Читать книгу Suche Liebe, biete Berg - Mariella Loos - Страница 5
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ОглавлениеMarie betrat die Umkleidekabine und warf einen Blick auf die große Wanduhr. 17:20 Uhr. Wieder einmal hatte sie Überstunden gemacht. Vor allem der Patient mit dem komplizierten Beinbruch hatte sie in Anspruch genommen. Zum Glück war die Operation gut verlaufen, und sie konnte ihre Schicht verspätet, aber beruhigt an die Kolleginnen übergeben.
Mit einem zufriedenen Seufzer schlüpfte Marie in ihre Hose und den bequemen Kapuzenpullover. Sie wusch sich die Hände und öffnete ihren Pferdeschwanz, sodass ihr die langen braunen Haare über die Schultern fielen. Danach schloss sie ihren Spind und ging aus der Garderobe in den Gang zur hinteren Ausgangstür des Krankenhauses. Als sie nach draußen kam, empfing sie freundlicher Sonnenschein, der das Tal erhellte. Zufrieden sog Marie die frische Herbstluft ein und ließ den Blick über die Landschaft gleiten.
Das Krankenhaus lag auf einer Anhöhe oberhalb von Gerbingen, dem östlichsten Ortsteil von Josefszell. Ihr Elternhaus lag am anderen Ende des Dorfes. Wenn man oben auf der Krankenhausterrasse stand, konnte man ihren Eltern direkt aufs Dach schauen. Marie ließ sich noch einen Moment die Sonne ins Gesicht scheinen, dann ging sie zu den Fahrradständern, die etwas unterhalb des Ausgangs am Rand des Parkplatzes aufgestellt waren. In diesem Augenblick ertönte ein Rascheln ganz in der Nähe. Marie drehte sich um. Hinter ihr kam ein junger Mann aus dem Gebüsch neben dem Weg und schlenderte auf sie zu.
„Oh hallo, Georg. Was machst du denn hier?“ Normalerweise war Georg um diese Uhrzeit auf dem Hof beschäftigt.
Der Sonnhof war einer der wenigen Bergbauernhöfe, die es in der Gegend noch gab. Georg lebte dort mit seinen Eltern Christl und Max.
Auf Georgs Gesicht erschien ein freches Grinsen. „Was ist das denn für eine Begrüßung? Freust du dich nicht, dass ich dich abhole?“
Marie lächelte. „Doch. Und wie.“
Georg war ihr bester Freund seit Kindertagen. Der Sonnhof und ihr Zuhause lagen auf zwei Seiten desselben Bergs. Wenn sie zu ihm wollte, musste sie ein Stück nach unten laufen, kurz nach dem Wald umdrehen und in den Weg einbiegen, der zum Sonnhof führte. Als Kinder hatten sie am liebsten die Abkürzung über die Wiese und durch das Unterholz genommen. Später war Maries Familie ins Dorf gezogen. Aber Marie hatte sich dort nie wohlgefühlt und wohnte seit ein paar Jahren wieder oben am Berg.
Wenn Marie ihren Freund sah, musste sie oft an ihre gemeinsame Kindheit denken. Sie waren unzertrennlich gewesen. Marie war schon immer impulsiv gewesen und wurde schnell wütend, wenn sie etwas ungerecht fand. Dann kam es auch mal vor, dass sie ihren Ärger an Georg ausließ. Der ertrug ihre Ausbrüche mit stoischer Ruhe. Im Gegenzug akzeptierte Marie seine extrem zurückhaltende Art. Anders als die anderen Kinder aus dem Dorf machte sie sich nie über ihn lustig. Stattdessen ließ sie sich von seinen seltsamen Ideen mitreißen. Wie einmal, als er einen meterhohen Staudamm im Bach bauen wollte und sie beinahe dabei ertrunken wären.
Georg riss sie aus ihren Gedanken. „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Auf dem Hof ist grad wenig zu tun und da dacht ich, ich hol dich vom Krankenhaus ab.“
Natürlich hatte sie Lust. Sie ließ ihr Fahrrad stehen und hakte sich bei Georg unter. Gemeinsam schlugen sie den Weg ein, der vom Klinikparkplatz in sanften Schwüngen nach unten führte.
„Wie wär’s mit einem Eis?“, fragte Georg.
Marie stimmte zu. Die Eisdiele lag im Zentrum von Josefszell. Der Weg dorthin war nicht weit, aber sie hätten genug Zeit, um ein paar Worte zu plaudern und den Rest der Strecke schweigend zu genießen.
Kurz bevor sie den Marktplatz erreichten, drehte Marie sich zu Georg und musterte ihn von der Seite. Er war ihr vertraut wie ein Bruder. Dennoch war es ihrer Aufmerksamkeit nicht entgangen, wie gut er in letzter Zeit aussah. Die schwere Arbeit hatte seinen Körper gekräftigt, sodass die Muskeln sich an den Armen und unter seinem T-Shirt abzeichneten. Die Sonne hatte seiner Haut einen warmen braunen Ton verliehen, und die wuscheligen Locken waren durchzogen von kleinen fröhlich-goldenen Strähnen.
Wenn er nicht Georg wäre, könnte ich mich direkt in ihn verlieben, schoss es Marie durch den Kopf.
Was für ein Blödsinn, dachte sie gleich darauf. Selbst wenn sie auf der Suche nach einem Mann wäre, käme Georg dafür nicht in Betracht. Irgendwie hatte sie ihn immer als Teil ihrer Familie betrachtet. Und in ein Familienmitglied konnte man sich schließlich nicht verlieben. Davon abgesehen hatte Marie sowieso keine Zeit für eine Beziehung. Sie hatte ihren Beruf als OP-Schwester, ihre Eltern Gabriele und Werner, die mit zunehmendem Alter mehr von ihrer Aufmerksamkeit benötigten. Und natürlich ihr geliebtes Pferd Boris.
„Was magst du?“, fragte Georg, als sie vor der Eistheke angekommen waren.
Marie entschied sich für drei Kugeln Vanille in der Waffel. Georg bezahlte, und sie schlenderten durch die Gassen bis zum anderen Ende des Dorfes.
Ein Stück ging es am Bach entlang, dann wurde der Weg steiler und eine sattgrüne Bergwiese löste die umliegenden Maisfelder ab. Georg starrte auf den Boden und ging zügig voran. Marie betrachtete ihren Freund von der Seite. Er wirkte in sich gekehrt, irgendwie niedergeschlagen. Er hatte etwas auf dem Herzen, das spürte sie. Immer noch untergehakt drückte sie seinen Arm etwas fester.
„Na sag schon, was ist los?“
Georg drehte den Kopf in ihre Richtung und grinste. „Wenn ich jetzt sage, nix ist los, glaubst du mir eh nicht, oder?“
Marie schüttelte energisch den Kopf. Dabei flogen ihr die Haare ins Gesicht, und sie strich sie schwungvoll hinter die Ohren.
„Was soll ich lang herumreden“, fuhr Georg fort. „Ich habe ein Problem. Ich brauche den Rat einer jungen Frau und alten Freundin.“
Marie runzelte die Stirn. „Worum geht es denn? Bitte lass dir jetzt nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.“
Georg straffte die Schultern und atmete geräuschvoll aus. Offensichtlich war ihm sein Anliegen unangenehm.
Inzwischen hatten sie die Baumgrenze erreicht. Wie immer war Marie beeindruckt von der Schönheit der Landschaft. Im herbstlichen Dunst zeichneten sich die Berge malerisch vor dem Horizont ab. Sie sahen zum Greifen nah aus, und jeder einzelne Gipfel war Marie vertraut. Sie folgte Georg zu der kleinen Bank am Wiesenrand, und sie setzten sich nebeneinander.
„Also, es geht um Frauen. Besser gesagt, um eine Frau.“
Marie stutzte. „Waaaas? Eine Frau? Du meinst, du hast eine kennengelernt?“
Georg schüttelte den Kopf. „Nein, hab ich nicht. Das ist es ja. Nächsten Monat werde ich dreißig, und immer noch ist weit und breit keine Frau in Sicht.“ Er stützte den Kopf in die Hände und starrte auf den Horizont.
Marie kannte Georgs Problem. Er war schüchtern und nicht sehr geschickt im Umgang mit Frauen. Seine letzte Freundin hatte sich nach einer kurzen Affäre für Georgs Freund Markus entschieden. Die Vorstellung, dass Georg irgendwann eine echte Liebesbeziehung zu einer Frau haben könnte, war Marie fremd. Seit sie denken konnte, hatte sein Herz nur für die Natur, die Tiere und den Hof geschlagen. Und natürlich für sie. Andererseits wurden Christl und Max älter, und spätestens wenn Georg den Hof übernahm, würde er Hilfe brauchen.
Marie legte den Arm um seine Schultern. „Du bist doch ein toller Mann. Wart ab, wenn es so weit ist, kommt die Richtige ganz von allein.“
Wieder schüttelte Georg den Kopf. „Nein, ich hab lang genug gewartet. Es wird langsam Zeit, dass eine Frau auf den Hof kommt. Ich will nicht mehr allein sein. Ich brauche eine Partnerin, die liebevoll ist und das Leben mit mir teilt.“
Marie wusste, wie schwer es für Georg war, eine Freundin zu finden. Er war so mit den Aufgaben als Jungbauer beschäftigt, dass keine Zeit blieb, auszugehen und neue Leute kennenzulernen. Und im Dorf gab es kein Mädchen, das ernsthaft für ihn infrage kam.
Als ein Sonnenstrahl sich durch die Berggipfel stahl und Georgs blonde Haare zum Leuchten brachte, spürte Marie einen Stich im Herzen. Sie konnte es nicht ertragen, ihren Freund so traurig zu sehen. Sie musste ihm helfen!
„Also gut, ich habe eine Idee. Aber du musst mitmachen und nicht wieder meckern. Komm!“ Sie zog Georg an der Hand von der Bank hoch und schob ihn das letzte Stück zu ihrem Zuhause neben sich her.
Marie liebte ihr Häuschen. Es lag am Hang. Auf drei Seiten ging es steil den Berg hinauf oder hinunter. Nur dort, wo der kleine Weg durch die Wiese auf den Eingang zulief, war es etwas flacher. Auf der Rückseite des Hauses fiel der Berg so steil ab, dass das Haus von hier aus nicht zugänglich war. Dafür hatte Marie vom Fenster aus eine beeindruckende Sicht auf den gegenüberliegenden Felshang. Vor dem Haus hatten ihre Eltern Gabriele und Werner einen Rosengarten angelegt. Er war Maries ganzer Stolz und empfing Besucher fast das ganze Jahr über mit einer wechselnden Blütenpracht.
Ihren Eltern war es hier oben zu einsam gewesen, deshalb waren sie schon vor Jahren ins Tal gezogen. Doch Marie fühlte sich pudelwohl auf dem Berg. Sie stieß die knarrende Holztür auf, und ein leicht modriger Geruch empfing die beiden. Drinnen war nicht mehr viel von der dunkel-urigen Atmosphäre alter Tage zu spüren. Marie hatte eine Wand abreißen lassen, sodass das Wohnzimmer jetzt groß und hell war und mit der kleinen Küche einen gemeinsamen Raum bildete. Hier hatte Marie sich nach ihrem Geschmack eingerichtet. Die Wände strahlten in hellem Gelb, und die alten Holzmöbel hatte sie in freundlichen Tönen gestrichen. Auf dem Sofa lagen gemütliche Felle. Davor stand ein moderner Glastisch, den Marie sich von ihrem ersten Gehalt als OP-Schwester gekauft hatte.
„Setz dich und warte kurz.“
Während Georg es sich bequem machte, holte Marie ihren Laptop aus dem Schlafzimmer. Sie stellte ihn vor Georg auf den Tisch und schaltete ihn ein. Georg musterte sie zweifelnd. „Naa, bitte nicht! Soll ich schon wieder die Zauberei von deinem Computer bewundern?“
Auch wenn Marie und Georg sich gut verstanden, in einer Sache wollten sie sich nicht einig werden. Marie schätzte die Möglichkeiten, die ihre elektronischen Geräte boten. Sie benutzte ein modernes Handy und hatte sich vor Kurzem einen neuen Computer gekauft, um schneller surfen zu können. Schon oft hatte sie versucht, Georg von den Vorteilen des Internets zu überzeugen. Doch er weigerte sich jedes Mal und fand, dass sie zu viel Zeit mit ihrem „Onlineschmarrn“ verbrachte.
„Jetzt sei nicht so stur. Du wirst schon noch sehen, was dir entgeht.“ Sie stupste ihn energisch in die Seite. „Soll ich dir jetzt helfen oder nicht?“
Georg seufzte. „Also gut, zeig her.“
Auf dem Bildschirm baute sich eine Seite auf. Vor grauem Hintergrund erschien eine rote Rose. Darüber stand in rosa Buchstaben: „Anzeigen der Liebe. Geben Sie Ihr Glück in unsere Hände“. Unter der Schrift prangten zwei Herzen und eine elegante Frauenhand.
Marie blickte Georg erwartungsvoll an. „Was sagst du dazu?“
Georg verzog das Gesicht. „Das ist nicht dein Ernst! Eine Partnerbörse? Du willst, dass ich eine Anzeige aufgebe?“
Marie klickte auf den Bildschirm, und es öffnete sich ein Fenster mit einer Bilderleiste. Von den Fotos strahlten ihnen fünf Frauengesichter entgegen.
„Sehr wohl ist das mein Ernst. Schau dir die Mädels doch mal an. Die suchen alle einen Mann. Und eine ist hübscher als die andere.“
Widerstrebend beugte Georg sich nach vorne und starrte auf den Bildschirm. Marie klickte auf die Seite, und es erschienen noch mehr Fotos, darunter auch Männer. „Siehst du, es ist nix dabei. Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Heute suchen viele Leute ihre Partner im Internet. Warum willst du es nicht wenigstens mal versuchen?“
Georg stöhnte auf und hob entwaffnend seine Hände. „Was soll’s, du lässt mir ja eh keine Ruh. Was muss ich machen?“
Marie lächelte zufrieden. „Du suchst dir eine aus. Dann schreibst du ihr. Wenn sie dich nett findet, trefft ihr euch. Ganz einfach.“
Georg musterte die Bilder der Frauen auf dem Bildschirm, dann schüttelte er den Kopf. „Das geht nicht. Schau doch mal, was die schreiben.“ Er klickte auf das Foto einer Rothaarigen. „Ich bin Eva aus München“, las er vor, „ich studiere Kunstgeschichte.“ Er warf Marie einen Seitenblick zu. „Das sind doch keine Frauen, die mit mir den Stall ausmisten wollen.“
Marie runzelte die Stirn. Da hatte Georg nicht ganz unrecht. Aber so schnell würde sie nicht aufgeben. „Die vielleicht nicht. Aber es sind sicher welche dabei, die passen würden. Wir erstellen jetzt ein Profil von dir. Wir schreiben, wer du bist, wo du wohnst und was du arbeitest. Und dass du eine Frau suchst, die es aufs Land zieht.“
Sie wandte sich zu ihm um. Georgs Gesichtsausdruck kannte sie nur zu gut. Er bedeutete so viel wie: „Schubs mich, sonst spring ich nie.“
Marie klickte das Bild von Eva weg und öffnete die Startseite der Partnerbörse. „Du hast nichts zu verlieren. Komm schon!“ Als Georg nicht antwortete, setzte sie nach. „Okay, ich hab einen Vorschlag. Ich mach mit. Ich stell mein Profil auch hier ein, dann bist du nicht allein.“ Sie grinste breit. „Natürlich nur zum Spaß. Ich brauch nämlich keinen Mann.“
Georg zog eine Augenbraue nach oben. „Eh klar.“