Читать книгу Sophienlust, wie alles begann Staffel 1 – Familienroman - Marietta Brem - Страница 6

Оглавление

Denise, die spätere Verwalterin des Kinderheims Sophienlust und Mutter des Erben Dominik, wird in dieser völlig neuen Serie in ihren jungen Jahren vorgestellt. Ihr aufregendes Leben während ihrer Ausbildung zur Balletttänzerin verleiht diesen Romanen ihre eigene Note.

Die Kinderliebe der jungen Denise wird schon in der Zeit deutlich, in der sie noch bei ihren Eltern wohnt und ihren Vater als berühmten Arzt agieren sieht. Die Kavaliere stehen bei ihr Schlange, aber Denise ist sehr wählerisch und will sich nicht festlegen. Das junge Mädchen ist noch etwas scheu in Liebeshändeln, aber ihr Herz sitzt am rechten Fleck.

Denise möchte am liebsten die ganze Welt umarmen und besser machen.

Niemand weiß, dass die wunderschöne Wiese vor ihrem Elternhaus später einmal der Ort sein wird, auf dem das Kinderheim errichtet werden wird. Der erste Spatenstich dafür wird noch lange auf sich warten lassen …

Mit liebevoller Hand hatte Eva Montand die prächtigen, üppig blühenden Hibiskusbüsche auf der großen Wiese hinter dem Haus mit unzähligen Lampions geschmückt. Sie sollten bei Einbruch der Dämmerung in einem warmen Licht die Umgebung erhellen. Fünf weiße runde Tischchen, passend für jeweils vier Personen, standen in der Nähe der langen Tafel, auf der ein überaus reichliches Angebot an den verschiedensten Leckereien aufgebaut war. Aus mehreren Lautsprechern erklang leise klassische Musik, und in den Apfelbäumen, die etwas weiter weg standen, zwitscherten Amseln und Stare.

»Wo bleibt denn unser Schneewittchen? Ich hab sie heute noch gar nicht gesehen.« Ein gut aussehender, hoch gewachsener Mann um die dreißig hatte die Hände in die Hüften gestützt und schaute sich suchend um. »In einer halben Stunde werden die ersten Gäste eintrudeln. Denise muss die Begrüßung übernehmen. Immerhin ist es ihre Geburtstagsfeier.«

Eva, eine gut aussehende Frau Ende vierzig, legte ihre rechte Hand auf den Arm des Mannes. »Mach dir da mal keine Sorgen, Raoul, du weißt doch, dass deine Schwester die Pünktlichkeit in Person ist. Würdest du dich bitte um die Getränke kümmern?« Sie lächelte ihn liebevoll an. Raoul war ihr Stiefsohn, der ihr ans Herz gewachsen war fast wie ein eigener Sohn, obwohl er kaum fünfzehn Jahre älter war als sie selbst. Pierre, ihr geliebter Mann, hatte ihn als Zwölfjährigen mit in die Beziehung gebracht. Die erste Zeit mit ihm war nicht einfach gewesen, denn das gestörte Verhältnis zu seiner leiblichen Mutter hatte seine Spuren hinterlassen. Doch als sie und Pierre einige Jahre später heirateten, war keiner über diese Entscheidung glücklicher als Raoul. Noch heute ließ er Eva fühlen, wie dankbar er ihr war, dass sie stets Verständnis aufgebracht hatte für seine Probleme.

»Das hast du fantastisch hingekriegt, Liebes. Denise wird Luftsprünge machen vor Begeisterung. Wann überreichen wir den Gutschein für den Führerschein?« Liebevolle Arme umschlangen Eva von hinten, weiche Lippen küssten zärtlich ihren Nacken.

Eva machte für einen kurzen Moment die Augen zu. Wenn Pierre sie berührte, vergaß sie alles um sich herum.

Im Spätsommer waren sie zwanzig Jahre verheiratet, und dennoch fühlte sich ihre Liebe an wie am ersten Tag. Sie ahnte, dass Pierre für dieses besondere Ereignis bereits einige Pläne machte, doch daran wollte sie jetzt nicht denken. Ihre gemeinsame Tochter Denise war an diesem Tag die Hauptperson, denn sie feierte ihren 18. Geburtstag. Gemeinsam hatten sie alles geplant und die anfallenden Arbeiten aufgeteilt. Lediglich Catherine hatte sich aus allem herausgehalten, denn ihre vierte Schwangerschaft machte ihr sehr zu schaffen.

Nervös schaute Pierre auf seine Armbanduhr. »Soll ich nach ihr sehen?«

Eva brach in helles Lachen aus. »Mir scheint, du kennst unsere Tochter noch immer nicht. Was Pünktlichkeit anbelangt, stellt sie sogar dich in den Schatten.« Sie schaute zur Tür und atmete erleichtert auf. »Da kommt sie ja.«

Aus dem hübschen Haus im Bungalowstil trat jetzt ein junges Mädchen, das langsam die Treppe zum Garten hinunterstieg. Denise Montand wirkte auf den ersten Blick fast wie ein kleines Mädchen. Ihre Gestalt war zierlich und überaus schlank, was die hellblaue Jeans und die weiße, locker fallende Bluse noch unterstrichen. Ihre schwarzen, fast hüftlangen Haare hatte sie im Nacken zu einem dicken Zopf geflochten.

»Mir ist, als würde ich träumen«, flüsterte sie vor sich hin. Hilfe suchend blickte sie zu ihren Eltern, die jetzt mit raschen Schritten auf sie zukamen. »Deshalb also durfte ich seit gestern Abend nicht mehr aus dem Fenster sehen«, stellte sie lächelnd fest. Dann fiel sie beiden jubelnd um den Hals. »Ihr verwöhnt mich so sehr, das hab ich doch gar nicht verdient. Aber ich hab euch so lieb, dass ich es gar nicht mit Worten ausdrücken kann.« Denise war den Tränen nahe. Manchmal hatte sie das Gefühl, sie müsste sich in den Arm zwicken, damit sie feststellen konnte, dass sie nicht träumte. Ihr bisheriges Leben war, bis auf kleine Ausnahmen, einfach und glücklich verlaufen. Manchmal hatte sie Angst, dass irgendwann irgendetwas passierte, was ihre kleine heile Welt zerstörte.

Gerührt machte sich Pierre von seinen beiden Frauen los. Auch ihm waren Tränen in die Augen gestiegen, doch er wollte nicht, dass es jemand bemerkte. Das gehörte sich nicht für einen Mann, noch dazu den einzigen Allgemeinarzt im Ort, der stets breite Schultern zum Anlehnen und offene Ohren für all die Probleme seiner Familie und seiner Patienten haben musste. Das Wort Schwäche kam nicht in seinem Vokabular vor, zumindest nicht für ihn selbst. »Ich glaube, ich höre die ersten Autos vorfahren. Mach dich bereit, kleine Prinzessin.« Er drehte sich um und marschierte mit kräftigen, weit ausgreifenden Schritten davon.

»Ich bin so stolz auf dich, mein Kind. Manchmal nachts, wenn ich nicht schlafen kann, sehe ich dich auf einer großen Bühne, wie du vor hunderten Zuschauern dein geliebtes Schwanensee tanzt. Ein Jahr noch, dann hast du es geschafft.« Sie nahm Denise bei der Hand und zog sie mit sich. »Kontrolliere bitte noch einmal, ob alles in Ordnung ist. Raoul findest du in der Küche. Er hat dich auch schon gesucht. Ich werde mich rasch umziehen, damit wir alle gemeinsam die Gäste begrüßen.« Eva küsste ihre einzige Tochter zärtlich auf die Stirn, dann lief auch sie davon.

Ehe sie das Haus betrat, drehte sie sich noch einmal um. Einen letzten Blick wollte sie auf ihr wunderschönes Kind werfen, das heute volljährig geworden war. Noch gut erinnerte sie sich daran, als sie Pierre gestand, dass sie ein Kind von ihm erwartete. Seine Freude war unbeschreiblich groß gewesen, denn er hatte sich immer viele Kinder gewünscht. Aus seiner ersten Ehe hatte er Raoul mit in die Familie gebracht, was sich für alle Beteiligten als großes Glück herausstellte.

Anfangs hatte der damals mitten in der Pubertät steckende Junge etwas Bedenken gehabt, ob nach Ankunft eines Geschwisterchens für ihn noch genügend Liebe übrig bleiben würde, doch als Denise geboren war, waren diese Zweifel sofort weggewischt. Liebevoll kümmerte sich der Junge um sein kleines Schwesterchen und war vom ersten Tag an ihr aufmerksamer Beschützer.

Eva traten Tränen in die Augen. Sie liebte ihre kleine Familie so sehr, dass es wehtat im Herzen. Wenn sie nachts nicht schlafen konnte, kamen manchmal so dumme Gedanken wie ein Unfall, Streit oder die Angst, Pierre könnte sich in eine andere Frau, vielleicht eine attraktive Patientin, verlieben. Angebote gab es genügend, doch wenn sie ihre Bedenken mitteilte, nahm er sie nur lachend in die Arme und versicherte ihr glaubhaft, dass sie, Eva, die einzige Frau auf dieser Welt war, die sein Herz berühren konnte.

Rasch lief Eva die Treppen hinauf in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Das Kleid, das sie sich für diesen Anlass heute gekauft hatte, gefiel ihr besonders gut. Der feine Stoff schimmerte wie Porzellan und betonte ihre noch immer schlanke Figur. Dann öffnete sie den Haarknoten, und ihre langen dunkelbraunen Haare fielen in weichen Wellen über ihre schmalen Schultern. Ein Blick in den Badezimmerspiegel versicherte ihr, dass sie sich noch immer sehen lassen konnte. Sie hatte ein schmales Gesicht, große, veilchenblaue Augen, und ihre Haut war glatt und rosig, ohne eine Falte. Zur Feier des Tages steckte sie sich noch eine Seidenblüte ins Haar, passend zu ihrer Augenfarbe. Jetzt war sie zufrieden.

Pierre erwartete sie bereits in der Diele. Seine Augen leuchteten, als er ihre bezaubernde Erscheinung erblickte. »Mit jedem Tag, der vergeht, wirst du schöner, Liebes«, stellte er bewundernd fest und nahm sie in die Arme. »Dann lass uns jetzt zu unseren Gästen gehen. Wir wollen unserer Tochter einen unvergesslichen Geburtstag bereiten.« Er bot Eva seinen Arm, und gemeinsam verließen sie das Haus.

»Da seid ihr ja endlich.« Raoul kam mit einem Tablett voller Sektgläser aus der Küche. Er strahlte über das ganze Gesicht. Die Ähnlichkeit mit seiner Halbschwester Denise war unübersehbar. Auch er hatte diesen sehnsuchtsvollen Blick, dunkle Haare und eine leicht getönte broncefarbene Gesichtshaut, genau wie Pierre. Er lief an den Eltern vorbei und platzierte das Tablett auf eines der kleinen Tischchen, das extra für Getränke bereitstand. Dann entdeckte er Denise, die ein wenig verloren das umfangreiche Buffet betrachtete.

»Wo hast du denn den ganzen Morgen gesteckt, Schneewittchen?«, fragte er und grinste schelmisch. »Sag bloß, du fürchtest dich vor deinem Ehrentag. Musst du nicht, achtzehn ist kein Unglück. Freu dich lieber, dass du von allen so sehr gemocht wirst, dass sie unbedingt mit dir feiern möchten.« Spontan nahm er Denise in die Arme. Das war nicht ganz einfach, denn sie reichte ihm gerade mal bis zur Brust.

»Ich habe nicht Angst vor der Feier. Ich habe Angst davor, erwachsen zu werden. Kannst du das verstehen?« Denise war in diesem Moment froh, dass noch keine Gäste gekommen waren. Sosehr sie sich auf ihr Fest freute, der Gedanke, dass sie ab jetzt alles selbst unterschreiben durfte, bereitete ihr Unbehagen. Sie war gern Kind, vor allem das Kind ihrer Eltern. Nur manchmal dachte sie an all die anderen Kinder in der Welt, die es nicht so gut getroffen hatten wie sie selbst. Wie gern würde sie etwas von ihrem Glück abgeben, denn dann könnte sie sich mit Sicherheit besser fühlen.

»Ein Königreich für deine Gedanken, Schneewittchen. Du siehst gerade nicht so aus wie ein glückliches Geburtstagskind, dem gleich eine Menge Besucher huldigen werden. Mach doch nicht so ein finsteres Gesicht. Damit änderst du auch nichts.« Wie immer war Raoul derjenige, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und meist auch die richtigen Worte fand, um eine Situation zu entschärfen. Für Denise war der große starke Bruder der Freund, auf den man sich immer und in jeder Lebenslage verlassen konnte. »Was ist denn los?«, fragte er lächelnd und schubste sie verschwörerisch an. »Mir kannst du alles anvertrauen, das weißt du doch.«

»Manchmal habe ich Angst, dass ganz plötzlich ein Blitz in meine kleine heile Welt einschlägt und alles in sich zusammenfällt. Kannst du das verstehen? Geburtstag bedeutet für mich nicht nur Beginn eines neuen Lebensjahres, sondern auch Abschied vom alten.« Plötzlich schimmerten Tränen in ihren schönen Augen.

Behutsam legte Raoul einen Arm um ihre schmalen Schultern. »Ach, Kind, das musst du nicht denken«, ahmte er den Tonfall seines Vaters nach. So redete Pierre manchmal mit Eva, wenn sie ihm ähnliche Fragen stellte.

»Das war ganz bestimmt nicht die Antwort, die ich mir von dir erhofft habe, Raoul«, knurrte Denise verärgert. Sie wusste ganz genau, dass der Bruder ihr mit diesen flapsigen Worten einfach nur die Angst nehmen wollte. Dennoch hatte sie eine etwas andere Reaktion erwartet.

»Was wolltest du dann hören, Schwesterchen? Ich bin kein Hellseher und kann dir auch nicht versprechen, dass unser kleines Paradies auf ewig erhalten bleibt. Natürlich hoffe ich ebenfalls, dass uns in Zukunft nichts Schlimmeres trifft als ein Schnupfen oder eine Magenverstimmung. Der einzige Wermutstropfen ist im Augenblick Catherine. Ich werde froh sein, wenn Kind Nummer vier vor mir auf dem Tisch liegt und ich es wickeln darf. Ich finde es schade, dass sie jetzt nicht bei uns sein kann, aber es ging ihr heute Morgen gar nicht gut.« Das Lachen in seinem Gesicht hatte plötzlich seine Fröhlichkeit etwas verloren.

»Wenn die Gäste alle versorgt sind, werde ich rasch rüberlaufen und nach ihr sehen. Es tut mir von Herzen Leid, dass sie nicht dabei sein kann. Vielleicht freut sie sich ja, wenn ich ihr etwas von dem Salat bringe und ein Stück Torte.« Sofort hatte Denise ihren eigenen Kummer vergessen. Sie liebte die Schwägerin von Herzen, und auch ihr bereitete es Sorge, dass diese Schwangerschaft so voller Probleme war. Eine Zeit lang hatte der Arzt sogar gemeint, dass diese Schwangerschaft lebensgefährlich werden könnte. Zum Glück hatten sich diese Befürchtungen bis jetzt jedoch nicht bewahrheitet.

Raoul strich seiner Schwester liebevoll über das schwarze Haar, das sich an ihren Schläfen leicht kringelte. »Da wirst du ihr ganz sicher eine große Freude machen. Aber jetzt kümmere dich um die Gäste.« Er grinste sie verschwörerisch an. »Du machst das schon, Schneewittchen. Ich vertraue dir.« Er schob sie liebevoll vor sich her, flüsterte ihr noch etwas ins Ohr und blieb dann am Buffettisch stehen, während sie ein wenig zögerlich auf die ersten Besucher zuging.

Eine halbe Stunde später war auch der letzte Gast bereits an seinem Platz. Denise hatte mit Bravour die Zeremonie geschafft. Auf dem Tisch, der extra für Geschenke aufgestellt worden war, türmten sich die bunten Schachteln und Blumen. Zwei junge Frauen, die der Gasthof, der auch einen Großteil der Speisen lieferte, gestellt hatte, kümmerten sich darum, dass alle sich wohlfühlten.

Eva und Pierre, die ihren Platz nicht an Denises Tisch hatten, sondern gleich daneben, warteten aufgeregt auf ihren Einsatz. Endlich waren alle Gratulationen beendet, und jeder hielt ein Sektglas in der Hand. Pierre erhob sich und zeigte damit an, dass er eine kurze Rede halten wollte. Eva schaute liebevoll zu ihm auf und ergriff seine Hand.

Denise liefen Tränen über das Gesicht, während ihr Vater im Zeitraffer die letzten achtzehn Jahre Revue passieren ließ. Aus jedem seiner Worte konnte man die Liebe und den Stolz hören, die er für seine Tochter empfand. »Danke, geliebtes Töchterchen, dass du bei uns bist. Und, bitte, versteh unser Geschenk nicht falsch. Am liebsten würden wir dich für immer bei uns behalten, doch so ganz wird sich das auf Dauer nicht machen lassen. Du hast deinen eigenen Weg vor dir, den du gehen musst. Und damit du den nicht nur zu Fuß machen musst, schenken deine Mutter, dein Bruder und ich dir deinen Führerschein. Machen musst du ihn natürlich selbst«, fügte er lachend hinzu, weil er von der Traurigkeit ablenken wollte, die plötzlich in der Luft lag.

Denise konnte erst mal nicht antworten. Sprachlos starrte sie ihren Vater an. Plötzlich sprang sie auf und fiel ihm um den Hals. Danach kam die Mutter dran und am Schluss der Bruder, der sie liebevoll in den Armen hielt. »Versprich mir, dass du immer schön langsam fährst, Schwesterchen.« In seiner Stimme lag Besorgnis.

»Das kann ich dir versprechen, Brüderchen. Schließlich will ich noch sehr, sehr lange mit meiner Familie zusammen sein.« Sie wischte ihr von Tränen nasses Gesicht an seinem Ärmel ab. Dann schaute sie ihn an und lächelte. »Danke, Brüderchen.«

»Gerne, Schneewittchen«, flüsterte er und streichelte über ihre Wange. »Jetzt lass uns aber diese Rührseligkeiten beenden und zu Taten schreiten, was heißt, lass uns endlich anfangen zu essen.« Er lachte und brachte Denise zu ihrem Stuhl zurück.

Mehrmals während des Essens verschwand Raoul im Haus, um Catherine anzurufen. Jedes Mal nickte er erleichtert seiner Familie zu, um zu signalisieren, dass sich am Zustand der Schwangeren nichts verändert hatte. Am späten Nachmittag brachte Denise, wie sie versprochen hatte, der Schwägerin einige Leckereien in der Hoffnung, ihr damit eine Freude zu machen.

Catherine freute sich wirklich, weniger über die Torte als über Denises Besuch. Sie unterhielten sich eine Weile, und Catherine beteuerte, dass sie sich sehr auf die Rückkehr ihrer drei Kinder freute, die mit den Großeltern an die Nordsee gefahren waren.

Zum Abschied umarmte Denise die Schwägerin und versprach, sie sehr bald wieder zu besuchen. An der Tür warf sie ihr noch eine Kusshand zu, dann verließ sie eilig das Haus. Es war nicht weit zu ihrem Elternhaus. Die Gäste begrüßten sie mit Hallo, und inzwischen wurde eifrig gesungen. Spät in der Nacht ging ein wunderschöner Tag zu Ende, den Denise niemals mehr vergessen würde.

*

Endlich Freitag!

Fröhlich verabschiedete sich Denise von ihren Freundinnen. Es war der letzte Schultag der Woche, der bereits nach dem gemeinsamen Mittagessen beendet wurde. Stefanie, ihre beste Freundin, verabschiedete sich wie immer mit Küsschen von ihr. Allen anderen winkte sie fröhlich zu und machte sich dann auf den Weg zu ihrer Pension, wo sie von Montag bis Freitag wohnte. Wenn sie sich beeilte, konnte sie noch den Zug um fünfzehn Uhr erwischen.

Während der Heimfahrt gingen Denise verschiedene Gedanken durch den Kopf. Sie freute sich auf die Eltern und die Katzendame Blümchen, die sie mit der Mutter zusammen vor einigen Jahren aus dem Tierheim geholt hatte. Blümchen und sie waren in den Jahren zu einem untrennbaren Gespann geworden. Jeden Sonntagabend, wenn sie ihre Tasche für die Schule packte, saß Blümchen auf dem Stapel Wäsche, den sie eigentlich in die Tasche packen wollte. Damit gab die Katze ihr ganz deutlich zu verstehen, dass sie es gar nicht mochte, wenn sie nicht zu Hause war. Natürlich freute sich Denise über die Zuneigung ihres Tierchens, gleichzeitig jedoch packte sie das schlechte Gewissen, weil sie Blümchen ganze fünf Tage allein lassen musste.

Gleichmäßig rollten die Räder über die Schienen, und Denise merkte, wie sie müde wurde. Einschlafen durfte sie jedoch nicht, denn sonst bestand die Gefahr, dass sie ihre Haltestelle verschlief. Gerade waren ihrer Augen zugefallen, da holte eine fremde Männerstimme sie in die Realität zurück. »Ist der Platz noch frei?«

Erschrocken schaute Denise auf. »Ich … Ja, natürlich.« Sie griff nach ihrer Tasche, die auf dem Nebensitz stand, und stellte sie auf den Boden. Dann erst betrachtete sie unauffällig den fremden Mann, der jetzt mit finsterem Gesicht neben ihr Platz nahm. Offensichtlich ging es ihm nicht gut. »Kann ich Ihnen irgendwie helfen?«

»Wie meinen Sie das? Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich so hilfsbedürftig aussehe, dass Sie mir diese Frage stellen müssen.« Sein Gesicht wurde eine Spur freundlicher.

»Entschuldigen Sie bitte.« Es war Denise sichtlich peinlich, dass sie anscheinend die falschen Worte gewählt hatte. Eigentlich hatte sie ihn nur ein wenig aufmuntern wollen.

»Wofür?« Offensichtlich gefiel dem Fremden dieses Katz-und-Maus-Spiel. Die Verlegenheit in Denises Gesicht war unübersehbar. Er grinste.

»Ach, eigentlich für gar nichts. Ich hätte nichts sagen sollen.« Denise merkte, wie sie sich mit jedem weiteren Wort immer tiefer ins Fettnäpfchen stellte. Am liebsten wäre sie aufgestanden und hätte sich einen anderen Platz gesucht. Aber im ganzen Abteil war inzwischen nicht ein einziger mehr frei. Deshalb beschloss sie, gar nichts mehr zu sagen. Sie nahm ihre Zeitung und tat, als würde sie interessiert einen Artikel lesen.

»Ich fahre bis Baden-Baden. Sie auch? Übrigens, ich bin Marcel Soltau. Es tut mir leid, wenn ich Sie in Verlegenheit gebracht habe. Es hat mir plötzlich Spaß gemacht. Hoffentlich sind Sie mir nicht böse.« Versöhnlich und ein wenig zerknirscht streckte er ihr die Hand hin.

Einen Moment lang überlegte Denise, ob Sie sie ergreifen sollte. Immerhin hatte dieser Marcel sie ganz schön in eine Zwickmühle gebracht. Doch dann siegte ihr gutes Herz. Sie lächelte ihn an. »Ist schon in Ordnung. Ich wollte Ihnen was Gutes tun und Sie haben mich dafür ausgelacht. Ist doch gerechte Arbeitsteilung, oder?«

»Also doch sauer«, stellte Marcel gleichmütiger fest, als es ihm zumute war. Jetzt tat es ihm ehrlich leid, dass er sie nicht ernst genommen hatte. Doch wo gab es heute noch Menschen, die anderen mit ehrlichem Herzen helfen wollten? Ihm war jedenfalls noch keiner begegnet. Deshalb hatte er ihr das Mitgefühl anfangs auch nicht geglaubt. »Es … tut mir Leid, ich bekenne mich des Vergehens für schuldig.« Er sah richtig zerknirscht aus.

Denise konnte sich nur mit Mühe ein Lachen verbeißen. Sie errötete und senkte den Kopf, denn inzwischen wurden sie bereits von den anderen Fahrgästen neugierig beobachtet. »Ich nehme es Ihnen wirklich nicht übel«, versicherte sie, ohne aufzusehen. »Wir teilen uns die Schuld, dann sind wir auf einer Ebene.«

»Das klingt wunderbar.« Marcel nahm ihre Hand und betrachtete sie lange. »Künstlerhände«, murmelte er vor sich hin. »Dass wir uns heute hier begegnet sind, ist schon ein seltsamer Zufall. Heute Nachmittag ging mein Auto kaputt, ich musste es in die Werkstatt bringen. Normalerweise fahre ich nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln. Zuerst habe ich mich sehr darüber geärgert, dass mir bei meiner letzten Fahrt für diese Woche so etwas passieren musste. Jetzt bin ich froh drüber, denn sonst hätten wir uns vermutlich nicht kennengelernt. Das wäre ein Verlust für mich gewesen.«

Seine Worte berührten sie auf eine seltsame Weise. Zum ersten Mal schaute sich Denise ihren Gesprächspartner genauer an. Auch wenn sie ihn nur von der Seite sehen konnte, stellte sie dennoch fest, dass er ausgesprochen attraktiv war. Er hatte eine gerade, ein wenig schmale Nase, eine ausgeprägte Stirn und ein ebenmäßiges Kinn, das von Stärke und Durchsetzungsvermögen zeugte.

»Und – wie fällt Ihr Urteil aus? Bin ich durchgefallen?« Wieder grinste er und schaute ihr nun ebenfalls ins Gesicht. »Schönheit liegt im Auge des Betrachters, doch in Ihren Augen kann ich nichts erkennen. Ich bin auf Ihre Worte angewiesen. Also, bin ich es wert, dass Sie sich mit mir auf einen Kaffee verabreden? Vielleicht morgen, Samstag? Ich würde mich sehr freuen.«

»Das kann ich jetzt noch nicht sagen«, begann Denise zu stottern. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie hatte sich noch nie mit einem jungen Mann verabredet, den sie nicht von der Schule oder Nachbarschaft her kannte, und eigentlich wollte sie das auch gar nicht. Doch Marcel hatte so einen offensichtlichen Charme, dass sie gar nicht hätte ablehnen können. »Also gut, ich werde meine Eltern fragen, ob ich morgen für eine Weile gehen darf. Lang kann ich ohnehin nicht bleiben. Ich muss mich um meine Schwägerin kümmern, der es zurzeit nicht so gut geht.«

»Ich habe nicht vor, Ihnen den ganzen Samstag zu stehlen. Es handelt sich lediglich um eine Tasse Kaffee«, versicherte er eifrig. Plötzlich war es ihm sehr wichtig, dass sie eine gute Meinung von ihm hatte. »Ich hol Sie ab, wenn Sie erlauben.«

Nun musste Denise doch lachen. »Wir können uns gern duzen«, sagte sie, noch immer lachend. »Es sieht sicher komisch aus, wenn sich zwei junge Leute ganz förmlich siezen.«

Marcel fühlte sich überrumpelt, doch es war ihm nicht unangenehm. »Ich bin einverstanden«, stimmte er zu. »Den Bruderschaftskuss holen wir dann beim Kaffee nach.« Als er ihr Erschrecken bemerkte, schmunzelte er in sich hinein. »Das gehört nun mal dazu. Ich habe diese Tradition nicht erfunden.« Sein Grinsen wurde breiter. »Ich bin Marcel, ohne Soltau.« Er reichte ihr erneut die Hand. »Und wer bist du?«

»Mein Name ist Denise Montand, und ich bin die Tochter eines Arztes und einer Grundschullehrerin.« Sie erwähnte ihre Eltern nicht ohne Stolz. »Ich hatte nach dem Abi, das ich ein Jahr früher abschließen konnte als meine Mitschüler, den Wunsch, Tänzerin zu werden. Daran arbeite ich jetzt von Montag bis Freitag. Am Wochenende bin ich bei meinen Eltern. Meistens arbeite ich in Mutters Gemüsegarten. Ich bin sehr gern in der Natur.« Verlegen schwieg sie. Wieder einmal war ihr Temperament mit ihr durchgegangen. Dann merkte sie nicht, dass sie womöglich zu viel von sich erzählte, was ihr Gegenüber vielleicht gar nicht so genau wissen wollte oder sollte.

»Freut mich, Denise. Auf eine gute Freundschaft.« Endlich hielt der Zug in Baden-Baden. Marcel stieg aus und reichte Denise die Hand unter dem Vorwand, ihr helfen zu wollen. Auch als sie bereits den Parkplatz erreicht hatten, wo ihr Vater auf sie wartete, hielt er ihre Hand noch immer. Verlegen machte sich Denise los, als sie das Familienauto entdeckte. »Dann bis morgen, Marcel. Ich freue mich«, fügte sie hastig hinzu, weil sie gemerkt hatte, dass ihr Verhalten ihn etwas enttäuschte.

»Ich freue mich auch.« Er schlug ihr eine Uhrzeit vor, und Denise sagte ihm dafür ihre Anschrift. Dann verabschiedeten sie sich, und Denise lief eilig zu ihrem Vater, der bereits ausgestiegen war.

»Hast du jemanden kennengelernt?«, fragte er, und seine Neugierde war nicht zu übersehen. »Ist es jemand von der Schule? Ich habe ihn noch nie in deiner Nähe gesehen.«

Denise ließ sich auf den Beifahrersitz fallen und schnallte sich an. Das gab ihr die Gelegenheit, über die Antwort nachzudenken. Sie beschloss, einfach bei der Wahrheit zu bleiben. »Er saß im Zug neben mir. Wir kamen ins Gespräch und haben uns gut verstanden. Er hat mich für morgen Nachmittag zum Kaffee eingeladen. Wir wollen in das neue Café in der Einkaufspassage gehen. Du hast hoffentlich nichts dagegen?«

Pierre Montand starrte angestrengt auf die Straße. Mit der Möglichkeit, dass seine Tochter jetzt schon einen Mann kennenlernen würde, der ihr so wichtig war, dass sie ihm sogar ihren Samstagnachmittag schenkte, der eigentlich der Familie vorbehalten war, hatte er nicht gerechnet. Insgeheim musste er sich eingestehen, dass es ihm gar nicht gefiel, Denise gehen zu lassen.

»Wenn du etwas dagegen hast, Paps, werde ich natürlich absagen. Vielleicht hast du recht, ich kenne ihn ja gar nicht.« Sie tat ziemlich gleichgültig, obwohl sie plötzlich das Gefühl hatte, auf etwas Wichtiges zu verzichten. Marcels Charme hatte sie vom ersten Moment an in ihren Bann gezogen.

»Frag deine Mutter. Ich denke, bei diesem Thema bin ich nicht gerade kompetent. Eher voreingenommen«, fügte er mit einem sarkastischen Unterton hinzu. »Welcher Vater mag es schon, wenn die einzige Tochter plötzlich die Gesellschaft eines anderen Mannes seiner eigenen Gesellschaft bevorzugt. Aber ich muss lernen, zu akzeptieren. Das ist der Lauf der Zeit.«

Denise schluckte. Sie wusste selbst nicht, warum ihr plötzlich ein Schluchzen im Hals steckte. Die Worte ihres Vaters hatten irgendwie nach Abschied geklungen. Es war das gleiche Gefühl wie an ihrem Geburtstag.

»Ich werde nicht gehen. Marcel ist zwar nett, aber so nett nun auch wieder nicht, dass ich dafür die wenige Zeit, die ich für meine Familie habe, opfere.« Diese Entscheidung war ihr sehr schwergefallen. Immerhin hätte dies die erste Verabredung ihres Lebens sein sollen. Sogar Stefanie, ihre beste Freundin, hatte längst einen festen Freund, mit dem sie einen großen Teil ihrer Freizeit verbrachte.

Pierre spürte den inneren Kampf seiner Tochter. Das hatte er nicht gewollt. Denise war jetzt achtzehn und somit volljährig. Sie konnte selbst entscheiden, was ihr wichtig war. »Es tut mir leid, Schatz, dass ich dir offensichtlich die Freude verdorben habe. Das wollte ich nicht. Natürlich sollst du dich mit diesem Marcel treffen. Ich möchte nur wissen, wer er ist und wo er wohnt. Immerhin ist er einige Jahre älter als du. Da haben die Männer schon ganz andere Gedanken im Kopf als nur Kaffee trinken.«

Denise lachte verlegen. »Was du immer denkst, Paps. Ich habe Marcel vor zwei Stunden das erste Mal gesehen. Wir wollten uns lediglich treffen, um uns ein wenig zu unterhalten. Da ist doch nichts dabei.«

»Natürlich nicht.« Pierre atmete erleichtert auf, als er in die Straße einbog, wo er mit seiner Familie lebte. Es war ein wunderschönes Haus mit einem großen Vorgarten und einem Anbau, in dem er seine Praxis hatte. Dr. Montand war bei seinen Patienten beliebt, und manchmal kamen sie nur vorbei, um sich eine Weile mit ihm zu unterhalten, wenn das Wartezimmer gerade mal leer war. Dann setzten sie sich auf die Bank neben der Garage und redeten über Gott und die Welt.

»Da ist ja mein kleines Mädchen.« Eva kam mit strahlendem Gesicht angelaufen und nahm Denise noch am Auto in die Arme. »Schön, dass du wieder zu Hause bist. Es geht dir doch gut, oder?« Forschend schaute die Mutter in Denises Gesicht. »Heute Abend gibt es für jeden einen großen Teller Bowl. Ich habe sie extra deinetwegen mit Vollkornreis zubereitet, weil du den so liebst. Das ist dir doch recht?«

Denise lachte herzlich. Sie liebte die stürmische Begrüßung ihrer Mutter. Keiner in der Familie war so authentisch wie sie. Bei ihr wusste man immer, was Sache war und musste nicht erst lange fragen. »Wunderbar. Hast du den Lachs wieder mit deiner berühmten Sauce zubereitet? Ich liebe deine Saucen«, fügte sie mit genießerischem Augenaufschlag hinzu.

»Alles so, wie du es dir gewünscht hast. Dann lass uns endlich ins Haus gehen.« Sie nahm Denises Arm, Pierre trug ihre Reisetasche, und Sam, die wunderschöne Hündin, die eigentlich Samira hieß, erwartete sie bereits an der Haustüre. Das Tier war sehr gut erzogen und wusste, dass es nicht einfach auf die Straße springen durfte. Dafür hatte Raoul gesorgt, dem Sam eigentlich gehörte. Die Australian Shepherd Hündin lebte erst seit Kurzem bei Eva und Pierre, seit es Catherine meistens nicht gut ging. Sie schaffte kaum ihren Haushalt, und auch die drei Kinder waren im Moment eine große Belastung für sie. Die früher langen Spaziergänge mit dem Hund konnte sie zurzeit nicht mehr machen. So sehnte die ganze Familie den Tag herbei, an dem endlich Catherines und ­Raouls viertes Kind geboren wurde und alles wieder seinen alten Gang ging.

Überschwänglich begrüßte Denise den schönen Hund, der voller Freude an ihr hochsprang. Kaum hatte sie die Diele betreten, kam auch schon Blümchen anmarschiert mit stolz erhobenem Kopf und aufgestelltem Schwanz, der sich an der Spitze nach unten klingelte. Das sollte heißen, dass die Katze ihr die fünf Tage Abwesenheit großzügig verziehen hatte.

Denise stand in der Diele und schaute von einem zum anderen, ihre Augen strahlten, und man konnte ihr ansehen, wie glücklich sie in diesem Moment war. »Ich hab euch alle so lieb. So lieb«, wiederholte sie mit zitternder Stimme. Hastig schluckte sie das Schluchzen hinunter, das ihr plötzlich im Hals steckte. »Und jetzt habe ich Hunger.«

*

Es war ein Wetter wie im Bilderbuch. Schon morgens lachte die Sonne vom Himmel, und Sam konnte es gar nicht erwarten, dass Denise die Leine in die Hand nahm und ihr damit signalisierte, dass jetzt ein ausgedehnter Spaziergang fällig war.

»Was hältst du davon, Sam, wenn wir zum Bach gehen? Vielleicht haben wir Glück und können junge Enten beobachten.« Denise löste die Leine, und Sam sprang fröhlich davon. Ganz in Gedanken versunken folgte ihr Denise. Sie liebte diese Spaziergänge, wenn sie mit niemandem reden musste und ganz sie selbst sein konnte.

Immer wieder blieb das junge Mädchen stehen und betrachtete mit liebevollem Herzen die Umgebung. Denise liebte ihre Heimat. Zwar hatte sie noch nicht viel von der Welt gesehen, dennoch war sie überzeugt davon, dass es nirgends so schön war wie hier. Nur wenige Schritte vom Haus entfernt begann bereits die unverfälschte Natur. Saftig grüne Wiesen dehnten sich aus, nur durchzogen von einem breiten geschotterten Weg, auf dem höchstens hin und wieder ein Traktor fuhr. Auf der linken Seite konnte sie in der Ferne die dunkle Wand des Nadelwaldes erkennen, nach rechts jedoch gab es nur Wiesen.

Endlich hatte sie den Bach erreicht, der sich bereits seit ewigen Zeiten durch ein kleines Tal schlängelte, das er vermutlich irgendwann einmal selbst gegraben hatte. Rechts und links des Wasserlaufs erhob sich nur wenige Meter hoch eine sanfte Steigung, die über und über bewachsen war mit wunderschönen Blumen. Dazwischen gediehen verschiedene Büsche in üppiger Pracht. Sogar einige blühende Jasminsträucher waren dabei, obwohl sie in dieser Gegend eigentlich nur den Vorgärten vorbehalten waren.

Denise ließ sich auf einem der wenigen Felsen nieder, die hier verstreut lagen. Niemand wusste, wie sie an diesen Ort gekommen waren, doch sie vervollständigten das Bild eines kleinen Paradieses. »Sam, komm hierher. Da kannst du ins Wasser.« Sie deutete auf die Stelle, wo das Bachufer nicht hoch war. Sie beobachtete den Hund, der begeistert durch das sanft plätschernde Wasser watete. Sie hob ihr Gesicht dem Wind entgegen, der ihre Haut streichelte und nach Frühling und nach Blüten duftete. In diesem Augenblick wünschte sie sich, die Zeit möge stehen bleiben. Sie fühlte sich am Ziel ihrer Träume, denn nichts konnte sie glücklicher machen als dieser Augenblick.

Aus dem Gefühl heraus erhob sie sich und begann zu tanzen. Sie bewegte sich harmonisch zum Plätschern des Wassers, zum Gesang der Vögel und zu ihren Träumen, die ihr Herz erfüllten. Ihre langen schwarzen Haare, die sie im Nacken mit einem blauen Band zusammengebunden hatte, bewegten sich mit dem Wind. Ein Fremder, der sie so sah, hätte glauben können, eine Wassernymphe sei dem schimmernden Bach entstiegen.

Selbstvergessen tanzte Denise ihre Träume, und ein entrücktes Lächeln umspielte ihren schönen Mund. Sie merkte nicht, wie die Zeit verging, und erst, als jemand ihren Namen rief, zuckte sie zusammen und hielt in der Bewegung inne. Erschrocken schaute sie in die Richtung, aus der die Männerstimme gekommen war. »Marcel! Ist es schon so spät?«

Der Mann schüttelte den Kopf und stieg vorsichtig die nur zu erahnende Treppe zu ihr hinunter. »Ich war gerade in der Gegend, und da dachte ich, dass ich dich abholen könnte. Ich habe mit deinem Vater gesprochen, er scheint sehr nett zu sein. Er sagte mir, wo ich dich vermutlich finden könne, und er hatte recht.« Ein bewundernder Blick traf das Mädchen.

Denise fühlte sich etwas unbehaglich, sie mochte es nicht, wenn sie in ihren Träumen unterbrochen und aus ihrer Versunkenheit gerissen wurde. Es fühlte sich an wie ein körperlicher Schmerz, und sie brauchte eine Weile, um wieder in die Gegenwart zurückzufinden.

»Du schaust mich an, als würdest du überlegen, ob du mich beißen oder verhauen sollst.« Da war er wieder, Marcels trockener Humor. Nicht jeder verstand ihn, und nicht jeder mochte ihn. In Denises Gegenwart jedoch dachte er nicht lange darüber nach, denn er war sich sicher, dass sie ihn verstand.

Er sollte sich nicht geirrt haben. Denise lachte herzlich. »Wenn mein Vater dich geschickt hat, dann bedeutet das, dass er nichts gegen unsere Bekanntschaft hat, solange du ihn nicht vom Gegenteil überzeugst. Und das wirst du doch nicht tun, oder?« Der Schalk blitzte in ihren Augen. Es machte ihr plötzlich richtig Freude, dieses Wortgeplänkel mit ihm fortzuführen.

»Ich werde auf dich aufpassen, wie dein Vater es von mir erwartet. Du hast sehr schön getanzt. Ich hätte dir noch ewig zusehen können.« Marcel blickte sie bewundernd an. Denise hatte etwas ganz besonderes an sich. Sie hatte es schon gestern geschafft, ihn von seinen finsteren Gedanken abzulenken, er hatte sich so sehr über seine Autopanne geärgert. Heute schaffte sie es, dass er sich allein beim Blick in ihre Augen leicht wie eine Feder fühlte. »Willst du noch eine Weile bleiben, oder fahren wir in die Stadt?«

Denise wäre gerne noch geblieben, doch die Unbeschwertheit, die sie eben noch tanzen ließ, war mit einem Mal verschwunden. »Gehen wir zurück. Ich muss nur Sam zu meiner Mutter bringen und mich umziehen.«

Sie bekamen gerade noch den letzten Tisch mit Blick auf die Straße. Marcel bestellte für sich einen Kirschkuchen und Denise bekam ein prächtiges Stück Schwarzwälder Kirschtorte.

»Darf ich eigentlich gar nicht essen, weil ich sonst womöglich zunehme. Mein Tanzpartner würde mir das übel nehmen, wenn er einige Kilos mehr stemmen müsste.« Sie lachte und ließ sich die Torte auf der Zunge zergehen.

»Du willst also wirklich Tänzerin werden?«

»Warum zweifelst du daran? Ich liebe es zu tanzen und alles um mich herum zu vergessen. Im Tanz kann ich meine Gefühle besser ausdrücken als mit Worten.« Denise schaute verträumt aus dem großen Fenster zu den übergroßen Blumenkübeln. Bald würde es auch hier blühen und grünen.

Marcel griff über den Tisch hinweg nach ihrer Hand. Es war einfach nur ein Impuls, und doch spürte er, dass diese Berührung etwas mit ihm machte. Sein aufgeregter Herzschlag beruhigte sich, und auch die vielen Gedanken, die sich in seinem Kopf meist in verschiedene Richtungen gleichzeitig bewegten, schwiegen plötzlich. »Du tust mir gut, Denise, weißt du das?« Er erschrak, als er die Worte ausgesprochen hatte. Noch nie zuvor hatte er so etwas zu jemandem gesagt.

Denise blickte ihn nachdenklich an. Auch sie konnte spüren, dass sich gerade etwas zwischen ihnen veränderte. War sie im Begriff, sich in diesen Mann zu verlieben? Nein, das wollte sie auf gar keinen Fall. Sie liebte ihre Jugend, ihre Unbeschwertheit und die Freiheit, selbst zu entscheiden, was sie tun oder lassen wollte. Einige Male hatte sie schon mitbekommen, dass ihre Freundinnen nicht immer glücklich waren in ihren Beziehungen. Das wollte sie sich ersparen, wenigstens noch für eine Weile. Hastig zog sie ihre Hand zurück.

Erschrocken starrte Marcel sie an. »Habe ich etwas getan, das dich verärgert hat?« Sofort war das Durcheinander in seinem Kopf wieder da.

Denise schüttelte den Kopf. Verlegen strich sie sich eine imaginäre Haarsträhne aus dem Gesicht, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen.

»Hast du nicht. Es ist nur … Du bist mein erstes Date, und ich habe etwas Schwierigkeiten, mich richtig zu verhalten.« Sie spürte, wie sie errötete.

Die Erleichterung stand Marcel ins Gesicht geschrieben. »Wenn man sich kennenlernt, gibt es kein Richtig und kein Falsch. Es muss einfach passen. Auch wenn es dir etwas verfrüht erscheint, habe ich bei uns beiden das Gefühl, dass es passen könnte. Du bist noch sehr jung …«

»Letzten Samstag bin ich achtzehn geworden«, antwortete Denise sofort. »In einem Jahr beende ich meine Ausbildung. Ich weiß noch nicht, wie es dann weitergehen wird mit mir. Vielleicht habe ich das Glück und bekomme eine Anstellung an einem Theater. Wenn nicht, werde ich mich um Aufträge bemühen. Irgendetwas wird schon klappen.«

»Davon bin ich überzeugt. Doch eigentlich wollte ich etwas ganz anderes von dir hören. Denkst du, du könntest mich irgendwann ein bisschen mögen?«

»Du bist mir sympathisch, sonst würden wir beide jetzt nicht hier sitzen«, antwortete Denise zögernd. »Mehr kann ich dir im Moment nicht sagen. Ich will jetzt noch keine Beziehung. Aber eine Freundschaft könnte ich mir durchaus vorstellen.« Sie fühlte sich ein wenig überrollt, denn so hatte sie sich den Nachmittag nicht vorgestellt. »Ich möchte meine Jugend genießen, ohne Bindung und ohne frühe Verpflichtungen. Das heißt nicht, dass wir nicht irgendwann zusammenkommen könnten, wenn es sich ergeben sollte. Ich hoffe, diese Antwort genügt dir.«

Marcel nickte nachdenklich. »Das ist fast mehr, als ich erhofft hatte. Ich hatte befürchtet, du würdest mich mit Schimpf und Schande davonjagen. Doch ich musste es fragen, denn ich habe gern geklärte Verhältnisse.«

»Die haben wir ja jetzt hergestellt. Belassen wir es bitte dabei und wechseln das Thema.« Sie schaute demonstrativ auf ihre zierliche Armbanduhr. »Ich sollte nach Hause. Ich habe meiner Schwägerin Catherine versprochen, dass ich ihr heute eine Weile Gesellschaft leiste, solange mein Bruder unterwegs ist. Außerdem muss ich bügeln, das kann Catherine zurzeit nicht. Würdest du mich bitte heimbringen?«

»Selbstverständlich, wenn du das möchtest.« Marcel beglich die Rechnung, dann nahm er Denises Arm und stellte erleichtert fest, dass sie es zuließ. »Werden wir uns wieder sehen?«

Denise schwieg. Erst als sie beim Auto angekommen waren, schaute sie ihn an und nickte. »Gern, wenn du das möchtest. Du weißt jetzt, wo ich wohne.« Die restliche Fahrt schwieg sie, und auch Marcel wusste nichts mehr zu sagen. Denise war zwar nicht sein erstes Date gewesen, jedoch das erste, das so seltsam abgelaufen war. Sie war tatsächlich die erste Frau, die noch keine Beziehung gehabt hatte.

In diesem Moment wusste er nicht, ob er solch einer Verantwortung gewachsen war. Er fuhr vor die Garageneinfahrt und schaltete den Motor aus. Dann stieg er aus und öffnete die Beifahrertür. Auch das hatte er noch nie zuvor getan. Denises Ausstrahlung jedoch verleitete ihn dazu, das, was er von den Eltern gelernt hatte, anzuwenden.

Denise lächelte kaum merklich, als sie sich von ihm aus dem Auto helfen ließ. Eigentlich amüsierte sie sein Verhalten etwas, denn es zeigte ihr, wie unsicher er sich fühlte. Doch gerade das war es, was ihr so sehr gefiel, dass sie die Hände an seinen Hals legte und ihm einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange gab. »Wir sehen uns«, sagte sie nur, dann lief sie leichtfüßig zum Haus.

»Ich glaube es nicht«, murmelte Marcel und starrte ihr nach. »Ich glaube es einfach nicht. Sie ist wie ein Wesen aus einer anderen Welt.«

Sein Herz flog ihr nach, doch sein Verstand sagte ihm, dass er nicht das Recht hatte, in ihr Leben einzudringen. Der Gedanke machte ihn sehr traurig.

*

»Es wäre besser, du würdest dich der Anweisung des Arztes fügen und für einige Zeit ins Krankenhaus gehen. Ich sehe doch, dass es dir täglich schlechter geht. Du tust dir und uns keinen Gefallen, wenn du dein Leben und das unseres Kindes aufs Spiel setzt.« Raoul lief erregt im Wohnzimmer auf und ab.

Auf dem Sofa lag Catherine und stöhnte leise vor sich hin. »Ich will aber nicht«, jammerte sie. »Wenn ich nicht zu Hause sein darf, sterbe ich.«

»Rede doch nicht solchen Unsinn daher, Catherine. Du weißt ganz genau, dass du es überstehen kannst. Das Krankenhaus ist ja schließlich nicht am anderen Ende der Welt. Ich werde dich jeden Abend besuchen. Die Kinder kann ich auch immer mal mitbringen. Aber inzwischen bin ich schon solch ein Nervenbündel, dass ich nicht einmal mehr arbeiten kann, ohne nicht jede halbe Stunde bei dir angerufen zu haben. Willst du das?«

Sie schüttelte den Kopf. Ihre mittelblonden Haare, die bis zu den Schultern reichten, waren verwirrt und sollten wieder einmal gewaschen werden. »Ich weiß, dass ich kein besonders schöner Anblick bin für dich. Mir bereitet jeder Schritt große Schwierigkeiten, und jeder Bissen, den ich hinunterschlucke, nimmt mir etwas Luft zum Atmen. Doch irgendwie werde ich die drei Monate noch herumkriegen. Als ich mit Benjamin schwanger war, war es nicht anders, und ich habe es auch geschafft.«

»Bei Benjamin war es nicht annähernd so schlimm. Natürlich ging es dir da auch nicht gut, doch dieses Mal empfinde ich es als beängstigend.« Er blieb neben dem Sofa stehen und griff nach der Hand seiner Frau. Bittend schaute er sie an. »Ich will dich nicht verlieren, Kathi. Sei nicht leichtsinnig. Wir brauchen dich.«

Catherine richtete sich auf und unterdrückte ein erneutes Stöhnen. »Du machst dir viel zu viel Sorgen, Lieber. Ich kenne meinen Körper und weiß, was ich mir zumuten darf. Ich werde Denise fragen, ob sie sich am Wochenende wieder um die Kinder kümmern könnte. Bist du damit einverstanden?«

Raoul nickte. »Meinen Widerspruch lässt du ja ohnehin nicht gelten. Also bleibt mir nichts anderes übrig, als mit deinen Vorschlägen einverstanden zu sein und zu hoffen, dass es gut geht.« Er presste die Lippen zusammen, weil er nicht noch mehr sagen wollte. Mit Sicherheit hätte er einen Streit provoziert, wenn er seiner Frau widersprochen hätte.

Sein Blick fiel nach draußen in den Garten. Eine Menge Arbeit wartete auch dort auf ihn. Doch im Moment hatte er keinen Kopf dafür. Die Sorge um seine Frau ließ ihn einfach nicht zur Ruhe kommen, obwohl er ihr das so deutlich natürlich nicht sagte.

Als er Denise auf das Haus zulaufen sah, fühlte er sich schon ein wenig besser. Seine kleine Schwester bewies stets ein glückliches Händchen beim Schlichten von Differenzen, beim Trocknen von Kindertränen und beim Umgang mit allen Tieren, die zu seinem Haushalt gehörten. Die Meerschweinchenfamilie, die im Garten einen geräumigen Stall und einen großen Auslauf besaß, war nur ein kleiner Teil seiner umfangreichen Rasselbande. Etwas weiter hinten in dem neu erbauten Schuppen lebten zehn schwarz-weiß gepunktete Hennen und ein Hahn. Seine Aufgabe, seit es Catherine nicht gut ging, war, den Hühnerstall jeden Morgen zu öffnen und die Tiere am Abend wieder einzusperren. Zum Glück stattete Eva ihrer Schwiegertochter jeden Mittag, wenn sie von der Schule nach Hause fuhr, einen kurzen Besuch ab, um dort mit anzupacken, wo es nötig war.

»Komme ich ungelegen?« Denise betrat durch die Terrassentür das Wohnzimmer. Sie setzte sich zu Catherine aufs Sofa und nahm deren Hand. »Wie geht es dir, Kathi? Ich soll dir viele Grüße von Mama bestellen. Wenn du Hilfe brauchst, gib Bescheid. Notfalls lässt sie sich für ein paar Tage von einer Kollegin vertreten.« Sie holte aus der Tasche eine große Suppenterrine und stellte sie auf den Tisch. »Mama schickt euch Bohneneintopf, den mögt ihr doch so gern. Ich werde die Kinder holen. Ihr müsst gleich essen, sonst wird es kalt.«

Wenige Minuten später saßen alle fünf um den Tisch herum und löffelten ihren Eintopf. Währenddessen kümmerte sich Denise um die ziemlich unaufgeräumte Küche, spülte das Geschirr und räumte alles fein säuberlich in den Schrank.

»Und jetzt gehen wir in den Garten zu den Meerschweinchen. Wer will mit?« Die neunjährige Amelie und ihr sechs Jahre alter Bruder Benjamin waren sofort begeistert. Luis wollte mit seinen inzwischen dreizehn Jahren natürlich nicht mehr mit kleinen Kindern spielen. Zumindest sagte er das.

Wenn auch ungeplant wurde es dennoch ein sehr schöner Nachmittag für Denise. Wieder einmal stellte sie fest, dass sie anstatt Tänzerin auch gern Lehrerin oder Kindergärtnerin geworden wäre. Sie liebte den Umgang mit Kindern und Tieren und fand ihre Erfüllung auch darin, alle glücklich zu machen.

»Deine Mutter wird glauben, wir hätten dich entführt.« Raoul hatte sich nicht anschleichen wollen, doch Denise, die so vertieft in ihr Spiel gewesen war, zuckte erschrocken zusammen. Ihre Hände zitterten noch immer, als sie das rote Meerschweinchen in den Auslauf zurücksetzte. »Fast hätte mich der Schlag getroffen. Bitte schleich dich nicht immer so an, Raoul. Das halten meine Nerven nicht aus.« Obwohl ihr noch immer flau im Magen war, lachte sie den Bruder fröhlich an. »Aber du hast recht, ich werde nach Hause gehen. Mama und ich wollen einen romantischen Film ansehen. Papa ist nicht zu Hause, er trifft sich mit ein paar Kollegen im Irish Pub.«

»Soll ich dich bringen?«

Denise lehnte dankend ab. »Die paar Schritte krieg ich auch allein hin. Außerdem ist es so ein herrlicher Frühlingsabend, den möchte ich eine Weile genießen.« Sie erhob sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und gab ihrem Bruder auf jede Wange einen Kuss. »Das habe ich jetzt gebraucht«, sagte sie lachend.

Raoul schüttelte insgeheim den Kopf. Man konnte Denise nicht berechnen. Manchmal saß sie nur da, und man hatte den Eindruck, als wäre sie mit ihren Gedanken ganz weit weg. Dann wiederum wirbelte sie wie ein kleiner Tornado durch die Familie und brachte alles durcheinander, um es wenig später mit zarter Hand wieder in Ordnung zu bringen. Hin und wieder empfand er das als anstrengend, aber dann wiederum genoss er dieses eigentlich unkomplizierte Leben, dass sie in seine Familie brachte.

»Melde dich, wenn du zu Hause bist. Es dämmert schon ein bisschen. Mir wäre wohler, wenn du dich von mir bringen lassen würdest.« Er wirkte ehrlich besorgt.

Doch Denise war nicht umzustimmen. Von Raouls Haus bis zu ihrem Elternhaus betrug die Entfernung nicht einmal einen Kilometer. Was sollte ihr da schon passieren? Sie breitete die Arme aus und drehte sich einige Male um sich selbst. Der Wind streichelte ihre Haut und ließ ihre Wangen rosig erscheinen. Sie löste das Band im Nacken, sodass ihr langes lockiges Haar sie wie ein Schleier umgab. Jetzt machte das Drehen noch mehr Spaß, wenn die Haare über ihr Gesicht flogen und sie kitzelten.

»Nun geh schon, Kleine, ehe ich es mir anders überlege und dich doch noch in mein Auto zerre, auch wenn es über die Landstraße ein ziemlicher Umweg ist.« Er lachte noch immer, doch dieses Lachen erreichte nicht seine Augen. Er liebte Denise von ganzem Herzen. Sie hatte nach dem Treuebruch seiner leiblichen Mutter wieder Freude in das Herz seines Vaters und auch in sein eigenes gezaubert, zusammen mit ihrer Mutter, die den Stiefsohn an ihr Herz genommen hatte wie ein eigenes Kind.

Denise wirbelte davon. In diesem Augenblick war sie so glücklich, dass sie wieder einmal wünschte, sie könnte alle Uhren anhalten, um nicht die Wehmut fühlen zu müssen, wenn sie das Leben zwischen ihren Fingern davonlaufen spürte. Es war keine Angst, keine Trauer, nur diese Ohnmacht bei dem Gedanken, dass nichts für die Ewigkeit bestimmt war. Sie erinnerte sich an die ernsten Worte ihrer Großmutter, die Mutter ihres Vaters, als sie sie zum letzten Mal im Krankenhaus besucht hatte. »Alles im Leben ist vergänglich, vergiss das nicht. Wenn wir einmal gehen, werden wir all die Dinge mitnehmen dürfen, die man nicht anfassen kann. Also sammele alles das, was du im Herzen aufbewahren kannst. Das, was du in die Hand nimmst, Reichtum, Besitz und schöne Kleider, musst du zurücklassen. Lediglich das Gefühl, das du bei ihrem Anblick oder bei einer Berührung hattest, gehört dir wirklich. Das ist die wahre Gerechtigkeit in dieser Welt.«

Noch immer hatte Denise ihre schwache Stimme im Ohr, sie konnte ihre Gegenwart im Herzen fühlen, auch wenn sie nicht mehr hier war. Seitdem wusste Denise genau, was sie wollte. Ihr Leben sollte ihr gehören mit allem, was dazu gehörte, mit Freuden und mit Leiden, und sie wollte immer das tun, was sie als kostbare Erinnerung in ihrem Herzen aufbewahren durfte.

Leise vor sich hin summend lief das Mädchen durch die blühenden Felder, breitete immer wieder die Arme aus und drehte sich zum lauen Frühlingswind. Denise dachte nicht daran, dass jemand sie sehen und sich über ihr Verhalten wundern könnte. Es war ihr egal. Sie war nur glücklich, ganz einfach glücklich.

*

Die Pfingstferien fielen in diesem Jahr in eine besonders warme Zeit. Eigentlich wollte die ganze Familie Montand eine Woche am Gardasee verbringen, doch da es Catherine noch immer nicht besser ging, beschlossen Pierre und seine Frau, den Urlaub in diesem Jahr ausfallen zu lassen. Sowohl Eva als auch ihre Tochter Denise waren erleichtert über diese Entscheidung, denn die Sorgen hätten sie natürlich mitgenommen.

»Das klingt ja super«, stellte Marcel erfreut fest, als Denise es ihm am Telefon berichtete. Ihre Freundschaft war in den letzten Wochen zu einer schönen Gewohnheit geworden, und auch das war ein Grund dafür, dass Denise lieber zu Hause bleiben wollte. »Dann werde ich die Tage nach Pfingstmontag ebenfalls zu Hause bleiben, und wir können etwas unternehmen.«

»Eine prima Idee«, jubelte Denise, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Ich kann aber nicht versprechen, dass ich jeden Tag Zeit haben werde. Du weißt doch, meiner Schwägerin geht es nicht so gut, und ich sollte ihr so viel wie möglich abnehmen. Nachmittags kann meine Mutter einspringen, aber auch nicht immer. Du weißt ja, sie ist ebenfalls berufstätig und braucht die Ferien, um sich etwas zu erholen.« An seinem etwas heftigeren Atem konnte Denise erkennen, dass er über ihre Antwort nicht gerade erfreut war. »Sei nicht sauer, Marcel«, bat sie leise.

»Ich bin nicht sauer«, widersprach er sofort. »Ich hatte mich nur darauf gefreut, dich mal länger als nur zwei Stunden am Stück für mich haben zu dürfen. Aber das ist schon in Ordnung. Du hast ja gesagt, dass wir kein Paar sind. Also muss ich mich mit dem begnügen, was übrig bleibt.« Es sollte ein Scherz sein, und in seiner Stimme konnte man auch ein kleines Lachen erahnen. Dennoch war ihm dieser Ausspruch sehr ernst. »Gehen wir heute Abend ins Kino? Gerade ist Stadt der Engel angelaufen. Eigentlich müsste der Film dir gut gefallen.«

Begeistert stimmte Denise zu. Sie hatte auch schon von diesem Film gehört und wollte ihn unbedingt sehen. Die Mutter gönnte Denise von Herzen die Verabredung, auch wenn es ihr ein bisschen wehtat, dass ihr Kind so schnell erwachsen geworden war. »Es wird bestimmt ein schöner Abend«, sagte sie später, als Denise vor dem Spiegel stand und überlegte, was sie anziehen sollte. Sie entschied sich für eine dünne lange Hose, deren Farbe zwischen grau und hellblau schwankte, dazu trug sie eine passende blaue Bluse mit weißen Streublümchen. »Sieht toll aus. Soll ich dir die Haare hochstecken? Bei dieser Hitze ist das bestimmt angenehmer.«

Lachend setzte sich Denise auf den Stuhl und legte ihren Kopf ein bisschen nach hinten. »Mach mal«, befahl sie und schloss die Augen. Sie genoss es, wenn die Mutter ihr das Haar bürstete oder ihr eine schöne Frisur zauberte.

Eva griff nach der Bürste und begann das kräftige glänzende Haar ihrer Tochter zu bearbeiten. Sie liebte diese Intimität zwischen ihr und ihrem Kind und ließ sie für eine Weile vergessen, dass vermutlich der größere Teil ihrer gemeinsamen Zeit bereits hinter ihnen lag.

Pünktlich, wie verabredet, stand Marcel vor der Tür, um sie abzuholen. Er hatte sogar für Eva ein kleines Sträußchen mitgebracht, das er jetzt galant überreichte. »Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Frau Montand«, sagte er, dann griff er nach Denises Hand und verabschiedete sich. »Ich freue mich auf unseren Abend. Eigentlich hatte ich nicht erwartet, dass du zusagst.«

Für Denise, die nur selten ins Kino ging, war dieser Abend etwas ganz Besonderes. Die Atmosphäre in dem großen Saal, der etwas stickige Geruch nach Putzmittel und Popcorn erinnerten sie an ihre Kinderzeit, als Raoul sie an manchem verregneten Sonntagnachmittag mitgenommen hatte, wenn in der Kindervorstellung ein Zeichentrickfilm lief. Das war immer sehr lustig gewesen, und sie dachte noch heute gern daran zurück.

Marcel besorgte den obligatorischen Pappeimer mit Popcorn und für jeden eine Flasche Limonade. Dann saßen sie in der hintersten Reihe direkt in der Mitte, von wo aus man den besten Blick zur Leinwand hatte. Wie immer kam zuerst die Werbung von örtlichen Geschäften, und danach kamen die Ankündigungen der neuen Filme, die in nächster Zeit laufen würden. Endlich begann der Film mit einer wunderschönen, zu Herzen gehenden Musik, die Denise sehr berührte. Sie fühlte sich in diesem Moment so glücklich, dass sie überzeugt davon war, sich in Marcel verliebt zu haben.

Der Film war beeindruckend. Fast jeder Satz, der gesprochen wurde, beinhaltete den Ausdruck eines Gefühls, und als Nicolas Cage sich entschloss, seinen Status als Engel zugunsten seiner großen Liebe aufzugeben, liefen Denise Tränen über die Wangen. So eine Liebe wollte sie auch erleben.

Hastig warf sie Marcel einen Seitenblick zu. Sein Profil hatte sich nicht verändert. Offensichtlich interessierte ihn der Film, doch es hatte nicht den Anschein, als würde er den Sinn wirklich verstehen.

»So eine Liebe möchte ich auch einmal erleben«, flüsterte sie ihm zu. »Das ist das Größte, was einem Menschen im Leben passieren kann.« Sie wollte nach seiner Hand greifen, doch er bemerkte es nicht. Genau in demselben Augenblick hatte er eine andere Idee, denn seine Hand war plötzlich weg. Er brauchte sie, um den Eimer mit dem Popcorn zu öffnen. Als es nicht gleich klappte, stieß er einen leisen Unmutslaut aus.

Denise fühlte sich, als hätte sie eben eine kalte Dusche bekommen. Hastig zog sie ihre Hand wieder zurück. Alle schönen Gefühle, die sie gerade noch für ihn gehabt hatte, waren mit einem Mal verschwunden. Das Popcorn hatte sie hinweggefegt. Jetzt fiel es ihr auch schwer, sich wieder auf die Handlung des Films zu konzentrieren.

»Magst du auch?«, fragte Marcel und hielt ihr den Eimer hin. »Es schmeckt lecker, ist anscheinend mit Honig. Probier mal«, murmelte er kauend.

»Nein, danke, ich habe keinen Appetit.«

»Probier doch mal. Der Appetit kommt mit dem Essen, hat meine Mutter immer gesagt.« Marcel griff wieder in den Eimer und steckte sich erneut eine ganze Handvoll in den Mund.

»Wie ich sehe, schaffst du das auch ohne mich. Ich mag Popcorn nicht besonders.« Das stimmte zwar nicht, doch Denise hätte es in dem Moment nicht geschafft, ebenfalls in den Eimer zu greifen. »Ich möchte den Film sehen.«

»Ich doch auch«, flüsterte er. »Doch das eine schließt das andere nicht aus, oder?« Offensichtlich hatte Marcel nicht begriffen, was Denise ihm mit der Ablehnung hatte sagen wollen. Sie versuchte wieder, sich auf den Film zu konzentrieren, was ihr schließlich auch gelang. Als am Ende der Abspann einsetzte und eine wunderschöne Frauenstimme ein zu Herzen gehendes Lied sang, liefen ihr doch noch Tränen über die Wangen, obwohl sie die ganze Zeit krampfhaft versuchte, sie zu verdrängen. In dem Moment hatte sie alles vergessen, das Kino, Marcel, der noch immer am Popcorn kaute, und auch sich selbst. Sie versank in einem Meer von Gefühlen, die sie für einen kurzen Moment hinwegtrugen aus diesem Leben. Erst als die Beleuchtung eingeschaltet wurde, kehrte sie zurück in die Wirklichkeit.

»Warum weinst du? Der Film ist doch gut ausgegangen.« Verständnislos starrte Marcel sie an. »Hat es dir nicht gefallen? Magst du noch etwas essen gehen?«

Das war die zweite kalte Dusche an diesem Abend, und sie unterschied sich nicht sehr von der ersten. »Eigentlich möchte ich nach Hause. Der Film hat mich so sehr beeindruckt, dass es mir widerstrebt, mich jetzt über alltägliche Dinge zu unterhalten. Ich würde gern noch eine Weile für mich bleiben und darüber nachdenken.«

Marcel war enttäuscht, und er zeigte es auch. Schweigend gingen sie zum Auto, Marcel öffnete ihr die Beifahrertür, wartete, bis sie eingestiegen war, und machte sie dann zu. Als er ums Auto herum ging, konnte man ihm ansehen, dass er sich ärgerte. Seine Bewegungen waren anders als sonst. Noch immer schweigend warf er sich hinter das Steuerrad und startete.

»Du bist jetzt sauer.«

Er schüttelte den Kopf. »Warum sollte ich? Es ist doch alles in Ordnung. Ich bin schließlich ein braver Begleiter und bringe meinen Schützling noch vor Mitternacht nach Hause. Deine Eltern werden mich lieben.« Der Spott in seiner Stimme war unüberhörbar.

»Es tut mir leid.«

Denise fühlte sich nicht mehr wohl neben ihm. Seine Stimme hatte sich verändert und seine Ausstrahlung ebenfalls. »Willst du mit hineinkommen? Meine Eltern sind bestimmt noch nicht ins Bett gegangen.«

»Eher nicht«, wehrte er ab. »Mir wird es auch nicht schaden, wenn ich einmal früher ins Bett gehe. Ich habe eine stressige Woche hinter mir, und jetzt freue ich mich auf ein paar freie Tage.« Einen kurzen Moment lang überlegte er, ob er überhaupt aussteigen sollte. Denise war alt genug, um sich selbst die Tür zu öffnen.

Als hätte sie seine Gedanken gehört, griff sie nach der Verriegelung und stieg aus. »Danke für die Einladung. Ich wünsche dir eine gute Nacht.« Noch ehe er antworten konnte, hatte sie bereits die Türe leise zugemacht. Schließlich wollte sie niemanden aufwecken. Sie wartete, bis Marcel das Auto gestartet hatte, dann ging sie ins Haus. So schön der Film gewesen war, so enttäuschend hatte sich ihre Begleitung verhalten. Dennoch hatte sie Angst, dass sie Marcel jetzt auf Dauer vergrault hatte. Doch im Grunde genommen würde sie nichts verlieren, das eine große Lücke in ihrem Leben hinterlassen konnte. Dieser Gedanke machte sie fast wieder froh.

*

»Hattet ihr gestern einen schönen Abend? Der Film soll ja beeindruckend sein, habe ich gehört.« Eva stellte die Kaffeekanne auf den Frühstückstisch und setzte sich dann. »Du warst ja ziemlich früh zu Hause. Ich habe es im Halbschlaf gehört, war aber nicht fähig, noch einmal aufzustehen.«

Denise nahm sich ein Brötchen und bestrich es sorgfältig mit Butter. Sie wollte Zeit gewinnen, weil sie nicht wusste, wie sie der Mutter antworten sollte.

»Der Film war sehr schön. Es ist mir richtig ans Herz gegangen, als der Engel … Ich werde dir nichts erzählen, du solltest dir den Film selbst ansehen. Er lohnt sich wirklich.«

Sie biss in ihr Brötchen und ließ es sich schmecken.

Die Mutter merkte ganz deutlich, dass Denise ihr etwas nicht sagen wollte. Durfte sie fragen? Bis jetzt hatten sie sich immer alles erzählt. Nie hatten sie Geheimnisse voreinander gehabt. Sollte Marcel womöglich …? Eva verwarf den Gedanken gleich wieder. »Was ist los?«

Natürlich hatte Denise mit so einer Frage gerechnet. Sie zuckte die Schultern. »Weiß ich auch nicht«, antwortete sie ausweichend. »Vielleicht bin ich ja zu anspruchsvoll.«

»Ist dir Marcel zu nahe getreten? Du musst nicht antworten, wenn du nicht möchtest. Immerhin bist du alt genug. Doch eigentlich traue ich das Marcel nicht zu.« Erschrocken versuchte Eva, im Gesicht ihrer Tochter zu lesen.

Denise schüttelte den Kopf. »Um Himmels willen, denk doch nicht so etwas. Marcel ist der Anstand in Person. Er würde nie etwas tun, was er nicht soll. Es haben mich nur einige Dinge an ihm so gestört, dass ich nach dem Film gleich nach Hause wollte.«

»Und was war das?« Eva nahm einen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. »Wenn er dir nicht zu nahe getreten ist, wüsste ich nicht, was sonst noch passiert sein könnte.« Jetzt wollte sie es genau wissen.

»Es war nichts Schlimmes, und inzwischen denke ich, dass ich wohl etwas überreagiert habe. Ich kann schließlich nicht erwarten, dass alle Menschen bei so einem Film dasselbe empfinden wie ich. Gerade, als es besonders rührend war, hat Marcel den Popcorneimer geöffnet und angefangen zu kauen. Das war so laut, dass ich schon fürchtete, die anderen Zuschauer würden ebenfalls durch diese Geräusche gestört werden.«

Jetzt brach Eva in ein herzliches Lachen aus. »Das hätte von mir sein können«, stimmte sie zu. »Da kannst du deinen Vater fragen, der kann ebenfalls ein Lied davon singen. In meiner Jugend war ich genauso zickig wie du. Aber glaub mir, das schleift sich mit der Zeit. Dein Vater hatte immer Verständnis für mich, und heute ist es genau umgekehrt. Inzwischen toleriere ich das meiste, während Pierre mit zunehmendem Alter ein wenig empfindlicher geworden ist. Aber wir können sehr gut leben damit. Solange das Herz beteiligt ist, kann man diese Probleme gemeinsam meistern.«

»Ich weiß nicht, ob mein Herz beteiligt ist. Eine Weile dachte ich es, gerade als der Film anfing. Es war zuerst richtig romantisch. Doch dann hat er alles kaputt gemacht.« Denise legte das Messer, mit dem sie ihr zweites Brötchen gestrichen hatte, auf den Teller zurück und wandte ihr Gesicht der Mutter zu. »Wie fühlt es sich an, wenn man sich verliebt? Klopft dann das Herz schneller, wird einem übel, oder merkt man vielleicht gar nichts davon? In dem Film hat sich der Engel in eine Sterbliche verliebt. Das war so wunderschön, dass ich das auch haben möchte.«

»Dass sich ein Engel in dich verliebt?« Eva legte den Kopf ein wenig schief und lächelte. »Ich glaube nicht, dass sich dieser Wunsch jemals erfüllen kann. Du wirst dich wohl oder übel mit einem ganz normalen Mann begnügen müssen.«

»Ach, Mami, du verstehst mich nicht«, jammerte Denise gespielt verzweifelt. »Der Mann, der mich einmal kriegt, muss ein Engel sein.«

»Ich weiß, sonst hält er es mit dir nicht aus. Du bist etwas ganz Besonderes, mein Kind, das weißt du auch. Für mich bist du besonders wundervoll, für deinen Vater ebenfalls. Aber ein ganz normaler Mann könnte Probleme mit dir bekommen. Ehen werden im Himmel geschlossen, aber auf Erden gelebt. Du jedoch willst dir deinen Himmel mitnehmen in den Alltag. Das funktioniert aber selten, weil die Menschen nun einmal keine Engel sind.«

»Dann ist Paps kein Engel für dich?«

»Natürlich ist er mein Engel. Er weiß es nur nicht, und es ist auch besser, wenn er es nie erfährt«, antwortete die Mutter lachend. »Das jedoch funktioniert nur, wenn im Gegenzug auch ich sein Engel bin.«

»Ach, Mutsch, das Leben ist irgendwie schwierig. Vielleicht sollte ich besser allein bleiben und mich auf meinen Beruf konzentrieren. Bis jetzt habe ich nur von allen Seiten gehört, dass Beziehungen schwierig zu leben sind. Das will ich nicht. Wo bleibt Paps überhaupt?«

»Der hat schon längst gefrühstückt. Jetzt ist er in seinem Labor und will irgendetwas kontrollieren. Ich hab nicht genauer nachgefragt. Ich vermute, er will über etwas nachdenken, dass er nicht mit mir besprechen möchte. Ein lieber Kollege von ihm ist schwer erkrankt. Pierre soll die nächste Zeit einen Teil seiner Patienten übernehmen. Doch das ist nicht das Problem. Dein Vater befürchtet, dass Alex dieses Mal den Kampf verlieren wird. Zweimal hatte er es geschafft, aber ein drittes Mal wird es vermutlich nicht geben. Das macht ihm natürlich schwer zu schaffen. Dieser Verlust würde ihn sehr treffen.«

Plötzlich fühlte sich Denise ganz klein. Da stellte sie so hohe Ansprüche an das Verhalten ihres Freundes, nahm sich selbst viel zu wichtig, während ein lieber Mensch aus ihrer Umgebung um sein Überleben kämpfte. Wenn sie jetzt noch einmal über den gestrigen Abend nachdachte, fand sie es eigentlich lustig. Marcel war nun einmal nicht der gefühlsbetonte Romantiker, der bei einer Liebesszene in Tränen ausbrach. Er stand mit beiden Beinen fest am Boden und hatte entsprechend auch ganz normale Bedürfnisse. Sie hatte nicht das Recht gehabt, ihm den Abend, der eigentlich ganz anders geplant war, zu verderben.

»Ich werde mich bei Marcel entschuldigen. Es war nicht in Ordnung, was ich gesagt habe. Man darf den Maßstab des Lebens nicht an belanglosen Kleinigkeiten festmachen. Er hat sich völlig richtig verhalten.«

»Was hat jetzt deinen Sinneswandel ausgelöst? Die Geschichte mit Alex? Ich denke, es ist ganz gut, wenn man hin und wieder an die Endlichkeit des Lebens erinnert wird. Dafür genießt man den Augenblick dann um so intensiver. Frag dein Herz, was du tun sollst. Magst du Marcel, könntest du dir mehr mit ihm vorstellen? Ich denke, er macht sich irgendwelche Hoffnungen auf dich. Vielleicht träumt er sogar von einer gemeinsamen Zukunft mit dir. Wenn du dir das überhaupt nicht vorstellen kannst, dann sag ihm das.«

Denise schwieg eine ganze Zeit lang. Ohne es zu wollen, befand sie sich plötzlich in einer ähnlichen Situation wie ihre Freundinnen, die allesamt schon feste Beziehungen hatten. Genau das hatte sie nie haben wollen. »Ich hab keine Ahnung, Mama. Wenn ich gewusst hätte, welche Schwierigkeiten man bekommen kann, wenn man erwachsen ist, hätte ich meinen achtzehnten Geburtstag ausfallen lassen. Dann könnte ich heute noch Kind sein.«

Frau Montand nickte. »Wenn das so einfach wäre, würden das vermutlich die meisten Menschen machen. Mit dem Erwachsenwerden kommt die Verantwortung. Doch ich denke, wir haben dich gut erzogen, und du wirst verantwortungsvoll mit den Möglichkeiten umgehen, die das Schicksal dir bietet.« Eva wollte noch etwas sagen, doch dann läutete das Telefon. Erschrocken schaute sie die Tochter an. »Es wird doch nicht etwas mit Catherine sein?« Sie ging zur Anrichte und nahm den Hörer ab. Nach einer Weile drehte sie sich zu Denise um. »Kannst du nachher eine Weile bei den Kindern bleiben? Catherine muss in die Klinik. Raoul ist am Telefon.«

»Natürlich kann ich«, versicherte Denise sofort. »Ich nehme Sam mit. Die Kinder werden sich freuen.« Sie trank ihre Tasse leer und stürmte davon. Sosehr die Schwägerin ihr Leid tat, freute sie sich doch darauf, mit der Nichte und den beiden Neffen etwas unternehmen zu können. Es waren die schönsten Augenblicke ihres Lebens, wenn sie mit Kindern zusammen sein konnte. Dann vergaß sie alles um sich herum. Ihre Welt war so in Ordnung.

*

Denise und ihre Freundin Stefanie verließen, nach Luft schnappend, die Schulbühne. Sie hatten ein letztes Mal vor den Ferien ›Schwanensee‹ geprobt, und erst als der Lehrer zufrieden war, durften sie gehen.

»Das hat er mal wieder prima hingekriegt«, maulte Denise und griff nach ihrer Tasche. »Mein Mittagszug ist jetzt weg. Nun kann ich über drei Stunden auf den nächsten warten. Dann wird es natürlich Abend, bis ich endlich zu Hause bin. Aber was soll’s, dafür haben wir wunderschön getanzt und können stolz auf uns sein.«

»So sehe ich das auch. Ob ich nun eine halbe Stunde früher oder später bei Jens lande, spielt ohnehin keine Rolle. Bei uns schlagen zurzeit die Wogen hoch. Ich weiß nicht, was mit ihm los ist. Sein Papi hat ihm zum 21. Geburtstag einen super tollen Schlitten geschenkt, und inzwischen hat er auch nichts mehr gegen unsere Verbindung, wenn ich verspreche, die Tanzerei nicht zu meinem Beruf zu machen, sondern sie nur als Hobby betrachte.«

Denise war stehen geblieben. Überrascht schaute sie der Freundin ins Gesicht. »Das lässt du dir gefallen?«

»Wie sagt man so schön? Ich hab die Wahl zwischen Pest und Cholera. Na ja, Jens ist nicht die Pest, aber sein Vater …«

Nun musste Denise doch kichern. Die Freundin verstand es immer wieder, aus einem großen Problem im Endeffekt zumindest kurzfristig eine Lachnummer zu zaubern. Sie waren inzwischen an Stefanies Auto angekommen, das ein Stück von der Schule entfernt auf einem öffentlichen Parkplatz stand. »Schade, dass wir uns jetzt trennen müssen. Ich hätte mich gern noch eine Weile mit dir unterhalten. In den Pausen ist immer zu wenig Zeit, um richtig miteinander zu reden. Bis ich mich warm gelaufen habe, ist die Pause meist schon wieder um.«

»Geht mir ganz genauso. Wir könnten noch etwas essen, ehe du fährst. Die letzte Zeit war so stressig, dass wir gar keine Gelegenheit hatten, uns unsere Probleme an den Kopf zu werfen. Klar, du hast ja eigentlich gar keine, aber ich könnte mal wieder ein offenes Ohr gebrauchen.« Stefanie Gehring warf ihre Tasche auf den Rücksitz. Dann schaute sie auf ihre Armbanduhr und schüttelte den Kopf. »Ich hätte noch zwei Stunden anzubieten«, stellte sie fest.

Denise jubelte. Eine Unterhaltung mit Stefanie hatte durchaus auch etwas Reizvolles. Immerhin würde sie dieses Mal nicht nur zuhören müssen, sondern konnte selbst auch etwas zum Besten geben. Schließlich hatte sie Marcel kennen gelernt, und es gab bestimmt eine Menge, das sie über ihn berichten konnte. »In knapp drei Stunden fährt meine nächste Bahn. Zwei Stunden könnte ich also bleiben.«

»Super. Dann werden wir wieder einmal ausgiebig quatschen. Immerhin sehen wir uns danach zwei Tage nicht mehr. Ich freue mich aufs Wochenende, doch irgendwie wirst du mir fehlen. Mit meinen Eltern kann man nicht so gut reden. Sie sind ziemlich altmodisch.«

»Wir haben ja auch noch die Möglichkeit, zu telefonieren. Abends bin ich meistens zu Hause.« Denise freute sich über die Worte ihrer besten Freundin. »Dann lass uns etwas essen gehen, und anschließend fährst du mich zum Bahnhof. Noch habe ich ja nicht meinen Führerschein. Aber nach Pfingsten fange ich mit dem Unterricht an. Meine Eltern und mein Bruder haben ihn mir zu meinem achtzehnten Geburtstag geschenkt«, fügte sie nicht ohne Stolz hinzu.

Der Gastraum war ziemlich voll besetzt, deshalb wählten Denise und Stefanie einen freien Tisch im Biergarten. Denise hatte Appetit auf eine Linsensuppe, während sich Stefanie für irgendeine Süßspeise entschied. Einmal in der Woche erlaubten sich beide Mädchen, etwas Verbotenes zu essen. Natürlich wussten sie, dass eine Tänzerin niemals zunehmen durfte. Denise jedoch hatte bis jetzt noch das Glück, dass ihr Körper ihr nichts übel nahm. Sie konnte essen, was sie wollte, dennoch blieb sie zierlich und sehr beweglich.

»Ich befürchte, Jens und ich steuern auf eine Trennung zu. Er kann einfach nicht akzeptieren, dass ich jetzt noch nicht bereit für eine Familie bin.« Stefanie studierte intensiv die Speisekarte. Die Buchstaben verschwanden vor ihren Augen, und fast wäre sie in Tränen ausgebrochen.

»Lass dir Zeit, Stefanie. Ich kann mir vorstellen, dass es dir sehr weh tut. Wir werden zunächst etwas bestellen, dann reden wir.« Mitfühlend legte Denise eine Hand auf den Arm der Freundin.

Stefanie nickte und lächelte. »Es tut so gut, mit dir zusammen zu sein. Ich hatte noch gar nichts erzählt, und dennoch habe ich das Gefühl, du verstehst mich auch ohne Worte.«

Als die Kellnerin kam, bestellten beide Mädchen, worauf sie Appetit hatten. Eigentlich hätten sie das auch lassen können, denn im Grunde genügten ihnen ein kühles Getränk und ein Stuhl, denn jede hatte ein Problem, das sie mit anderen besprechen wollte. Als die duftende Linsensuppe und das auffallend große Stück Schwarzwälder Kirschtorte gebracht wurden, vertieften sie sich erst einmal in ihr Essen, um Zeit zum Nachdenken zu haben.

Stefanie begann als erste zu reden. »Wenn ich heute Abend nach Hause komme, wird es bestimmt wieder Krach geben. Eigentlich wollte ich das ganze Wochenende bei Jens verbringen. Doch jetzt überlege ich, ob ich überhaupt hinfahren soll. Er wird nur Vorwürfe für mich parat haben, und deshalb bin ich fast so weit zu überlegen, ob ich mir das nicht besser ersparen soll. Er weicht keinen Zentimeter von seiner Meinung zurück, zumal sein Vater wie ein Cerberus hinter ihm steht. Ich sehe meinerseits nicht ein, dass ich meinen Traumberuf zugunsten einer Zukunft als Hausmütterchen aufgeben soll.«

Denise blickte die Freundin nachdenklich an. Eigentlich hatte sie ihr von Marcel erzählen wollen, doch das passte jetzt überhaupt nicht. »Liebst du ihn denn?«

Stefanie nickte unter Tränen. »Natürlich, sonst würde ich jetzt nicht so leiden und auch noch freiwillig diesen ganzen Mist mitmachen. Jens ist mein Traummann, er hat nur den Fehler, dass er aus sehr wohlhabendem Elternhaus stammt und hauptberuflich Sohn ist. Er kann es sich leisten, dass seine Frau zu Hause bleibt und kein eigenes Geld verdient. Immerhin wird er einmal die Firma erben, und er ist auch jetzt schon mit einem saftigen Gehalt für fast keine eigene Leistung dabei. Allein diese Vorstellung jagt mir eine Gänsehaut über den Rücken.«

»Da kann ich dich sehr gut verstehen. Für mich käme das auch nicht infrage. Ich werde, wenn ich diese Ausbildung beendet habe, noch einen anderen Beruf lernen, wenn es möglich ist.« Denise lächelte vor sich hin. »Ich träume davon, viel Zeit mit Kindern zu verbringen. Das müssen nicht zwangsläufig meine eigenen sein.« Sie lachte etwas unsicher.

»Willst du Kindergärtnerin werden? Für den Fall, dass wir keine Anstellungen bekommen, ist das eine fantastische Idee.«

Denise schüttelte den Kopf. »Ich dachte eher an Familienhelferin oder Sozialarbeiterin, irgendetwas in diese Richtung halt. Ich kann mir auch vorstellen, dass ich in einem Waisenhaus arbeite. In meiner Freizeit könnte ich dann weiterhin tanzen und eventuell auch Aufträge annehmen, wenn ich welche bekomme. Aber das ist natürlich alles Zukunftsmusik. Ob sich diese beiden Berufe tatsächlich miteinander vereinbaren lassen, weiß ich nicht. Meine Mutter findet das zwar toll, wenn das wirklich klappt, aber sie hat da ihre Zweifel. Ich kann es verstehen, denn diese Zweifel verspüre ich ebenfalls.«

»Du hast es gut. Du planst deine eigene Zukunft und schaust weder nach rechts noch nach links. So entgehst du der Gefahr, dass du einen Mann kennen lernst, der dein gesamtes Weltbild durcheinanderbringt. Mir geht es jedenfalls nicht gut damit.« Stefanie bekam langsam wieder etwas Farbe in ihre Wangen. Offensichtlich tat ihr das Gespräch mit Denise sehr gut.

Das war das Stichwort. Endlich hatte Denise die Möglichkeit, von Marcel zu erzählen. »Das stimmt so nicht ganz. Ich habe vor kurzem jemanden kennen gelernt, ohne nach rechts oder links zu blicken. Ich hab dabei sogar geschlafen.« Sie kicherte.

Stefanie schüttelte den Kopf. »Du hast ein Händchen für skurrile Situationen. Ehrlich, das, was du so nebenbei erlebst, bekommen die meisten Menschen nur durch harte Arbeit … oder so.«

»Stimmt doch gar nicht«, protestierte Denise scherzhaft. »Ich konnte nichts dafür. Er hat sich einfach neben mich gesetzt, und wir kamen ins Gespräch. Du siehst also, auch Zugfahren kann gefährlich werden. Wenn du dieser Gefahr entgehen wolltest, müsstest du dein ganzes Leben lang zu Hause im stillen Kämmerchen verweilen und warten, dass die Zeit vergeht.«

»Heißt das, du hast dich verliebt?« Neugierig forschte Stefanie im Gesicht der Freundin.

Denise errötete ein bisschen. Dann nickte sie. »Könnte sein, dass es irgendwann so sein wird«, gab sie verlegen zu.

»Ich glaub es nicht. Unsere Eiserne Jungfrau wird erwachsen. Willkommen im Club. Wer ist es denn?« Stefanie nahm einen Schluck aus ihrem Wasserglas. »Das brauche ich jetzt. Damit habe ich ja nun überhaupt nicht gerechnet. Erzähl schon. Du weißt, dass ich ein sehr neugieriger Mensch bin.«

Denise holte tief Luft. Noch immer verlegen betrachtete sie ihre Fingerspitzen. »Er saß im Zug plötzlich neben mir. Das heißt, er wollte sich setzen, aber da stand meine Tasche. Er fragte, ob er sich setzen dürfe, und ich habe seinem Gesicht angesehen, dass es ihm nicht gut geht. Zumindest dachte ich das. Als er dann neben mir saß, fragte ich ihn, ob ihm helfen könne.«

Stefanie brach in helles Lachen aus. »Denise, die gute Seele, immer im Dienst, wenn ein trauriges Gesicht sie anschaut.«

»Sag nicht so was. Die ganze Geschichte ist mir ohnehin peinlich genug. Ich habe mich dann um Kopf und Kragen geredet, weil er mein Angebot, ihm zu helfen, vermutlich genauso witzig fand wie du. Schließlich hatten wir ein Date für den Samstag.«

»Du bist tatsächlich hingegangen? Erzähl endlich. Was habt ihr getrieben? Wart ihr spazieren, wie es deiner Natur entspricht, oder habt ihr irgendetwas anderes unternommen?« Stefanie war richtig aufgeregt.

»Wir waren in Baden-Baden in einem neuen Café. Es war sehr nett, und nach zwei Stunden war ich wieder zu Hause. Eine Woche später haben wir uns wieder getroffen.«

»Oh, das klingt vielversprechend. Warum hast du es mir nicht längst erzählt? Ich hätte das erste Date schon nicht für mich behalten können. Dann seid ihr jetzt also so was Ähnliches wie ein Paar.«

»Nach zwei Treffen ist man doch noch kein Paar«, protestierte Denise. »Wir haben uns noch nicht mal geküsst.«

»Er hat es nicht versucht?«

Denise schüttelte den Kopf. »Nicht richtig. Das hätte ich ihm auch nicht geraten. Wir kannten uns ja kaum.«

»Was habt ihr gemacht? Ich meine, bei eurem zweiten Date.«

»Wir waren im Kino. Das war meine Idee.«

»Wie klug von dir. Wenn das Licht ausgeht, kann man sich näher kommen, ohne dass man sich dabei ansehen muss. Hat er deine Hand gehalten? Welchen Film habt ihr angeschaut? Sag doch endlich was. Man muss ja alles aus dir herauslesen.«

»Ich wollte Stadt der Engel sehen. Ein wunderschöner Film, den ich dir wärmstens empfehlen kann. Ich war so beeindruckt, dass ich fast angefangen hätte zu heulen. Und der Engel war wunderschön. Nicolas Cage ist einfach ein toller Mann. In den könnte ich mich sofort verlieben. Ich glaube, da würde ich mich auch nicht wehren, wenn er mich küssen wollte.«

»Ich dachte, er heißt Marcel.« Stefanie liebte es, die Freundin ein wenig zu necken.

»Du bist so unromantisch, Stefanie. Ich frage mich wirklich, warum ich dir von meiner Eroberung erzählt habe.« Gespielt zornig verzog Denise das Gesicht. Hastig löffelte sie den letzten Rest ihrer Linsensuppe, die inzwischen kalt geworden war.

»Sei nicht sauer, Denise. Irgendwie beneide ich dich. Du stehst erst am Anfang einer möglichen Beziehung, und meine geht vermutlich gerade mit Pauken und Trompeten zu Ende. Dabei habe ich eigentlich keinen Fehler gemacht, zumindest erkenne ich keinen Fehler. Wenn ich dir so zuhöre, stelle ich fest, dass es diese Art der Romantik bei uns nie gegeben hat. Vielleicht ist Jens gar nicht der Richtige. Aber es tut so weh, wenn man sich eingestehen muss, dass man verloren hat.« Stefanie kämpfte mit den Tränen.

Es fiel Denise schwer, ihr Mitleid für sich zu behalten. Stefanie hätte es nichts geholfen. Das einzige, was sie tun konnte, war es, der Freundin zuzuhören und nach Lösungen für sie zu suchen. »Wie würde Jens reagieren, wenn du ihn um ein ehrliches Gespräch bitten würdest?«

»Das kann ich dir ganz genau sagen. Er würde mir gönnerhaft erklären, dass ich mir alles nur eingebildet hab. Es ist alles in Ordnung zwischen uns, nur ich bin diejenige, die mal wieder die Flöhe husten hört. So würde er sich ausdrücken. Und wenn ich dann anfange, mich zu freuen, holt er zum Schlag aus und sagt, dass aus uns kein Paar werden kann, solange ich nach meiner Ausbildung als Tänzerin arbeiten will. In eben diesem Sinne würde er sich äußern. Doch sei ehrlich, Denise, wozu machen wir das alles? Diese Ausbildung ist nicht immer nur angenehm. An manchen Abenden tut mir jeder Knochen weh.« Stefanie schob sich ein großes Stück ihrer Schwarzwälder Kirschtorte in den Mund. »Wenn ich Kummer habe, könnte ich eine ganze Torte allein aufessen, Figur hin oder her«, murmelte sie kauend.

»Recht hast du.« Denise unterdrückte ein lautes Lachen. »So gefällst du mir schon besser. Nur nicht unterkriegen lassen. Wenn du den festen Wunsch hast, als Tänzerin zu arbeiten, dann lass es dir von niemandem ausreden. Würde Jens dich wirklich lieben, würde er klein beigeben. Und sein Vater auch. So kannst du erfahren, wie ehrlich die Gefühle deines Freundes sind. Er müsste deine Haltung akzeptieren.«

»Ich bin so froh, dass du meine Freundin bist, Denise. Mit wem könnte ich wohl sonst meine Probleme besprechen, wenn nicht mit dir. Du bist der einzige Mensch, der mich versteht. Natürlich möchten meine Eltern ebenfalls, dass die Beziehung mit Jens klappt. Mutter sagt immer, wenn du Jens heiratest, dann hast du ausgesorgt. Ich hab den Verdacht, dass sie mir es nicht verzeihen würde, wenn das mit Jens auseinandergeht.«

Hastig blickte Denise auf ihre Armbanduhr. Sie hatte gar nicht gemerkt, wie die Zeit vergangen war. »Ich könnte noch stundenlang mit dir sitzen und Probleme wälzen«, sagte sie bedrückt. »Aber in einer halben Stunde geht mein letzter Zug. Wenn ich den verpasse, kann ich erst morgen früh wieder fahren.«

»Klar, habe ich schon ganz vergessen.« Stefanie hob den Arm, um den Kellner heranzuwinken, weil sie bezahlen wollten. Sie schafften es gerade noch rechtzeitig zum Bahnhof, denn der Zug stand bereits auf seinem Gleis. Denise sprang hinein, und sofort schlossen sich alle Türen und er begann, langsam anzufahren. Denise hatte einen Fensterplatz erwischt und winkte nun, solange sie die Freundin sehen konnte. Dann lehnte sie sich in ihrem Sitz zurück und schloss die Augen. Das gleichmäßige Rattern der Räder wirkte so beruhigend auf sie, dass sie wenig später eingeschlafen war. Erst kurz vor Baden-Baden wachte sie wieder auf. Sie freute sich auf das Wochenende, das vor ihr lag.

*

Catherine lag auf der Untersuchungsliege im Krankenhaus und hatte einfach nur Angst. Raoul hatte sich einen Stuhl geholt, saß neben ihr und hielt ihre Hand, um sie zu beruhigen. Dabei war ihm selbst übel vor Aufregung. Catherine war jetzt im sechsten Monat, und das Kind würde so gut wie keine Überlebenschance haben, wenn es jetzt geboren wurde.

Endlich kam der Arzt. Er grüßte freundlich, lächelte sogar, doch man konnte ihm die Müdigkeit ansehen, die ihm ins Gesicht geschrieben stand. Sicher hatte er eine lange Nacht hinter sich, was seine folgenden Worte bestätigten. »Entschuldigen Sie bitte, dass es etwas gedauert hat. Die letzten Tage scheinen sich sämtliche Babys aus der Umgebung dafür entschieden zu haben, geboren zu werden.

Er streifte seine Handschuhe über, zog die Untersuchungsleuchte in die richtige Position und begann mit der Untersuchung. Als er fertig war, drehte er sich zu Raoul um. »Ich denke, es ist noch kein Grund, sich zu große Sorgen zu machen. Dem Kind geht es gut, allerdings müssen Sie, liebe Frau Montand, jede Aufregung und auch jede Anstrengung meiden. Suchen Sie sich eine Hilfe für den Haushalt, und schonen Sie sich, so gut es geht. Dann steht einer termingerechten Geburt nichts im Wege.«

Catherine atmete erleichtert auf, und auch Raoul seufzte verhalten. »Darf ich meine Frau wieder mit nach Hause nehmen, oder sollte sie nicht lieber ein paar Tage stationär…?« Er brach ab, als er in Catherines zorniges Gesicht blickte. »Nein, ich denke, sie ist zu Hause besser aufgehoben«, versicherte er sofort.

Der Arzt hatte schmunzelnd das kleine Zwischenspiel beobachtet. Ganz deutlich spürte er die Liebe, die zwischen den beiden jungen Menschen herrschte und die viele Worte unnötig machte. Drei Kindern hatte er bis jetzt ans Licht der Welt geholfen, und auch das vierte würde gesund geboren werden. Das hoffte er jedenfalls.

»Können wir gehen?«, fragte Catherine, die sich längst wieder angezogen hatte. So schwerfällig sie sich auch bewegte, wenn sie etwas erreichen wollte, nahm sie all ihre Kräfte zusammen und schaffte auch, was sie sich vorgenommen hatte. »Denise wird mir helfen«, sagte sie zu dem Arzt, als sie ihm die Hand zum Abschied reichte.

»Denise?«

»Meine Schwägerin. Sie kann wundervoll mit Kindern umgehen«, erklärte Catherine stolz. Sie selbst stammte aus einem ziemlich zerrütteten Elternhaus, hatte nie eine richtige Familie gehabt. Umso glücklicher war sie, bei ­Raoul und seinen Angehörigen eine Heimat gefunden zu haben. Das sagte sie jedem, ob er es hören wollte oder nicht.

»Na, dann ist ja für alles gesorgt. Ich kann Sie beruhigt nach Hause entlassen.« Der Arzt verabschiedete sich von seiner Patientin und ihrem Mann, gab ihr noch einige Ratschläge mit auf den Weg und verließ eilig den Untersuchungsraum.

Catherine atmete erleichtert auf. Sie strich sich die schulterlangen hellbraunen Haare zurück, die sie in der Eile heute früh nicht einmal gekämmt hatte. »Ich will nur noch auf mein Sofa«, stellte sie lachend fest. »Es geht mir inzwischen auch wieder viel besser. Ich könnte Bäume ausreißen.«

Raoul warf ihr einen zweifelnden Seitenblick zu. »Bist du sicher?«

Catherine lachte. »Du kennst mich doch, Schatz. Wenn es mir nicht gut geht, lasse ich gern alle daran teilhaben. Also entspann dich und freue dich, dass der Arzt Entwarnung gegeben hat. Jetzt bin ich wieder zuversichtlich, dass wir das letzte Vierteljahr auch noch hinkriegen werden.« Sie lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. »Ob wir Denise wirklich für uns einspannen dürfen?«, fragte sie aus ihren Gedanken heraus.

»Ich werde mit Eva reden. Sie kennt unsere Kleine am besten. Ab nächste Woche sind Ferien. Ich bin sicher, dass Denise sich gern um unsere Kinder kümmern wird. Und falls sie keine Zeit hat, werde ich mich um eine Haushaltshilfe bemühen. Wir werden die Zeit schon irgendwie meistern.« Für einen kurzen Moment legte er seine Hand auf ihre, um ihre Nähe zu spüren. Das beruhigte ihn immer sehr, denn die Angst, Catherine zu verlieren, begleitete ihn.

Denise wartete bereits aufgeregt an der Haustür. »Da seid ihr endlich. Ich hatte schon überlegt, ob ich im Krankenhaus anrufen kann. Doch vermutlich hätte ich keine Auskunft bekommen.«

Raoul schüttelte den Kopf. »Nein, sie dürfen dir nichts sagen. Aber sicher hätten sie mich informiert, dass du angerufen hast. Du musst dir keine Sorgen mehr machen, Schwesterchen. Mit Cathe­rine und dem Baby ist alles in Ordnung. Sie muss sich nur schonen.«

»Das kann sie die nächsten Tage tun. Ich hab doch Ferien. Wenn ihr wollt, werde ich euch jeden Nachmittag die Kinder abnehmen, Geschirr spülen und saugen. Dann kann Catherine sich in den Garten legen und ausruhen.« Denise strahlte übers ganze Gesicht. Die Aussicht, für ein paar Tage bei Bruder und Schwägerin die Hausfrau spielen zu dürfen, gefiel ihr ausgesprochen gut. Sie würde jeden Tag mit den Kindern an den Bach gehen, und dann würden sie tanzen und dem Wasser zusehen, wie es über die Steinchen plätscherte.

Raoul umarmte sie überschwänglich. »Du bist doch die Beste, Schneewittchen. Was würden wir tun, wenn wir dich nicht hätten? In unserem Leben würde etwas ganz Wichtiges fehlen.« Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. Dann fiel sein Blick auf den Stapel Briefe, den Denise auf den Wohnzimmertisch gelegt hatte. »So viel Post heute?«

»Ein Päckchen war auch dabei, für Catherine. Ich glaube, das ist von einem Hersteller für Babynahrung.« Denise lief nach draußen und kam mit einer großen Schachtel zurück, die sie Cathe­rine in die Arme legte.

Inzwischen hatte Raoul die Post sortiert und einen Brief zurückbehalten. »Das darf nicht wahr sein. Sie kapiert es einfach nicht. Der geht wieder zurück an den Absender.« Wütend knallte Raoul den Brief auf den Tisch.

Catherine schaute ihn fragend an. »Ist er wieder von …« Sie zögerte, denn sie wusste, dass ihr Mann sehr böse werden konnte, wenn man seine Anweisungen nicht beachtete. Dass er so zornig war, konnte nur eines bedeuten, nämlich dass diese Frau ihm in den letzten Wochen schon öfter die Ruhe geraubt hatte.

»Karin hat schon wieder geschrieben«, zischte er. Sein Gesicht war ungewöhnlich blass, und die Zornesader an seiner Schläfe trat so dick hervor, dass man das Pulsieren des Blutes genau erkennen konnte.

Verwundert beobachtete Denise die Veränderung, die plötzlich mit ihrem Bruder vor sich ging. »Was ist denn los? Ist es so schlimm, dass deine Mutter dir schreibt?«

Raoul wurde noch zorniger. »Eva ist meine Mutter. Karin hat sich vor vielen Jahren gegen ihre Familie entschieden, jetzt hat sie keine mehr. Meistens lass ich die Briefe zurückgehen, wenn ich rechtzeitig am Briefkasten bin und sie abfangen kann. Ich habe ihr auch schon per Einschreiben geschrieben, dass sie es unterlassen soll, Kontakt zu uns zu suchen. Es ist eine Frechheit.«

Catherine legte den Zeigefinger an ihre Lippen, was bedeutete, dass Raoul nicht weiter sprechen sollte. Der jedoch beachtete dieses Zeichen gar nicht. Stöhnend ließ er sich auf das Sofa fallen und fuhr sich mit beiden Händen durch sein dichtes dunkles Haar. »Ich weiß selbst nicht, warum ich mich jedes Mal so darüber aufrege. Allein der Name ist schon ein rotes Tuch für mich. Ich glaube, ich hasse sie.«

»Hass und Liebe gehen Hand in Hand«, sagte Denise leise. »Das haben wir in der Schule gelernt, und ich kann mir gut vorstellen, dass da etwas dran ist. Es gibt Menschen, denen ist es egal, ob man für sie Hass oder Liebe empfindet, Hauptsache man empfindet überhaupt etwas für sie. Sie gehören zu den Ärmsten der Armen, denn meistens stehen sie ganz allein in ihrem Leben.«

»Das hast du wunderschön gesagt, Schneewittchen, aber ich will so etwas nicht hören, nicht in Verbindung mit dieser Frau. Als Karin uns damals bei Nacht und Nebel verlassen hat, wussten weder mein Vater noch ich, wie es weitergehen sollte. Vater war damals noch ein angesehener Chirurg und hatte eine Erfolg versprechende Karriere vor sich. Plötzlich stand er mit leeren Händen und einem kleinen Kind da. Es war sehr schwer für ihn, mit seiner und mit meiner Verzweiflung irgendwie fertig zu werden.«

Denise, die eigentlich hatte nach Hause gehen wollen, setzte sich wieder. Bis jetzt hatte sie nur gewusst, dass der Vater schon einmal verheiratet gewesen war, dass Raoul aus dieser Ehe stammte und beide mit dieser Frau nichts mehr zu tun haben wollten. Alles andere war nie zur Sprache gekommen. »Aus welchem Grund hat Karin denn die Familie verlassen? Hat sie sich mit unserem Vater nicht mehr verstanden?«

Catherine schüttelte den Kopf. »Soweit ich informiert bin, hat sie sich in einen anderen Mann verliebt und ist zu ihm gezogen. Damals war es ihr egal, was aus ihren beiden Männern wird. Sie hatte nur ihr eigenes Glück im Sinn.« Sie merkte, dass es ihrem Mann noch immer sehr schwerfiel, über die Vergangenheit zu sprechen. Dennoch war sie der Meinung, dass Denise das Recht hatte, alles zu erfahren. »Es ist doch in Ordnung, wenn ich weiterspreche. Denise soll wissen, was damals vorgefallen ist.«

Raoul winkte ab. »Ich hab damit kein Problem, solange unser Vater nicht damit behelligt wird. Er hat lange genug gelitten unter dieser treulosen Person. Karin war, wie man so schön sagt, ein leichtes Mädchen. Wenn ihr ein Mann gefiel, musste sie ihn haben. Vater hat das nie geglaubt, auch nicht, als ich ihm erzählte, dass ich sie in der Stadt mit einem anderen Mann getroffen hatte. Es war ihr nicht einmal peinlich, dass ich sie dabei erwischt habe, wie sie einen anderen küsste. Ich war noch nicht mal zehn Jahre alt, als dieser Zirkus anfing. Diese Frau hat mich geprägt fürs ganze Leben, negativ geprägt. Erst Catherine hat aus mir wieder einen normalen Mann gemacht. Das werde ich meiner Liebsten nie vergessen.« Raouls Mund zuckte.

So hatte Denise den Bruder noch nie erlebt. Würde er jetzt einen Wutanfall bekommen oder in Tränen ausbrechen? Beides war möglich. »Vielleicht sollten wir das Thema beenden«, wandte sie sich an ihre Schwägerin. »Es tut Raoul nicht gut, wenn er mit der Vergangenheit konfrontiert wird. Du kannst mir die Hintergründe ein anderes Mal erzählen.«

»Erzähl unserem Vater nichts von dem Brief«, bat Raoul jetzt mit sanfter Stimme. »Es tut mir leid, Schneewittchen, wenn ich dich erschreckt habe. Das wollte ich nicht. Doch als ich den Brief sah, sind bei mir sämtliche Sicherungen durchgebrannt.«

»Vielleicht solltest du den Brief lesen«, warf Denise ein. »Es könnte ja sein, dass etwas Wichtiges drin steht, das du wissen solltest. Sie wird nicht ohne Grund geschrieben haben. Soll ich ihn für dich lesen?«, schlug Denise vor.

»Der Brief wird ungelesen vernichtet. Niemand hat ihn angefordert, und er ist auch für niemanden von Interesse.« Raoul war wild entschlossen, alle Annäherungsversuche seiner leiblichen Mutter zu ignorieren. »Und du erzählst zu Hause kein Wort davon, versprochen? Vater würde wieder in ein tiefes Loch fallen. Ich möchte ihn nicht noch einmal so leiden sehen, nur weil diese Frau sich einbildet, sie müsste plötzlich wieder Kontakt mit uns halten. Das hätte sie sich früher überlegen müssen. Jetzt ist es zu spät. Also, du hältst den Mund, Denise.«

So ernst und bestimmend hatte er noch nie geklungen. Denise wurde es richtig kalt beim Klang seiner Stimme. Sie nickte nur, dann erhob sie sich. »Ich werde jetzt gehen. Und ich sag Paps nichts davon. Du kannst dich auf mich verlassen. Und morgen Nachmittag bin ich da und kümmere mich um die Kinder. Du kannst ruhig arbeiten gehen, ­Raoul.« Noch ehe jemand etwas sagen konnte, hatte sie bereits das Haus durch die Terrassentür verlassen. Sie würde ihr Versprechen halten und dem Vater nichts erzählen. Doch sie hatte nicht versprochen, den Brief auch vor der Mutter zu verheimlichen. Plötzlich hatte es Denise sehr eilig.

*

»Rafael Steiner hat angerufen. Er möchte, dass du ihn zurückrufst. Es klang ziemlich wichtig.« Eva war ganz aufgeregt. Ausgerechnet heute hatte Denise länger geschlafen, und sie wollte sie auch nicht wecken, denn am gestrigen Abend war sie ziemlich spät von Catherine zurückgekommen. Des­halb hatte sie auch noch keine Gelegenheit gehabt, mit ihrer Mutter über den Brief zu reden.

»Rafael? Ich hab nichts angestellt, falls du das meinst. Außerdem ist Wochenende, und die Schule hat Montag und Dienstag wegen Renovierung geschlossen. Es muss schon etwas wirklich Wichtiges sein, wenn er außerhalb der Schule anruft. Nach dem Kaffee werde ich mich bei ihm melden.«

»Deine Nerven möchte ich haben.« Eva seufzte. »Ich sitze den ganzen Morgen schon wie auf glühenden Kohlen. Was könnte er von dir wollen? Trink deinen Kaffee doch nach dem Telefonat«, schlug sie aufgeregt vor.

Denise tat der Mutter den Gefallen. Als sie wenig später ins Esszimmer zurückkehrte, waren ihre Wangen leicht gerötet, und in ihren Augen lag ein Leuchten, das aus ihrem Inneren zu kommen schien. »Ich soll Schwanensee tanzen«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Es ist eine kleine Aufführung auf einer provisorischen Bühne. Doch es ist ein Anfang. Ich werde kein Honorar bekommen, aber die Presse ist dabei. Das ist mir viel wichtiger. Ihr meint doch auch, dass ich das machen soll?«

Pierre, der inzwischen gekommen war, sah von seinem Fachbuch auf. Natürlich hatte er nicht gelesen, sondern der Erklärung seiner Tochter unauffällig zugehört. Er nickte bedächtig. »Jeder hat mal klein angefangen, und ich bin mächtig stolz auf dich. Dürfen wir als deine Familie auch dabei sein?«

»Eher nicht«, antwortete Denise traurig. »Es ist ein Firmenjubiläum, und ich vermute, die Leute wollen unter sich sein. Ihr werdet noch viele Auftritte von mir sehen können«, versicherte sie. »Zum Glück findet diese Veranstaltung nicht während der Ferien statt, sondern zwei Wochen später. Ich hatte schon befürchtet, dass ich mein Versprechen, das ich ­Catherine gegeben habe, nicht einhalten kann.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, fiel ihr auch dieser Brief wieder ein, der für so viel Aufregung gesorgt hatte. Sie musste unbedingt die Mutter allein sprechen, doch im Moment machte der Vater keine Anstalten, aufzustehen. »Hast du heute keine Sprechstunde?«

»Seit wann fragst du mich so etwas? Hör ich da etwa heraus, dass du mich los sein willst?« Er grinste schelmisch und ahnte gar nicht, wie nahe er der Wirklichkeit gekommen war. »Ich habe für heute Vormittag keine Termine vergeben lassen, weil ich nachher mit dem Auto in die Werkstatt muss. Irgendetwas klappert, wenn ich schneller fahre als fünfzig. Hoffentlich ist es nicht das Radlager.« Seufzend legte er das Buch auf den Tisch und erhob sich. »Ich würde euch gerne Gesellschaft leisten, aber jetzt muss ich mich tatsächlich beeilen, sonst komme ich zu spät zum Termin. Dann nehmen die vielleicht einen anderen dran statt meinen Wagen.« Pierre küsste erst seine Frau zärtlich auf den Mund, dann bekam auch Denise ein Küsschen auf die Wange. »Bis zum Mittagessen bin ich wieder zurück.«

»Jetzt schieß los, Denise. Ich merke doch, dass dir etwas auf der Seele brennt. Was ist es? Hat es mit der Schule zu tun? Oder ist es ein Geheimnis, das du niemandem weitererzählen darfst?« Eva war ganz aufgeregt. Sie sprang von ihrem Stuhl auf und begann Dinge wegzuräumen, obwohl sie gar nicht störten. »Nun erzähl schon«, wiederholte sie und blieb vor Denise stehen.

»Raoul hat mir verboten, es Paps zu sagen. Ich habe versprochen, dass ich meinen Mund halte. Von dir hat keiner etwas gesagt.« Denise grinste, wurde jedoch gleich wieder ernst. »Ich bin mir gar nicht sicher, dass es gut ist, wenn ich es dir erzähle. Im Gegenteil, ich habe plötzlich ein ganz ungutes Gefühl dabei.«

»Ein ungutes Gefühl, wenn du es mir erzählst?«

»Nein, überhaupt. Ich werde das Gefühl nicht los, dass über uns eine dunkle Wolke schwebt. Ein Windhauch, und sie platzt, und es regnet auf uns herunter.«

»Jetzt rede schon, Denise.« Die Mutter wurde ungeduldig. »Geht es um Catherine? Oder hat Raoul das Eheleben satt? Spann mich doch nicht so auf die Folter.«

»Es geht um einen Brief«, murmelte Denise nachdenklich. »Ich möchte nur wissen, was sie geschrieben hat. Hoffentlich hat ­Raoul ihn nicht wirklich weggeworfen.«

»Willst du mich ärgern, oder merkst du gar nicht, wie du auf meinen Nerven herumreitest?«

»Entschuldige bitte, Mam. ­Raoul hat einen Brief von seiner… von Karin bekommen. Ich habe erfahren, dass sie ihm schon öfter geschrieben hat und er ihr sogar mit Polizei drohte, wenn sie nicht aufhörte, ihn zu belästigen.« Gespannt wartete Denise auf die Reaktion ihrer Mutter.

Ganz deutlich spürte sie, dass es in Ihrer Familie ein Geheimnis gab, über das niemand sprechen wollte.

»Und wo ist jetzt dieser Brief?«

»Raoul wollte ihn wegwerfen, doch ich habe ihn gebeten, ihn vorher zu lesen. Man weiß ja nie, was in so einem Brief drin steht. Vielleicht ist es ja wichtig.«

Eva schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich hätte nicht gedacht, dass ich von Karin noch einmal etwas hören werde. Ehrlich gestanden, es stimmt mich nicht gerade fröhlich. Womöglich will sie ihren Sohn besuchen und ihre Enkelkinder. Allerdings könnte das Probleme bereiten.«

»Das habe ich gestern schon gemerkt. Raoul ist regelrecht ausgeflippt, als ich ihm die Post gegeben habe. Ich hatte gehofft, dass er uns den Brief vorlesen würde, aber er hat es nicht getan. Stattdessen hat er mir eingeschärft, dass ich zu Hause nichts von dem Brief sagen dürfe, weil Paps sich sonst zu sehr aufregt.« Gespannt wartete Denise darauf, was die Mutter jetzt erzählen würde. Doch nichts dergleichen geschah.

»Raoul wird schon wissen, was richtig ist. Immerhin ist es seine Mutter.«

»Da irrst du dich, Mam. Raoul sagt, du bist seine Mutter, und er will auch keine andere. Karin hat ihn lediglich geboren, und das gibt ihr noch lange nicht das Recht, sich immer wieder bei seiner Familie in Erinnerung zu bringen. Ich möchte nur wissen, was damals wirklich passiert ist. So viele Paare trennen sich und können später dennoch zumindest wichtige Dinge miteinander bereden. Was ist zwischen Pierre und Karin vorgefallen?«

»Ich war nicht dabei, und Pierre hat mir auch nur das Nötigste erzählt. Einiges habe ich auch von Raoul erfahren, als er noch Kind und die Eindrücke ganz frisch waren. Karin war wohl nie eine gute Ehefrau und Mutter. Der Erzählung nach war sie ein krasser Egoist. Sie brauchte wie die Luft zum Atmen die Anerkennung der Männer. Dass der eigene Mann in inniger Liebe an ihr hing, genügte ihr nicht. Raoul hat seine Mutter wohl einige Male in der Stadt mit wechselnden Männern erwischt. Das war kein schöner Anblick für einen Jungen von zehn Jahren.«

»So ähnlich hat es Raoul gestern auch angedeutet. Mehr wollte er nicht sagen. Es muss die Hölle für ihn gewesen sein, besonders, da dies gerade die Zeit der Pubertät war. So etwas prägt einen Menschen fürs ganze Leben.« Eva bemerkte, wie Denises Mitleid mit dem Bruder immer größer wurde.

»Er hat sein Leben inzwischen aber im Griff«, sagte die Mutter nicht ohne Stolz. »Ich denke, ich hab das ganz gut hingekriegt. ­Raoul war die ersten Jahre ein Problemkind. Als ich ihn kennenlernte, war er bereits einige Zeit in Therapie. Allerdings hat die nicht allzu viel gebracht. Raoul war aufmüpfig, manchmal sogar bösartig. Wenn man ihm widersprach, konnte es passieren, dass er nach irgendeinem Gegenstand griff und ihn gegen die Wand schleuderte.«

»Das kann ich mir gar nicht vorstellen«, murmelte Denise entsetzt. »Raoul ist die Geduld und Sanftheit in Person. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass er einmal so ein Rebell gewesen sein soll.«

»Er war kein Rebell, er hat ganz einfach gegen die Behandlung protestiert, die seine Mutter ihm hat angedeihen lassen. Ähnliche Problemkinder gab es hin und wieder auch in meinen Klassen. Ich hatte also ein bisschen Erfahrung darin, wie man mit solchen Menschen umgehen muss, wenn man ihnen helfen will. Dennoch hat es Jahre gedauert, bis Raoul zu einem glücklichen Menschen wurde. Richtig glücklich war er erst, als ihm seine Catherine über den Weg lief.«

»Wie hat denn Paps das alles überstanden?«

»Gar nicht. Ich glaube, diese tiefen Wunden sind in ihm noch immer ziemlich frisch. Ich darf Karin mit keinem Wort erwähnen, und manchmal, wenn er schweigend am Fenster steht und nach draußen starrt, habe ich das Gefühl, er denkt über diese erste Ehe nach. Ich kenne Karin nicht, doch sie muss etwas an sich gehabt haben, das ihn in ihren Bann gezogen hat. Also hüte dich, ihm gegenüber diesen Brief zu erwähnen.«

Jetzt hatte Denise zwar einiges über die Vergangenheit ihrer Eltern und ihres Bruders erfahren, doch im Grunde genommen brachte sie das kein Stückchen näher zum Inhalt des Briefes. Dabei war das doch eigentlich das Wichtigste. »Lassen wir das Thema einfach. Wenn es wichtig war, was in dem Brief stand, werden wir es schon erfahren. Allerdings kann es dann zu spät sein, um irgendetwas zu unternehmen.« Denise ahnte gar nicht, wie nahe sie der Realität gekommen war. Sie wusste nun in groben Zügen, was sie hatte erfahren wollen. Das musste erst mal genügen. »Ich werde mit Sam eine kleine Runde drehen und nachdenken«, entschied sie. Dann gab sie der Mutter einen zärtlichen Kuss auf die Wange und lief davon.

Eva saß noch längere Zeit unbeweglich auf dem Sofa, als hätte ein Blitz sie angerührt. Eine Gänsehaut jagte die andere, und endlich kam sie zu dem Schluss, dass Denise nicht unrecht gehabt hatte. Über ihnen schwebte eine große dunkle Wolke. Wann sie sich über ihren Häuptern ergießen würde, war noch ungewiss. Doch dass dieser Tag nicht mehr fern war, war ganz deutlich erkennbar. Eva schauderte.

*

Noch während der Umbauarbeiten musste Denise zurück in die Schule. Zwar fand kein Unterricht statt, doch Rafael Steiner wollte noch einmal mit ihr üben, ehe er den Geschäftsleuten, die schon öfter eine Tanzgruppe bei ihm gebucht hatten, zusagte. Marcel hatte sich den Tag freigehalten, denn er wollte sie fahren. Die unselige Geschichte mit dem Kino hatte er ganz nach hinten verdrängt, denn er wollte Denise zugute halten, dass sie noch sehr jung war. Es handelte sich lediglich um einen Tagesausflug, denn mehr als drei Stunden hatte der Lehrer nicht zum Üben angesetzt.

»Du siehst so müde aus, Denise. Kann ich dir irgendwie helfen?« Immer wieder warf Marcel seiner Beifahrerin einen forschenden Seitenblick zu. »Bist du sicher, dass du diesen Auftrag annehmen willst? Ich hatte eher den Eindruck, dass du Ruhe nötiger brauchst als Aufträge.«

Denise schüttelte den Kopf. »Ich brauche keine Ruhe. Ich brauche Ablenkung. Bei mir zu Hause schlagen im Augenblick die Wogen ziemlich hoch, und ich hab manchmal das Gefühl, ich müsste mir eine Tarnkappe aufsetzen und fliehen. Doch das wäre meinen Eltern gegenüber nicht fair. Außerdem können beide nichts dafür, dass diese Geschichte dumm gelaufen ist.«

»Hast du etwas ausgefressen?«

»So etwas würde ich nie tun«, versicherte Denise mit einem leichten Grinsen. »Ich kann dir auch nicht erzählen, worum es geht. Es ist eine alte Familienangelegenheit. Und jetzt lass uns von etwas anderem sprechen.«

Die restliche Fahrt verlief ziemlich fröhlich, denn Marcel ließ seinen ganzen Charme spielen, um Denise aufzumuntern. Während sie später mit ihrem Lehrer ihren Part bei Schwanensee mehrmals probte, machte es sich Marcel in einem kleinen Gasthof gemütlich. Sie hatten sich für sechzehn Uhr verabredet, da sollte Marcel Denise wieder abholen.

Fast eine Stunde später als verabredet verließ Denise endlich die Schule. Sie wirkte angespannt und ziemlich müde. Die Pläne, die Marcel für den Abend gemacht hatte, fielen natürlich ins Wasser. Er wagte nicht einmal sie zu fragen, ob sie zu später Stunde etwas essen gehen wolle. Im stillen Einverständnis fuhren sie also gleich nach Hause. Es waren fast zwei Stunden Fahrt, und die brachten sie schweigend hinter sich.

Erst als sie die Autobahn verließen, zeigte Denise wieder etwas Lebendigkeit. »Ich weiß nicht, ob ich das schaffe. Hätte ich das Angebot nur nicht angenommen. Ich werde mich blamieren, das spüre ich.« Ihre Stimme zitterte, fast wäre sie in Tränen ausgebrochen.

»Deine Ängste sind völlig unbegründet.«

»Woher willst du das wissen? Du hast mich ja noch nie tanzen gesehen.«

Marcel schüttelte kaum merklich den Kopf. »Das nicht, aber ich kenne dich inzwischen ganz gut. Dein Ehrgeiz ist grenzenlos. Wenn du dir etwas in den Kopf setzt, dann führst du das auch durch. Also hör auf, dir unnötig das Leben schwer zu machen. Du wirst es machen, und du wirst es schaffen. Ich glaube ganz fest daran.«

»Wenn ich nur wüsste, dass du Recht hast, wäre mir bedeutend wohler. Drei Wochen habe ich noch zum Üben. Rafael meinte, ich müsste mindestens noch einmal in den Ferien kommen, damit ich das, was er mir heute beigebracht hat, nicht wieder verlerne.«

»Sag mir rechtzeitig Bescheid, dann fahre ich dich wieder.«

»Das ist lieb von dir, danke.«

»Du bedeutest mir etwas.« Mit angehaltenem Atem wartete Marcel auf ihre Reaktion. Irgendetwas musste sie schließlich zu dem sagen, was er gerade angedeutet hatte.

Denise schaute starr vor sich hin. Zuerst war sie bei seinen Worten erschrocken gewesen, und inzwischen zweifelte sie daran, ob er es wirklich gesagt oder sie es vielleicht nur gedacht hatte. Sie entschloss sich, die zweite Möglichkeit zu glauben. Es passte nicht zu Marcel, irgendwelche Gefühlsäußerungen von sich zu geben.

»Ist das alles?«

»Wie meinst du das? Natürlich freue ich mich, wenn du mich wieder fährst. So können wir uns unterhalten und haben ziemlich viel Spaß zusammen.« Kaum hatte sie es ausgesprochen, fragte sich Denise, ob er tatsächlich glaubte, dass sie viel Spaß mit ihm hatte. Unbemerkt war ihr eine faustdicke Lüge über die Lippen gerutscht.

»Wir sind da. Bestell deinen Eltern einen schönen Gruß von mir. Ich werde ebenfalls gleich nach Hause fahren und versuchen, eine Erkältung abzumildern, indem ich mich mit einem Glas Honigmilch ins Bett verziehe.« Er hüstelte demonstrativ vor sich hin.

Für einen kurzen Moment legte Denise ihm ihre Hand auf den Arm.

»Wenn du etwas brauchst, lass es mich wissen.«

»Auch wenn ich dich brauche?«, bemerkte Marcel mit einem leicht anzüglichen Unterton in der Stimme.

»Ich kann dir zu essen mitbringen, und ich kann dir auch einen Tee kochen«, schlug sie vor.

»Ich werde auf dein Angebot zurückkommen, falls es nötig ist.«

Denise lachte beim Aussteigen, drehte sich noch einmal zu ihm um und warf ihm eine Kusshand zu. Dann lief sie eilig auf das Haus zu. Wenn sie Glück hatte, waren die Eltern gerade beim Abendessen. Wieder einmal stellte sie fest, wie schön ihr Leben doch war. Den unheimlichen Brief hatte sie längst vergessen.

*

»Was willst du von mir, Manfred? Als du bei mir damals eingezogen bist, sollte es lediglich für vier Wochen sein. Inzwischen sind über zehn Jahre daraus geworden. Ich habe dich gebeten, dir eine eigene Wohnung zu suchen. Nichts hast du getan. Jetzt mag ich nicht mehr. Da du nicht gehst, werde ich gehen.« Die Frau lief im Schlafzimmer auf und ab und sammelte ihre restlichen Kleidungsstücke ein, die überall verstreut herumlagen.

»Merkst du denn nicht, wie dumm du bist? Deine Reaktion ist völlig idiotisch. Wir haben immer gut zusammengelebt. Erst seit du neulich beim Arzt warst und von ihm diese Diagnose erhalten hast, bist du unausstehlich geworden. Denk doch mal nach, Karin. Du brauchst mich. Wer soll denn für dich sorgen, wenn du irgendwann einmal nicht mehr kannst? Der Tag wird schneller kommen, als zu ahnst.« Der weißhaarige Mann setzte sich auf den Bettrand und beobachtete stumm die Frau, die er eigentlich als Lebensgefährtin bis ans Ende seiner Tage angesehen hatte.

»Das würde dir so passen.«

»Was meinst du? Verständnislos schüttelte Manfred den Kopf. »Mir würde passen, dass du wieder so lieb bist wie früher und dass wir gemeinsam deine Taschen auspacken und die Sachen in den Schrank zurückhängen.« Seine Lippen zitterten etwas, doch er wollte nicht zugeben, dass er unsäglich litt.

»Hör auf, mir Theater vorzuspielen. Entweder du ziehst aus, oder ich werde gehen. Mein Sohn hat eine große Familie und ein schönes, großes Haus. Jede helfende Hand wird da gebraucht. Wie ich gehört habe, ist gerade das vierte Kind unterwegs.«

»Du glaubst doch nicht, dass die dich mit offenen Armen empfangen werden. Du bist eine Fremde geworden für deine Verwandten, noch dazu eine ungeliebte. Hast du vergessen, was du ihnen damals angetan hast? Ich will dir ganz bestimmt keine Vorwürfe machen, aber du hast dich weder wie eine treusorgende Ehefrau noch wie eine gute Mutter verhalten, sondern bist der Stimme deines Blutes gefolgt, wie man so schön sagt. Dass der Mann, mit dem du durchgebrannt bist, sich später als Faulenzer und Betrüger herausstellen würde, konnte keiner wissen. Doch das macht deine damalige Entscheidung nicht besser.«

»Du bist gemein«, giftete Karin und wischte sich eine imaginäre Träne aus dem Auge. »Ich gebe ja zu, dass es ein Fehler war, doch das muss nicht heißen, dass mir meine Familie das bis in alle Ewigkeit nachtragen darf.«

»Du weißt, dass dein Ex-Mann wieder verheiratet ist und eine eigene Familie gegründet hat. Dränge dich nicht dazwischen. Du könntest wieder nur alles zerstören.« Manfred fuhr sich mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand durch das schneeweiße Haar. Er war am Ende mit seinem Latein. Es gab keine Argumente mehr, die er noch hätte anführen können. So wie es aussah, musste er Karin ziehen lassen.

»Du bist ein verdammt guter Schauspieler.« Die Frau lachte und schüttelte ihr halblanges graues Haar wie ein übermütiges Pferd. »Mich kannst du damit jedoch nicht beeindrucken. Du hattest viele Jahre Zeit, mich von deiner Liebe zu überzeugen. Es ist dir nicht gelungen, weil du dich nicht genügend angestrengt hast.«

»Bist du tatsächlich so oberflächlich eingestellt? Sollte denn deiner Meinung nach die ganze Arbeit, eine Beziehung zu pflegen, an nur einem der beiden Partner hängen bleiben?«

»Das habe ich nie gesagt.« Karins Stimme klang schrill. »Ich hab alles getan, was in meiner Macht stand, um dir zu beweisen, dass ich eine gute Frau sein kann. Von dir kam nie eine Antwort. Dabei hatte ich so auf einen Heiratsantrag gehofft.«

»Was hast du?«

»Ich hatte gedacht, dass wir irgendwann heiraten. Spätestens, als ich diese Diagnose bekam, war ich überzeugt davon, dass du mich sofort danach fragen würdest. Als du das nicht getan hast, war mir klar, dass du es nie vorgehabt hast.« Sie baute sich vor dem Mann auf, der noch immer wie ein Häufchen Elend auf der Bettkante saß.

Nachdenklich schaute er zu ihr hoch. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie dünn sie geworden war. Mitleid ergriff ihn und Angst vor dem, was zwangsläufig irgendwann auf seine Lebensgefährtin zukommen musste. Wie gern wollte er sie schützen, doch abgesehen davon, dass es hier keinen wirksamen Schutz gab, würde sie ihm auch gar nicht die Gelegenheit dazu geben.

»Fertig mit deiner Betrachtung?« Karin lachte spöttisch und irgendwie freudlos auf. »Was ist dabei herausgekommen? Sieht man es mir schon an?«

»So ein Unsinn. Ich wollte dich einfach nur noch einmal genauer ansehen, damit ich dich nicht vergesse. Du warst und bist meine große Liebe, auch wenn du es vielleicht nicht so empfunden hast. Gib deinem Herzen einen Ruck und bleib. Ich verspreche dir, dass ich mich in allem bessern werde, was du mir vorwirfst.«

»Das kannst du doch gar nicht. Hör auf zu betteln. Ich will es nicht mehr hören.« Endlich war Karin fertig mit dem Packen. Zwei Koffer und drei Reisetaschen standen bereit, um nach unten getragen zu werden.

Seufzend stand Manfred auf und griff nach den schwersten Taschen. »Ich werde sie dir hinuntertragen. Niemand soll sagen, ich hätte dir Steine in den Weg gelegt.« Zweifelnd schaute er die Taschen an, dann ergriff er sie. »Hast du da Wackersteine drin?«

Karin stand der Zorn ins Gesicht geschrieben. »Du kannst sagen, was du willst, ich lasse mich von dir nicht mehr manipulieren. Mein Weg steht fest. Ich muss meiner Familie mein Herz öffnen, dann werden sie das auch erwidern, und wir können endlich wieder eine richtige Familie sein.« Sie schaute Manfred verträumt an.

»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Du weißt doch, dass Pierre schon lange eine neue Familie hat. Willst du diese Familie auch noch zerstören, nachdem du deine eigene schon vor vielen Jahren kaputt gemacht hast?«, wiederholte er seine Frage von vorhin eindringlich. »Am liebsten würde ich dich packen und schütteln. Vielleicht kommst du dann wieder zur Besinnung. Du hast dich in den letzten Wochen so sehr verändert. Ich kann nur hoffen, dass das bedingt ist durch deine Krankheit.«

Karin winkte nur ab. »Ich muss jetzt los.« Sie nahm die restlichen Taschen und marschierte Manfred hinterher. Achtlos warf sie alles wenig später auf den Rücksitz ihres kleinen Autos. Dann setzte sie sich hinter das Lenkrad.

»Bleib doch, Karin«, bat Manfred verzweifelt. Er war den Tränen nahe. Panik stieg in ihm auf. Den verräterischen Impuls, sie mit Gewalt ins Haus zurückzuzerren, unterdrückte er mit großer Mühe.

Karin zögerte einen Moment. Plötzlich tat Manfred ihr Leid. Machte sie etwa doch einen Fehler? Vielleicht war dieser der erste Schritt in ihr Unglück. Nein, das durfte nicht sein. Diesen Weg hätte sie schon viel früher gehen sollen, denn sie wünschte sich schon lange ihre Familie und ihr altes Leben zurück. Dass dies nach über zwanzig Jahren nicht mehr möglich sein konnte, dass der Zug für sie abgefahren war, wollte sie nicht akzeptieren.

»Tu, was du nicht lassen kannst.« Manfred hatte genug von dieser schmerzhaften Situation. Er hob noch einmal die Hand, winkte ihr zu, dann drehte er sich um und marschierte resigniert zum Haus zurück.

Karin saß da wie zur Salzsäule erstarrt. Damit hatte sie nicht gerechnet. Eigentlich hatte sie erwartet, dass er sich neben sie ins Auto setzen würde, um ihre Abfahrt auf diese Weise zu verhindern. Doch nichts dergleichen hatte er getan.

Der Weg, der vor ihr lag, war ziemlich weit. Sie wollte einmal übernachten, damit sie am nächsten Tag frisch ausgeruht bei der Familie ankam. Der Gedanke an ein neues Leben beflügelte sie mit einem Mal so sehr, dass sie während der Fahrt sogar das Radio einschaltete und fröhlich bei den Liedern, die sie kannte, mitsummte. So war die Welt für einen kurzen Augenblick in Ordnung.

*

»Lach mich jetzt bitte nicht aus, Raoul. Ich hab Angst vor der Zukunft. Die ganze Zeit über habe ich ein Gefühl, als würde eine dicke, schwarze Wolke über uns hängen. Es gibt nichts, das sie aufhalten kann.« Catherine streckte auf dem Sofa ihre langen Beine aus. Sie seufzte.

Raoul schaute von seiner Zeitung auf. Er tat geistesabwesend, als hätte er die ganze Zeit über gelesen, doch das stimmte nicht. Auch ihm gingen ähnliche Gedanken im Kopf herum wie seiner Frau. Er merkte, wie ihm eine Gänsehaut über den Rücken kroch.

»Ist das alles, was von dir kommt?« Catherines Stimme klang enttäuscht. »Wie ich sehe, bin ich mit meinen Sorgen und Ängsten mal wieder ganz allein. Ich frage mich, wozu man eigentlich heiratet, wenn man danach trotzdem keinen Menschen hat, der einem zuhört.«

»Was redest du für ein Unsinn daher, Liebes. Natürlich höre ich dir zu. Du machst dir Sorgen um die Zukunft. In welchem Zusammenhang tust du das, wenn ich fragen darf?« Er schaute sie zwingend an. Insgeheim ahnte er bereits, worauf sie anspielte.

»Oh, da haben wir genügend Auswahl. Hast du lieber die Angst um unser ungeborenes Kind, das nach meinem Sturz damals durchaus eine Behinderung haben könnte, die man im Ultraschall nur noch nicht entdeckt hat, oder ist es dir lieber, wenn deine treulose Mutter als Sahnehäubchen auf die vielen Briefe, die sie geschrieben hat, irgendwann persönlich hier auftaucht?«

»Meine Mutter wird hier nicht auftauchen. Sie hat zwar einen schlechten Charakter und ich kann sie absolut nicht ausstehen nach allem, was sie uns angetan hat. Doch ich glaube nicht, dass sie dumm ist. Sie weiß ganz genau, was sie hier erwarten würde. Weder mein Vater noch ich würden auch nur ein Wort mit ihr wechseln.« Raoul presste die Lippen zusammen. Am liebsten hätte er noch viel mehr dazu gesagt, doch, sosehr er seine Mutter auch verachtete, brachte er es doch nicht übers Herz, anderen von dem traurigen Leben zu erzählen, das er hatte führen müssen, als er noch Kind gewesen war und seine Mutter all ihren Frust besonders an ihm, dem kleinen Jungen, abgeladen hatte.

Catherine stöhnte auf. Eben hatte sich das Kind in ihrem Bauch ziemlich heftig bewegt. Es hatte sich angefühlt, als würde jemand gegen ihre Rippen treten. Schmerzvoll verzog sie das Gesicht. »Ich glaube, unser Kind mag es nicht, wenn wir streiten.« Sie versuchte zu lachen, doch jeder konnte ihr ansehen, dass ihr gar nicht danach zumute war.

»Dann lass es doch einfach. Ich hab den Streit nicht angefangen. Ich wollte nur lesen und dabei ein wenig in deiner Nähe sein. Vielleicht sollte ich das in nächster Zeit unterlassen, weil es dir offensichtlich nicht gut tut.« Raoul tat, als sei er wütend. In seinem Herzen jedoch zitterte er wie ein ängstliches kleines Kind.

»Was willst du sein lassen? Das Lesen?«, fragte sie ironisch.

Raoul ärgerte sich offensichtlich sehr. »Du hattest auch schon mal mehr Humor, meine liebe Catherine. Ich frag mich, woher deine Sorgen rühren. Natürlich machen drei Kinder viel Arbeit, und das vierte ist bis jetzt auch nicht immer eine reine Freude gewesen. Aber ich denke, so etwas passiert öfter. Nicht jede Schwangerschaft läuft so unproblematisch ab wie die unserer drei ersten Kinder.«

»Das ist es gar nicht.« Catherines Stimme klang zittrig. »Ich habe das unbestimmte Gefühl, als würde von dieser … aufdringlichen Frau eine Gefahr ausgehen.«

»Nenne diese Person jetzt nicht meine Mutter, wenn du dir meine Freundschaft bewahren willst. Diese Bezeichnung für so eine Frau ist in meinen Augen absolut unpassend.« Raouls Gesicht hatte sich verhärtet. Er spürte nicht nur Zorn, sondern eine grenzenlose Ohnmacht, so wie damals, als sie bei Nacht und Nebel ihre kleine Familie verlassen hatte. Weder sein Vater noch er selbst hatten eine Erklärung für diese überstürzte Entscheidung gehabt, deshalb war sie vermutlich auch so schwer zu ertragen gewesen.

»Das wollte ich doch gar nicht. Ich hab manchmal das Gefühl, wir müssten darüber reden, weil es da noch dunkle Punkte gibt, die ich nicht kenne. Ist das so? Vermutlich würdest du dich besser fühlen, wenn du einmal ganz offen über alles reden könntest.«

»Das ist ganz bestimmt so«, stimmte Raoul gleichmütig zu. »Ich habe mit Sicherheit vieles von dem vergessen, was damals passiert ist. Und das ist auch gut so. Das, was meine leibliche Mutter mir angetan hat, muss man vergessen, wenn man in seinem Leben glücklich werden will. Jetzt kann und will ich nicht mehr darüber reden.« Er stand auf ging zur Tür. »Ich gehe die Tiere füttern. Du musst dich um nichts mehr kümmern.«

Catherine wollte nicht mehr die Leidende sein, die man je nach Bedarf hervorholen und später wieder auf ihr Sofa zurückschicken konnte. Sie kam sich wertlos und ausgegrenzt vor.

Mühsam zog sie sich hoch und blieb eine ganze Weile auf dem Sofa sitzen. Der Rücken tat ihr weh vom langen Liegen, die Beine fühlten sich teilweise taub an, und ihr dicker Bauch hinderte sie massiv am Durchatmen. Ein Vierteljahr noch, dachte sie. Wie soll ich das nur aushalten? Panik stieg in ihr hoch. Doch plötzlich bewegte sich das Kind in ihr ganz sanft. Es war wie ein leises Antippen, ein Anklopfen, ob es denn erwünscht sei.

Catherine lächelte unter Tränen. »Ja, du bist erwünscht, mein Kleines. Wenn du nur schon da wärest. Ich mag es bald nicht mehr aushalten.« Plötzlich war Catherine am Ende ihrer Kräfte angelangt. Aufschluchzend schlug sie die Hände vors Gesicht.

In diesem Zustand fand sie wenig später Raoul. Eine Weile betrachtete er seine verzweifelte Frau, dann setzte er sich neben sie und legte einen Arm um ihre schmalen Schultern. Er wusste ja, dass er es ihr nicht leicht machte. Sie hatte ein Recht darauf, sein Geheimnis zu erfahren, denn immerhin gehörte sie seiner Familie an.

»Verzeih mir.«

Catherine rührte sich nicht. Noch immer zitterte sie am ganzen Körper vor Angst. Sie kannte das schon von früheren Gelegenheiten. Meistens wurden ihre Gefühle wahr, im positiven wie auch im negativen Sinne. Dieses Mal war die Richtung eindeutig negativ.

»Beruhige dich doch, Catherine. Ich sagte doch, es tut mir leid. Wenn es dir besser geht, können wir gern noch einmal ausführlich über alles reden. Aber jetzt schone dich, denn ich habe Angst um dich, ich habe Angst um euch beide.«

Sie schaute zu ihm. In seinen Augen las sie echte Angst. Fürchtete er um Frau und Kind, oder fürchtete er tatsächlich seine eigene Mutter? Was für ein Monster musste sie gewesen sein, um noch immer solche zerstörerischen Gefühle nach mehreren Jahrzehnten auslösen zu können?

»Ich will sie nie kennenlernen«, flüsterte sie. »Sie soll mir niemals unter die Augen treten. Vermutlich würde ich sie geteert und gefedert den Abhang hinunterrollen lassen.« Sie hatte sich jetzt regelrecht in Rage geredet.

»Catherine, was ist denn mit dir los? So kenne ich dich ja gar nicht.« Plötzlich lag ein Lachen auf seinem Gesicht. »Aber so gefällst du mir«, sagte er zärtlich. Dann küsste er sie.

*

Als Amelie am nächsten Morgen unerwartet vor der Tür ihrer Großeltern stand, fuhr allen der Schreck in die Glieder. Eva war die erste, die sich wieder erholte. »Ist was mit deiner Mutter? Wie geht es ihr denn? Komm doch ins Haus. Willst du etwas essen?«

Das neunjährige Mädchen schüttelte den Kopf. Amelie war ein hübsches Kind mit halblangen blonden Haaren, die in der Sonne schimmerten wie gesponnenes Gold. Dazu passten ihre tiefblauen Augen, die sie von der Mutter geerbt hatte. »Mami geht es gut. Aber ich glaube, mit meinem Papa stimmt etwas nicht.«

»Warum glaubst du das denn?«, forschte Eva nach und nahm ihre Enkeltochter bei der Hand. »Jetzt bekommst du zuerst einmal eine Tasse Milch, und dann erzählst du, was passiert ist. Wissen deine Eltern, dass du uns besuchst?«

Amelie schüttelte den Kopf. »Ich hab mich davongeschlichen, denn Mami hätte es bestimmt nicht erlaubt, dass ich den Weg alleine gehe. Sie sagt immer, es könne so viel passieren.«

»Womit sie auch ganz recht hat. Nicht auszudenken, was dir unterwegs alles hätte geschehen können. Du trinkst jetzt deine Milch, und dann wird Denise mit dir nach Hause gehen. Ich habe heute ohnehin eine heikle Arbeit, nämlich unsere Steuererklärung, da ist es auf jeden Fall besser, wenn alle aus dem Haus sind und mich nicht stören können.«

Lachend nahm Denise ihre Mutter in die Arme. Die Steuererklärung stellte jedes Jahr ein großes Problem für die gesamte Familie dar. Eva weigerte sich hartnäckig, diese Arbeit einem Steuerberater zu übergeben, denn ihr Vater hatte früher als Steuerinspektor beim Finanzamt gearbeitet. So war ihr der Ehrgeiz, diese Arbeit im Alleingang zu erledigen, bereits in die Wiege gelegt worden.

»Zum Abendessen bin ich wieder zurück. Falls du mich brauchst, kannst du ja anrufen. Sollte Marcel sich bei dir melden, sag ihm bitte, dass ich ihn morgen anrufe.« Denise war bereits an der Treppe, um aus ihrem Zimmer die Tasche zu holen, die sie immer und überall hin mitnahm.

In der Zwischenzeit beschäftigte sich Eva mit ihrer Enkeltochter. Langsam beruhigte sich Amelie wieder, doch die Angst in ihren Augen blieb hartnäckig bestehen. »Und nun erzähle, was dich erschreckt hat.« Sie setzte sich zu dem Mädchen und wartete, bis es seine Milch ausgetrunken hatte. Sie spürte, wie mit jeder Minute, die verging, ohne dass sie Bescheid wusste, ihr Herz immer schneller klopfte. Plötzlich hatte sie wieder das Gefühl drohenden Unheils.

»Es ist wegen des Briefes.« Amelie stellte das Glas auf den Tisch zurück. »Als Mama und Papa gestern aus dem Krankenhaus zurückgekommen sind, hat Papa sich furchtbar aufgeregt. Er wollte den Brief gleich in den Müll werfen.«

»Ohne ihn zu lesen? Von wem war denn der Brief?«, fragte sie und tat, als wüsste sie von nichts. Als Eva die Kaffeetasse auf den Teller zurückstellte, bemerkte sie überrascht, dass ihre Hand ein wenig zitterte. Nun musste sie sich zusammennehmen.

»Von Karin.« Plötzlich hatte Amelie Tränen in den Augen. »Ist das schlimm? Wer ist Karin? Ist sie böse?«

Nur mit Mühe konnte Eva ihr Erschrecken verbergen. Dann hatte Denise also nicht übertrieben. Es hatte eine Auseinandersetzung gegeben, die Amelie so sehr erschreckt hatte. Sie holte tief Luft. »Hat dein Papa dir nie etwas von Karin erzählt? Sie war die erste Frau von deinem Opa, die Frau vor mir. Aber mehr möchte ich dir nicht sagen, das ist Sache deiner Eltern. Denise wird mit dir gehen, ich denke, sie sollte bei der Unterhaltung dabei sein.«

Wenig später verabschiedete sich Amelie von ihrer Großmutter und umarmte sie heftig. »Ich bin froh, dass ich dich hab.« Sie gab ihr einen Kuss, dann stürmte sie mit Denise davon. Sam, der sie natürlich begleitete, lief ihnen bellend voraus.

Amelie wurde bereits von ihren aufgeregten Eltern erwartet. Natürlich hatte Eva gleich angerufen, dennoch machten sich beide große Sorgen. Amelie war noch nie von daheim weggelaufen. Sie ahnten jedoch, was der Grund dafür war. Natürlich der Brief!

»Was ist dir nur eingefallen, Amelie?«, tadelte der Vater. Raoul war auffallend blass, als er schließlich Denise begrüßte. »Es ist wegen Karin, nicht wahr?«, flüsterte er leise, als er Denise umarmte. »Amelie hat unseren Streit mitbekommen. Ich hätte es ihr erklären müssen.«

»Du hättest deinem Kind viel erspart.« Denise nickte ihm aufmunternd zu. »Es ist noch nicht zu spät. Mami meinte, dass es höchste Zeit ist, deine Kinder aufzuklären. Sie hat Amelie nur gesagt, dass Karin Papas erste Frau war.«

Wenig später saß die ganze Familie am Wohnzimmertisch, ­Catherine hatte sich aufs Sofa gelegt, weil sie an diesem Vormittag wieder Probleme mit dem Kreislauf hatte. Man konnte Raoul ansehen, dass ihm das bevorstehende Gespräch schwer im Magen lag. »Ich hätte es euch schon viel früher sagen müssen«, begann er und knetete dabei nervös seine Finger.

Catherine stöhnte leise und richtete sich ein wenig auf. Sie hätte Raoul zu gern beigestanden, doch sie spürte, dass er das nicht wollte. Also begnügte sie sich damit, ihm ihre Hand beruhigend auf den Arm zu legen.

»Karin war Opas erste Frau. Opa war also schon einmal verheiratet, ehe er Eva getroffen hat. Wir lebten fast drei Jahre allein, dann kam Denises Mutter wie ein rettender Engel zu uns. Eva war das Beste, was meinem Vater und mir im Leben passieren konnte. Als Denise geboren wurde, waren wir endlich wieder eine richtige Familie. Karin hatte ich vollständig aus meinem Gedächtnis verdrängt. Bis vor einem halben Jahr der erste Brief nach so langer Zeit kam.« In seinem Gesicht arbeitete es. Kleine Schweißperlen standen auf seiner Stirne, die er immer wieder unwillig abwischte.

»Mach eine kleine Pause, ­Raoul«, unterbrach Denise ihn. Der Bruder tat ihr von Herzen Leid. Zu gern hätte sie ihm einen Teil der Geschichte abgenommen, denn sie ahnte, dass er noch lange nicht fertig sein würde mit dem Erzählen. Doch sie wusste kaum mehr über die Vorgeschichte der Familie als die Kinder.

»Es ist schon in Ordnung. Würdest du mir bitte ein Wasser bringen, Denise?« Hastig trank er das Glas in einem Zug leer, das Denise ihm reichte. Dann stellte er es mit lautem Klirren auf den Tisch zurück. Die Ohnmacht, die er in diesem Moment empfand, machte ihn so zornig, dass er das Glas am liebsten gegen die Wand geworfen hätte.

»Jetzt ist mir alles klar, was ich mir bis jetzt nicht erklären konnte.« Luis, der dreizehnjährige Sohn des Paares, zauberte ein leichtes Lächeln auf seine Lippen, obwohl ihm eigentlich gar nicht danach zumute war. »Dann ist Eva also gar nicht deine richtige Mutter. Ich hatte mich schon gewundert. Sie hätte vierzehn Jahre alt sein müssen, als du geboren wurdest. Ich hatte mich nur nie getraut, danach zu fragen.«

»Jetzt weißt du es, Luis. Auch wenn Eva kaum älter ist als ich, war sie doch für mich die beste Mutter, die ich bekommen konnte. Sie tauchte gerade im richtigen Moment auf, um mich vor dem falschen Weg zu bewahren. Das werde ich ihr nie vergessen.« Er lächelte Denise an. »Wenn ich euch nicht gehabt hätte, dann wüsste ich nicht, was aus mir geworden wäre. Deshalb rege ich mich jetzt so auf. Was will Karin von uns? Die ganzen Jahre hat sie sich nie gemeldet, wollte nie wissen, was aus mir geworden ist. In ihrem ersten Brief stand, dass sie gern ihre Familie kennenlernen möchte. Ich habe ihr damals nur geantwortet, dass sie hier keine Familie hat. Seitdem kommen immer wieder Briefe, die ich meist ungelesen in den Müll werfe.«

»Hast du keine Angst, dass sie plötzlich vor dir steht?« Denise dachte natürlich sofort wieder sehr realistisch, sehr praktisch. »Immerhin weiß sie, wo du wohnst, und auch, dass du eine große Familie hast. Auch wenn du es nicht wahrhaben willst, sie ist die Frau, die dich geboren hat.«

Raoul verzog zornig das Gesicht. »Biologisch gesehen magst du recht haben, liebe Schwester, doch moralisch spreche ich ihr jeden Anspruch ab, meine Mutter zu sein. Sie soll es nicht wagen, unaufgefordert hier aufzutauchen.«

»Was würdest du tun, wenn sie klingelt und dich bittet, ins Haus kommen zu dürfen?«

»Bitte, Denise, stelle mir nicht solche Fragen. Im Augenblick kann ich nur an Catherine und unser Baby denken. Karin ist für mich überhaupt kein Thema.«

»Das weiß sie aber nicht«, warnte Denise. »Es wäre zumindest sinnvoll, wenn du ihre Briefe lesen würdest, damit du immer darüber informiert bist, was sie gerade vorhat.«

Raoul nickte grübelnd vor sich hin. »Darüber habe ich noch gar nicht nachgedacht, aber du könntest Recht haben. Leider ist der gestrige Brief bereits in Flammen aufgegangen. War dumm von mir.«

»Habe ich dir doch gesagt. Du hältst Karin nicht von dir fern, indem du ihre Briefe vernichtest. Im Gegenteil. Wenn sie uns wirklich besuchen will, gibst du ihr damit, dass du ihre Ankündigungen ignorierst, erst recht die Möglichkeit, so zu tun, als sei nie etwas vorgefallen. Du widersprichst ihr nicht, kein Nein ist für sie am Ende ein Ja.« Catherine war ehrlich besorgt. »Sie ist die Letzte, die ich hier gebrauchen könnte. Doch so, wie du sie beschrieben hast, kann ich mir durchaus vorstellen, dass sie, ohne Skrupel zu haben, uneingeladen bei uns auftaucht.«

»Mal nicht den Teufel an die Wand. Wir haben schon genug Probleme. Was denkst du darüber, Denise?«

Das Mädchen zuckte die Schultern. »Eigentlich denke ich darüber genauso wie Catherine. Es war ein Fehler, dass du die Briefe vernichtet hast. Andererseits kann ich dich aber verstehen, denn nach allem, was ich bis jetzt gehört habe, hätte ich vermutlich ähnlich impulsiv reagiert. Wir können nur hoffen, dass Catherines düstere Prognose nicht eintrifft. Ich schlage vor, wir legen erst einmal alles zu den Akten und kümmern uns um das, was gerade auf der Tagesordnung steht. Was habt ihr vor?«, wandte sie sich an Luis, der noch immer wie vom Donner gerührt dasaß und anscheinend keinen klaren Gedanken fassen konnte.

»Ich werde mit Amelie in den Garten gehen und die Tiere versorgen. Der Hühnerauslauf müsste mal wieder gemistet werden. Benjamin kann ebenfalls mitkommen, wenn er das möchte.« Luis wirkte immer noch ziemlich verwirrt. »Warum habt ihr uns das alles nicht früher erzählt?«

»Erst wart ihr noch zu jung dafür, und später haben wir es schlichtweg vergessen. Es tut mir leid, Luis, das sollte bestimmt nicht heißen, dass wir dir nicht vertrauen.« Raoul verkrampfte seine Finger ineinander. »Es tut mir wirklich leid. Irgendwann werde ich euch vielleicht ein bisschen mehr darüber erzählen, warum ich mit Karin nichts zu tun haben möchte. Im Moment bin ich jedoch nicht dazu in der Lage.«

»Das ist in Ordnung, Raoul«, beruhigte Catherine ihren Mann. »Wir verstehen dich. Mach dir keine Sorgen. Mir genügt ehrlich gestanden das, was du mir früher erzählt hast. Ich hoffe, ich muss Karin nie kennenlernen. Sie könnte bestimmt niemals meine Freundin werden. Und nun lasst uns über etwas anderes reden. Es gibt wesentlich erfreulichere Dinge, die wir besprechen können. Hat Eva schon etwas für Pfingstsonntag geplant?«, wandte sie sich an ihre Schwägerin.

Denise strahlte übers ganze Gesicht. Begeistert berichtete sie von den Plänen, die sie zusammen mit ihrer Mutter für den hohen Feiertag ausgearbeitet hatte. »Ich hoffe, es geht dir auch weiterhin so gut, dass wir das alles, was wir geplant haben, auch durchführen können. Es wird bestimmt viel Spaß machen.«

»Das wird es ganz sicher.« ­Raoul hatte beschlossen, sich nicht länger aufzuregen. Er hatte sein Leben im Griff, und es war wunderbar. Auch wenn Karin die Frau war, die ihn geboren hatte, hatte sie keinerlei Rechte an diesem Leben. Es gehörte ihm ganz allein.

*

Als Denise an diesem Abend das Haus ihres Bruders verließ, hatte sie das Gefühl, etwas ganz Großes geschafft zu haben. Sie hatte geputzt, aufgeräumt und sogar die Küche auf Hochglanz gebracht. Catherine konnte ihr nur wenig helfen, denn ihr Bauch war in den letzten beiden Wochen ziemlich gewachsen. Zuerst vermutete sie, dass es eventuell Zwillinge werden könnten, doch der Arzt hatte diese Vermutung bei der letzten Untersuchung nicht bestätigt. Catherine war sehr erleichtert gewesen, und auch Raoul hatte gemeint, dass vier Kinder eigentlich genug wären.

An all das musste Denise denken, als sie jetzt auf den Weg zusteuerte, der in die Wiesen führte. Das war ihr Lieblingsweg, denn hier war sie so ziemlich sicher davor, anderen Menschen zu begegnen. Manchmal liebte sie es einfach, ganz allein zu sein.

Heute jedoch klappte das anscheinend nicht. Sie war kaum ein paar Schritte gegangen, da entdeckte sie Marcels Auto auf der anderen Straßenseite. Er selbst war ausgestiegen und stand nun, die Arme vor der Brust verschränkt, an die Motorhaube gelehnt und blickte ihr entgegen. In seinem Gesicht war keine Regung erkennbar, er schien einfach abzuwarten.

»Was tust du hier, Marcel?«, fragte Denise überflüssigerweise, um ihre Unsicherheit zu verbergen. Mit allem hatte sie gerechnet, jedoch nicht damit, dass Marcel sie abholen würde. Plötzlich hatte sie das Gefühl, als wäre ihr etwas Wichtiges verlorengegangen, nämlich der Nachhauseweg durch die Felder. »Warum hast du nicht angerufen?«

»Was hätte es gebracht? Du hast nie Zeit für mich. Deine Familie geht natürlich vor. Deshalb dachte ich, ich frag dich persönlich von Angesicht zu Angesicht, wie du dir unser weiteres Kennenlernen eigentlich vorstellst.« Nachdenklich schaute er in ihr Gesicht. Sie standen sich jetzt gegenüber, und keiner machte Anstalten, den anderen zur Begrüßung zu umarmen.

»Müssen wir das jetzt und hier besprechen? Meinem Gefühl nach sind wir noch nicht so zusammen, dass wir uns gegenseitig Rechenschaft darüber ablegen müssen, wie wir unsere Zeit verbringen. Du weißt, dass es meiner Schwägerin nicht gut geht und ich mit Freuden für ihre Familie sorge.« Denise schien etwas verärgert zu sein.

»Genau deshalb bin ich hier. Ich möchte nur wissen, was du vorhast. Liegt dir überhaupt etwas daran, dass wir uns näherkommen? Wenn ich dich um ein Treffen bitte, hast du immer etwas anderes vor. Ich verstehe ja, dass du deinem Bruder helfen willst. Aber ein bisschen Zeit sollte auch für mich übrig bleiben, sonst können wir es gleich ganz lassen.« Marcel schien es sehr ernst zu sein mit seiner Forderung.

Denise erschrak, doch sie zeigte es ihm nicht. Eigentlich war ihr Marcel in den vergangenen Tagen wichtig geworden, doch nicht wichtig genug, um ständig mit ihm zusammen sein zu wollen. Raouls Kinder brauchten sie, und es war eine Freude, für eine Weile Hausmütterchen zu sein. Manchmal dachte sie mit Sehnsucht daran, dass sie gern eine eigene Familie hätte, einen lieben Mann, mehrere Kinder und einen Garten mit ganz vielen Tieren. War Marcel für diese Träume der richtige Partner? Sie wusste es nicht, also konnte sie auch nicht mit ihm darüber reden. »Ich werde versuchen, mich zu bessern«, versicherte sie und meinte es in diesem Moment auch so. Deshalb willigte sie ein, als er sie mit dem Auto nach Hause bringen wollte.

»Willst du mitkommen und meine Eltern begrüßen?«

Marcel schüttelte den Kopf. »Ich habe heute noch zwei Kundenbesuche. Es wird ziemlich spät werden. Aber vorher wollte ich dich sehen, sonst hätte ich nicht arbeiten können.« Er griff nach ihrer Hand. »Glaubst du denn, dass du dich irgendwann in mich verlieben könntest?«

Sie lächelte ihn an. »Ich glaube, ja«, antwortete sie leise. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. Dabei streifte sie, absichtlich oder unabsichtlich, seinen Mund.

Er schloss die Augen und hielt sie an den Schultern für einen kurzen Moment lang fest. »Das wollte ich wissen«, murmelte er seufzend. Dann ließ er sie los und streichelte über ihre Wange. »Schönen Abend noch für euch«, sagte er, drehte sich um und stieg in sein Auto. Er fuhr aber erst weg, als sie im Haus verschwunden war. Jeder Moment in ihrer Nähe war für ihn kostbar, auch wenn er sie nur aus der Ferne ansehen konnte.

Denises Wangen waren leicht gerötet, als sie das Wohnzimmer betrat. Die Eltern hatten den Fernseher eingeschaltet, Pierre las nebenher in einem Buch, und Eva strickte an einem roten Pullover, den sie Amelie zum Geburtstag schenken wollte. Die Idylle, die sich Denises Blicken bot, berührte so intensiv ihr Herz, dass ihr Tränen in die Augen stiegen. »Ich bin wieder da«, sagte sie und ließ sich in einen Sessel fallen. »Raoul hat alles geklärt, soweit ihm das möglich war«, beantwortete sie die unausgesprochene Frage ihrer Mutter.

»Dann ist es ja gut. Es wurde auch höchste Zeit.«

»Um was geht es?« Pierre schaute nicht einmal von seinem Buch auf, was bedeutete, dass er nicht mit einer Antwort rechnete. Als alle schwiegen, fragte er nicht nach. Er hatte es einfach wieder vergessen.

*

Ausgerechnet für den Samstag vor Pfingsten hatte Rafael Steiner Denise noch einen Probetermin aufgedrückt. Die Aufführung rückte näher, und dem Lehrer, der selbst vor mehr als zehn Jahren ein gefragter Tänzer gewesen war, tropfte die Zeit zwischen den Fingern hindurch. Er hatte plötzlich Angst, nicht rechtzeitig mit allem fertig zu sein.

Schweren Herzens hatte Denise diesem Termin zugestimmt. Es lag ihr viel daran, bei dieser Aufführung perfekt zu sein, denn es hatte sich sehr viel Presse angesagt. Zum Glück war Marcel sofort bereit gewesen, sie zu fahren, denn sonst hätte sie es nicht geschafft, am Abend nach Hause zurückzukehren. Viel lieber wäre sie diesmal mit ihrem Vater gefahren, doch Pierre hatte, wie meistens an Feiertagen, Bereitschaftsdienst.

Dieses Mal durfte Marcel im Zuschauerraum Platz nehmen. Zum ersten Mal sah er Denise tanzen. Er war überrascht. Die Musik zu Tschaikowskis Schwanensee gefiel ihm ausgesprochen gut. Und als Denise dann ihren Solopart beinahe fehlerlos absolvierte, war er tief beeindruckt. Bis jetzt hatte er diese Ausbildung eher als Spielerei angesehen denn als ernst zu nehmenden Beruf. Jetzt jedoch änderte sich seine Meinung dazu. Bewundernd blickte er ihr entgegen, als sie nach der Probe auf ihn zukam.

»Was ist los? Hat es dir nicht gefallen?«, fragte Denise ihn etwas atemlos. »Rafael war sehr zufrieden. Ich glaube, langsam verliert er seine Ängste, dass wir es vermasseln. Mirjam hat es zum ersten Mal geschafft, völlig fehlerfrei zu tanzen. Ich hatte einen Hänger, aber an dem kann ich noch arbeiten.«

»Du warst wunderbar«, lobte Marcel ehrlich. »Was hast du jetzt vor, wollen wir noch eine Kleinigkeit essen gehen, ehe wir nach Hause zurückfahren?«

»Ich kenne ein kleines Restaurant am Stadtrand. Man isst dort ausgezeichnet. Ich lade dich ein«, entschied Denise. Sie setzte sich auf den Beifahrersitz und dirigierte ihn aus der Stadt. »Bald habe ich meinen eigenen Führerschein«, überlegte sie und lächelte vor sich hin.

»Dann brauchst du mich gar nicht mehr.« Marcels Stimme klang plötzlich bedrückt. »Du bist ein seltsames Mädchen, Denise. Manchmal denke ich, wir sind uns ganz nahe, und dann flatterst du wieder davon wie ein bunter Schmetterling.«

Denise lachte. »Das haben Tänzerinnen so an sich. Sie sind wie bunte Schmetterlinge, die manchmal zum Himmel fliegen, und wenn sie ein Regenschauer überrascht, dann flüchten sie sich unter ein Blätterdach und hoffen, dass alles gut vorbeigeht.«

»Und wo lebt das Herz meines kleinen Schmetterlings?«

Denises Blick verlor sich in der Ferne. »Das kann ich dir nicht sagen. Ich glaube, ich habe es bis jetzt noch nicht gefunden, geschweige denn eingefangen.«

Marcel blinkte und fuhr in einen kleinen Waldparkplatz. Dann schaltete er den Motor aus. »Ich würde mir gern ein bisschen die Beine vertreten. Kommst du mit?«

Plötzlich klopfte Denises Herz ziemlich heftig. Sie ahnte, was Marcel vorhatte, und sie wollte es ihm nicht abschlagen. Also stieg sie ebenfalls aus. Schweigend standen sie sich gegenüber. Ein leiser Wind war aufgekommen und streichelte Denises Haar.

»Bezaubernd siehst du aus, mein kleiner Schmetterling. Ich könnte dich ewig so ansehen. Als ich dich heute tanzen sah, war mir plötzlich zumute, als würde ich dich gar nicht kennen. Du warst ein ganz anderer Mensch, ein überirdisches Wesen. Ich habe mich nie für das Tanzen interessiert, doch seit ich dich gesehen habe, denke ich anders darüber. Jede deiner Bewegungen berührte mein Herz, und ich hatte nur noch den einen Wunsch, dich in den Arm zu nehmen. Darf ich?«

»Du darfst«, sagte Denise leise und schaute zu ihm auf.

Ganz langsam neigte sich Marcel zu ihr hinunter, und dann lagen seine Lippen auf den ihren. Sie wehrte sich nicht.

*

Am Pfingstsonntag stand Eva schon zeitig in der Frühe in der Küche. Sie hatte sich für den Feiertag sehr viel vorgenommen, immerhin hatte Catherine bereits in der Frühe ihren Besuch zugesagt. Seit gestern ging es der Schwiegertochter wesentlich besser, und sie konnte wieder ein bisschen am Familienleben teilnehmen. Wie lange dieser Zustand allerdings anhalten würde, wusste keiner.

»Du bist ja schon wieder fleißig, mein Schatz. Kann ich dir helfen?« Pierre war hinter seine Frau getreten und legte nun die Arme um sie. »Mach dir nicht immer solch einen Stress. Die Familie trifft sich, weil wir alle gern zusammen sind. Das heißt doch nicht, dass du morgens schon so früh in der Küche stehen musst, um Essen für alle zu zaubern. Ich hätte es auch im Restaurant bestellen können, dann müsstest du nicht immer so viel arbeiten.«

Eva drehte sich zu ihrem Mann um. »Du weißt doch, Pierre, dass ich das gerne tue. Wenn dann wieder Unterricht ist, habe ich ohnehin keine Zeit mehr dafür. Also lass mir die Freude, bitte.« Sie küsste ihn zärtlich auf den Mund.

Pierre hielt sie ein Stückchen von sich ab, dann schaute er forschend in ihr Gesicht. »Was hat es mit diesem ominösen Brief auf sich? Ich habe gemerkt, dass ihr alle darauf bedacht seid, dass ich nichts erfahre. Raus mit der Sprache, ich will es jetzt endlich wissen.«

Eva wischte sich ihre Hände an der Schürze ab, dann ging sie zur Eckbank und ließ sich darauf fallen. »Setz dich, Pierre. Ich wollte ohnehin mit dir darüber reden. Immerhin geht es dich mindestens genauso viel an wie uns. Der Brief, übrigens einer von vielen, war von Karin.«

Pierre zuckte zusammen. »Von Karin? Was will die denn? Für wen war der Brief? Für mich?« Man konnte ihm ansehen, wie unangenehm ihm dieses Thema war.

»Dein Sohn hat ihn bekommen. Und es war nicht der erste. Dieses Mal jedoch war Denise dabei, als der Brief kam, und sie hat ihm zugeredet, dass er ihn nicht wieder ungelesen verbrennen darf. Leider war es auch dieses Mal schon zu spät. Wir wissen also nicht, was Karin von Raoul wollte.« Eva war ziemlich besorgt. Sie verheimlichte das nicht vor ihrem Mann, denn eine innere Stimme sagte ihr, dass Karin nicht ohne Grund geschrieben hatte. Sie mussten rechtzeitig darüber reden, um für jegliche Überraschung gewappnet zu sein.

»Ist sie überhaupt noch mit ihrem Liebhaber zusammen, wegen dem sie uns damals verlassen hat? Nach der Scheidung habe ich nichts mehr von ihr gehört, weiß also nicht, wie es bei ihr weitergegangen ist. Ehrlich gestanden, es interessiert mich auch nicht, außer, sie bringt sich selbst wieder in Erinnerung.«

»Was sie jetzt mit ihren Briefen getan hat«, murmelte Eva ärgerlich.

Sie kannte Karin nicht, und doch konnte sie manchmal den Zorn nicht verheimlichen, den sie auf die Unbekannte hatte.

»Wir werden abwarten müssen, was sie mit ihren Briefen bezweckt. Dass sie in aller Munde ist, hat sie jedenfalls schon mal geschafft. Warten wir ab, was noch alles kommt. Ich habe jedenfalls nicht vor, mir von diesem Thema die Feiertage verderben zu lassen. Kommt Marcel eigentlich auch zum Mittagessen?«

Eva war froh über diesen Themenwechsel. Jetzt gab es keine Unklarheiten mehr zwischen ihnen, und dennoch war das Gespräch über Karin erst mal beendet. »Soweit ich informiert bin, ja. Denise meinte, er hätte Ärger mit seinen Eltern und würde es vorziehen, an den Feiertagen nicht nach Hause zu fahren. Ich glaube, aus den beiden könnte tatsächlich ein Paar werden. Marcel ist ein Netter, wenn auch ein bisschen verklemmt.«

Pierre lachte. »Du hast eine reizende Art, alles direkt anzusprechen. Das gefällt mir an dir. Du hast recht, man muss lange an Marcels Oberfläche kratzen, bis man ein bisschen was von dem zu sehen bekommt, was drunter ist. Doch ich denke, dass unter seiner harten Schale ein weicher Kern steckt. Er scheint der ruhende Pol für unsere ziemlich lebhafte Denise zu sein.«

»Die Zeit ist so schnell vergangen. Denkst du nicht auch manchmal, Pierre, dass man irgendwo eine Schraube finden müsste, mit der man die Zeit stoppen kann, wenn es gerade am schönsten ist?« Eva seufzte auf. Sie wollte ihrem Mann das Herz nicht schwer machen, doch manchmal mussten ihre Gedanken einfach ausgesprochen werden.

»Hast du eigentlich jemals bereut, mich geheiratet zu haben? Ich bin nicht mehr der erfolgreiche Chirurg, der ich einst gewesen bin. Das habe ich Karin zu verdanken. Sie hat mich damals, als sie wegging, in die Hölle geschickt, und da braucht man keine Chirurgen. Dir habe ich es zu verdanken, dass ich nach der schweren Zeit wieder aufgestiegen bin wie Vogel Phönix aus der Asche. Allerdings konnte ich nicht mehr in meinen alten Beruf zurück, ich hatte das Vertrauen in mich verloren. Dafür bin ich jetzt mit Leib und Seele ein ganz normaler Hausarzt.«

»So wie du jetzt bist, so liebe ich dich. Was soll ich mit einem Chirurgen, der nie zu Hause ist? Du hast eine Praxis im Haus, und ich kann dich immer sehen, wenn mir der Sinn danach steht. Was will ich mehr? Außerdem hast du so keine Möglichkeit, mir untreu zu werden, ohne dass ich es mitbekomme.« Offensichtlich war sich Eva ihrer Sache sehr sicher. Hätte sie geahnt, dass diese Sicherheit nur ein Wunschdenken war und dass ihre kleine heile Welt bald mächtig ins Wanken geraten würde, hätte sie nicht so unbefangen diese Worte gesagt.

»Ich liebe dich, meine kleine Eva. Du hast Raoul und mir eine Heimat gegeben, wie man sie nur selten geschenkt bekommt. Dafür möchte ich dir danken.« Er neigte sich zu ihr hinüber und küsste sie zärtlich.

Eva schloss die Augen. Nicht einen Tag lang hatte sie bereut, Pierre geheiratet zu haben. Er hatte ihr die Welt zu Füßen gelegt, seine Welt. Sie hatte sie zu ihrer Welt gemacht, und alle, die dazu gehörten, waren glücklich. »Jetzt muss ich aber wieder an den Herd, sonst gibt es kein Mittagessen.« Sie erhob sich eilig, denn wenn sie noch ein Wort gesprochen hätte, wäre sie vor Rührung in Tränen ausgebrochen.

Pierre war irgendwie enttäuscht. Eigentlich hatte er sich eine etwas andere Reaktion von seiner Frau erhofft. Eva war immer die Starke, die Vernünftige, die Person, die alle Fäden in der Hand hielt. In den beinahe zwanzig Jahren, die sie schon zusammen waren, hatte es noch nichts gegeben, das sie umgeworfen hatte. Manchmal fühlte er sich in ihrer Nähe so klein und unbedeutend, dass er sich fast schon dafür schämte.

»Ich hoffe, ich habe deine Zeit nicht zu lange beansprucht. Sag mir, wenn ich dir helfen kann.« Er hätte gar nicht zu fragen brauchen, denn er kannte die Antwort schon im Voraus. Sie brauchte keine Hilfe. »Ich bin im Labor. Nur, falls du mich suchst.«

Überrascht schaute Eva ihm nach, als er die geräumige Wohnküche verließ. Was hatte sie falsch gemacht? Als ihr keine Antwort darauf einfiel, widmete sie sich wieder dem Gemüse, es gab eine Menge klein zu schneiden, zu kochen und zu backen. Eva war in ihrem Element. An den Brief wollte sie jetzt nicht mehr denken.

*

Der kleine rote Flitzer schlängelte sich zwischen den Wiesen hindurch und blieb am Waldrand stehen. Eine Frau stieg aus, stemmte die Hände in die Hüften und schaute sich um. Sie war klein und viel zu schlank. Ihre graublonden Haare reichten in weichen Wellen ein Stück über ihre Schultern, und als sie ihr Gesicht der Sonne entgegenhob, konnte man die vielen kleinen Fältchen erkennen, die ihr Gesicht alt aussehen ließen.

Sie hatte bereits mehrere Stunden Fahrt hinter sich, und ihre Beine schmerzten, als wäre sie die ganze Strecke zu Fuß gelaufen. Sie machte einige Übungen, und endlich merkte sie, dass das Leben in ihre Gliedmaßen zurückkehrte. Erleichtert seufzte sie auf und ging ein paar Schritte in den Wald hinein. Im Frühling duftete er immer besonders gut.

»Leben, ich komme!«, rief sie aus und breitete die Arme auseinander. Sie sah aus, als wollte sie die ganze Welt umarmen. Plötzlich begann sie zu lachen. Sie kicherte immer lauter, immer heftiger, bis ihr Tränen über die Wangen liefen. Schließlich kehrte sie zu ihrem Auto zurück und stieg ein. Aus dem Handschuhfach holte sie eine Landkarte, faltete sie auseinander und begann die Straßen zu studieren. Jetzt bereute sie, dass sie das Angebot ihrer Freundin nicht angenommen hatte. Diese wollte ihr vor einiger Zeit ihr altes Navi für wenig Geld überlassen, doch sie hatte abgelehnt.

»Da ist es ja!«, rief sie freudig aus, als sie den Ort Oberhausen entdeckt hatte. Von hier aus war es nicht mehr weit. Bald war sie am Ende ihrer Reise angelangt und damit am Anfang eines neuen Lebens.

So jedenfalls stellte sie sich ihre Ankunft in Oberhausen vor. Dass man sie nicht gerade begeistert empfangen würde, wusste sie. Dennoch hatte sie es in Kauf genommen, vor einer Mauer aus Ablehnung zu stehen, denn sie hatte sich fest vorgenommen, ihren Willen durchzusetzen. Nichts und niemand würde sie davon abbringen können.

Ihr kleines Auto jaulte empört auf, als sie wenig später etwas zu heftig das Gaspedal betätigte. Erschrocken zuckte sie zurück. »Nicht aufregen, Tutu. Es war nicht bös gemeint.«

Sie musste über sich selbst lachen, wenn sie daran dachte, wie ihr Auto zu dem Spitznamen gekommen war. Delia, die Enkeltochter ihrer Freundin, nannte jedes Auto Tutu, und so hatte der kleine rote Flitzer diesen Spitznamen erhalten.

Sie war nicht weit gefahren, da begann Tutu zu husten. Die alte Krankheit. Die Frau fuhr rechts heran und schaltete den Motor aus. Das Auto war schon sehr betagt und brauchte nun mal seine Ruhepausen. Genau wie sie selbst.

Irgendwann war sie eingeschlafen. Währenddessen bewölkte sich der Himmel, und als erste Regentropfen auf die Windschutzscheibe fielen, wachte sie wieder auf. Im ersten Moment wusste sie nicht, wo sie sich befand. Erst langsam dämmerte ihr, dass sie ihr gesamtes bisheriges Leben so gut wie ausgelöscht hatte. Alles, was sie besaß, lag auf dem Rücksitz und im Kofferraum ihres Autos.

»Na, dann wollen wir mal. Was meinst du, Tutu, schaffst du den Rest noch? Lass mich jetzt nicht im Stich.« Sie streichelte zärtlich über das Lenkrad, dann begann sie erneut, heftig und unkontrolliert zu lachen, während draußen ein Frühlingsregen auf sie herabprasselte.

Ein einzelner Blitz zerriss die dunklen Wolken in zwei Teile und fuhr gezackt zu Boden. Sollte das ein Omen sein für die Zeit, die vor ihr lag? Manchmal war es gut, wenn man nicht in die Zukunft blicken konnte, dachte sie bei sich, dann startete sie erneut ihr Auto. Das letzte Stück ihrer Reise konnte beginnen.

*

Marcel hatte in jeder Hand einen Blumenstrauß. Rechts waren es blassrote Rosen und links bunte Sommerblumen, die er stolz vor sich her trug. Er freute sich auf den Nachmittag mit der Familie, von der er hoffte, dass sie irgendwann einmal zu seiner eigenen Familie werden würde. Kaum hatte er geläutet, hörte er bereits rasche Schritte, die sich der Tür näherten.

»Da bist du ja, Marcel.« Strahlend trat Denise auf ihn zu und küsste ihn auf den Mund. »Wir sind noch nicht ganz fertig, aber du kannst gern helfen und den Tisch decken.«

So willkommen hatte sich Marcel noch nie gefühlt. Er sah sich bereits als Partner der Tochter des Hauses, und das machte ihn sehr glücklich. Sein eigenes Elternhaus hatte er früh verlassen, denn so wenig, wie die Eltern sich untereinander verstanden, so wenig verstanden sie auch den einzigen Sohn. Bis jetzt hatte Marcel gedacht, er sei bindungsunfähig, denn die Beziehungen, die er in der Vergangenheit gehabt hatte, waren meist nach kurzer Zeit wieder zerbrochen, meist, weil sie ihm langweilig geworden waren.

Denise nahm den Rosenstrauß, den er ihr galant überreichte, und lief ihm voraus in die Küche. Aus dem Schrank holte sie eine Vase und versorgte die Blumen mit Wasser. Sie beobachtete lächelnd, wie Marcel ihrer Mutter den zweiten Strauß überreichte.

»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, meinte Eva lächelnd, nachdem sie sich überschwänglich bedankt hatte. »Möchten Sie sich setzen?«

Marcel schüttelte den Kopf. »Denise sagte, ich könnte etwas helfen. Anscheinend ist der Rest der Familie noch nicht angekommen. Also, was kann ich tun?«

Bereitwillig drückte Eva ihm die Teller in die Hand. »Ins Esszimmer. Das restliche Geschirr steht auf der Anrichte. Das können Sie auch hineintragen. Dann muss ich nicht so oft laufen.« Sie zwinkerte Pierre zu, der schmunzelnd die kleine Szene beobachtet hatte.

»Soll ich Raoul anrufen und fragen, wo sie bleiben?«, überlegte Denise, die sich langsam Sorgen machte. »Eigentlich sollten sie längst hier sein. Womöglich geht es Catherine wieder schlechter. Ich rufe an.«

Ein paar Minuten später kam Denise wieder zurück. »Es ist alles in Ordnung. Miss Piggs ist ausgebüchst, sie mussten das Meerschweinchen erst suchen. Jetzt haben sie es wieder und ziehen sich gerade um. Eine Viertelstunde, dann sind sie alle da. Ich freue mich sehr, dass wir endlich wieder einmal vollständig zusammensitzen können.«

Aus der Küche kam appetitlicher Bratengeruch. Eva hatte es sich nicht nehmen lassen, ihr Spezialrezept, Wildschweinbraten, zuzubereiten. Ansonsten gab es nur selten Fleischgerichte, denn alle liebten ihre Tiere, deshalb hatten sie den Verbrauch drastisch eingeschränkt. Lediglich zu den Feiertagen und manchmal am Sonntag gab es Braten, und dann auch nur von Wildtieren, wo man zumindest hoffen durfte, dass sie ein schönes Leben gehabt hatten.

Als der Tisch gedeckt war, bat Marcel Denise, mit ihm noch eine Weile in den Garten zu gehen. »Es ist das erste Mal, dass ich bei deiner Familie eingeladen bin. Bedeutet das, dass wir zusammen sind?«

»Möchtest du das denn?« Kokett blickte sie ihn an.

Er schaute sie liebevoll an. Sie standen in der Laube hinter dem Haus, die von drei Seiten mit üppigem Blauregen zugewachsen war. In dem alten Apfelbaum sangen Amseln, und Blümchen, Denises Kätzchen, schlich sich von der Seite an. Es setzte sich stolz neben einen großen Topf mit dunkelrot blühenden Geranien und schlang das Schwänzchen um die Vorderbeine.

Marcel betrachtete die Katze, dann lächelte er. Liebevoll schaute er Denise in die Augen. »Ich gestehe unter Zeugen, also Blümchen, dass ich gern ein Teil deiner Familie sein möchte.«

»Genehmigt.« Denise lachte herzlich, dann legte sie ihre Arme um Marcels Hals. Insgeheim hatte sie das ohnehin erwartet, es kam also nicht überraschend für sie. Sie hatte lange überlegt, denn eigentlich hatte sie aus den nicht unkomplizierten Beziehungen ihrer Schulfreundinnen lernen wollen. Doch jetzt, da anscheinend ihr Herz zu sprechen begonnen hatte, warf sie alle Bedenken über Bord.

Ganz fest hielt Marcel sie in seinen Armen, als wollte er sie nie wieder loslassen. Sein Gesicht kam ihr ganz nahe, und schließlich lagen seine Lippen auf den ihren. Sein Kuss war sanft und ein wenig unsicher. Dennoch spürte sie das innige Gefühl, dass er für sie Liebe empfand.

Denise schloss die Augen. Sie überließ sich ganz seinen Liebkosungen, und auch als sein Mund ihren Hals entlang bis zu ihren Schultern wanderte, wehrte sie sich nicht.

Erst als Blümchen gelangweilt um ihre Beine strich, fand sie in die Wirklichkeit zurück. »Du meinst es wirklich ernst, nicht wahr?«

»Ich habe noch nie etwas so ernst gemeint in meinem Leben wie das. Hoffentlich stört es dich nicht, dass ich sechzehn Jahre älter bin als du. Du hast deine ganze Jugend noch vor dir, ich zu einem großen Teil schon hinter mir. Irgendwann wirst du vielleicht denken, dass ich zu alt bin für dich. Dann musst du es mir ehrlich sagen.«

Denise blickte den Mann an, als würde sie ihn zum ersten Mal sehen. Noch nie zuvor hatte er sie so tief in sein Herz blicken lassen. Es berührte sie, und irgendwie machte es ihr auch ein bisschen Angst. Sie schüttelte den Kopf. »Du bist nicht zu alt. Vielleicht ist es ja gut, wenn du schon ein bisschen vernünftiger bist als ich. Ich schieße manchmal über das Ziel hinaus, da kann es nur hilfreich sein, wenn jemand da ist, der mich etwas ausbremst.«

»Wollen wir es heute deiner Familie mitteilen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht heute. Catherine ist zum ersten Mal seit längerer Zeit wieder mit der Familie zusammen. Wir sollten ihr eine besondere Wichtigkeit, die Hauptrolle an diesem Tag, einräumen. Ich liebe meine Schwägerin sehr, und ich möchte, dass es ihr gut geht. Sie ist meine beste Freundin, und ich kann es gar nicht abwarten, bis das Kind endlich da ist. Ich darf Patentante werden.«

Marcel war etwas enttäuscht, doch er zeigte es nicht. Natürlich konnte er sie gut verstehen. Hier wurde Familie ganz groß geschrieben, was er von zu Hause her nicht kannte. Doch bald würde auch er ein Teil dieser Familie sein und zu diesen wundervollen Menschen gehören.

Endlich fuhr die große Familienkutsche vor. In weiser Voraussicht hatte Raoul bereits vor fünf Jahren ein großes Auto gekauft, das man ohne große Schwierigkeiten von einem Fünfsitzer in einen Sechssitzer verwandeln konnte. Den würden sie alsbald brauchen.

»Da sind sie ja.« Begeistert klatschte Denise in die Hände, dann nahm sie Marcels Arm und zog ihn mit sich. »Schön, dass ihr da seid.« Fürsorglich half Denise ihrer Schwägerin beim Aussteigen. »Wie geht es dir denn?«

Catherine lächelte und nickte beruhigend. »Es geht ganz gut«, antwortete sie und umarmte Denise. »Du musst dir keine Sorgen machen. Immer machst du dir so viele Sorgen. Das mag ich gar nicht gern. Du musst dich auch mal um dich kümmern. Ich krieg das schon hin. Hab ich drei Kinder bekommen, dann werde ich das vierte auch noch schaffen.« Sie warf Marcel einen forschenden Blick zu.

Hastig stellte Denise der Familie ihren Freund vor. Er wurde freudig von allen akzeptiert. Nur Luis verhielt sich etwas zurückhaltend. Seit er in der Pubertät war, entwickelte er eine seltsame Distanz Fremden gegenüber. Dennoch reichte er ihm freundlich die Hand zur Begrüßung.

In eine fröhliche Unterhaltung vertieft marschierte die Familie zum Haus. Eva stand bereits an der Tür und strahlte über das ganze Gesicht. »Endlich habe ich mal wieder alle beisammen. Ich freue mich ja so, dass du mitkommen konntest, Catherine.« Herzlich umarmte sie die Schwiegertochter und drückte sie, so gut es mit deren dickem Bauch möglich war, an sich. »Geht es dir auch wirklich gut?«

Wieder berichtete Catherine, dass es ihr seit Kurzem um einiges besser ging. Auch sie freute sich, endlich wieder mit der ganzen Familie zusammen sein zu können. »Das duftet ja wundervoll bei euch«, stellte sie fest und schnupperte. »Dein berühmter Wildschweinbraten?«, fragte sie lächelnd.

Eva nickte stolz. »Dann kommt alle rein in die gute Stube, Hände waschen und dann zu Tisch.« Sie marschierte in die Küche und schaltete den Backofen aus, in dem der Braten still vor sich hin geschmort hatte. Sie richtete ihn appetitlich auf der großen Platte an und trug ihn ins Esszimmer. Die Salate hatte Marcel bereits angerichtet, ebenso die Gläser und das Besteck.

»Bist du jetzt glücklich?«, fragte Pierre, als er seine Frau endlich wieder einmal allein in der Küche erwischte. Er zog sie an sich und hielt sie ganz fest.

Eva nickte. »Ja, ich bin glücklich. Ich liebe es, wenn die ganze Familie um den Tisch versammelt ist und ich alle bemuttern darf. Ist das schlimm für dich?«

Pierre schüttelte den Kopf. »Das ist eine deiner Eigenschaften, weshalb ich dich so sehr liebe. Du bist das Beste, was mir in meinem Leben je passiert ist. Zusammen mit meinen Kindern natürlich.« Er küsste sie zärtlich.

Sanft machte Eva sich von ihm los. »Irgendetwas stimmt nicht mit dir. Seit ein paar Tagen bist du viel anhänglicher als sonst. Sind dir die Patienten ausgegangen, dass du so viel Zeit für mich hast?« Ihre Fragen sollten schelmisch klingen, doch in ihrer Stimme fehlte das Lächeln.

»Alle deine Vermutungen sind falsch. Seit Alex mir von seiner Krankheit erzählt hat, denke ich öfter über den Sinn des Lebens nach. Wie schnell kann alles zu Ende sein. Alex hat gelebt, als sei er unsterblich. Er hat immer nur gearbeitet, Geld verdient, und dabei ist seine Familie auf der Strecke geblieben. Das darf mir nicht passieren. Deshalb habe ich beschlossen, in der Praxis etwas kürzer zu treten und mich mehr um meine Lieben zu kümmern. Ich werde meine Arbeitszeit so kürzen, dass ich frei habe, wenn du von der Schule kommst. So haben wir die meisten Nachmittage für uns. Ich bin schließlich nicht nur Arzt und Opa, sondern auch Ehemann. Das habe ich bisher ein wenig vernachlässigt. Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen. Du warst und bist mir eine wundervolle Gefährtin. Nichts und niemand kann unser Band zerstören. Ich habe es dir bei unserer Heirat versprochen, dass ich dich für alle Ewigkeit lieben werde. Nicht einmal der Tod wird uns je trennen können.«

Schweigend hatte Eva ihm zugehört. Der Ernst in seiner Stimme hatte sie beunruhigt. War es wirklich die Krankheit seines Freundes, die ihn zum Nachdenken gebracht hatte, oder hatte er selbst ein Geheimnis, das er ihr nicht anvertrauen wollte? War er womöglich ebenfalls krank und konnte es ihr nicht sagen?

»Geht es dir gut, Liebster?« Sie forschte in seinem Gesicht und atmete erleichtert auf, als er lachte. »Du bist ein offenes Buch für mich, Eva. Nein, ich bin nicht krank. Das beschwöre ich bei allem, was mir heilig ist. Ich will nur nicht eines Tages dastehen und feststellen, dass es inzwischen für vieles zu spät geworden ist. So geht es jetzt Alex, dessen Familie sich in alle Winde zerstreut hat.«

Erleichtert atmete Eva auf. Sie wusste jetzt, dass sie ihm glauben durfte. Pierre verschwieg zwar manches, wenn er die Möglichkeit dazu hatte, doch er konnte nicht lügen. »Das sind wunderschöne Aussichten für die Zukunft. Ich freue mich sehr, dass wir mehr Zeit miteinander verbringen werden. Die Kinder sind aus dem Haus, und auch finanziell geht es uns sehr gut. Ich würde in den Sommerferien gern an den Gardasee fahren. Dann ist auch Cathe­rines Kind da, und wir sind frei. Weißt du noch, damals …« Ihr Blick verlor sich in der Ferne. Sie schwelgten in Erinnerungen und merkten gar nicht, dass die Familie noch immer auf das Essen wartete.

»Seid ihr eingeschlafen?« Lächelnd stand Denise an der Tür. Es war ein schönes Gefühl für sie, die Eltern in vertrauter Umarmung zu sehen. »Wir haben Hunger.«

Lachend brachten Eva und Denise Braten und Kartoffelsalat ins Esszimmer. Alle waren begeistert. Eva hatte sich wieder einmal selbst übertroffen. Sogar die Kinder langten ordentlich zu, obwohl sie sonst nicht die besten Esser waren. Nur Catherine hielt sich zurück, denn das Kind in ihrem Leib nahm inzwischen so viel Platz ein, dass sie nur noch wenig essen konnte.

Das Fest erreichte gerade seinen Höhepunkt, als ein kleines rotes Auto vor dem Haus parkte. Es stand eine ganze Zeit lang da, aber niemand stieg aus. Denise hatte es gleich bemerkt, doch zunächst dachte sie sich nicht viel dabei. Dann überlegte sie, dass es vielleicht ein Patient sein könnte, der in Not war. Sie stupste ihren Vater an und deutete mit Blicken nach draußen.

Pierre folgte ihrem Blick, doch er konnte mit dem kleinen roten Auto nichts anfangen. Er kannte es nicht. »Soll es doch da stehen bleiben. Es stört mich nicht«, flüsterte er seiner Tochter zu.

»Mich stört es auch nicht«, sagte Denise leise. Doch das war gelogen. Es störte sie durchaus. Etwas war an diesem Auto, das ihr ein unangenehmes Magengrimmen verursachte. »Soll ich nachsehen?«

»Was ist los?«, mischte sich jetzt auch Marcel ein. »Das Auto darf dort parken, oder?«

Jetzt hatte auch der Rest der Familie gemerkt, dass irgendetwas wohl nicht in Ordnung war. Alle blickten interessiert in dieselbe Richtung. Gebannt beobachteten sie, dass die Autotür geöffnet wurde und eine fremde, auffallend schlanke hochgewachsene Frau ausstieg. Sie nahm ihre überdimensionale Sonnenbrille ab und schaute in die Runde. Schließlich entschied sie sich, zum Haus zu gehen.

»Die kommt zu uns.« Eva hielt die Luft an. Mit jedem Schritt, den die Fremde näherrückte, wuchs in ihr das Gefühl drohenden Unheils. »Ist das eine Patientin?« Sie stand auf und trat ans Fenster, das bis zum Boden reichte. Im ersten Impuls wollte sie die Terrassentür schließen, unterließ es dann aber. »Kennst du diese Frau, Pierre?« Sie suchte den Blick ihres Mannes. Der saß da wie zur Salzsäule erstarrt und konnte nicht antworten. »Pierre?«

»Vater? Wer ist diese Frau?«, fragte jetzt Raoul gefährlich leise. »Vater?«

In diesem Moment hatte die Frau die offene Terrassentür entdeckt. Zielstrebig marschierte sie darauf zu, klopfte an die Scheibe und schaute lächelnd ins Zimmer. »Darf ich eintreten?«

»Warum?«, fragte Eva mit zitternder Stimme. Sie spürte, wie der Fußboden unter ihr zu weicher Watte wurde. Krampfhaft hielt sie sich an der Stuhllehne fest, bereit, sich vor die Familie zu stellen, um sie zu beschützen.

»Warum nicht? Ich bin Karin.«

In der Stille, die sich jetzt ausbreitete, hätte man eine Stecknadel fallen hören können. Jeder der Anwesenden wusste, wer Karin war. Doch niemand richtete ein Wort an sie.

Pierre erholte sich als erster von dem Schreck. »Was willst du?« Sein Gesicht hatte sich verfinstert, und er sah aus, als wollte er sich gleich auf sie stürzen, um sie von hier zu verjagen.

»Ich will nichts, ich verlange nichts, ich bitte lediglich um euer Verständnis.« Die Frau schwankte und wäre vermutlich umgefallen, wenn nicht Eva geistesgegenwärtig nach ihrem Arm gegriffen hätte. Mitleidig führte sie sie zu einem Stuhl. »Setzen Sie sich.«

»Danke. Ich habe niemanden außer euch.« Die Frau verkrampfte die Hände ineinander und bot ein Bild des Jammers. Karin hatte schon immer verstanden, sich gekonnt in Szene zu setzen. Doch außer Pierre wusste das niemand. Und der saß nur schweigend da und beobachtete, was da um ihn herum geschah, ohne dass er eingreifen konnte.

Eva brachte dem Gast einen zusätzlichen Teller, denn Essen gab es genug.

So saß an diesem Pfingstmittag eine Frau mit am Tisch, die alle Familienmitglieder bald gehörig durcheinanderbringen würde.

Und alles hatte begonnen mit dem eigentlich harmlosen Satz: Ich bin Karin.

Sophienlust, wie alles begann Staffel 1 – Familienroman

Подняться наверх