Читать книгу Suche Liebe, biete Berg - Mariella Loos - Страница 7
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ОглавлениеEin schriller Ton weckte Marie aus tiefem Schlaf. Sie brauchte einen Moment, um zu begreifen, dass ihr Telefon klingelte. Als sie Georgs besorgte Stimme hörte, war sie schlagartig hellwach.
„Marie, kannst du kommen? Der Papa …“ Er brach ab, und sie hörte seinen hektischen Atem.
„Ich bin gleich da.“ Marie ließ das Telefon fallen und sprang aus dem Bett. So aufgeregt hatte sich Georg schon lange nicht mehr angehört. Es musste etwas Schlimmes mit Max passiert sein. Georgs Vater war mit ganzem Herzen Bauer. Marie erinnerte sich nur an wenige Momente, in denen sie ihn nicht hatte arbeiten sehen. Selbst beim gemeinsamen Mittagessen sprach er über Aufgaben, die erledigt werden mussten, oder über seine Ideen für den Hof. Vor Kurzem hatte Georg erwähnt, dass Max langsamer geworden war. Vor ein paar Tagen hatte sie den alten Mann schlafend auf der Bank vor dem Haus angetroffen, ohne sich dabei etwas zu denken. Erst jetzt kam ihr der Verdacht, dass mehr dahinterstecken könnte als Erschöpfung und das übliche Älterwerden.
Hastig schlüpfte sie in die Kleidungsstücke, die sie am Abend auf dem Boden hatte liegen lassen. Dann rannte sie nach draußen.
Die kühle Morgenluft empfing sie, als sie den Weg nach unten einschlug. Ihr Fahrrad stand dummerweise noch vor dem Krankenhaus. Es half nichts. Sie musste zu Fuß los. Die Wiese war taufeucht, und der Schotter knirschte unter ihren Füßen. Noch verhüllten dichte Wolkenschwaden die Berglandschaft und ließen nur vereinzelte Lichtstreifen bis zum Boden durch. Doch Marie kannte den Weg in- und auswendig. Sie hätte ihn selbst im Dunkeln gefunden. So schnell sie konnte, spurtete sie weiter. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis die Hofgebäude endlich in Sicht kamen. Sie musste aufpassen, nicht auszurutschen, als sie die letzte Kurve nahm und durch das Tor rannte.
Das Bild, das sie dort empfing, ließ sie zusammenzucken. Mitten im Hof lag Max. Er bewegte sich nicht. Daneben knieten Georg und seine Mutter Christl. Als Marie sich näherte, schauten die beiden gleichzeitig auf. Die Angst in Georgs Blick war unverkennbar, und Marie erschrak. Für einen Moment schien ihr das Herz stillzustehen.
„Was ist passiert?“ Im selben Moment stellte Marie fest, dass Max’ Brustkorb sich bewegte. Bislang hatte sie den Gedanken erfolgreich verdrängt, aber jetzt wurde ihr bewusst, dass sie insgeheim befürchtet hatte, Georgs Vater nicht mehr lebend anzutreffen. Die Erleichterung trieb Marie die Tränen in die Augen. Georgs Stimme schien von weit weg an ihr Ohr zu dringen. „Ich wollte raus zu den Hühnern. Da hab ich ihn liegen sehen.“
Marie beugte sich zu Max hinunter. „Hallo Max, kannst du mich hören?“
Max schlug die Augen auf und nickte fast unmerklich. Er wollte etwas sagen, doch aus seinem Mund drang nur ein schmerzverzerrtes Wimmern.
Marie griff nach seinem Handgelenk und fühlte seinen Puls. Dann legte sie die Hand auf seine Stirn. „Er ist stabil. Aber wir müssen Doktor Hausinger rufen.“
Jetzt schüttelte Max den Kopf.
Christl fing an zu schluchzen und sah Marie verzweifelt an. „Ich wollte ihn rufen, aber Max weigert sich.“ Sie strich ihrem Mann sanft über die Haare.
Mit vor Anstrengung heiserer Stimme meldete Max sich zu Wort. „Mir geht es gut. Ich steh gleich wieder auf.“
Marie griff nach seiner Hand. „Nein, Max, dir geht es nicht gut. Du bist zusammengebrochen, und wir müssen dir helfen. Wir rufen jetzt den Krankenwagen.“ Da weder sie noch Georg ein Handy dabeihatten, bedeutete sie Christl, bei ihrem Mann zu bleiben, und lief ins Haus, um zu telefonieren.
Kaum hatte Marie den Notruf beendet, schnappte sie sich in der Stube eine Decke und eilte wieder auf den Hof hinaus. Vorsichtig breitete sie die Decke über Max’ Körper.
„Bleib ruhig liegen. Der Krankenwagen kommt gleich.“
Christl streichelte ihrem Mann tröstend über die Schulter. „Die Ärzte untersuchen dich nur. Du kannst bestimmt bald wieder nach Haus.“ Max hatte die Augen geschlossen, und sein Atem wurde ruhiger. Marie drehte sich zu Georg. „Am besten gehst du und packst eine Tasche für deinen Papa. Ich pass inzwischen auf ihn auf.“
Georg nickte und lief los.
Während die Frauen am Boden kauerten, sagte keine ein Wort. Doch Marie konnte Christls Sorge um ihren Mann fast körperlich spüren. Es war, als läge ein Schleier um die alte Frau. Immer noch liefen ihr Tränen über das Gesicht.
Kurz darauf unterbrachen die Sirenen die Stille auf dem Hof. Max zuckte zusammen, als der Krankenwagen neben ihm anhielt und zwei Sanitäter heraussprangen. In knappen Worten schilderte Marie den Männern, was passiert war. Einer der beiden richtete das Wort an Christl. „Sie sind die Ehefrau?“
Christl nickte.
„Ist so etwas schon einmal passiert?“
Christl schüttelte den Kopf.
Jetzt kam Georg mit einer Reisetasche aus dem Haus. „Ich bin der Sohn. Was ist mit meinem Vater?“
Der Mann hob die Schultern. „Sicher kann man das noch nicht sagen. Es könnte ein leichter Schlaganfall gewesen sein. Wir müssen ihn auf jeden Fall ins Kreiskrankenhaus mitnehmen.“
Max stöhnte auf.
Der Sanitäter legte ihm die Hand auf die Schulter. „Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Gruber. Sie können froh sein, dass Sie hier so gut versorgt wurden. Aber wir müssen abklären, warum Sie ohnmächtig geworden sind.“
Christl wischte sich energisch die Tränen aus dem Gesicht. „Ja, Max, du musst jetzt ins Krankenhaus.“
Max schwieg einen Moment, dann sah er seiner Frau in die Augen. Seine Worte waren leise, aber deutlich zu hören. „Ich fahr mit. Aber ihr bleibt hier und schaut nach dem Hof. Ich komm dann wieder.“
Die beiden Sanitäter öffneten die Hintertüren des Wagens und zogen eine Liege heraus. Mit wenigen Griffen hoben sie Max darauf und befestigten die Liege mit dicken Gurten. Georg stellte die Reisetasche behutsam neben seinen Vater in den Wagen. „Pfiat di, Papa“, sagte er. Dann legte er seinen Arm um Christls Schultern. Schweigend beobachteten sie, wie der Krankenwagen ins Tal fuhr. Als er nicht mehr zu sehen war, wandte Georg sich an Marie. „Danke.“ Mehr brauchte er nicht zu sagen.
Marie umarmte ihn. Sein Mund war jetzt ganz nah an ihrem Ohr, und seine Stimme fühlte sich an wie eine Liebkosung. „Du zitterst ja“, flüsterte er. „Komm, wir gehen rein.“
Christl folgte ihnen in die Küche und stellte einen Topf Wasser auf den Herd. Marie und Georg setzten sich auf die Eckbank. Als Christl schließlich eine dampfende Kanne Tee auf den Tisch stellte und ihnen einschenkte, spürte Marie, wie ihre Anspannung nachließ. Zitternd führte sie den Becher zum Mund. „Danke, Christl, das tut gut.“
„Ich danke dir.“ Christl sah Marie und Georg nachdenklich an. Die Farbe war in ihre Wangen zurückgekehrt, und ihre Stimme klang jetzt gefasst. „Jetzt ist es so weit.“
Georg zog ein fragendes Gesicht.
„Der Papa ist schon lange krank. Er redet nicht drüber, aber ich hab’s gemerkt. Er war oft müde in letzter Zeit. Und seine Brust hat ihm wehgetan.“
Georg riss die Augen auf. „Aber warum habt ihr nichts gesagt? Ich hab gar nichts gemerkt. Er hätte doch zum Arzt gehen müssen.“
Ein trauriges Lächeln erschien auf Christls Gesicht. „Du kennst doch deinen Vater. Der macht so lang weiter, bis es nicht mehr geht. Der Hof ist nun mal sein Leben.“
Georg griff nach der Hand seiner Mutter. „Deswegen bist du nicht mitgefahren, oder?“
Christl nickte. „Was soll’s. Die Arbeit muss halt gemacht werden.“ Und wie um das Gesagte zu bekräftigen, stand sie auf und stellte die Becher in die Spüle. Dann band sie sich die Schürze um und fing an, die Küche zu putzen.
Georg nahm Marie an der Hand und zog sie nach draußen.
Inzwischen hatte sich der Nebel verzogen, und der Himmel wurde von einem warmen Licht erhellt. Im Stall empfingen die Kühe sie mit leisem Schnauben.
Marie liebte die vertrauten Geräusche und den Geruch, den die warmen Tierkörper ausstrahlten. Sie schnappte sich eine Heugabel und fing an, das frische Futter in die Rinnen zu verteilen. Währenddessen zog Georg den Melkschemel hervor und klopfte Lissi, der Braungescheckten, den Rücken. Nach einer Weile bemerkte Marie, dass Georg stehen geblieben war und sie beobachtete. Sie wollte etwas sagen, doch er kam ihr zuvor.
„Ist es das?“, fragte er. „Muss das Leben hier so sein? Weitermachen, egal, was passiert? Mein Vater hätte doch gerade sterben können. Ich weiß nicht, ob das richtig ist. Und ich weiß nicht, ob ich das will.“
Marie sah ihren Freund nachdenklich an. „Deine Eltern haben sich dieses Leben ausgesucht. Auch wenn es nicht immer einfach ist. Sie haben sich dafür entschieden. Und sie sind glücklich. Aber du bist erwachsen, und du bist frei. Noch kannst du dir deine Zukunft aussuchen.“ Sie lehnte die Heugabel an die Wand. „Aber du musst dich entscheiden.“
In den vergangenen Jahren hatten Marie und Georg mehrmals über dieses Thema gesprochen. Marie konnte nicht verstehen, mit welcher Selbstverständlichkeit Georg seinen Platz als Hofnachfolger einnahm. Nie hatte er auch nur darüber nachgedacht, etwas anderes auszuprobieren.
„Ich kann mir eine Zukunft aussuchen, meinst du?“, fragte Georg. „Wie stellst du dir das vor? Soll ich den Hof sausen lassen und Bäcker oder Schreiner werden?“
Marie verdrehte die Augen. „Das habe ich nicht gesagt. Du weißt genau, was ich meine. Ich finde es nicht gut, dass du blind den Weg nimmst, den deine Eltern dir vorgeben. Du solltest dir überlegen, was du wirklich willst. Wenn das die Hofübernahme ist, gut. Wenn nicht, musst du etwas tun. Sonst wachst du irgendwann auf und merkst, dass du ein Leben führst, das du dir nicht ausgesucht hast.“
Georgs Miene war jetzt traurig und zugleich ratlos. „Glaubst du, das geht immer so weiter? Werde ich auch schuften bis zum Umfallen?“
Marie seufzte. „Ich weiß es nicht.“
Eine Weile sagten beide nichts.
Dann stand Georg auf. „Marie?“
„Ja?“
„Findest du es richtig, den Hof über die Gesundheit deines Partners zu stellen? Ist das Liebe?“
Marie fuhr sich nachdenklich durch die Haare.
„Tut mir leid“, antwortete sie dann. „Das weiß ich nicht. Für deine Eltern ist es vielleicht richtig. Ob das für dich auch so ist? Keine Ahnung.“
Also wandte Georg sich der nächsten Kuh zu, und Marie schnappte sich die Heugabel. Beide arbeiteten schweigend weiter.
Wenig später kam Christl über den Hof gelaufen.
„Das Krankenhaus hat angerufen. Es geht ihm gut. Aber er muss noch ein paar Tage bleiben!“, rief sie laut.
„Gott sei Dank!“, stieß Georg aus.
Auch Marie seufzte erleichtert. Dann warf sie die letzte Ladung Heu in die Rinne und stellte die Heugabel zurück. „Ich geh noch zu Boris“, sagte sie.
Boris war Maries Pferd. Eigentlich war er nicht ihr Eigentum, aber alle wussten, dass sie zusammengehörten. Georgs Familie hatte das alte Pferd vor Jahren von einem benachbarten Hof übernommen, der seinen Reitbetrieb eingestellt hatte. Boris litt unter frühzeitiger Knochenabnutzung, sodass er nicht wie die anderen Pferde verkauft werden konnte. Seit dem ersten Tag, an dem Boris in die Scheune des Sonnhofs eingezogen war, liebte Marie den grauen Trakehner. Er hatte einen breiten Rücken und ein großes Herz. Und er war schlauer als jedes andere Pferd und verstand einfach alles, da war Marie sich sicher. Sie kam fast täglich, um ihn zu versorgen.
„Hallo, mein Lieber“, begrüßte sie ihn. Boris schnaubte, und Marie wuschelte ihm durch die Mähne. Dann erzählte sie ihm, was passiert war. Wie immer lauschte Boris aufmerksam. Und wie immer ging es Marie danach besser. Nachdem sie ihn gebürstet und sein Futter aufgefüllt hatte, umarmte sie ihn zum Abschied.
Danach ging sie noch einmal zu Georg in den Stall.
„Ich geh wieder“, sagte sie. „Ich brauche dringend eine Dusche und ein gutes Frühstück. Und dann muss ich in die Arbeit.“
Georg stutzte. „Aber dein Rad steht doch noch am Krankenhaus. Soll ich dich fahren?“
Jetzt musste Marie lachen. „Das ist lieb, aber den Weg schaff ich auch noch zu Fuß.“
Kurz bevor sie den Stall verließ, drehte sie sich noch einmal um und rief ihm über die Schulter zu: „Und wenn ich wiederkomme, geht’s weiter mit ‚Bauer sucht Frau‘!“ Sie grinste frech.