Baby verloren… nicht wahr?«

Tröstend griff Dr. Daniel nach ihrer Hand und nickte. »Ja, Frau Wieland, so leid es mir tut.«

»Warum?« wollte Diana wissen, obwohl es sie Mühe kostete, unter den Nachwirkungen der Narkose zu sprechen oder auch nur klare Gedanken zu fassen.

Dr. Daniel zögerte, entschloß sich aber zur Wahrheit, schon weil eine zweite Operation noch immer im Bereich des Möglichen lag. Dr. Scheibler hatte bis jetzt nämlich noch nichts von sich hören lassen.

»In Ihrer Gebärmutter hatte sich eine ziemlich große Geschwulst gebildet, die die Fehlgeburt ausgelöst hat.«

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Diana verstanden hatte, was Dr. Daniel gesagt hatte, dann erschrak sie.

»Krebs?«

Er schüttelte den Kopf. »Das muß es nicht sein.«

Doch Diana verstand. »Es kann aber sein.« Ihre Gedanken fuhren Karussell, vermischten sich mit der Müdigkeit, die noch von der Narkose herrührte, und machten es ihr fast unmöglich, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren.

»Alex«, flüsterte sie »Bitte, Herr Doktor, sagen Sie Alex Bescheid… über alles. Er muß wissen… o Gott, und Sissi…«

»Nicht aufregen, Frau Wieland«, bat Dr. Daniel in beruhigendem Ton. »In der Gebärmutter bilden sich nur äußerst selten bösartige Tumore.« Dabei war er sich seiner Sache durchaus nicht sicher. Zwar kamen bösartige Tumore in der Gebärmutter wirklich nur selten vor, aber er hatte auch schon einige Patientinnen gehabt, die daran gestorben waren.

Allerdings hatte er es geschafft, Diana wenigstens ein bißchen zu beruhigen, und das war jetzt das Wichtigste.

»Sagen Sie Alex trotzdem Bescheid«, bat sie leise. »Alex Simoni… Kräuterweg…« Noch während sie sprach, fielen ihr die Augen zu.

Dr. Daniel sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Entschlossen stand er auf, verließ die Intensivstation und trat zum Telefon. Normalerweise hätte er zu dieser frühen Stunde niemanden angerufen, doch er wollte Dianas eindringliche Bitte erfüllen.

»Simoni«, meldete sich Alex mit verschlafen klingender Stimme.

»Guten Morgen, Herr Simoni, hier ist Dr. Daniel«, gab sich der Arzt zu erkennen. »Ich bin der hiesige Gynäkologe und überdies Direktor der Waldsee-Klinik. Ihre Verlobte liegt seit gestern abend stationär bei uns und hat mich gebeten, Ihnen Bescheid zu sagen.« Er schwieg kurz. »Es tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, aber Frau Wieland hat heute nacht eine Fehlgeburt erlitten, die durch eine Geschwulst in der Gebärmutter ausgelöst wurde.« Wieder zögerte er, doch Dianas Worte klangen in ihm nach: »Sagen Sie Alex Bescheid – über alles.«

»Im Augenblick kann ich Ihnen noch nicht sagen, ob die Geschwulst gut- oder bösartig ist«, fügte er daher hinzu.

»Das heißt, Diana könnte Krebs haben?« fragte Alex zurück, und Dr. Daniel wunderte sich über den Mangel an Betroffenheit in seiner Stimme.

»Ja, Herr Simoni«, antwortete er befremdet. Er hatte eine völlig andere Reaktion erwartet; Schrecken, Bestürzung. »Allerdings sind bösartige Tumore im Uterus sehr selten.«

»So?« Alex schwieg kurz. »Nun ja, dann heißt es abwarten. Vielen Dank, daß Sie mich benachrichtig haben.«

Damit legte er auf. Völlig konsterniert blieb Dr. Daniel mit dem Hörer in der Hand stehen. So etwas hatte er noch nie erlebt.

*

Dr. Daniel wäre noch viel schockierter gewesen, hätte er in diesem Moment Alex Simonis Gesicht gesehen, auf dem sich jetzt ein zufriedenes Lächeln ausbreitete.

Wenn Diana tatsächlich Krebs hatte… das wäre ja überhaupt die Lösung für ihn. Er mußte jetzt nur zusehen, daß sie einer raschen Heirat zustimmen würde, aber da verließ er sich ganz auf seinen bösen Einfluß auf Sissi. Er mußte die Kleine nur gehörig bei der Stange halten, dann würde sie schon spuren. Nach der Hochzeit würde Sissi dann einen bedauerlichen Unfall haben. Das würde Diana die Entscheidung, wem sie nach ihrem Tod ihr Vermögen vermachen würde, erleichtern. Und als Witwer könnte Alex dann sämtliche Vorteile seines luxuriösen Lebens genießen.

Erfreut rieb er sich die Hände. Da eröffneten sich ihm wirklich die besten Zukunftsaussichten. Und selbst wenn Diana keinen Krebs haben würde… vielleicht könnte man sie und Sissi ja gleichzeitig mit einem Unfall ins Jenseits befördern.

»Perfekt«, murmelte er sich zu und beschloß, Sissi heute noch einmal gründlich zu bearbeiten. Die Kleine mußte Diana förmlich zur Heirat drängen, und dann…

»Adieu, meine Lieben«, führte Alex seinen kriminellen Gedankengang zu Ende.

*

Als Christina Walther die Augen aufschlug, glaubte sie zu träumen. Diese ehrlichen braunen Augen, die sie so voller Liebe und Zärtlichkeit anblickten – das konnte doch nicht die Wirklichkeit sein.

Jetzt berührte eine Hand ganz sanft ihr Gesicht.

»Chrissie.«

Seine Stimme war nur ein zärtlicher Hauch.

»Rudi«, stammelte Christina. Ihre Stimme wollte noch nicht so recht gehorchen. Und dann liefen plötzlich Tränen über ihr Gesicht. »Rudi, ich… ich habe…«

Behutsam legte er seine Finger auf ihren Mund.

»Nicht, Liebes«, bat er leise. »Es wird alles wieder gut.« Er lächelte sie an. »Wir haben ein kleines Töchterchen. Im Moment geht es ihr noch nicht sehr gut, aber unsere Liebe wird ihr helfen zu überleben.«

»Rudi«, flüsterte Christina betroffen. »Das Baby… es ist von Alex…«

Da schüttelte er den Kopf. »Nein, Chrissie, es ist von mir. Ich habe es mir gewünscht, und ich werde ihm ein Leben lang ein guter Vater sein.«

Da begriff Christina plötzlich. Rudi war nicht nur bereit, ihren entsetzlichen Fehler zu vergessen… er besaß darüber hinaus auçh noch die Größe, das Kind eines anderen als sein eigenes anzunehmen.

»Rudi«, stammelte Christina unter Tränen. »Ich schäme mich so sehr…«

Da umschloß er ihr Gesicht mit beiden Händen. »Dazu besteht kein Grund. Wenn es nach mir geht, dann hat es diesen Alex für uns niemals gegeben.« Seine Stimme wurde noch eindringlicher. »Chrissie, ich liebe dich… ich habe niemals aufgehört, dich zu lieben, und wenn du mich noch ein bißchen gern hast…«

Christina hätte ihn umarmen wollen, doch es ging nicht, weil die Infusionsschläuche sie daran hinderten. Allerdings stand in ihren Augen alles, was sie fühlte: Dankbarkeit und unendlich viel Liebe.

»Rudi«, flüsterte sie, und in ihrer Stimme lag dabei eine ganze Welt voller Glück.

*

Dr. Jeffrey Parker glaubte seinen Augen nicht zu trauen, als er gegen zwei Uhr morgens aus der Klinik nach Hause kam und in seinem Wohnzimmer Licht brannte.

»Billy, warum zum Teufel, schläfst du nicht?« fragte er erstaunt.

Seufzend lehnte sich Billy Stevens auf dem Sessel zurück. »Ich habe gehört, wie du in die Klinik gerufen wurdest, und konnte dann nicht wieder einschlafen.« Er wies auf die Tasse, die vor ihm stand. »Soll ich dir auch einen Kaffee machen? Du siehst ziemlich geschafft aus.«

»Das bin ich auch«, stimmte Jeff zu. »Ich habe eine lange Operation hinter mir. Aber das mit dem Kaffee meinst du doch wohl nicht ernst, Billy, es ist zwei Uhr morgens! Das Allerletzte, worauf ich jetzt Lust habe, ist ein Kaffeeklatsch mit dir. Ich sehne mich nach meinem Bett. Also, mein Freund, wenn du dir die Nacht um die Ohren schlagen willst – bitte. Ich werde schlafen gehen, denn in fünf Stunden ist meine Nacht schon wieder zu Ende.«

»Jeff, bitte, nur auf ein paar Minuten.«

Dr. Parker hatte sich bereits umgedreht, um das Wohnzimmer zu verlassen, doch da war ein Unterton in Billys Stimme, der ihn innehalten ließ. Mit einem tiefen Seufzer wandte er sich wieder um.

»Billy, du bist verrückt«, hielt er seinem Freund vor. »Ich bin todmüde.«

Schuldbewußt senkte Billy den Kopf. »Lange mußt du mich nicht mehr ertragen, Jeff. Ich werde nach San Francisco zurückkehren.«

Dr. Parker spürte, wie wichtig es für Billy war, darüber zu sprechen, andererseits war er so müde, daß er kaum noch einen klaren Gedanken fassen konnte.

»Hör mal, Billy, es ist Unsinn, das mitten in der Nacht zu erörtern«, erklärte er. »Wenn es nach mir geht, kannst du bleiben, solange du willst. Du störst mich nicht, das weißt du. Geh jetzt schlafen, und morgen, wenn ich vom Dienst komme, sprechen wir in Ruhe über alles.«

Hartnäcktig schüttelte Billy den Kopf. »Wenn du vom Dienst kommst, werde ich nicht mehr hier sein.«

»Doch, Billy, das wirst du. Glaub ja nicht, daß ich dich bei Nacht und Nebel und in einem so desolaten Zustand einfach gehen lasse. Ich bin Arzt, Anästhesist, um genau zu sein, also wäre es für mich ein leichtes, dich für ein paar Stunden schlafen zu schicken. Wenn ich will, dann wachst du nämlich erst bei meiner Rückkehr vom Dienst wieder auf. Möchtest du das?«

»Jeff, du verstehst nicht…«

»Beantworte meine Frage!«

Billy seufzte. »Nein, ich möchte es nicht. Jeff…«

»Wir werden darüber reden«, fiel Dr. Parker ihm ins Wort. »Aber nicht jetzt. So, und nun mach, daß du ins Bett kommst.« Er drohte Billy mit dem Finger. »Untersteh’ dich, heimlich abzuhauen. Ich würde dich finden, und wenn ich mir extra Urlaub nehmen und dir nach San Francisco nachfliegen müßte, klar?«

Billy brachte ein schiefes Grinsen zustande. »Soll man einen Freund wie dich nun zum Teufel wünschen oder sich dazu beglückwünschen?«

»Das bleibt dir überlassen«, entgegnete Jeff trocken. »Komm jetzt. Ich will schlafen, und dir wird es bestimmt auch nicht schaden.«

Damit hatte Jeff zweifellos recht. Trotz des Kaffees, den er mitten in der Nacht getrunken hatte und der alles andere als schwach gewesen war, schlief Billy jetzt sehr schnell wieder ein und erwachte erst am späten Vormittag. Sein erster Blick fiel auf die beiden Koffer, die er noch in der Nacht gepackt hatte, doch den Gedanken, heimlich abzureisen, hatte er wieder verworfen. Das wäre Jeff gegenüber unfair. Billy war ja ohnehin nicht sicher, mit der Rückkehr in die Staaten das Richtige zu tun.

Billy duschte, zog sich an und zwang sich zu einem trockenen Stück Knäckebrot. Der starke Kaffee, den er in der Nacht getrunken hatte, hatte ihm irgendwie den Magen verdorben, aber vielleicht würde ihm ein bißchen frische Luft ja guttun.

Er verließ die gemütliche kleine Dachwohnung und schließlich auch das Haus, dann machte er sich auf den Weg zum Bahnhof. Sein Entschluß, nach Amerika zurückzukehren, stand fest, also konnte er sich die Fahrkarte nach München und zum Flughafen auch gleich kaufen.

Doch Billy kam nie am Bahnhof an, denn ein leises, verzweifeltes Schluchzen erregte seine Aufmerksamkeit. Er blickte sich um, konnte aber niemanden entdecken, und dann hörte er ein flehendes Kinderstimmchen.

»Du hast mir versprochen, mir nicht mehr weh zu tun.«

»Ich will sicher sein, daß du nicht vergißt, was wir beide vereinbart haben«, entgegnete eine harte männliche Stimme. »Deshalb werde ich dir jetzt…«

Billy war den Stimmen nachgegangen und sah gerade, wie ein großgewachsener Mann einem weinenden Mädchen das Hös-chen herunterzog.

»Was tun Sie da?« fragte Billy scharf.

Der Mann fuhr erschrocken herum. Hier, in diesem kleinen Waldstück, hatte er sich unbeobachtet geglaubt.

»Meine Tochter war ungehorsam«, antwortete er dennoch schlagfertig. »Ich muß ihr leider eine Lektion erteilen.«

Billy fröstelte, als er in die kalten smagragdgrünen Augen blickte.

»Ich glaube Ihnen kein Wort«, entgegnete er. »Ein Vater, der seine Tochter bestrafen will, tut das nicht im Wald, sondern zu Hause. Im übrigen habe ich einen Teil Ihres Gespräches mit der Keinen gehört und hatte dabei nicht den Eindruck, daß es hier um Ungehorsam und Strafe geht.«

»Mischen Sie sich gefälligst nicht in meine Angelegenheiten ein!« fuhr der Mann ihn an. »Verschwinden Sie! Was ich mit meiner Tochter mache, geht Sie überhaupt nichts an.«

Doch Billy ließ sich nicht so einfach vertreiben. »Geht es nicht jeden etwas an, wenn ein Kind geschlagen werden soll?« Ohne auf den zornbebenden Mann zu achten, ging Billy in die Hocke und zog das zitternde kleine Mädchen an sich. »Hab’ keine Angst. Er wird dir nichts tun, solange ich hier bin.« Er sah zu dem Mann auf, der in hilflosem Zorn die Fäuste ballte. »Und ich habe nicht vor zu gehen.«

»Dann werde ich es tun«, entgegnete der Mann und ergriff mit harter Hand den Arm des kleinen Mädchens. »Komm, Sissi.«

Die Vierjährige schrie auf vor Schmerz und Angst. Im selben Moment umschloß Billys Hand mit eisernem Griff das Handgelenk des Mannes. Der konnte ein leises Aufstöhnen nicht unterdrücken und ließ Sissis Arm unverzüglich los.

»Ist das wirklich dein Papa, Sissi?« fragte Billy das kleine Mädchen eindringlich.

Mit ängstlichem Blick sah die Kleine zu dem Mann hoch, der mit zusammengebissenen Zähnen sein schmerzendes Handgelenk rieb. Trotzdem gelang es ihm, dem Mädchen einen drohenden Blick zuzuwerfen.

»Sag mir die Wahrheit, Sissi«, drängte Billy. »Ist er dein Papa?«

Sie schüttelte den Kopf. »Alex will meine Mami heiraten.«

Ohne viel Umstände nahm Billy das Mädchen auf den Arm, dann sah er den Mann an. »Damit ist die Sachlage wohl klar. Ich werde dieses Kind jetzt in die Obhut seiner Mutter bringen. Sie kann darüber entscheiden, ob Sissi von Ihnen bestraft werden darf oder nicht.«

Alex verstellte ihm den Weg. »Ich kenne Sie nicht. Glauben Sie allen Ernstes, ich würde zulassen, daß Sie das Kind meiner Verlobten einfach so mitnehmen?«

Billy hielt seinem Blick stand. »In meinen Händen ist es sicher besser aufgehoben, aber bitte, es steht Ihnen ja frei, mich zu begleiten. Sie kennen die Adresse der Mutter vermutlich besser als ich.« Der letzte Satz klang sarkastisch.

»Das wirst du mir büßen«, zischte Alex der kleinen Sissi zu. »Warte nur, bis wir zu Hause sind.«

Das Mädchen schlang beide Arme um Billys Hals und vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter. Billy kochte vor Wut. Was war das nur für eine Mutter, die ihr Kind einem solchen Grobian überließ?

Eine Viertelstunde später erreichten sie die stattliche Villa, und das Kindermädchen Nadine öffnete erschrocken die Tür, als sie sah, wie Sissi scheinbar leblos in den Armen eines fremden Mannes hing.

»Was ist passiert?« Ihr anklagender Blick richtete sich auf Alex. »Sie hatten mir fest versprochen, Sissi abzuholen, ansonsten wäre ich doch…« Sie stockte, als sich Sissi bewegte und beide Arme nach ihr ausstreckte.

»Nini«, flüsterte sie. »Wo ist Mami?«

Zärtlich nahm Nadine die Kleine in den Arm. »Sie ist im Krankenhaus, Schätzchen, aber wir können sie sicher bald besuchen.«

Mit einer Selbstverständlichkeit, die Nadine schockierte, betrat Alex die Villa. An der Tür drehte er sich um und sah Billy mit einem spöttischen Lächeln an.

»Sie haben Sissi zu Hause abgeliefert, jetzt können Sie gehen.«

Billy wußte, daß er kein Recht hatte, länger zu bleiben oder gar selbst das Haus zu betreten. Allerdings wollte er um jeden Preis vermeiden, daß dieses Kind noch einmal geschlagen wurde.

»Lassen Sie Sissi nicht mit diesem Mann allein«, raunte er dem Kindermädchen zu und hoffte inständig, daß sie dem Kind wirklich eine Hilfe sein konnte. »Er schlägt sie.«

Nadines entsetztem Blick war zu entnehmen, daß sie damit nicht gerechnet hatte. Ihre Reaktion bewog Billy zu einer weiteren Frage.

»Ich möchte mich mit Sissis Mutter unterhalten.«

Nadine nickte, warf einen kurzen Blick zurück und sah, daß Alex sie beobachtete.

»Vielleicht sollten wir mitkommen«, meinte sie, und Billy spürte, daß sie mit Alex jetzt nicht allein sein wollte.«

Er nickte. »Ich glaube, das ist eine gute Idee.«

»Nadine! Kommen Sie endlich ins Haus!« befahl Alex barsch.

Sie drehte sich um. »Sissi und ich werden Frau Wieland besuchen.«

Alex’ Blick verfinsterte sich, doch er wußte, daß er diesen Besuch nicht mehr verhindern konnte.

»Sie liegt auf der Intensivstation«, wandte er dennoch ein. »Ich bin sicher, daß man Sie mit dem Kind nicht zu ihr lassen wird.«

Nadine zögerte und sah Billy wieder an. »Ich fürchte, er hat recht. Dr. Daniel wird sicher…«

»Dr. Daniel?« fiel Billy ihr ins Wort. Im selben Moment wußte er, in welcher Klinik Sissis Mutter lag. »Ich bin mit dem Anästhesisten der Waldsee-Klinik befreundet. Vielleicht gibt es einen Weg…«

Noch bevor Alex einen weiteren Einwand erheben konnte, waren Nadine und Billy mit der kleinen Sissi schon unterwegs zur Waldsee-Klinik. Der erste, der ihnen in der Eingangshalle über den Weg lief, war Dr. Parker.

»Billy. Was tust du denn hier?« fragte er überrascht.

»Ich will zu Frau Wieland.« Er wies auf Sissi, die sich in Nadines Arm kuschelte. »Das ist ihre kleine Tochter.«

Dr. Parker schüttelte den Kopf. »Die Patientin liegt auf Intensiv. Mit Besuchen geht das überhaupt nicht, und einem Kind darf man das schon gar nicht zumuten. Die Kleine würde einen Riesenschrecken bekommen, wenn sie ihre Mutter so sehen würde.« Er überlegte kurz, dann berührte er Billys Arm. »Komm mit. Vielleicht weiß Dr. Daniel, wann die Frau auf die normale Station verlegt werden kann.«

Doch Dr. Daniel war nicht aufzufinden. Billy, Nadine und Sissi nahmen auf der Kunststoffbank in der Eingangshalle Platz. Für den Augenblick blieb ihnen nichts übrig als zu warten.

*

Der ersehnte Anruf von Dr. Scheibler erfolgte kurz nach Mittag.

»Der Befund ist negativ.«

Man hörte ihm die Erleichterung an, und auch Dr. Daniel atmete auf. Kein Krebs. Das bedeutete, daß seine Entscheidung, die Gebärmutter nicht herauszunehmen, richtig gewesen war. Diana würde nach ihrer Hochzeit, wenn sie die Fehlgeburt verarbeitet hatte, wieder Mutter werden können.

Dr. Daniel eilte zur Intensivstation, um Diana sofort die freudige Nachricht zu überbringen. Doch auf dem Flur wurde er von Dr. Parker abgefangen.

»In der Eingangshalle sitzt das Kindermädchen von Frau Wieland mit der kleinen Sissi, außerdem ein Freund von mir, der unbedingt mit der Patientin sprechen möchte«, erklärte er.

Dr. Daniel runzelte die Stirn. »Das klingt ja äußerst mysteriös.« Er überlegte kurz. »Ich werde Frau Wieland jetzt untersuchen, und wenn eine Intensiv-überwachung nicht mehr nötig sein sollte, kann Sissi ihre Mutter auf jeden Fall sehen. Aber mit Ihrem Freund möchte ich lieber zuerst selbst sprechen.«

Dann betrat er die Intensivstation. Diana richtete sich ein wenig auf.

»Gute Nachrichten, Frau Wieland«, erklärte Dr. Daniel sofort. »Der Befund war negativ, das be-deutet, daß die Geschwulst harmlos war.« Er lächelte. »Ihr Töchterchen wartet schon sehnlichst darauf, Sie besuchen zu dürfen.«

Ein zärtliches Lächeln huschte über Dianas Gesicht. »Ist mein Verlobter auch hier?«

Dr. Daniel schüttelte den Kopf. »Nein, ich glaube nicht. Sissi scheint mit Nadine hier zu sein.«

Gewissenhaft kontrollierte er Dianas Werte, dann sah er sie an. »Ich werde Sie auf die normale Station verlegen lassen. Die Infusion muß zwar noch bleiben, aber wenn Sissi sieht, daß es Ihnen ansonsten gutgeht, wird sie wohl nicht zu sehr erschrecken.«

Dr. Daniel veranlaßte die Verlegung, dann machte er sich auf den Weg zur Eingangshalle. Als Sissi ihn sah, rutschte sie von Nadines Schoß und lief ihm entgegen. Lachend fing Dr. Daniel die Kleine auf.

»Na, Sissi, hast du schon große Sehnsucht nach deiner Mami?« fragte er.

Die Kleine nickte. »Darf ich sie besuchen, Herr Doktor?«

»Natürlich darfst du«, stimmte Dr. Daniel zu. »Nadine kann dich begleiten.«

»Und Billy?« hakte Sissi sofort nach.

Dr. Daniel folgte ihrem Blick und betrachtete den äußerst sympathisch wirkenden Mann mit den himmelblauen Augen sehr genau. Jetzt stand er auf und kam auf ihn zu.

»Billy Stevens ist mein Name«, stellte er sich vor und reichte Dr. Daniel die Hand. »Ich habe von Jeff schon viel über Sie gehört.«

»Hoffentlich nur Angenehmes«, entgegnete Dr. Daniel mit einem freundlichen Lächeln, dann wurde er ernst. »Jeff sagte mir bereits, daß Sie Frau Wieland besuchen möchten. Soweit ich informiert bin, sind Sie ihr allerdings nicht bekannt.«

»Das ist richtig«, stimmte Billy zu. »Allerdings ist das, was ich Frau Wieland zu sagen habe, für sie von großer Bedeutung.«

Dr. Daniel seufzte. »So vage Andeutungen habe ich nicht besonders gern, vor allem, wenn es um eine frisch operierte Patientin geht.«

Während Billy noch mit sich rang, ob er Dr. Daniel sagen sollte, was er wußte, hatte Nadine schon die Initiative ergriffen.

»Frau Wielands Verlobter hat Sissi ganz offensichtlich geschlagen«, erzählte sie.

Dr. Daniel war zutiefst betroffen, dann sah er Billy an. »In diesem Fall halte ich es für wichtig, Frau Wieland zu informieren, allerdings muß ich darauf bestehen, dabeizusein.«

»Kein Problem«, urteilte Billy. »Ich will nur, daß sie weiß, in welcher Gefahr ihr Kind schwebt.«

Zusammen gingen sie ins erste Stockwerk hinauf. Billy hielt sich im Hintergrund. Sissi sollte die erste sein, die ihre Mutter begrüßte. Erst als Mutter und Tochter ausgiebig miteinander geschmust hatten, traten Dr. Daniel, Nadine und Billy ein. Billy schloß die Tür hinter sich, dann sah er sich um. Im selben Moment ging Dr. Daniel ein wenig zur Seite, und nun konnte Billy einen ersten Blick auf Diana werfen. Er hatte das Gefühl, als würde ihm das Herz stehenbleiben.

Wie in Trance schritt er auf das Bett zu und glaubte noch immer zu träumen. Da war sie… die Frau, nach der er sich seit fünf Jahren sehnte. Er hörte, wie Dr. Daniel mit ihr sprach, und wußte, daß von Alex die Rede war, doch er konnte kein Wort verstehen. Er konnte auch nichts mehr sehen – nur sie.

Er bemerkte das Erschrecken in ihrem Gesicht und sah den dankbaren Blick, mit dem sie ihn jetzt anschaute. Ihre Lippen bewegten sich, sie sprach mit ihm, doch er konnte sie nicht hö-

ren.

»Fühlen Sie sich nicht wohl?«

Das waren die ersten Worte, die bis zu seinem Gehirn vordrangen. Er schluckte schwer und war sicher, keinen vollständigen Satz hervorbringen zu können.

»Sie erinnern sich nicht mehr an mich, nicht wahr?« Er hörte sich selbst sprechen, doch seine eigene Stimme klang ihm fremd in seinen Ohren.

Erstaunt sah Diana ihn an. »Sollte ich das?«

Billy nickte, dann schüttelte er den Kopf. »Nein, vermutlich nicht.« Impulsiv griff er nach ihrer Hand. »Vor fünf Jahren… auf dem Weg von San Francisco nach Hawaii… Sie waren bei mir im Cockpit…«

Ein Hauch von Melancholie huschte über Dianas Gesicht, dann erinnerte sie sich an den jungen, sympathischen Piloten, der sie mit seinen himmelblauen Augen so lange angeschaut hatte. Jetzt lächelte sie ihn an.

»Von San Francisco nach Steinhausen ist es ein weiter Weg«, stellte sie fest, dann wurde sie ernst. Voller Dankbarkeit ergriff sie seine Hand. »Ich stehe tief in Ihrer Schuld, Herr…« Sie stockte.

»Billy«, meinte er. »Einfach nur Billy.«

»Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll, Billy«, erwiderte

Diana. »Sissi war gestern so verstört, aber… ich habe Alex geglaubt. Es gab für mich keinen Grund, es nicht zu tun. Allerdings ist das, was mir Dr. Daniel jetzt gesagt hat, sehr viel einleuchtender, und wer weiß, wie lange ich gebraucht hätte, um das herauszufinden, wenn Sie nicht gewesen wären.«

»Es war Zufall«, murmelte Billy. »Eigentlich war ich im Begriff abzureisen. Ich wollte mir eine Fahrkarte nach München holen, und morgen früh sollte mein Flug nach San Francisco gehen.«

»Dann waren Sie nur zu Besuch hier?« wollte Diana wissen.

Billy zögerte. Es war jetzt der falsche Zeitpunkt, das spürte er. In Dianas Blick stand Traurigkeit. Sie hatte gerade etwas ganz Schreckliches über ihren Verlobten erfahren… hatte eine Liebe verloren, die zwar sicher nur einseitig bestanden hatte, aber der Schmerz war für sie deswegen nicht geringer. Andererseits hatte Billy Angst, nie wieder eine solche Chance zu bekommen.

»Ich war auf der Suche nach einer Frau, die ich nur ein einziges Mal gesehen hatte, aber nie wieder vergessen konnte«, begann er leise. Er bemerkte nicht, wie Dr. Daniel Nadine einen Wink gab, das Zimmer zu verlassen. Der Arzt hatte mit einer solchen Wendung natürlich nicht gerechnet, doch jetzt hatte er bemerkt, daß hier auch noch eine tiefe Herzensangelegenheit vorlag.

»Ich wußte weder ihren Namen noch ihren Aufenthaltsort, und im Grunde rechnete ich nicht damit, sie jemals wiederzusehen«, fuhr Billy fort.

Erstaunt sah Diana ihn an. Sie wußte nicht, weshalb er ihr das erzählte. Vielleicht hätte sie einen Zusammenhang gesehen, wenn ihr das Herz nicht so schwer gewesen wäre. Sie verstand nicht, wie Alex so etwas hatte tun können, und sie wußte, daß sie ihn zur Rede stellen mußte, wenn es auch kein angenehmes Gespräch werden würde. Mühsam zwang sie ihre Gedanken wieder zurück in dieses Krankenzimmer.

»Mir scheint, Sie sind ein Mensch, der zu tiefen Gefühlen fähig ist«, meinte sie. »Wie lange liegt diese Begegnung zurück?«

»Fünf Jahre«, antwortete Billy. Sein Blick war eindringlich. »Die Frau war damals frisch verheiratet und mit ihrem Mann auf Hochzeitsreise. Während des Fluges von San Francisco nach Hawaii baten sie mich über die Stewardeß, einen Blick ins Cockpit werfen zu dürfen.« Er blickte zu Boden. »Sie trat herein und landete mitten in meinem Herzen.«

»Billy«, flüsterte Diana ergriffen. »Meine Güte… bin ich diese Frau?«

Er nickte, dann brachte er ein schiefes Grinsen zustande. »Beinahe wäre ich wieder zu spät gekommen… das heißt. vielleicht ist es für mich sowieso immer zu spät… ich meine…« Er zuckte die Schultern. Gedankenlos griff er nach einer von Sissis Haarsträhnen und ließ sie durch seine Finger gleiten. Die Kleine hatte die ganze Zeit über mucksmäuschenstill auf Dianas Bett gesessen und sich nur zärtlich an ihre Mutter geschmiegt.

»Billy, wirst du mich jetzt immer beschützen?« fragte sie nun mit ihrem hellen Kinderstimmchen. »Damit Alex mich nicht mehr verhauen kann?«

Voller Innigkeit schloß Diana ihr Töchterchen in die Arme. »Nie wieder wird Alex dich verhauen, mein Mäuschen. Dafür werde ich schon sorgen.«

Billy drehte sich um. Er hatte das Gefühl, hier überflüssig zu sein. Diana hatte ein eigenes Leben… ein Leben, in dem er nichts verloren hatte.

»Billy!«

Ihre Stimme hielt ihn zurück. Er sah sie an – unsicher, fast ängstlich.

»Du kannst jetzt nicht einfach gehen, Billy«, meinte sie und registrierte dabei sehr wohl, daß sie ihn duzte.

»Was soll ich hier denn noch?« fragte er zurück.

»Sissi und ich brauchen jemanden, der uns beschützt… der dafür sorgt, daß wir nicht wieder an den Falschen geraten.«

Billys Herz vollführte einen Luftsprung. »Heißt das…?«

Dianas Kopfschütteln unterbrach ihn. «Nein, Billy, vorerst heißt das noch gar nichts. Schau mal, du hast von mir geträumt, aber im Grunde kennst du mich doch gar nicht. Und ich… ich will ehrlich sein. Ich hatte dich bereits vergessen, als ich das Flugzeug in Honolulu verließ. Ich war damals glücklich verheiratet und bis über beide Ohren verliebt. In meinem Herzen gab es keinen Platz für einen anderen Mann. Und jetzt… Alex hat meine Tochter geschlagen, und das ist so ungefähr das Schlimmste, was er mir antun konnte. Aber ich habe ihn geliebt, und das kann ich auch nicht einfach vergessen.«

Billy verstand. Sie brauchten Zeit – beide. Sie mußten sich kennenlernen, einander näherkommen, aber dann würde ihnen vielleicht die Tür zu einer gemeinsamen Zukunft offenstehen.

*

In fliegender Hast hatte Alex Simoni seine Sachen zusammengepackt. Er wußte genau, daß man ihn wegen Kindesmißhandlung zur Verantwortung ziehen würde – vorausgesetzt, man er-wischte ihn, und das würde er zu verhindern wissen.

Allerdings war es dafür schon zu spät. Dr. Daniel hatte unverzüglich Anzeige erstattet, und just in dem Moment, als Alex das Weite suchen wollte, hielt bereits ein Streifenwagen vor dem Haus, in dem er wohnte.

Als nach Monaten die Gerichtsverhandlung begann, kamen noch etliche Unterschlagungs- und Betrugsdelikte ans Tageslicht. Das und die Tatsache, daß unter vielen anderen auch Diana Wieland als Zeugin gegen Alex aussagte, führten dazu, daß der Fall in den gängigen Tages-zeitungen Schlagzeilen machte. Das Wieland-Unternehmen war schließlich bis weit über die Grenzen Bayerns hinaus bekannt.

Durch das Steinhausener Lokalblättchen erfuhr auch Christina von dem Prozeß gegen Alex. Lange saß sie da und starrte das Foto an. Dabei erschien es ihr plötzlich völlig unsinnig, daß sie mit diesem Mann einmal ein Verhältnis gehabt hatte. Was hatte sie nur so in seinen Bann gezogen?

Christina bemerkte nicht, wie Rudi hinter sie trat und ihr über die Schulter sah.

»Das ist er, nicht wahr?«

Erschrocken zuckte Christina zusammen, dann blickte sie auf. »Ja, Rudi.« Sie schwieg kurz. »In meinem ganzen Leben habe ich nichts so sehr bereut wie die Affäre mit ihm.«

Da beugte er sich zu ihr hinunter und küßte sie zärtlich. »Es ist vorbei.« Er betrachtete die Bilder, unter denen auch eines von Diana und ihrer Tochter Sissi war. »Wie Tamara schon sagte: Schönheit schützt vor Fehlern nicht. Diese Diana Wieland ist auch eine außergewöhnlich schöne Frau, und sie hat ebenfalls den Fehler begangen, sich mit diesem Kerl einzulassen.«

Christina nickte. »Er soll ihr Kind mißhandelt haben. Meine Güte…«

Rudi wußte, daß sie jetzt an ihr eigenes Töchterchen dachte, das im Augenblick noch in der Sommer-Klinik in München lag. Wie durch ein Wunder hatte die kleine Trixie überlebt, und in wenigen Tagen würden sie ihr Baby nach Hause holen können. Dann sollte auch die Hochzeit stattfinden, denn eines war ihnen durch Christinas Fehler klargeworden: Sie wollten sich nie wieder trennen.

Allerdings wurden nicht nur hier Hochzeitspläne geschmiedet. In den vergangenen Monaten hatte sich Dianas Herz Billy tatsächlich zugewandt. Aus der anfänglichen Sympathie war schnell Freundschaft geworden, und während des zermürbenden Prozesses gegen Alex Simoni war Billy für Diana und auch für Sissi ein unentbehrlicher Beistand gewesen.

Als das Urteil gegen Alex gesprochen worden war, hatte Diana das Gefühl gehabt, als würde eine Zentnerlast von ihren Schultern fallen. Das Kapitel Alex war abgeschlossen – auch in ihrem Herzen. Jetzt war es offen für eine neue Liebe… eine Liebe, die längst in ihr Herz gezogen war, dort aber noch eine Weile im Vorborgenen geblüht hatte.

Vielleicht wäre sich Diana ihrer Gefühle zu diesem Zeitpunkt noch nicht bewußt geworden, aber als sie, Billy und Sissi an einem Sonntagnachmittag im idyllisch gelegenen Waldcafé Dr. Daniel und seine Familie trafen, da platzte Sissi auf einmal heraus: »Billy wird bald mein Papi sein.«

Völlig verdutzt sahen sich Diana und Billy an. Nie war ein Wort der Liebe zwischen ihnen gewechselt worden, doch das, was sich an Vertrautheit zwischen ihnen abgespielt hatte, war offenbar so deutlich gewesen, daß ein Kind wie Sissi es gespürt hatte.

»Da gratuliere ich aber ganz herzlich«, meinte Dr. Daniel, und man sah ihm an, wie sehr er sich für diese kleine Familie freute. Diana hatte in ihrem jungen Leben schon so viel mitgemacht, hatte ihren geliebten Mann früh verloren und war nach Jahren der Trauer einem Betrüger auf den Leim gegangen. Sie verdiente sich wahrlich dieses Glück. Und Billy… er hatte über Jahre hinweg einen Traum geliebt, der nun endlich Wirklichkeit geworden war. Zusammen würden sie der kleinen Sissi ein liebevolles Zuhauses geben und ihre Familie vielleicht sogar noch vergrößern.

Dr. Daniel schmunzelte, als er in seinen Gedanken so weit gekommen war. Gelegentlich erfüllten sich Träume eben doch…

Dr. Daniel Staffel 7 – Arztroman

Подняться наверх