Читать книгу Sophienlust, wie alles begann Staffel 1 – Familienroman - Marietta Brem - Страница 9

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Sie hatte einen Strauß wunderschöner Frühlingsblumen in der Hand. Fröhlich lief sie den Weg entlang auf das Haus zu. Gleich würde sie der Mutter gegenüberstehen und ihr die Blumen überreichen. Etwas kitzelte sie an der Nase. Sie spürte, dass sie gleich niesen musste. In dem Moment öffnete sie die Augen und stellte entsetzt fest, dass sowohl die Wiese als auch der Blumenstrauß verschwunden waren.

Denise seufzte auf und drehte den Kopf zur Seite. Krampfhaft schloss sie erneut die Augen und versuchte ein wenig weiter zu dösen.

Nach einiger Zeit musste sie jedoch feststellen, dass der schöne Traum unwiederbringlich verschwunden war.

Geblieben war das Vogelgezwitscher, das zum geöffneten Fenster hereindrang.

Sie holte tief Luft und streckte sich. Ein wunderschöner Tag lag vor ihr, den sie mit Freude beginnen wollte. Noch während sie darüber nachdachte, was sie an diesem Tag unternehmen würde, spürte sie, wie sich eine dunkle Wolke zwischen sie und die Sonne schob. Etwas war geschehen, das ihre Freude trübte. Jetzt fiel es ihr auch wieder ein. Der überraschende Besuch einer fremden Frau gestern Nachmittag hatte das Leben der Familie ziemlich durcheinandergewirbelt.

Ruckartig setzte sie sich auf. Ein unangenehmes Gefühl kroch über ihren Rücken von der Hüfte bis in den Nacken hinauf. Es hätte nicht viel gefehlt, und ihre Haare hätten sich gesträubt.

Instinktiv ahnte sie, dass ihr Leben erst mal nicht mehr so verlaufen würde wie bisher. Was wollte Karin, die erste Frau ihres Vaters? Warum war sie so plötzlich aufgetaucht, nachdem sie mehr als zwanzig Jahre nichts mehr von sich hatte hören lassen?

Zögernd stellte sie die Beine auf den Boden und überlegte, ob sie tatsächlich schon aufstehen sollte. Die Freude auf den kommenden Tag war ihr gründlich verdorben. Dann jedoch fiel ihr die Mutter wieder ein. Ihren entsetzten Blick würde sie wohl nie mehr vergessen können, ebenso den von Raoul, ihrem Halbbruder. Immerhin war er der Sohn von Karin, auch wenn er das stets versucht hatte zu vergessen.

Es half alles nichts, sie musste aufstehen. Einmal würde sie ihr Zimmer verlassen müssen, sosehr sich ihr ganzer Körper auch weigerte. Endlich lief sie in das kleine angrenzende Bad, wusch sich und bürstete ihr langes schwarzes Haar, bis es glänzte. Dann schlüpfte sie in eine weiße Caprihose und ein hellblaues Shirt, das ihre dunklen Haare besonders gut zur Geltung brachte.

Leise öffnete sie die Zimmertür und lauschte. Im Haus war noch alles still. Mit nackten Füßen lief sie die Treppe hinunter und zur Küche, aus der verhaltenes Geklapper von Geschirr drang. Ihre Mutter stand an der Spüle und beseitigte gerade die letzten Überbleibsel der gestrigen Feier.

»Mamsi?«, fragte sie leise.

Erschrocken drehte sich die Frau um. »Denise? Du bist schon wach? Ich war extra leise, um niemanden zu stören. Eigentlich wollte ich zuerst die Küche aufgeräumt haben, ehe ich Kaffee mache. Hast du von den anderen schon etwas gehört?«

»Du meinst Karin?«

Eva nickte. »Der Schreck sitzt mir noch immer in allen Knochen. Ich hab das Gefühl, ungewollt in einen Albtraum geraten zu sein, aus dem es kein Entrinnen gibt.«

»Mir hat es die ganze Freude auf den heutigen Tag verdorben«, stimmte Denise zu. »Was sagt denn Paps dazu? Hat er sich irgendwie geäußert? Sein Gesicht gestern hat irgendwie gar nichts ausgedrückt. Er wirkte weder erschrocken noch verärgert noch zornig. Immerhin müsste er nach allem, was diese Frau ihm angetan hat, mehr als böse auf sie sein. Stattdessen hat er sich höflich mit ihr unterhalten.«

»Dein Vater besitzt sehr viel Selbstdisziplin. Das ist auch gut so. Ich stelle mir mit Grausen vor, wie es sich gestern angefühlt hätte, wäre die Situation eskaliert. So konnten wir wenigstens in Ruhe unsere Mahlzeit genießen, die ich mit viel Liebe und Mühe zubereitet hatte. Es wäre schade gewesen um den schönen Braten.« Eva versuchte ein Lachen, das ihr jedoch kläglich misslang.

»Ach Mamsi, dich kann auch nichts aus der Ruhe bringen. Ich beneide dich um deine guten Nerven. Als ich heute Morgen aufgewacht bin, hatte ich gar keine Lust, aufzustehen. Der Gedanke daran, dieser Frau wiederbegegnen zu müssen, hat mir alles verleidet. Warum hast du ihr angeboten, dass sie in unserem Gästezimmer übernachten kann?«

»Was hätte ich denn tun sollen? Hätte ich es nicht gesagt, wäre mit Sicherheit dein Vater auf die Idee gekommen. Das wäre, rein psychologisch betrachtet, bedeutend schlimmer für mich gewesen.« Leise räumte sie das Geschirr in den Schrank. Es war offensichtlich, dass sie die restliche Familie nicht aufwecken wollte, weil sie das Zusammentreffen mit Karin ebenso fürchtete wie Denise.

Insgeheim musste Denise ihr recht geben. Dennoch fragte sie sich immer wieder, was die nicht vorhandene Reaktion ihres Vaters zu bedeuten hatte. »Glaubst du, er liebt sie noch?«

Entsetzt drehte sich Eva zu ihrer Tochter um. »Bist du wahnsinnig? Diese Frau hat damals das Leben ihrer kleinen Familie absichtlich zerstört, indem sie sich sehr egoistisch verhalten hat. Ich denke, dein Vater hat ihr verziehen, und das ist auch gut so. Doch vergessen kann man so etwas nicht. Verzeihen ist nötig, damit man unbelastet weiterleben kann.«

»Raoul hat es ihr nicht verziehen. Hast du sein Gesicht gesehen? Im ersten Moment hatte ich Angst, er würde sich wutentbrannt auf sie stürzen. Hätte Catherine nicht ihre Hand auf seinen Arm gelegt, wäre vielleicht ein Unglück passiert.« In Denises Stimme schwang Bewunderung mit für den Bruder. Sie schätzte es sehr, wenn ein Mensch zu seinen Gefühlen stehen konnte. Karin hatte ihren Sohn im Stich gelassen, als er sie dringend gebraucht hätte. So etwas kann ein Kind nicht vergessen. Es prägt das ganze Leben, davon war sie fest überzeugt.

»Diese Befürchtung hatte ich auch zunächst. Ein Glück, dass ­Catherine so besonnen reagiert hat. Sie ist der ruhende Pol im Leben deines Bruders. Es ist so wundervoll, dass er sie gefunden hat.« Eva redete etwas atemlos, was darauf hindeutete, dass sie innerlich noch immer ziemlich erregt war. »Vielleicht hätte man sich die ganze Aufregung ersparen können, wenn ­Raoul nicht so feige gewesen wäre und die Briefe gelesen hätte. Mit Sicherheit hat sie darin ihren Besuch angekündigt.«

»Glaubst du wirklich, sie hätte sich von ihrer Entscheidung abbringen lassen? Fast habe ich die Vermutung, dass es für sie umso reizvoller wird, wenn sie Widerstand spürt. Erst ein Kampf macht einen Sieg für manche Menschen interessant.«

»Wo hast du denn diese Weisheit her?«

»Es ist meine Erfahrung. Frag dich doch selbst, worüber du dich mehr freust, über einen Erfolg, der sich einfach so einstellt, oder über einen, um den du schwer hast kämpfen müssen.« Denise dachte an ihre Ausbildung zur Tänzerin, die oftmals mit viel Muskelkater und Schweiß verbunden war. Einige Male war sie schon drauf und dran gewesen aufzugeben, doch dann stand das Ziel wieder lockend vor ihren Augen, und sie machte weiter, auch wenn es entsetzlich wehtat.

Eva nickte. »Da könntest du schon recht haben, mein liebes Kind«, stimmte sie zu und lächelte. »Man sollte nicht glauben, dass du erst achtzehn Jahre alt bist. Manchmal wirkst du schon so weise, als hättest du die ersten hundert Jahre bereits gelebt.

»Wie soll es jetzt weitergehen?« Denise hatte angefangen, den Frühstückstisch zu decken. Sie musste etwas tun, denn die Nervosität wurde immer schlimmer. Bewegung war in so einer Situation für sie das einzige, das ein bisschen Linderung brachte.

Eva zuckte die Schultern. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, mit deinem Vater darüber zu reden. Als ich ins Bett kam, hat er bereits geschlafen. Er hat schließlich auch ein Wörtchen mitzureden. Doch nach allem, was er mir bis jetzt über diese Frau erzählt hat, gehe ich davon aus, dass er sie nach dem Frühstück aus dem Haus komplimentieren wird.«

Denise lachte leise. »Wäre ich Paps, würde ich sie mit Schimpf und Schande vom Acker jagen. Eigentlich ist es eine Unverschämtheit von ihr, dass sie so plötzlich und unangemeldet bei uns auftaucht. Papa ist nicht mehr ihr Mann, und Raoul hat ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er mit ihr nichts zu tun haben will, indem er alle ihre Briefe undbeantwortet gelassen und vernichtet hat.«

»Hätte er sie mal lieber gelesen, dann wären wir vielleicht auf diesen Überraschungsbesuch besser vorbereitet gewesen«, wiederholte Eva missbilligend. »Aber da ist er wie sein Vater, er steckt einfach den Kopf in den Sand und bildet sich ein, niemand würde ihn sehen können. Es würde mich wirklich interessieren, wie oft diese Frau angekündigt hat, uns zu besuchen. Vor manchen Dingen sollte man halt nicht die Augen verschließen. Man entgeht dem Schicksal durch bloßes Ignorieren nicht und kann es auch nicht verhindern.«

Denise seufzte auf. Sie stellte bei sich fest, dass die Mutter wieder einmal recht hatte. Auch sie selbst neigte manchmal dazu, Dinge einfach zu übersehen, die ihr nicht gefielen. Und sie gestand sich auch ein, dass sie fast jedes Mal festgestellt hatte, dass dies nicht der richtige Weg gewesen war. Dennoch hatte sie es bis jetzt nicht geschafft, etwas an ihrem Verhalten zu ändern. »Wirst du ihr sagen, dass sie gehen soll, wenn Papa nichts sagt?«

»Natürlich nicht.« Eva schüttelte den Kopf. »Das ist allein Sache deines Vaters. Immerhin war er mit ihr verheiratet und nicht ich. Er muss das klären und die richtige Entscheidung treffen.«

»Und wenn er sagt, dass sie bleiben soll?«

Denise wusste selbst nicht, weshalb sie auf einmal auf diese fatale Idee gekommen war. Plötzlich war sie da gewesen, und sie erschien ihr gar nicht so abwegig. Immerhin hatte sich der Vater gestern eine ganze Weile nett mit Karin unterhalten. Von Aggression, die sie bei ihrem Bruder Raoul fast körperlich gespürt hatte, war jedenfalls bei ihrem Vater nichts zu bemerken gewesen.

Entsetzt starrte Eva ihre Tochter an. »Das wird er ganz bestimmt nicht tun. Mir tut Karin leid, sie sieht aus, als hätte sie eine schlimme Krankheit. Ich kann mich nicht erinnern, jemals so einen mageren Menschen gesehen zu haben. Wer weiß, weshalb sie ausgerechnet jetzt gekommen ist. Das heißt aber nicht, dass ich sie mit offenen Armen in unserer Familie willkommen heißen werde. Es war in Ordnung, dass sie bei uns übernachtet hat, doch heute ist ein neuer Tag angebrochen. Das weiß dein Vater auch.«

»Was weiß dein Vater?« Pierre hatte unbemerkt die Küche betreten. Lächelnd schaute er auf seine beiden Frauen, die ihn erschrocken musterten. »Habe ich euch bei einem wichtigen Gespräch ertappt? Ich hoffe nicht. In unserer Familie ist es üblich, dass man Probleme klar anspricht und gemeinsam nach einer Lösung sucht. Also, wo habt ihr Probleme?«

Eva zögerte einen Moment, dann nickte sie. »Du hast recht, Pierre, wir haben uns über Karin unterhalten. Ihr Besuch kam ziemlich überraschend, findest du nicht auch?« Gespannt wartete sie auf seine Reaktion.

»Überraschend ganz bestimmt«, gab Pierre zu. »Aber er ist durchaus berechtigt«, fügte er leise hinzu. Dann betrat er vollends die Küche und schloss die Tür hinter sich. »Sie wusste wohl nicht, wohin sie gehen sollte«, flüsterte er. »Wenn ich es richtig verstanden habe, ist sie am Ende, gesundheitlich als auch finanziell.«

»Berechtigt?«

Eva holte hörbar Luft. Sie musste sich am Waschbecken mit der Hand festhalten, denn plötzlich hatte sie das Gefühl, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen. »Wer oder was hat ihr bitteschön diese Berechtigung erteilt? Ich jedenfalls nicht. Wenn du das warst, hättest du uns das sagen müssen.«

Pierre schwieg. »So habe ich das nicht gemeint«, ließ er sich nach einer Weile zu einer nichtssagenden Erklärung herbei. »Sie ist hier als ein Mensch, der Hilfe braucht, nicht als meine Exfrau, die fast das Leben meines Sohnes und auch mein eigenes zerstört hätte. Ich bitte euch, dies so zu sehen und nicht anders.«

»Was bedeutet das jetzt für uns?« Denise spürte, wie ihr eine Gänsehaut über den Rücken lief. All die finsteren Gedanken, die sie heute früh noch gehabt hatte, schienen sich plötzlich zu erfüllen.

»Vorerst heißt das gar nichts. Ich habe es euch lediglich als Erklärung gesagt.« Er ging zum Tisch. »Gibt es heute keinen Kaffee?«

Verblüfft starrte Eva ihren Mann an. »Ist das alles, was du zu diesem Thema zu sagen hast?«

»Was meinst du?«

»Dann ist das also völlig in Ordnung für dich, dass sie bei uns ist? Wie soll das mit ihr weitergehen? Wenn sie, wie du sagst, völlig am Ende ist, können wir sie natürlich nicht auf die Straße schicken. Also, was gedenkst du zu tun?« Es kostete Eva große Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie hatte das Gefühl, als würde sie plötzlich in einem luftleeren Raum stehen. Es gab kein Vor und kein Zurück, es gab auch keine Zeit mehr.

»Ich warte erst einmal ab, was sie zu erzählen hat. Außerdem möchte ich mehr darüber erfahren, weshalb sie so entsetzlich krank aussieht. Was ist nur aus dieser wunderschönen Frau geworden?« Man konnte ihm ansehen, wie betroffen er war.

Die beiden Frauen warfen sich einen bedeutungsvollen Blick zu. Denise beschloss, erst einmal gar nichts zu sagen. Immerhin war es eine Sache zwischen ihren Eltern. Doch die Angst in ihr, etwas Wichtiges zu verlieren, den einzigen wirklich sicheren Platz in ihrem Leben, wurde immer größer. »Kann ich dir helfen, Mami? Wenn nicht, würde ich mit Sam eine Runde drehen. Ich glaube, es wird gut sein, wenn ich eine Weile für mich habe und ihr für euch, zum Nachdenken und Besprechen.«

»Mach das, Denise. Falls du deinen Bruder besuchen willst, bestelle ihm einen schönen Gruß von mir.« Eva nickte ihrer Tochter zu, was heißen sollte, dass sie genau das von ihrer Tochter erwartete. Plötzlich war sie überzeugt davon, dass nur noch Raoul ihr helfen konnte. Pierre hatte seinen kritischen Blick offenbar gänzlich verloren.

»In Ordnung, Mamsi.« Denise umarmte spontan ihre Mutter. »Halt die Ohren steif«, flüsterte sie ihr ins Ohr, dann verließ sie eilig die Küche, um in ihr Zimmer zu gehen und sich umzuziehen. Sie wollte nur noch flüchten, weg aus dem Haus, in dem sie bis vor wenigen Stunden noch so glücklich gewesen war. Instinktiv spürte sie, dass sich dunkle Wolken über ihrem Elternhaus zusammenbrauten. Und es war kein Wind in Sicht, der diese Wolken vertreiben konnte.

*

»Toll, dass du gleich am Telefon bist, Clara. Ich hatte schon befürchtet, dass du nicht zu Hause bist. Ich wollte nur vermelden, dass wir gut angekommen sind, Tutu und ich. Er hat prima durchgehalten, der tapfere kleine Kerl.« Karin räkelte sich auf dem Sofa im Gästezimmer. Sie fühlte sich ausgesprochen wohl. Einen Moment lang lauschte sie, dann begann sie erneut zu lachen. »Mach dir keine Sorgen, Clara. Mein gestriger Auftritt war spektakulär. Die ganze Familie war versammelt. Ich hätte den Zeitpunkt nicht besser wählen können. Pierre war so lieb und hat mich zum Essen eingeladen. Zuerst dachte ich, mein lieber Sohn wird sich auf mich stürzen und hinauswerfen, doch seine Frau, sie ist übrigens hochschwanger, hat ihn mit Gesten beruhigt.«

Denise, die gerade in ihr Zimmer hatte gehen wollen, hörte das fröhliche Geplapper des von ihr nicht gerade willkommen geheißenen Gastes. Eigentlich war sie von Natur aus nicht sehr neugierig, doch in diesem Falle blieb sie stehen und lauschte. Karins Worte klangen gar nicht so wie die einer todkranken Frau, stellte sie fest, und ihre Angst vor einer unbekannten Gefahr wuchs noch mehr. Es war offensichtlich, dass Raouls Mutter etwas im Schilde führte.

»Ich kann nicht sagen, wie lange ich bleiben werde. Es kommt darauf an, was die Frau des Hauses zu meiner Anwesenheit sagt, und vor allem, was sie in diesem Haus überhaupt zu melden hat. Pierre war früher ein starker Mann, der immer sagte, was zu tun war. Inzwischen scheint er etwas Federn gelassen zu haben, doch ich hoffe darauf, dass er zumindest seine Durchsetzungskraft bewahren konnte. Sollte dies der Fall sein, werde ich wohl etwas länger bleiben.« Sie kicherte.

Denise hatte genug gehört. Jetzt wusste sie, dass ihre Ängste begründet waren. Doch wem sollte sie davon erzählen? Der Mutter? Sie würde sie nur unnötig ängstigen, ohne dass sie gezielt gegensteuern konnte. Dem Vater? So wie der gestern seine erste Frau angesehen hatte, würde er ihr vermutlich nicht glauben. Ihr blieb also nur noch Raoul, denn der wollte mit seiner leiblichen Mutter nichts zu tun haben.

Heute konnte Denise den wunderschönen Weg durch die Felder und Wiesen nicht genießen. Sie hatte es sehr eilig. Sam, die fröhliche Hündin, konnte gar nicht verstehen, dass dieses Mal nicht gespielt wurde. Immer wieder brachte sie kleinere Äste und hoffte, dass Denise sie werfen würde. Als diese jedoch nicht darauf reagierte, gab sie auf und schnüffelte etwas lustlos an ihren gewohnten Plätzen.

Raoul und Catherine saßen beim Frühstück. »Du kommst gerade recht, Denise. Sag bloß, du hast zu Hause nichts bekommen. Du siehst aus, als hätte dir jemand gehörig die Suppe verhagelt.« Raoul grinste, doch es lag keine Fröhlichkeit in seinem Gesicht. »Im Augenblick fühle ich mich nicht sehr zu Hause in meinem Leben. Allem Anschein nach geht es dir auch nicht anders. Diese Frau hat etwas zerstört, was man nicht so einfach reparieren kann.«

Denise ließ sich stöhnend auf den Stuhl fallen. »Das kann nicht gut gehen«, sagte sie nur und machte Sam von der Leine los, während Raoul ihr eine Tasse holte.

»Magst du Kaffee oder lieber Wasser?«

Wie erwachend schaute Denise ihren Bruder an. »Ich … Ich glaube, Kaffee wäre günstiger. Ich brauche etwas, das meine Lebensgeister wieder aufweckt.«

»So schlimm sieht es aus?« ­Catherine kaute an ihrem Brötchen. Man konnte ihr ansehen, dass sie in dieser Nacht ziemlich wenig geschlafen hatte. Sie war blass, und unter ihren Augen lagen tiefe Schatten. »Wie ging es denn weiter, nachdem wir gegangen waren?«

»Nicht viel anders als vorher«, antwortete Denise nach kurzer Überlegung. Dankbar nahm sie den Kaffee entgegen und trank die erste Tasse in einem Zug leer. Sie spürte, wie tatsächlich langsam ihre Lebensgeister zurückkehrten. »Karin hat viel geredet, aber eigentlich nichts gesagt. Mam und ich sind noch genauso klug oder dumm wie vorher. Paps hing gebannt an ihren Lippen, als würde ihn tatsächlich interessieren, was sie erzählte.«

»Was hatte sie denn so Wichtiges zu erzählen, dass sie es nicht sagen konnte, als wir noch da waren?«, fragte Raoul verwundert.

»Nichts«, antwortete Denise einfach. »Sie hat nichts erzählt, zumindest war über ihr Leben nicht viel zu erfahren. Weshalb sie plötzlich bei uns hereingeschneit ist, hat sie überhaupt nicht erwähnt. Gerade das aber hätte uns brennend interessiert.«

»Warum habt ihr sie eingeladen?«, fragte Catherine und lehnte sich zurück. Sie hatte sich so sehr auf ihr leckeres Frühstück gefreut, doch nach ein paar Bissen war ihr Hals in letzter Zeit wie zugeschnürt. Bei keiner ihrer drei vorhergehenden Schwangerschaften hatte sie solch starke Beschwerden gehabt wie dieses Mal. Dazu kam, dass ihr Bauch bereits so dick war, als würde sie mit Zwillingen kurz vor der Niederkunft stehen, was jedoch nicht der Fall war.

Denise zuckte die Schultern. »Ich hab keine Ahnung. Als Karin jammervoll meinte, sie würde wohl im Auto übernachten müssen, hat Paps ihr sofort unser Gästezimmer angeboten, allerdings vorerst nur für eine Nacht.«

»Und das glaubt er? Sie will bestimmt länger bleiben.« Raoul lachte freudlos auf. »So wie ich Karin in Erinnerung habe, geht sie über Leichen, wenn sie etwas haben will. Vermutlich ist ihr Leben nicht ganz so verlaufen, wie sie es sich in ihren jugendlichen Träumen ausgemalt hat. Inzwischen dürfte sie kapiert haben, dass sie etwas ändern muss. Dafür kommt ihr unsere Familie gerade recht. Auf diese Weise würde sie ohne Anstrengung ein warmes Plätzchen und eine erstklassige Versorgung bekommen, ohne dass sie etwas dafür tun muss. Und das alles auf Kosten unserer Familie.« Sein Gesicht rötete sich vor Zorn.

Catherine legte für einen Moment lang beruhigend eine Hand auf den Arm ihres Mannes. »Steigere dich nicht so hinein, Raoul. Du brauchst deine Kräfte für deine eigene Familie. Pierre wird schon wissen, was zu tun ist. Wenn er eine falsche Entscheidung trifft, ist immer noch Eva da. Sie passt auf ihre Familie auf wie eine Löwin. Du musst dir also keine Sorgen machen.«

Raoul schüttelte die Hand seiner Frau zornig ab. »Du kennst meinen Vater nicht. Er hat damals sehr lange um Karin gelitten, und auch wenn ich überzeugt davon bin, dass er Eva sehr liebt, bin ich mir doch nicht ganz sicher, ob er Karin wirklich komplett aus seinem Herzen geschnitten hat. Ich habe seine Blicke gesehen, bewundernd und gleichzeitig besorgt. Da ist noch ein Rest, und der wird uns allen in der nächsten Zeit ganz schön zu schaffen machen.«

Denise verschluckte sich fast an ihrem Brötchen. Raoul sprach gelassen ihre geheimsten Befürchtungen aus, als wären sie bereits in Erfüllung gegangen. »Das meinst du doch nicht wirklich. Bitte, Raoul, mach mir keine Angst. Mir ist ohnehin schon den ganzen Morgen übel. Ich möchte wissen, was deine Mutter … entschuldige bitte, was Karin mit ihrem Besuch bezweckt. Sie sieht rein äußerlich ja wirklich sehr krank aus.«

»Also, mir hat sie leidgetan.« Catherine seufzte verhalten auf. »Ich weiß, wie man sich fühlt, wenn es einem nicht gut geht. Diese Schwangerschaft verlangt mir wirklich alles ab. Und so wie Karin aussieht, scheint in ihrem Inneren auch etwas zu nagen, das ihr nach und nach das Leben entzieht.«

Denise dachte nach. Dann nickte sie. »Vielleicht hast du ja recht. Ich werde mich vorläufig nicht einmischen, denn es ist Sache unserer Eltern. Allerdings habe ich heute Morgen ein Gespräch belauscht, das Karin vermutlich mit einer Freundin geführt hat. Das klang gar nicht danach, dass sie sich so schlimm krank fühlt. Ich hatte eher den Eindruck, als würde sie sich diebisch darüber freuen, dass unser Vater ihr so freundlich entgegengekommen ist.«

»Genau das habe ich auch vermutet.« Raoul presste die Lippen zusammen. Zu gern hätte er ganz anders reagiert, vielleicht mit einem Zornesausbruch oder alten Beschuldigungen, doch er wollte weder Catherine noch Denise unnötig aufregen. Es reichte völlig, wenn er sich vor seinem geistigen Auge die furchtbarsten Folgen ausmalte.

»Kaut ihr noch immer am Besuch unserer Großmutter herum? Ich finde, sie ist eine arme, kranke Frau, auf die man Rücksicht nehmen sollte.« Louis, der 13-jährige Sohn des Paares, hatte die gemütlich eingerichtete Wohnküche betreten und griff sich nun ebenfalls ein Brötchen. »Was spricht dagegen, wenn wir eine Großmutter bekommen, die auch so aussieht? Eva ist doch noch viel zu jung, um als Oma durchzugehen.« Er kicherte in sich hinein.

Catherine verbiss sich ein Lachen. Ohne es zu ahnen, hatte ihr ältester Sohn genau das ausgesprochen, was sie vorhin ebenfalls gedacht hatte. »Louis, du sollst doch nicht so respektlos reden, auch wenn du recht hast. Großmutter Karin ist eine offenbar sehr kranke Frau. Auch wenn man ihr normalerweise die Krankheit nicht glaubt, sieht man sie ihr deutlich an. Da gibt es kein Leugnen.«

»Ich finde, diese Frau bekommt von uns allen viel zu viel Aufmerksamkeit. Das hat sie nicht verdient. Sie hat aus reiner Selbstsucht ihre Familie zerstört. Jetzt kommt sie unerwartet und uneingeladen daher und ist schon wieder eifrig damit beschäftigt, mit miesen Tricks auch diese Familie kaputt zu machen. Warum ist unser Vater nicht Manns genug, sie einfach wegzuschicken?« Wütend warf Raoul den Rest seines Brötchens auf den Teller zurück. Man konnte ihm ansehen, dass er am liebsten noch viel mehr gesagt hätte.

»Würdest du dich trauen, das zu tun, was dein Herz dir befiehlt, dann hätte sie nichts zu lachen, stimmt’s?« Denise fand die Situation eigentlich zum Lachen, wenn sie nicht so ernst gewesen wäre. Instinktiv spürte sie, dass der ganzen Familie gewaltiges Unheil drohte. »Was können wir tun?«

Ihr Bruder zuckte die Schultern. »Uns sind die Hände gebunden. Das ist Sache der Eltern. Eva darf sich das nicht gefallen lassen. Wenn sie nicht aufpasst, hat sie bald in ihrem eigenen Haus nichts mehr zu sagen. Ich erinnere mich noch gut an Karin, überall, wo sie auftauchte, hinterließ sie Schutt und Asche. Sie hat ein Händchen dafür, alles kaputt zu machen. Wenn ich nur wüsste, was unser Vater so denkt. Mein erster Eindruck gestern war jedenfalls, dass er ihren Besuch irgendwie positiv bewertete. Das erschüttert mich zutiefst.«

»Den Eindruck hatte ich leider auch.« Denise versuchte die Angst zu unterdrücken, die plötzlich in ihr hochstieg. Ihre kleine heile Welt war gehörig ins Wanken geraten. »Soll ich mit Papa reden? Vielleicht hört er auf mich.«

»Unser Vater hört auf niemanden, nur auf sein Herz«, knurrte Raoul. »Und genau das ist bei dieser Frau fehl am Platz. Ich hoffe nur, wir irren uns. Aber das werden wir bald erfahren. Spätestens heute Nachmittag sollte Karin weg sein. Halt mich bitte auf dem Laufenden, Denise.« Er blickte auf seine Armbanduhr. »Ich muss los. Sollte schon längst beim Kunden sein. Wir hören uns heute Abend.« Hastig erhob er sich, hauchte seiner Frau einen liebevollen Kuss auf die Stirn, wuschelte in den dichten Locken seines Sohnes und warf Denise eine hastige Kusshand zu. Dann war er auch schon verschwunden.

»Weißt du mehr als ich?«

Nachdenklich blickte Denise ihre Schwägerin an. »Was meinst du? Denkst du, dein Mann erzählt mir mehr als dir?«

»Das nicht.« Catherine schüttelte den Kopf. »Es könnte doch immerhin sein, dass euer Vater ein wenig mitteilsamer ist als sein Sohn. Redet ihr denn zu Hause nie über alte Geschichten?«

»Bei diesem Thema ist unser Vater sehr verschlossen. Mam hat einige Male versucht, ein bisschen was aus ihm herauszulocken, doch wenn sie zu viel fragt, wird er böse. Ich wüsste gern, was damals alles vorgefallen ist. Es ist schon seltsam, dass Raoul gar so aggressiv reagiert, wenn die Sprache auf seine leibliche Mutter fällt.«

»Eigentlich finde ich sie gar nicht so übel. Was denkst du?« Nachdenklich streichelte Catherine über ihren Bauch. »Immerhin wird dieses Kind Gene auch von seiner Großmutter haben, genau wie unsere drei anderen. Ich habe gestern versucht, gewisse Ähnlichkeiten zwischen ihr und unseren Kindern zu entdecken, aber da war nichts.«

»Sei froh, Catherine. Ich glaube nicht, dass Raoul sehr erfreut wäre, wenn eure Kinder große Ähnlichkeit mit Karin hätten. Und für eines der Kinder, das diese Ähnlichkeit hätte, wäre es bestimmt nicht von Vorteil. Immerhin besteht die Möglichkeit, dass sich Raouls Aggressivität dann irgendwie auch auf das Kind konzentrieren würde. ­Raoul ist ein toller Mensch, und ich liebe ihn sehr. Immerhin ist er mein Bruder. Doch ich kenne auch seine Ausbrüche, wenn er sich aufregt. Es war früher schon so, dass er manches Mal über das Ziel hinausgeschossen ist.«

Catherine nickte. »Diese Ausbrüche haben wir alle ebenfalls schon über uns ergehen lassen müssen. Zum Glück hat er sich bis jetzt immer von mir bremsen lassen. Doch es ging auch nie um so etwas Ernstes wie um seine leibliche Mutter. Findest du es schlimm, dass ich bereits darüber nachgedacht habe, wie es wäre, wenn Karin eine Weile bei uns bleiben würde? Sie könnte mir im Haushalt helfen und sich um die Kinder kümmern. Ich schaffe es einfach nicht mehr, allen Anforderungen gerecht zu werden.«

»Ich kann dir doch helfen.«

»Du tust schon so viel für uns, Denise. Langsam solltest du daran denken, dass du ein eigenes Leben vor dir hast. Du kannst nicht immer nur für andere Menschen da sein.«

»Es macht mir Spaß. Du brauchst Hilfe, und ich spiele gern bei euch das Hausmütterchen, wenn ich nicht gerade in der Schule bin. Du wirst ohnehin bald deine Pflichten wieder selbst übernehmen können.« Denise begann den Frühstückstisch abzuräumen. »Soll ich etwas für das Mittagessen vorbereiten? Du müsstest nur noch am Nachmittag den Herd einschalten, dann könnt ihr gleich essen, wenn Raoul nach Hause kommt.«

Catherine lachte, doch der Ernst in ihren Augen blieb. »Du solltest endlich eine eigene Familie gründen. Heirate und bekomme ganz viele Kinder, das ist genau das, was dich glücklich machen kann. Ich meine das ernst«, fügte sie hinzu, als Denise etwas verlegen lachte. »Keiner kann so gut mit Kindern umgehen wie du, und wenn jemand Hilfe braucht, wer ist dann zur Stelle? Denise Montand, die barmherzige Samariterin.«

Denise spürte, wie es ihr heiß ins Gesicht schoss. Insgeheim musste sie sich eingestehen, dass die Schwägerin irgendwie recht hatte, was sie jedoch nicht so gern mochte. Sie senkte den Blick und versuchte ein Lachen.

»Ein guter Witz«, murmelte sie vor sich hin. »Ich bin Tänzerin, das heißt, ich will es werden. Es gibt nichts Schöneres, als mit dem Wind zu tanzen, sich seinem Rhythmus anzupassen, seinen Körper so intensiv zu spüren, als sei er eins mit den Klängen der Natur.«

»Und Marcel? Sieht er das auch so?«

»Marcel? Was hat er denn damit zu tun?«

»Ich dachte …« Jetzt war es an Catherine, verlegen zu sein. »Seid ihr nicht zusammen?«

»Was ist ›zusammen‹? Wir sind Freunde.«

»Nicht mehr?«

»Ich mag Marcel, und irgendwie hab ich schon darüber nachgedacht, wie es mit uns weitergehen soll. Doch so weit, dass ich ihn zum Vater meiner Kinder machen möchte, sind wir noch lange nicht. Ich liebe meine Freiheit und werde sie ganz bestimmt so schnell nicht aufgeben.«

»Wann musst du nach Hause? Ich hatte gehofft, wir finden gemeinsam eine Lösung für Karin, denn wenn Raoul dabei ist, wird es einfach zu emotional.« Hastig versuchte Catherine, das Gespräch in andere Bahnen zu lenken. Sie hatte gemerkt, dass Denise dieses Thema ihrer Zukunft ziemlich unangenehm war. Sie lehnte sich auf dem Sofa zurück und legte beide Hände auf ihren Bauch. »Wenn ich nur nicht so hilflos wäre«, jammerte sie, wurde aber gleich wieder fröhlich. »Es wird ein wunderbares Kind, wenn es erst einmal geboren ist«, sagte sie lächelnd. »Ich wollte, es wäre schon so weit.«

»Die Zeit wird schneller verstreichen, als du ahnst«, versuchte Denise sie aufzumuntern. »Da ist Karin schon ein größeres Problem. So wie das im Moment aussieht, wird es, anders als mit mit drei Monaten Schwangerschaft wie bei dir, nicht ausgestanden sein. Das Problem Karin wird uns begleiten. Mein Bauchgefühl sagt mir das. Wenn ich ihre Unterhaltung mit der unbekannten Person am anderen Ende der Leitung richtig interpretiert habe, hat sie überhaupt nicht vor, so bald von hier zu verschwinden. Mir ist nicht wohl bei dem Gedanken, dass sie sich bei uns zu Hause einnistet wie ein Kuckuck.«

»Dann schicken wir Raoul ins Gefecht. Der wird schon die richtigen Worte finden, um sie zu vertreiben.« Catherine lachte ein wenig mühsam. »Wenn der tief Luft holt und böse dreinschaut, dann geht sie ganz von selbst. Jeder bekommt Angst vor meinem Mann, wenn er es drauf anlegt.«

Denise lachte herzhaft mit. Ja, Raoul war ihre einzige Hoffnung, wenn alles andere versagte. »Ich sollte jetzt gehen, ich muss mal sehen, wie die Aktien inzwischen zu Hause stehen«, entschied sie. »Ich kann ja heute gegen Abend noch mal kommen, falls ich helfen soll. Ich ruf dich an, wenn ich wegen Karin was erfahre.« Sie umarmte die Schwägerin kurz, dann verließ sie durch die Terrassentür das schöne Einfamilienhaus.

Es war ein herrlicher Frühlingstag, so wie Denise es liebte. Doch heute war in ihrem Kopf und auch in ihrem Herzen kein Platz für schöne Gefühle. Seit gestern hatte sich alles verändert, ihre heile Welt drohte zu zerbrechen. Da half es auch nichts, dass sie wie immer an dem alten Apfelbaum stehen blieb, der bereits etwas schief da stand, als wollte er bald umbrechen. Sie umarmte den rauen Stamm und versuchte ihre Gefühle mit dem Baum zu verbinden. Dennoch wirbelten die Gedanken in ihrem Kopf wie wild herum. Erst nach ein paar Minuten gelang es ihr, einen Teil der Gedanken abzuschalten. Sie hatte auf einmal die Erkenntnis, dass sie an dem, was kommen könnte, keine Schuld hatte. Auch ihre Möglichkeiten, etwas zu verändern oder zu verhindern, waren verschwindend gering. Es blieb ihr also gar nichts anderes übrig, als erst einmal abzuwarten, ohne sich dabei zu große Sorgen zu machen. Ihre Eltern waren alt genug, um mit Schwierigkeiten fertig zu werden, ohne dass sie eingreifen musste. Im Grunde war sie ja auch gar nicht befugt dazu.

Als sie zu diesem Schluss gekommen war, fühlte sie sich etwas besser. Dennoch ging sie ausgesprochen langsam zurück. Sie hatte es nicht eilig, Karin wiederzusehen.

Im Haus war es still. Die Küche war leer, und auch im Wohnzimmer waren weder die Eltern noch Karin. Der Vater arbeitete vermutlich in der Praxis, und ihre Mutter mochte beim Einkaufen sein. Und wo Karin sich aufhielt, das interessierte sie nicht im geringsten. Leise ging sie in ihr Zimmer und machte die Tür zu.

*

Solch ein stilles Abendessen hatte es im Hause Montand schon lange nicht mehr gegeben. Eva hatte Bohneneintopf gekocht und stellte den Topf einfach auf den Tisch, anstatt ihn wie gewohnt hübsch anzurichten. Pierre vergrub seine Nase in einem Fachbuch, und Karin holte eine Schüssel aus dem Schrank und schöpfte sich eine Portion ein. Dann schaute sie lächelnd in die Runde. »Ich geh lieber in mein Zimmer zum Essen, da ist es fröhlicher als hier bei euch. Jetzt kommt meine Fernsehserie, die ich immer anschaue.« Ohne auf eine Antwort zu warten, marschierte sie schleunigst davon.

Denise war so verblüfft über das Verhalten dieser Frau, dass ihr nichts einfiel, das sie hätte sagen können.

Im Grunde benahm sich Karin, als sei sie bereits eine Ewigkeit da, und vor allem, als hätte sie die natürlichsten Rechte, hier zu sein. Es war für sie offensichtlich eine Selbstverständlichkeit, dass Eva für sie kochte und sie in ihrem Haus wohnen ließ.

»Mam, du sagst gar nichts?«, flüsterte Denise ihrer Mutter zu. »Das geht doch nicht. Du bist schließlich nicht ihre Angestellte. Was soll das?«

Eva stiegen Tränen in die Augen, doch sie schüttelte nur den Kopf und legte den Zeigefinger an die Lippen. »Es ist in Ordnung«, flüsterte sie mit einem unsicheren Seitenblick auf ihren Mann. »Lass uns bitte eine Weile allein, Denise. Wenn du magst, nimm dir das Essen doch auch mit aufs Zimmer. Ich habe jetzt mit deinem Vater zu reden.«

Denise kam dieser Aufforderung nur zu gern nach. Die Atmosphäre, die im Moment in der ansonsten so gemütlichen Wohnküche herrschte, verursachte ihr regelrecht körperliches Unbehagen. Sie blieb noch einen Moment lang im Treppenhaus stehen, doch als aus der Küche nicht ein einziger Laut drang, lief sie rasch nach oben.

»Fühlst du dich eigentlich noch wohl in unserem Haus, Pierre?«, fragte Eva nach einer Weile, als das Schweigen immer unerträglicher für sie wurde. Sie stand am Herd und löste das Haargummi, um es wieder neu um ihre wunderschönen dunklen Locken zu ziehen. Sie mochte es nicht, wenn in der Küche ihre Haare offen auf die Schultern hingen. Der Appetit war ihr jedenfalls gründlich vergangen.

»Warum nicht?«, fragte Pierre, ohne den Blick von seinem Buch zu wenden. Dabei konnte man ihm jedoch deutlich ansehen, dass er nicht wirklich gelesen hatte. Auch er schien keinen Hunger zu haben.

»Rede mit mir.« Das war keine Bitte, sondern eine Aufforderung. Evas Stimme klang ungehalten und bestimmt. »Was denkst du, wie lange deine Ex unsere unfreiwillige Gastfreundschaft in Anspruch nehmen will, ohne mit uns zu reden? Sie kam gestern einfach so hereingeschneit, und seitdem benimmt sie sich, als hätte sie hier alle Rechte dieser Welt.« Nur mühsam konnte Eva die Tränen zurückdrängen, die ihr immer wieder in die Augen stiegen. Diese Frau hatte ihre kleine, heile Welt ins Wanken gebracht, und Pierre, der Mann, dem sie immer blind vertraut hatte, unternahm nichts, aber auch gar nichts dagegen.

Endlich schaute Pierre seine Frau an. »Wie meinst du das?« Es war offensichtlich, dass er Zeit gewinnen wollte, weil er sich die Antwort ganz genau überlegen musste.

»Genauso, wie ich es gesagt habe.« Sie war nicht bereit, sich mit irgendwelchen Floskeln abspeisen zu lassen. »Ich habe nichts dagegen, wenn sie ein paar Tage hier bleibt, um sich auszuruhen. Sie sieht wirklich sehr krank aus. Hat sie dir gesagt, an welcher Krankheit sie leidet?«

Pierre schüttelte den Kopf. »Ich habe sie nicht gefragt. Es geht mich ja eigentlich auch nichts an. Wenn sie möchte, dass wir es wissen, wird sie uns informieren.«

»Du machst es dir sehr einfach, Pierre. Ich denke, du kannst nicht einmal im Ansatz nachempfinden, was es für ein Gefühl ist, mit der Frau konfrontiert zu werden, die vor mir in deinem Leben da war. Ich bin nicht eifersüchtig, doch wenn ich sie anschaue, sehe ich dich in ihren Armen.«

»Das ist doch Unsinn.« Ärgerlich runzelte Pierre seine Stirn. »Wenn du unbedingt möchtest, werde ich sie fragen, wie lange sie zu bleiben gedenkt.«

»Sie hat kein Recht darauf, einen Platz in unserer Familie zu beanspruchen. Der Mensch muss wissen, was er möchte. Sie wollte keine Familie, hat alles aufgegeben, ohne Rücksicht auf Mann und Sohn. Nach so langer Zeit kann man nicht einfach alles wieder aufwärmen und sagen, ich habe einen Fehler gemacht. Und sie sagt es ja nicht einmal, sie steht noch immer zu dem, was sie damals getan hat. Also hat sie sich nicht geändert. Auch Raoul möchte mit ihr keinen Kontakt, wenn es nicht unbedingt sein muss. Ich befürchte, dass es Catherine und ihrem Kind sehr schadet, wenn sie auf so sinnlose Weise aufgeregt werden.«

»So ein Unsinn. Kein Mensch will Catherine aufregen. Karin hatte plötzlich das durchaus nachvollziehbare Bedürfnis zu sehen, was aus ihrer einstigen Familie geworden ist, deshalb ist sie gekommen. Ich vermute, und das mit guten Gründen, dass sie sehr krank ist. Aber wir müssen ganz einfach abwarten, bis sie von selbst anfängt zu reden. Ich bitte dich nur, Schatz, dass du noch eine Weile still hältst.«

Eva fühlte sich plötzlich sehr erleichtert. Nichts an Pierres Reaktion deutete darauf hin, dass er irgendein persönliches Interesse an seiner Ex hatte. Er empfand lediglich Mitleid. Das war durchaus legitim, und damit konnte Eva leben.

»Ich werde es versuchen, unserer wunderbaren Familie zuliebe. Aber – wir, Karin und ich, werden niemals Freundinnen.«

»Das erwarte ich doch gar nicht von dir. Karin ist niemandes Freundin, sie sieht immer nur ihren eigenen Vorteil. Dennoch können wir sie nicht einfach wegschicken. Sie hat etwas auf dem Herzen, das sie mit uns teilen will, es im Augenblick nur nicht kann. Auch wenn sie damals unsere Familie kaputt gemacht hat, nur um ihre eigenen Interessen auszuleben, darf ich ihr das nicht mehr zur Last legen, denn dadurch hatten Raoul und ich die Chance, mit dir zusammen zu einer wirklichen Familie zu werden. Unser Leben, das Leben von Raoul und mir, wäre nicht so glücklich verlaufen, wenn ich mit Karin zusammen geblieben wäre.«

»Das meinst du ehrlich?« Evas Augen füllten sich mit Tränen. Pierre, der gewöhnlich nicht sein Herz auf der Zunge trug, sagte plötzlich Dinge, die sie nie für möglich gehalten hätte. Das hatte sie tatsächlich nur Karins Besuch zu verdanken. Allein dafür wollte sie nett zu ihr sein und ihr den Besuch hier so schön wie möglich gestalten, allerdings immer in der Hoffnung, dass dieser bald beendet sein würde.

»Ich liebe dich, Pierre«, sagte sie schlicht. Dann ging sie zu ihm und küsste ihn.

Denise stand an der Küchentür, weil sie der Mutter etwas hatte sagen wollen. Jetzt sah sie, dass die Eltern sich einig waren. Vor Glück darüber hätte sie tanzen können. Doch sie tat es nicht. Sie schlich leise davon, nahm Sams Leine vom Haken und verließ das Haus. Sam sprang fröhlich neben ihr her. Jetzt war die Welt wieder in Ordnung.

*

»Du hast nie Zeit für mich. Langsam frage ich mich, was oder wer ich für dich überhaupt bin.« Marcel hatte Denise abgepasst, als sie gegen Abend das Haus verließ, um mit dem Hund ihre Runde zu laufen. Heute war es etwas später geworden, und fast wäre er wieder ins Auto gestiegen und nach Hause gefahren. In letzter Zeit ging es ihm nicht besonders gut, alles, was er anfasste, schien sich in Nichts aufzulösen.

Denise, die Marcel bereits von der Tür aus gesehen hatte, senkte schuldbewusst den Kopf. »Ich weiß«, antwortete sie leise. »Aber du hast doch mitbekommen, was bei uns gerade los ist. Seit Karin hier wohnt, ist alles durcheinander geraten.«

»Darf ich euch begleiten?« Er strich sanft über den Kopf des Hundes, um sie nicht ansehen zu müssen.

»Natürlich.« Denise war erleichtert, dass er nicht böse war auf sie. »Danke.« Die Situation war schon schwierig genug, wenn Marcel jetzt auch noch Ärger gemacht hätte, wäre das vermutlich zu viel für ihre angespannten Nerven gewesen.

»Wie kommt ihr eigentlich klar mit dem… mhm… Familienzuwachs?« Marcel nahm ihre Hand. »Ich stelle mir das etwas kompliziert vor. Wäre es jedenfalls für mich.«

»Es ist tatsächlich nicht einfach«, gab Denise zögernd zu. »Allerdings sind sich meine Eltern einig, sie lassen ihr ein paar Tage zur Erholung, weil sie Mitleid mit ihr haben. Eigentlich fällt sie auch kaum auf. Meistens ist sie im Gästezimmer, der Fernseher läuft den ganzen Tag, und zu den Mahlzeiten ist sie ohnehin nicht dabei, weil sie auch das am liebsten vor dem Fernseher tut. Was das soll, weiß ich ehrlich gesagt nicht, und wie es weiter geht, weiß ich auch nicht.« Ihre Worte klangen nicht so zuversichtlich, wie sie ihm eigentlich weismachen wollte.

»Du fühlst dich nicht wohl, hab ich Recht? Deine Eltern verhalten sich nicht so, wie du es erwartet hast. Was ist los, Denise? Ich kenne dich gut genug, um zu merken, dass du unglücklich bist.« Marcel blieb stehen und zwang sie, ebenfalls nicht mehr weiterzugehen. »Du weißt, dass du mir vertrauen kannst.« Langsam hob er seine Hand und streichelte ihr sanft über die Wange.

Plötzlich schwammen Denises Augen in Tränen. Eigentlich hatte sie gar keinen Grund zu weinen, und sie hatte auch nicht nahe am Wasser gebaut. Doch diese unerwartete sanfte Zärtlichkeit von Marcel berührte sie auf eine besondere Weise. »Danke, Marcel«, krächzte sie nur und schluckte ein Schluchzen hinunter. »Es geht mir gut, wirklich«, versicherte sie. »Solange meine Eltern mit dem Zustand klarkommen, bin ich zufrieden. Es ist nur… Ich weiß nicht, wie ich Karin begegnen soll. Wenn ich sie ansehe, denke ich, sie ist todkrank. Wenn ich aber höre, wie sie mit ihrer Freundin telefoniert und kichert, als sei ihr ein toller Streich gelungen, dann hab ich Angst vor ihr und könnte ihr sogar den Hals umdrehen.«

»Ich denke, das musst du nicht. Was kann sie denn schon anstellen? Sie ist am Ende, versucht vermutlich nur noch ein bisschen Wärme und Familienleben für sich abzukriegen.« Marcel schaute seine Begleiterin an. Ihm war, als würde er zum ersten Mal ihr Gesicht so nahe, so deutlich sehen.

Sie war wunderschön. Ihre porzellanfarbene Haut bildete eine ganz besondere Symbiose mit den nachtschwarzen Haaren, die sie jetzt im Nacken mit einem königsblauen Samtband locker zusammengebunden hatte. Er spürte, wie sein Herz ihr förmlich zuflog.

Auch Denise merkte, dass sich zwischen ihnen gerade etwas veränderte. Es fühlte sich gut an und auch irgendwie fremd. Sie wusste nicht, ob sie das jetzt schon haben wollte. »Lass uns noch ein Stück laufen«, bat sie leise und unterbrach damit den Gefühlsstrom, der sich immer mehr in ihr gesteigert hatte.

Marcel zuckte zusammen. Gerade hatte er seine Arme um sie legen und sie an sich drücken wollen, doch das passte jetzt nicht mehr. Er rückte von ihr ab.

»In Ordnung, lange kann ich leider nicht bleiben, ich hab noch einige Kundenbesuche«, antwortete er ausweichend.

Das war nicht die Wahrheit, und Denise merkte das sofort. Sie hatte ihm wehgetan mit ihrer distanzierenden Reaktion. Es tat ihr von Herzen leid. Doch das ließ sie sich nicht anmerken, denn was hätte sie ihm stattdessen anbieten können? Nichts, denn das, was sie sich unter Liebe vorstellte, empfand sie nicht für ihn. Auch das hatte sie jetzt erfahren.

»Sollte es dir einmal zu viel werden, dann lass es mich wissen. Ich habe eine große Wohnung. Wenn du möchtest, kannst du gern eine Zeit lang zu mir ziehen, bis sich bei dir zu Hause die Wogen wieder geglättet haben«, wagte er einen erneuten zaghaften Vorstoß.

»Das werde ich ganz bestimmt tun, Marcel. Danke, dass du so ein verständnisvoller Freund bist. Ich hoffe jedoch, dass dies nicht passieren muss, denn das würde bedeuten, dass meine Eltern sich nicht mehr einig wären. Das fürchte ich mehr als alles andere auf der Welt.« Sie lehnte sich für einen kurzen Moment an ihn, bis sie seinen Arm um ihre Schultern geschlungen spürte. Es fühlte sich sehr gut an, doch sie wollte ihm keine falschen Hoffnungen machen. »Gehst du noch ein kleines Stück mit? Bis zur alten Eiche würde ich gern noch gehen.«

»Natürlich lass ich dich nicht allein, Denise. Wir gehören doch zusammen.« Er wartete mit angehaltenem Atem, doch es kam von ihr kein Widerspruch. Da ließ er seinen Arm auf ihren Schultern und fühlte sich in diesem Augenblick einfach nur glücklich.

*

Es fiel Karin an diesem Morgen nicht leicht, die Augen zu öffnen. Die ganze Nacht hatte sie nicht geschlafen, und jetzt fühlte sie sich entsprechend wie gerädert. Ihre Augenlider waren dick angeschwollen, und ihr Herz klopfte so schnell und laut, dass sie glaubte, jeder müsse es hören können. Dass ihr Blut nicht in Ordnung war und sie deshalb immer wieder diese seltsamen Beschwerden hatte, wusste sie. Doch die Erklärung des Arztes hatte sich für sie so undurchsichtig angehört, dass sie langsam zu der Überzeugung kam, eine lebensbedrohende Krankheit zu haben. Meistens konnte sie diesen Gedanken verdrängen, doch wenn es still um sie herum war, vermochte sie die drohende Stimme nicht mehr auszuschalten.

Mühsam richtete sie sich auf und schob ihre langen dünnen Beine aus dem Bett. Als sie sie auf den Boden stellte, merkte sie, dass sie zitterte wie Espenlaub. In ihrem Kopf rauschte es, als würde sich ganz in ihrer Nähe ein tosender Wasserfall in die Tiefe stürzen. Sie wusste aber, dass es nur das Blut war, das durch ihre Adern lief.

Hastig griff sie nach ihrem Handy und drückte auf Wiederholung der letzten Nummer. »Clara, ich bin es.« Sie lachte, doch dieses Mal klang es weder fröhlich noch zuversichtlich. »Mit mir stimmt etwas nicht. Kannst du dich noch erinnern, was der Doktor gesagt hat wegen meiner Blutuntersuchung? Könntest du notfalls noch einmal fragen, was ich genau tun soll?« Clara war Sprechstundenhilfe und arbeitete halbtags bei Ihrem Hausarzt.

Sie lauschte eine ganze Zeit lang, dann schüttelte sie den Kopf. »Die Werte sagen mir nichts. Ich glaube, mit mir geht es langsam, aber sicher zu Ende.«

Jetzt war am anderen Ende der Leitung herzliches Lachen zu hören. Dann kam eine Antwort, und dann war da wieder Lachen.

Karin verzog das Gesicht. »Du meinst, meine Schilddrüse ist nicht in Ordnung? Du hast Recht, das hat der Doktor auch gesagt. Jetzt fällt es mir wieder ein. Er sprach von Knoten, die man unbedingt operieren müsste, da nicht sicher sei, ob sie gutartig oder bösartig sind. Aber nein, ich werde mich nicht operieren lassen. Clara, was würdest du an meiner Stelle tun?«

Karin lauschte und schüttelte immer wieder den Kopf. »Nein, das mache ich nicht«, sagte sie immer wieder. »Dann warte ich lieber ab. Danke, dass du mir das vorgelesen hast. Ich melde mich wieder.« Sie drückte den Aus-Knopf. Dann stand sie vom zu einem Bett umfunktionierten Sofa auf und musste sich sofort am Schrank festhalten.

Als sie fast eine halbe Stunde später in die Küche kam, fühlte sie sich ein wenig besser, war jedoch noch immer ziemlich schwach auf den Beinen. Es war nur Eva da, die selbstvergessen die Spüle polierte. Die Kaffeekanne und ein Gedeck standen noch auf dem Esstisch.

»Guten Morgen, Eva. Hast du die Tasse und den Teller meinetwegen stehen gelassen?«, fragte sie freundlich und hatte für einen Moment lang fast so etwas wie ein schlechtes Gewissen. Doch diese Regung hielt nicht lange an. Plötzlich sah sie Eva wieder als den Eindringling, der zwischen ihr und Pierre stand. Würde es diese Frau nicht geben, dann hätte sie mit Sicherheit erneut leichtes Spiel mit Pierre, wie damals, als sie ihn kennengelernt hatte und ihn unbedingt haben wollte. Hier musste sie gute Miene zum bösen Spiel machen und Freundschaft heucheln, denn im Grunde war sie schließlich selbst der Eindringling.

»Natürlich hab ich für dich gedeckt«, antwortete Eva arglos. »Magst du lieber Kaffee oder Tee?«

»Kaffee«, knurrte Karin und strich sich ein Brötchen. Ihre Hände zitterten unnatürlich. Je mehr sie sich bemühte, diesen Zustand abzustellen, desto schlimmer wurde er.

Eva beobachtete sie eine Weile unauffällig, dann konnte sie Karins verzweifelte Bemühungen nicht mehr mit ansehen. Sie setzte sich zu ihr, nahm ihr das Messer aus der Hand und bestrich sorgfältig das Brötchen. »Leberwurst oder Mettwurst?«, fragte sie freundlich.

»Honig«, antwortete Karin etwas verwirrt. »Warum bist du so freundlich zu mir? Ich bin immerhin die Ex deines Mannes. Hast du nicht Angst, ich könnte dir ins Gehege kommen?« Unverblümt sprach Karin ihre Gedanken aus, merkte erst zu spät, dass ihre Ehrlichkeit bei Eva wohl nicht so gut ankam.

»Ich hab es nicht nötig, eifersüchtig zu sein«, antwortete Eva kühl und legte das Brötchen auf Karins Teller. »Brauchst du sonst noch etwas? Wenn nicht, kann ich mich wieder anderen Dingen widmen.« Sie erhob sich und trat an die Spüle.

»Es tut mir leid«, murmelte Karin mit zitternder Stimme. »Das hätte ich nicht sagen dürfen. Eigentlich wollte ich nur ein paar Stunden hierbleiben, um zu sehen, was aus meiner Familie geworden ist. Doch jetzt hat sich etwas geändert, grundlegend geändert.«

»Du hast dich wieder in Pierre verliebt«, stellte Eva wie aus der Pistole geschossen fest. »Pierre ist ein wunderbarer Mann und traumhafter Familienvater. Mach es nicht noch einmal kaputt, Karin, ich bitte dich.« Sie drehte sich um und betrachtete Karin mit immer stärker werdenden Aggressionen.

»Nein, natürlich nicht«, antwortete Karin nach kurzer Überlegung. »Ich wollte auch damals meine Familie nicht zerstören, doch es blieb mir am Ende nichts anderes übrig.«

»Es steht mir nicht zu, darüber zu urteilen, zumal ich die genauen Umstände nicht kenne. Pierre lehnt es ab, darüber zu reden, ich denke, es schmerzt ihn zu sehr, was du ihm und Raoul damals angetan hast.« Jedes Wort war für Eva ein einziger Triumphzug. Endlich konnte sie aussprechen, was ihr schon so lange auf der Seele brannte.

»Er hätte es ruhig erzählen dürfen«, konterte Karin und lächelte zufrieden vor sich hin. Dann biss sie von ihrem Brötchen ab. »Der Honig ist lecker«, lobte sie. »Schön mild, typischer Frühlingshonig. Holst du den direkt vom Imker oder aus dem Supermarkt?«

»Was hat das mit unserem Thema zu tun? Würde es dich wirklich interessieren, dann hättest du auf dem Etikett lesen können, dass er aus dem Supermarkt ist. Was willst du eigentlich von uns?« Evas Stimme klang nicht mehr so freundlich wie zu Anfang ihres Gesprächs. Sie wollte die Unterhaltung einfach nur beenden, und zwar so schnell wie möglich.

»Nicht viel. Ich wollte heute bereits weg sein, doch inzwischen hat sich etwas in meinem Leben geändert. Ich bin… ich kann im Moment nicht fahren, ich bin nicht in der Lage, am Straßenverkehr teilzunehmen.«

»Was soll das denn? Du bist ja auch mit deinem Auto gekommen.«

»Da wusste ich noch nicht, dass es… dass ich krank bin, wirklich krank.« Karin machte eine schöpferische Pause und beobachtete aus ihren halb geschlossenen Augen Evas Reaktion auf ihre theatralisch vorgetragene schwerwiegende Offenbarung. Zufrieden registrierte sie Evas Erschrecken. Anscheinend spielte sie ihre Rolle sehr gut.

»Was meinst du damit?«

»Es geht mir nicht gut«, bekannte Karin mit leiser Stimme. »Heute früh konnte ich kaum aufstehen. Meine Beine machen nicht mehr mit, und mir ist dauernd schwindelig.«

»Hast du denn eine Diagnose?« Eva horchte auf. Natürlich war ihr sofort aufgefallen, dass Karin nicht gerade einen gesunden Eindruck machte. Doch dass es wirklich schlimm um sie stehen könnte, daran hatte sie nicht geglaubt. Jetzt jedoch sah alles deutlich düsterer aus.

»Es gibt eine Diagnose, und ich weiß, dass sie ziemlich übel klingt. Ich habe Knoten an einer Stelle, wo keine sein sollten. Den Namen habe ich aber vergessen. Ich sollte es operieren lassen, aber der Erfolg ist ziemlich ungewiss. Der Name der Diagnose bringt mich auch nicht weiter, denn mein Arzt hat mir nur Tabletten verschrieben, um die Symptome zu lindern, solange ich der Operation nicht zustimme. Aber die Tabletten helfen mir nicht. Im Gegenteil, mir wird davon nur übel, und mein Blutdruck steigt ins Uferlose.«

Im ersten Impuls wollte Eva ihr den Vorschlag machen, dass sie sich einmal mit Pierre darüber unterhalten sollte, doch im nächsten Moment entschied sie sich dagegen. Die Vorstellung, Karin allein mit Pierre in dessen Praxis zu wissen, verursachte ihr heftiges unangenehmes Magengrimmen. »Kann man sonst nichts machen?«

»Wohl nicht, sonst hätte man es mir gesagt.«

»Wie lange weißt du das schon?«

Karin zuckte die Schultern. »Ich war immer schlank, doch plötzlich wurde meine Haut dünn, mein Gesicht faltig und grau, und ich konnte nachts nicht mehr schlafen. Dazu kamen Panikattacken und unerträgliches Herzklopfen. Mir blieb nichts anderes übrig, als in eine Klinik zu gehen, wo man mich auf den Kopf gestellt hat, bis sie endlich eine Diagnose stellten. Unheilbar. Wie bereits gesagt, sie wollten operieren, aber das habe ich abgelehnt.«

»Ist das nicht leichtsinnig? Sicher hätte man dir helfen können.«

»Nein, es wäre bestenfalls eine Linderung der Symptome erfolgt. Heilbar ist das wohl nicht, sagte man mir.« Anscheinend fiel es Karin sehr schwer, über ihre Probleme zu reden. »Manchmal muss man einfach akzeptieren, dass es zu Ende geht.«

Eva traten Tränen des Mitleids in die Augen. Da hatte sie die ganze Zeit nur das Schlechteste von Karin gedacht, und jetzt kam so eine Wahrheit ans Licht, dass sie vor lauter Schuldgefühlen Karin gegenüber nicht mehr wusste, wie sie sich verhalten sollte. »Hast du es Pierre gesagt?«

»Natürlich nicht.« Karin schüttelte den Kopf. Ihre Haare waren inzwischen so steif von übermäßigem Haarspray, dass sie ihren Kopf wie ein Helm umgaben. »Ich will kein Mitleid. Dass es mir jetzt nicht gut geht, ist mit Sicherheit auch mein Verschulden. Ich habe viele Fehler gemacht in der Vergangenheit, geraucht wie ein Industriekamin, nur wenig geschlafen, und meine Ernährung entsprach ganz bestimmt nicht den Richtlinien des Gesundheitsamtes. Ich muss mich also nicht wundern über meinen miserablen Zustand.« Sie lachte leise vor sich hin.

Eva kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Sollte sie Karin jetzt verachten oder bewundern? Sie bewies jedenfalls eine Stärke, die sie ihr nicht zugetraut hätte. »Eine bewundernswerte Einstellung. Kann ich was für dich tun? Ich meine…« Sie wusste plötzlich nicht mehr weiter. Das passierte ihr sehr selten.

»Mir kann niemand mehr helfen.«

Karin lachte schon wieder, als würde es sie nicht sonderlich berühren, und ihre sonst so leise, sanfte Stimme klang mit einem Mal schrill. »Wenn du mich noch ein paar Tage hier bei euch leben lässt, damit ich ein bisschen Rückhalt in der Familie habe, wäre ich dir sehr dankbar. Euch zu sehen, wie glücklich ihr alle zusammen seid, gibt mir viel Kraft für die Zukunft, die mir noch bleibt.«

Eva kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Im ersten Impuls hätte sie am liebsten abgelehnt, doch dann siegte ihr gutes Herz. »Natürlich kannst du hierbleiben, vorausgesetzt Pierre ist einverstanden. Ich werde später in der Mittagspause mit ihm reden. Du solltest dich noch eine Weile hinlegen, wenn du gegessen hast. Es ist sicher besser, wenn du dich nicht überanstrengst.«

»Pierre hatte wirklich Glück, dass er dich gefunden hat. Und mein Sohn ebenso.« Sie erhob sich und ging zur Tür.

Es war wie ein Stich ins Herz für Eva, als Karin Raoul als ihren Sohn bezeichnete. Klar, sie hatte ihn geboren, aber das machte sie nicht zwangsläufig zu seiner wirklichen Mutter. Dieses Vorrecht hatte sie, als sie die Familie einfach im Stich ließ, verwirkt. Zumindest war das die Meinung von Eva und allen anderen Familienmitgliedern.

»Das hätte es nicht gebraucht, wenn du geblieben wärest«, murmelte Eva und drehte Karin den Rücken zu. Deshalb sah sie auch nicht, dass diese sich noch ein ganzes Brötchen und ein kleines Zwiebelmettwürstchen sicherte. Dann verließ sie eilig die Küche. »Du hast Recht«, sagte sie noch, ehe sie die Tür hinter sich schloss.

Verblüfft starrte Eva auf die geschlossene Küchentür. Da hatte Karin durchblicken lassen, todkrank zu sein, und dann verhielt sie sich so… gleichgültig, als sei es ihr völlig egal, was mit ihr passierte. Wie sollte sie das verstehen? Sie musste unbedingt mit Pierre darüber reden.

*

Pierre saß am Schreibtisch in seiner Praxis und dachte nach. Seine Helferin Birgit war bereits nach Hause gegangen, denn am Mittwochnachmittag war die Praxis geschlossen. So konnte er seine Gedanken wandern lassen und überlegen, wie es weitergehen sollte. Seit seine Exfrau Karin in seinem Hause eingezogen war, befand er sich irgendwie in einem luftleeren Raum. Er wusste nicht, ob er sich freuen oder stattdessen toben sollte. Bis jetzt hatte er es tunlichst vermieden, mit Karin zu reden. Doch nach drei Tagen wurde es langsam Zeit, dass sie sich erklärte. Warum war sie gekommen, was erwartete sie von der Familie, und vor allem, wie lange wollte sie bleiben?

Erregt stand er auf und trat ans Fenster. Das Gefühl drohenden Unheils wurde immer stärker in ihm, und dazu spürte er eine Ohnmacht, die ihm signalisierte, dass diese Frau gerade dabei war, ihm sämtliche Fäden aus der Hand zu nehmen. Das war kein guter Zustand, und den musste er so schnell wie möglich ändern.

Sein Blick fiel auf den Weg, der von der Garage zum Haus führte. Dort stand sie, das Ziel seines Unmutes, und machte einige unbeholfene Gymnastikübungen. War es Vorsehung? Jetzt musste er mit ihr reden, sonst würde er es vermutlich noch länger aufschieben. Das hielten seine Nerven jedoch nicht aus. Er öffnete das Fenster und rief ihren Namen.

Karin drehte sich um, und als sie ihn am Fenster erblickte, strahlte sie über das ganze Gesicht. »Ich komme, ich habe ohnehin nichts zu tun.« Schwer atmend stand sie wenig später in seinem Behandlungszimmer. Abgesehen von der beinahe unerträglichen Magerkeit war sie noch immer eine schöne Frau. »Es tut sehr gut, sich in der frischen Luft zu bewegen. Aber ein paar Minuten sind völlig ausreichend. Du hast mich gerufen? Endlich haben wir Gelegenheit, allein zu reden.«

Pierre nickte. Er spürte, dass sie von diesem Gespräch etwas ganz anderes erhoffte als er selbst. »Warum bist du gekommen?«, fragte er ohne Umschweife.

Karin zuckte zusammen. In ihrem Gesicht konnte man lesen wie in einem offenen Buch, und dass sie über seine Eingangsfrage entsetzt war, das war nicht zu übersehen. »Ich habe es Raoul mehrmals geschrieben. Weil ich dich sehen wollte.«

»Mich? Nicht deinen Sohn?« Er zog eine Augenbraue hoch, was seine Missbilligung ganz deutlich zum Ausdruck brachte.

»Euch beide«, antwortete sie nach kurzer Überlegung.

»Das hat aber gedauert.« Pierre versuchte, sich in seine verzweifelten Gefühle von damals einzufühlen, weil er sonst Gefahr lief, ihr aus Mitleid alles nachzusehen. »Ich will nicht die alten Geschichten aufwärmen, dennoch kann ich sie nicht vergessen. Also, was willst du hier?«

»Meine Familie«, antwortete Karin einfach.

»Das fällt dir aber reichlich spät ein.«

»Nein, das weiß ich schon lange. Ich habe mich nur nicht getraut, dir unter die Augen zu treten. Jetzt jedoch ist eine Situation eingetreten, die mir alle Freiheiten gibt.«

»Ah, das ist ja mal was ganz Neues. Diese Freiheiten, von denen du redest, kann dir keine Situation geben. Die Geste müsste schon von Raoul, Eva und mir kommen. Doch ich kann mir nicht vorstellen, dass auch nur einer von uns dich mit offenen Armen aufnimmt. Ich denke, mit dieser meiner Reaktion hast du bereits gerechnet, und es war dir völlig egal.«

Karin grinste ihn an. »Du kennst mich sehr gut, Liebster. Da könntest du Recht haben. Es ist mir egal, was ihr denkt. Wenn man nur noch kurze Zeit zu leben hat, wirft man alle Schamgefühle und verschiedene Ängste irgendwann über Board. Da zählt nur noch, dass man das bekommt, was man sich am meisten wünscht.«

»Was soll das, Karin? Du hast hier keine Familie. Denkst du, dass du auf diese Weise bei mir punkten kannst?«

Karin grinste ihn noch immer an. »Bei Eva hat es jedenfalls ziemlich schnell funktioniert«, antwortete sie frech.

»Wie meinst du das?«

»Eva war wesentlich mitfühlender als du. Sie hat mir erlaubt hierzubleiben, solange ich möchte.« In ihrer Stimme schwang Triumph mit.

»Das kann sie ohne mich gar nicht entscheiden. Was soll das unsinnige Geschwätz? Ich kenne Eva, sie würde nie etwas entscheiden, ohne es mit mir vorher abzusprechen, genau wie auch umgekehrt. Wir sind eine glückliche Familie, Eva und ich lieben uns. Du hast hier keinen Platz.«

»Warum bist du so aggressiv, Pierre? Haben wir uns nicht ebenfalls einmal sehr geliebt?«

»Das war in einem anderen Leben, und dieses andere Leben hast du mit deinem krassen Egoismus selbst zerstört.«

»Rede nicht so mit mir. Ich habe mich heute früh sehr vertraut mit Eva unterhalten, und sie hat mich verstanden.« Plötzlich liefen Tränen über Karins Wangen.

Überrascht schaute Pierre in ihr Gesicht. So hatte er seine einstige Frau noch nie gesehen. Anscheinend stand es schlimmer um sie, als er geahnt hatte. »Willst du nicht endlich mit offenen Karten spielen, Karin? Du bist doch nicht grundlos nach über zwanzig Jahren plötzlich aus dem Nichts aufgetaucht, nur um zu sehen, wie es den Menschen geht, die du damals selbstsüchtig im Stich gelassen hast. Was kann meine Frau verstehen, das ich bis heute nicht verdaut habe?« Bewusst nannte er Eva nicht beim Vornamen, um Karin zu demonstrieren, dass nur Eva seine Frau war und dass sie, Karin, sich keine Hoffnungen zu machen brauchte.

»Ich werde euch nicht lange zur Last fallen«, begann sie mit weinerlicher Stimme. »Es war nur – ich wusste im ersten Schock nicht, wohin ich gehen sollte. Du bist Arzt, und vielleicht habe ich mir im Unterbewusstsein Hilfe von dir erhofft.«

»Hilfe? Wobei? Nun rede endlich, was ist mit dir? Welche Krankheit plagt dich?« Pierre fühlte Angst, aber auch Ärger, der immer größer wurde, je länger sie ihn mit ihrer Antwort hinhielt. Nervös klopfte er mit den Fingerspitzen auf die Tischplatte.

»Es geht mir nicht gut.«

»Wie kann ich dir helfen?«, fragte er widerstrebend. »Brauchst du Medikamente?«

Karin schüttelte den Kopf. »Die können mir auch nicht mehr helfen.«

»Ich gehe davon aus, dass du in Behandlung bist. Hast du eine konkrete Diagnose? Hast du einen Arztbericht dabei?« Am liebsten hätte Pierre sie höflich, aber bestimmt hinauskomplimentiert, am besten gleich ganz aus dem Haus, nicht nur aus seiner Praxis. Doch das brachte er plötzlich nicht mehr übers Herz.

»Hab ich, aber ich habe sie nicht dabei.« Sie wich seinem fragenden Blick aus. »Man kann nichts mehr machen, das hat mir mein Arzt selbst gesagt.«

»Gib mir seine Telefonnummer, dann rede ich mit ihm. Ich will wissen, was dir fehlt, sonst kann ich nichts für dich tun.«

»Nein.«

»Was – nein? Du willst nicht, dass ich mit deinem Arzt rede? Oder willst du keine Hilfe?«

»Lass es gut sein, Pierre. Ich will es nicht, und du kannst auch nichts tun. Ich hätte nicht kommen sollen.«

»Warum hast du es dann getan? Niemand hat dich gerufen. Es war deine Entscheidung, mit der du uns alle konfrontiert hast. Es steht dir frei, sofort zu verschwinden.«

»Oh, du hast dich sehr verändert, Pierre. So gnadenlos direkt warst du früher nicht. Ich hab dich eher als sehr vorsichtig und mitfühlend in Erinnerung. Du wolltest niemandem zu nahe treten, niemanden verletzen. Das scheint dir jetzt bedeutend leichterzufallen.« Karin hatte Mühe, ruhig zu bleiben. Mit solchen Worten aus dem Mund ihres einstigen Mannes hatte sie nicht gerechnet. Bis jetzt war sie noch immer der Überzeugung gewesen, einfach nur mit dem Finger schnippen zu müssen und ihren Mann ohne große Anstrengungen wieder zurückbekommen zu können.«

»Da magst du Recht haben, liebe Karin. Eine gewisse wohldosierte Rücksichtslosigkeit, allerdings nur wenigen Menschen gegenüber, habe ich von dir gelernt. Ich denke andererseits nicht, dass meine Patienten Grund haben, sich über mich zu beklagen.«

Entsetzt starrte Karin ihn an. »Das ist nicht mehr der Pierre, den ich einmal aus Liebe geheiratet habe«, stammelte sie und schluckte ein Schluchzen hinunter.

»Nein, das ist der Pierre, den du aus krassem Egoismus und Niedertracht geformt hast. Ich hoffe, du bist zufrieden mit deinem Erfolg.« Hohn schwang in seiner Stimme mit. Er grinste, wurde aber gleich wieder ernst, als er sah, dass sie sich kaum mehr aufrecht auf dem Stuhl halten konnte. Als sie schwankte, sprang er auf. »Was ist los? Auch wieder nur eines deiner Spielchen?«

Karin schüttelte schwach den Kopf.

»Ich habe das Gefühl, mir springt das Herz durch den Hals.« Sie hechelte verzweifelt, ihr Gesicht lief rot an.

Pierre war jetzt ehrlich erschrocken. Dass sie diesen Schwächeanfall nicht spielte, sah er auf den ersten Blick. Hastig bestimmte er ihren Blutdruck, der erschreckend in die Höhe gestiegen war. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als ihr eine blutdrucksenkende Spritze zu geben, auf die sie ziemlich rasch reagierte.

»Besser?«, fragte er, noch immer ziemlich durcheinander.

Karin nickte. »Etwas«, antwortete sie schwach. »Ich darf mich nicht aufregen«, antwortete sie mit zitternder Stimme.

»Dann hast du solche Anfälle schon öfter gehabt?«

»Regelmäßig. Deshalb bin ich von zu Hause geflüchtet. Ich habe es dort nicht mehr ausgehalten. Mein… Bekannter, der mit in meiner Wohnung lebt, hat auf mich keine Rücksicht genommen. Immer wieder habe ich ihn gebeten, dass er endlich auszieht. Doch er blieb, meinte, ich solle gehen, wenn mir seine Anwesenheit nicht passt.«

»Deshalb bist du also hier.« Pierre nickte vor sich hin. Er war erleichtert, dass ihr Blutdruck jetzt wieder einen einigermaßen normalen Wert aufwies. Auch ihr Gesicht war inzwischen wieder so blass wie vor dem Anfall. »Wie lange hast du das schon?«

Sie zuckte die Schultern. »Ein Jahr vielleicht«, antwortete sie ausweichend. »Ich will darüber nicht mehr reden. Inzwischen habe ich mich damit abgefunden. Wenn ich euch sehr störe, lass es mich wissen. Dann verschwinde ich sofort.«

»Darüber kann ich nicht allein entscheiden. Ich denke, du legst dich noch eine Weile hin. Ich werde am Abend noch einmal nach dir sehen. Solltest du wieder so einen Anfall bekommen, dann ruf bitte nach uns. Jemand ist vermutlich immer irgendwo in der Nähe. Sei nicht leichtsinnig, mit hohem Blutdruck ist nicht zu spaßen, vor allem, wenn er so plötzlich auftritt. Das muss eine organische Ursache haben. Wenn du möchtest, werden wir das genauer untersuchen.«

»Nicht nötig, das gehört anscheinend zu meiner Krankheit dazu. Was bringt es, wenn man weiß, warum man stirbt. Es genügt doch, dass man weiß, wenn es mit einem zu Ende geht.« Ein wenig unsicher ging sie zur Tür. »Das war nicht der Grund, weshalb ich dich hier aufgesucht habe. Ich wollte mich nur ein wenig mit dir unterhalten, in alten Erinnerungen schwelgen. Doch ich habe das Gefühl, dass du das nicht möchtest.«

»Es ist nicht der Zeitpunkt dazu«, antwortete Pierre sanft, obwohl er viel lieber etwas ganz anderes gesagt hätte. Doch die Gefahr, wieder einen Anfall zu verursachen, war ihm zu groß, deshalb schluckte er widerwillig die vernichtenden Worte hinunter, die ihm eigentlich auf der Zunge gelegen hatten.

»Danke für deine Zeit.« Noch ehe Pierre etwas sagen konnte, hatte sie seine Praxis verlassen. Leise zog sie die Tür zu, ohne sich noch einmal umzudrehen. Sie hinterließ bei ihm ein unangenehmes Gefühl, als hätte er falsch reagiert, womöglich sogar versagt. Er sagte sich zwar, dass das schon immer ihre Stärke gewesen war, Schuld auf andere abzuwälzen. Doch das änderte nichts daran, dass sie diese Fähigkeit noch immer ausgezeichnet beherrschte. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut.

Nach einer Weile erhob sich Pierre ebenfalls und trat ans Fenster. Er versuchte einen klaren Gedanken zu fassen, doch das wollte ihm seltsamerweise heute nicht gelingen. Sein Kopf war leer. Dafür hatte er keine Erklärung.

*

Er fühlte sich, als wäre ein Ascheregen auf ihn heruntergeprasselt. Alles war so unwirklich, obwohl er insgeheim damit gerechnet hatte. Seine Firma, für die er schon fast fünfzehn Jahre arbeitete, drohte in die Insolvenz zu gehen. Das bedeutete für Marcel, dass er erst einmal freigestellt war und abwarten musste, wie es weitergehen würde. Allein der Gedanke, jeden Tag zu Hause herumsitzen zu müssen, bereitete ihm körperliche Schmerzen.

»Nimm es nicht so schwer, Marcel«, versuchte Ralf, sein Kollege, ihn zu trösten. Auch er hatte diese Hiobsbotschaft eben bekommen, doch ihn traf es nicht ganz so schwer. Er hatte Familie, und seine Frau arbeitete in führender Position bei einer Bank. »Wenn eine Tür zugeht, dann geht irgendwo ein Fenster wieder auf.«

Marcel konnte nicht antworten. Ihm war, als würde jemand seinen Hals zudrücken. Er holte tief Luft, langsam löste sich die Klammer. »Es wird schon«, antwortete er ausweichend. Dann nahm er seine Tasche und ging mit schweren Schritten zur Tür. »Wir sehen uns.« Mit gesenktem Kopf verließ er den Aufenthaltsraum. Als er draußen war, drehte er sich noch einmal um.

»… Oder auch nicht«, murmelte sein Kollege zweifelnd und so leise, dass Marcel es nicht hören konnte. Er hob grüßend die Hand, Marcel winkte zurück. Dann ging er zu den anderen Kollegen zurück, die ebenfalls ab sofort freigestellt waren.

Endlich saß er im Auto. Noch immer hatte er das Gefühl zu träumen. Er arbeitete für diese Firma, seit er ins Berufsleben eingetreten war. Jetzt sollte auf einmal alles vorbei sein? Eine winzig kleine Hoffnung bestand ja noch, doch dafür musste ein Wunder geschehen.

Die Heimfahrt brachte er wie im Traum hinter sich. Eigentlich wollte er gleich in seine Wohnung, doch dann entschloss sich Marcel, sich nicht zu verkriechen und in seinem Schmerz zu baden. Es brachte ihn nicht weiter. Vielleicht hatte Denise ja einen Vorschlag, wie er mit dieser veränderten Lebenssituation umgehen sollte. Er musste etwas finden, mit dem er seine Zeit sinnvoll verbringen konnte. Vielleicht hatte Denise eine Idee. Hoffentlich war sie zu Hause.

Marcel hatte Glück. Denise freute sich offensichtlich, als sie ihn sah. Lächelnd ging sie auf ihn zu, denn sie hatte ihn bereits vom Küchenfenster aus erblickt. »Hast du heute so früh Feierabend?«

Marcel rang sich ein Lächeln ab. »So ähnlich. Kann ich mit dir sprechen? Hast du kurz Zeit für mich?«

Sie nickte. Ein ungutes Gefühl stieg in ihr auf. »Was ist los? Du siehst irgendwie verzweifelt aus.«

»Bin ich auch. Woran hast du das erkannt?« Er grinste, doch es lag keine wirkliche Freude in seinem Blick. »Seit heute bin ich freigestellt. Es war seit Wochen kein Geheimnis mehr, dass unsere Firma vermutlich in die Insolvenz gehen würde. Doch jetzt, da der Härtefall eingetreten ist, war es doch wie ein Schlag ins Gesicht. »Ab sofort habe ich alle Zeit der Welt. Hast du eine Aufgabe für mich?«

Im ersten Moment wusste Denise nicht, was sie sagen sollte. Marcel tat ihr von Herzen leid, denn sie wusste, wie sehr ihm sein Beruf am Herzen lag. Eigentlich war der Beruf alles, was er hatte. Sein Freundeskreis war ziemlich überschaubar, und mit der Familie hatte er sich schon vor Jahren überworfen. Jetzt stand er da mit leeren Händen. Denise war das Einzige, was ihm noch geblieben war.

»Du musst dir keine Gedanken machen, Liebes. Ich bin nicht heimatlos. Noch habe ich ein Dach über dem Kopf. Und mit meiner Freizeit wird mir auch etwas Sinnvolles einfallen, wenn ich richtig darüber nachdenke. Also keine Panik.« Er versuchte, so locker wie möglich auszusehen. Er war ein Mann, und er war stark. Niemand sollte sehen, wie ihm zumute war, am allerwenigsten Denise.

»Setzen wir uns eine Weile auf die Bank? Es ist gerade so schöne Sonne. Wer weiß, wann es wieder anfängt zu regnen. Morgen soll es Sturm geben. « Denise fühlte sich etwas seltsam, denn Marcel hatte sie noch nie Liebes genannt. Hing das mit seiner beruflichen Situation zusammen, oder hatte er ganz einfach für eine Weile seine sonst so gepflegte Distanz vergessen? Fast hätte sie nachgefragt, doch dann schwieg sie lieber. Er hatte jetzt ganz andere Probleme als solche unliebsamen Beziehungssorgen.

»Hast du auch wirklich Zeit, oder ist es nur wieder dein Mitleid mit allen und jedem? Ich möchte dir nicht zur Last fallen.« Er wich ihrem Blick aus.

Denise stieß einen Unmutslaut aus. »Jetzt wirst du komisch. Wir erzählen uns doch immer alles. Also, was ist los?« Sie setzte sich auf die Bank und deutete dann auffordernd auf den Platz neben sich. »Erzähl bitte, ich warte.«

Marcel setzte sich und schwieg zunächst eine ganze Zeit lang. Immer wieder holte er tief Luft, sodass der Eindruck entstand, er würde endlich anfangen zu reden. Erst nach einer ganzen Weile hatte er seine Stimme wieder so weit unter Kontrolle, dass sie nicht zitterte. »Ich habe es doch schon angedeutet. Meine Firma geht vermutlich in die Insolvenz«, begann er etwas ungehalten. »Zusammen mit fünf anderen Kollegen bin ich freigestellt. Wir müssen abwarten, ob sie noch einmal die Kurve kriegen oder ob wir alle arbeitslos werden.«

»Das ist natürlich schlimm. Irgendwie hatte ich ja damit gerechnet, denn du hast es ja tatsächlich bereits befürchtet. Doch dass es so schnell gehen würde, hätte ich nicht gedacht.« Insgeheim war Denise erleichtert, dass es sich nur um die Arbeit handelte und nicht um ein gesundheitliches Problem. Das war nämlich ihre geheime Angst gewesen. »Wirst du dich nach einer neuen Arbeit umsehen, oder willst du erst abwarten, ob es wirklich so ernst wird, wie es im Augenblick aussieht?«

»Ich weiß es nicht.«

»Komm erst einmal zu dir, bis du klarer siehst. Du weißt, dass du hier immer willkommen bist. Im Garten hast du ein weites Feld, falls es dir langweilig wird.« Sie lächelte ihn an. Anscheinend hatte sie den richtigen Ton getroffen, denn Marcel lächelte zurück. »Also mach dir nicht zu große Sorgen. Ich werde dir helfen, so gut ich kann.« Mitfühlend legte sie eine Hand auf die seine. Sie fühlte sich eiskalt an. Das zeigte genau seinen Gemütszustand an. Es ging ihm sehr schlecht. Doch mehr konnte Denise im Moment nicht machen als ihn trösten und versuchen, ihm Mut zuzusprechen.

»Danke, dass du für mich da bist. Ich wüsste nicht, was ich jetzt machen sollte, wenn ich dich nicht kennengelernt hätte. Wenn man in so einer Situation ganz alleine ist, dann ist es doppelt schlimm. Notfalls nehme ich auch eine andere Arbeit an. Es muss ja nicht genau dasselbe sein. Bei meiner Ausbildung wird sich schon etwas finden lassen.« Jetzt fühlte er sich bereits ein bisschen zuversichtlicher als vorhin. »Weißt du eigentlich, dass ich dich liebe?«

Denise lächelte leicht vor sich hin. »Hm…«, sagte sie nur und legte ihren Kopf an seine Schulter. Was hätte sie auch sonst tun sollen? Sie wollte ihm doch keine falschen, keine voreiligen Hoffnungen machen.

*

Eva stand im Badezimmer am Spiegel und bürstete ihre langen dunklen Haare. Sie war zufrieden mit ihrem Spiegelbild. Eigentlich war man mit dreiundvierzig noch nicht alt, überlegte sie und schnitt sich selbst eine Grimasse. Beim genaueren Betrachten fand sie zwar schon die eine oder andere Falte, aber sie war nicht tief und nicht sehr auffällig. Mit ein bisschen guter Hautcreme konnte sie vielleicht gemildert werden. Ihre sattbraunen Haare glänzten, doch auch hier fand sich immer wieder ein freches weißes Haar, das zwischen all den dunklen hervorblitzte. Doch wenn sie so darüber nachdachte, musste sie sich eingestehen, dass Karin im Grunde genommen rein äußerlich keine Konkurrenz war für sie. Dennoch wurde sie das unangenehme Gefühl nicht los, vor einem Abgrund zu stehen, der sie verschlingen würde, wenn sie nicht höllisch aufpasste. Woraus genau dieser Abgrund bestand, wusste sie jedoch nicht.

Noch ein paar Bürstenstriche, und sie war bereit, nach unten zu gehen. Pierre wartete auf sie, denn sie wollten einen gemütlichen Abend zu zweit verbringen. Blieb nur zu hoffen, dass Karin sich nicht zu ihnen gesellte. Das unangenehme Gefühl verstärkte sich allein schon bei diesem Gedanken.

»Da bist du ja endlich, ma pe­tite. Ich dachte schon, du hättest mich vergessen.« Erwartungsvoll schaute Pierre ihr entgegen. Sie war schön wie immer, stellte er glücklich fest. Was hatte das Schicksal nur für ein Einsehen mit ihm gehabt, dass es ihm so eine wunderbare Frau geschickt hatte? »Ich bin glücklich, dass du da bist.«

Lächelnd setzte sich Eva neben ihn und schmiegte sich in seinen Arm. Sie spürte seine Hand an ihrer Schulter, und es vermittelte ihr ein wohliges Gefühl, ihm so nahe zu sein. Karin hatte sie in diesem Moment ganz vergessen. Umso härter traf es sie, als diese plötzlich im Zimmer stand.

»Ich möchte euch nicht stören, aber es ist so einsam, wenn man ganz allein den Abend verbringen muss. Ich dachte, da ihr ohnehin um diese Zeit den Fernseher eingeschaltet habt, könnte ich mich ja zu euch setzen und euch ein wenig Gesellschaft leisten.« Ohne auf eine Einladung zu warten, ließ sich Karin einfach auf einen Sessel fallen und streckte die Beine weit von sich. Sie schien sich offensichtlich ziemlich wohlzufühlen.

Verblüfft schaute Eva sie an. »Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?« Sie hatte beschlossen, aus ihrem Herzen keine Mördergrube mehr zu machen. »Eigentlich wollten Pierre und ich den Abend wieder einmal allein verbringen.«

»Das könnt ihr doch immer noch tun, wenn ich wieder weg bin. Ich werde euch ganz bestimmt nicht mehr lange auf die Nerven gehen. Deshalb wäre es sehr nett, wenn ich ein bisschen Familienanschluss bekommen könnte. Das Leben ist so kurz«, fügte sie betont bedeutungsvoll hinzu.

Eva wurde es so heiß, dass sie kaum mehr Luft bekam, nicht vor Mitleid, sondern vor Zorn. Sie überlegte gerade an der Formulierung einer scharfen Antwort, da mischte sich überraschenderweise Pierre ein.

»Niemand hat etwas dagegen, Karin, dass du dich zu uns setzt. Du bist unser Gast, und entsprechend verhalten wir uns dir gegenüber. Möchtest du etwas trinken?« Er war die Liebenswürdigkeit in Person.

Eva erstarrte innerlich. Damit hatte sie nicht gerechnet. Pierre fiel ihr in den Rücken. Schon als Karin das Wohnzimmer betreten hatte, hatte er Evas Schulter losgelassen, als wäre es ihm peinlich, und war ein wenig von ihr abgerückt. Jetzt saßen sie da wie Fremde. Am liebsten wäre Eva in Tränen ausgebrochen, doch den Triumph wollte sie Karin nicht lassen. Sie erhob sich. »Was möchtest du denn, Karin?«

Erfreut schaute die Frau auf. »Habt ihr einen guten Whisky? Ich liebe Whisky, aber nur, wenn er samtweich nach Rauch, Holz und Moor schmeckt. Aus dem Glas muss einem der Duft des Waldes entgegensteigen, und man darf am nächsten Morgen keinen dicken Kopf haben, wenn man ein bisschen zu viel davon erwischt hat.« Sie kicherte vor sich hin.

Eva dachte an die Flasche Whisky, die Pierre letzte Weihnachten von einem Patienten geschenkt bekommen hatte. Ob er etwas dagegen hatte, wenn sie sie öffnete? Ein Blick auf ihren Mann zeigte ihr, dass sie es riskieren konnte. Sie reichte Karin das Glas, in das sie einen kaum verdeckten Boden der bernsteinfarbenen Flüssigkeit gefüllt hatte, und wartete auf ihre Reaktion.

Karin bedankte sich freundlich und schnupperte. Es dauerte ziemlich lange, bis sie sich zu einem Urteil durchringen konnte. »Bist du sicher, Eva, dass dies Whisky ist? Er riecht ein wenig nach billigem Weinbrand, und der Geschmack ist etwas zu hart. Sehr teuer kann der nicht gewesen sein. Aber ich hab schon schlechteren Whisky getrunken«, fügte sie gnädig hinzu.

»Ich habe den Whisky nicht selbst gekauft«, versuchte Pierre sich zu verteidigen. »Ein Patient hat ihn mir letzte Weihnachten geschenkt. Ich weiß, dass die Leute nicht sehr viel Geld haben, deshalb habe ich mich trotzdem über dieses Geschenk gefreut. Nicht der Wert zählt, sondern die Absicht. Das sollte unsere Haltung zum Leben sein.«

Endlich eine Reaktion ihres Mannes, die Eva gefiel. Sie sah, wie Karin errötete. Vermutlich hatte sie damit nicht gerechnet. »Entschuldigung«, murmelte sie, dann trank sie das Glas in einem Zug leer. »Eigentlich schmeckt er gut«, lobte sie und streckte Pierre das Glas hin. »Darf ich noch einmal?«, fragte sie auffallend sanft.

Pierre erhob sich sofort. »Natürlich kannst du noch einen bekommen, fragt sich nur, ob das gut ist für deine Gesundheit. Ich denke, du solltest ein wenig auf deine Ernährung achten und vor allem auf das, was du trinkst. Könnte es sein, dass du in der Vergangenheit etwas zu viel Alkohol getrunken hast?«

»Hast du gerade Sprechstunde? Oder habe ich da was falsch verstanden? Eigentlich bin ich auf Feierabend eingestellt.« Karins Stimme klang unverkennbar und unverstellt höhnisch.

»Das tut mir leid, dass ich dir diesen Eindruck vermittelt habe. Ich wollte nicht unhöflich sein. Ich bin auch nicht dein Arzt. Aber du musst verstehen, dass wir gewisse Regeln haben, die eingehalten werden müssen. Du tust das nicht, also halten wir uns auch nicht daran. Außerdem würden wir gern diese Dokumentation ansehen. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.« Pierre legte jetzt wieder einen Arm um Evas Schultern, und Eva lehnte sich demonstrativ an ihn.

Karin beobachtete die beiden aus den Augenwinkeln, und irgendwann wurde es ihr zu dumm. Sie erhob sich und ging zur Tür. »Es tut mir leid, wenn ich euch gestört habe. Ich werde besser ins Bett gehen, denn es geht mir gar nicht gut. Wenn ich es schaffe, werde ich morgen nach Hause fahren. Dann seid ihr mich los und müsst nicht sehen, wie ich um mein bisschen Leben kämpfe. Das möchte ich niemandem antun.« Noch ehe jemand etwas erwidern konnte, hatte Karin das Wohnzimmer verlassen.

»Was sollte das denn werden?«, fragte Eva verblüfft. »Weißt du etwas, was ich noch nicht weiß? Dann musst du es mir sagen. Ich hasse diese vagen Andeutungen, mit denen keiner etwas anfangen kann. Ist ihre Krankheit wirklich so schlimm, dass sie redet, als müsste sie bereits die nächsten Tage sterben? Auch wenn sie ziemlich ausgemergelt aussieht, muss sie noch lange nicht dem Tode geweiht sein, wie sie vorgibt.«

Pierre schüttelte den Kopf und seufzte leise vor sich hin. »Ich habe keine Ahnung«, antwortete er. »Jedenfalls hat sie mir den Abend gründlich verdorben. Mich interessiert weder die Doku noch sonst etwas.«

Eva erstarrte.

»Mit sonst etwas meinst du vermutlich mich, könnte das sein? Das hat sie ja wunderbar hingekriegt. Sie kann dich nicht mehr haben, also darf ich dich auch nicht mehr haben.«

»Ach, Unsinn.« Seine Stimme klang ungehalten.

»Sprich dich ruhig aus, Pierre. Ich bin ganz Ohr. Wie ich gesehen habe, war Karin ja heute bei dir in der Praxis. Ich hoffe, du konntest ihr mehr helfen, als sie gerade zugegeben hat.«

»Ihr ist nicht mehr zu helfen.«

»So schlimm?« Eva glaubte nicht daran. Sie empfand eine entsetzliche Wut auf die Frau, die dieses schöne Gefühl, das sie vorhin noch Pierre gegenüber gehabt hatte, mit ein paar Worten zerstört hatte. Was für ein Ungeheuer war Karin, dass sie es wagte, nach über zwanzig Jahren einfach bei der Familie ihres Ex-Mannes hereinzuschneien und so zu tun, als sei dies die größte Selbstverständlichkeit von der Welt.

Pierre drehte sein Gesicht zu ihr. Er hatte die Zähne fest zusammengebissen und versuchte, seiner Erregung Herr zu werden. Was war jetzt wieder schiefgelaufen? Er hatte Eva gekränkt und Karin ebenso. Warum sonst hätte sie so plötzlich das Wohnzimmer verlassen?

»Langsam wird mir die ganze Geschichte zu bunt. Was immer ich tue, ich kann es niemandem mehr recht machen. Und da bist du leider auch nicht besser als Karin.« Er starrte sie wütend an.

»Was giftest du mich an? Ich habe sie nicht eingeladen.« Eva war entschlossen, sich nichts gefallen zu lassen. Eigentlich hätte Pierre seine Exfrau bereits am Abend nach ihrer Ankunft wieder nach Hause schicken sollen. Niemand hatte sie eingeladen, und wenn sie sich in den Kopf gesetzt hatte, ihre Familie noch einmal sehen zu wollen, dann wäre dafür eine Stunde völlig ausreichend gewesen. »Denise läuft mit tiefen Rändern unter den Augen herum, als hätte sie nächtelang schon nicht mehr geschlafen, und ich habe keine Freude mehr daran, irgendetwas zu tun. Sollen wir alle dafür bezahlen, dass dich jetzt deine Vergangenheit einholt und du nichts dagegen unternimmt?«

»Ich weiß es ja«, murmelte Pierre leise. Betroffen starrte er vor sich hin. »Was schlägst du vor, das ich tun soll? Meine Möglichkeiten sind ziemlich beschränkt, stelle ich fest. Karin hat das Ruder übernommen, ohne dass ich gemerkt habe, es aus der Hand gegeben zu haben.«

»Das war schon immer so, nicht wahr? Wenn sie anfängt zu leiden, sind dir sofort die Hände gebunden. Sie weiß, wie sie dich kleinkriegt.« Eva nahm seine linke Hand in die ihre und legte sie an ihre Wange. Ihre harten Worte von eben taten ihr leid, doch das hatte andererseits wirklich einmal gesagt werden müssen. »Allen Herren recht getan ist eine Kunst, die niemand kann«, zitierte sie ihre Mutter, deren Repertoire an Sprichwörtern unerschöpflich war. »Die Kunst ist lediglich, sich den richtigen Herrn herauszusuchen.«

»Der bist, wie ich deinen Worten entnehmen darf, du.« Pierre lächelte seine Frau an. Es gefiel ihm, dass sie um ihre Ehe kämpfte wie eine Löwin. Er hatte es nicht anders erwartet. »Dann sag du mir, wie es weitergehen soll. Ich bin ganz Ohr und bereit, nach meinen Möglichkeiten deine Wünsche zu erfüllen. Doch vergiss nicht, ich bin auch Arzt. Ich darf einen kranken Menschen nicht wegschicken, sondern muss helfen. Dazu bin ich verpflichtet.« Er neigte sich zu ihr hinüber und küsste sie kurz auf den Mund.

Eva war langsam am Ende mit ihrem Latein. »Wenn der Kranke sich helfen lassen will, ist das völlig in Ordnung. Doch Karin hüllt sich in ein Geheimnis, wirft ab und zu eine kleine Andeutung in den Raum und erwartet, dass wir ihr die Wünsche von den Lippen ablesen und sofort erfüllen. Das geht so nicht. Wenn sie krank ist, soll sie ins Krankenhaus gehen und sich dort helfen lassen. Du bist ein kleiner Allgemeinarzt, Pierre. Was willst du tun?«

»Ich werde Kontakt aufnehmen mit den behandelnden Kollegen, und dann werden wir weitersehen.«

»Ah, dann hat sie dir eine Liste ihrer Ärzte gegeben? Das ist gut.« Eva lächelte, doch ihre Augen blieben zornig. Sie wusste ganz genau, dass Pierre keinerlei Anhaltspunkte von Karin bekommen hatte, also auch nichts unternehmen konnte.

»Gib endlich Ruhe, Eva. Ich weiß doch auch nicht, wie es weitergehen soll. Am besten, ich schließe meine Praxis und fahre nach Avignon zu meinem Bruder. Dort warte ich dann, bis sich die Lage zuhause entspannt hat.« Natürlich hatte Pierre nicht vor, diese Drohung wahrzumachen, doch einen Moment lang hatte er schon mit diesem verzweifelten Gedanken gespielt.

So hatte sich Eva den Gesprächsverlauf nicht vorgestellt. »Du willst, dass ich dir die Entscheidung abnehme. Klar, so musst du dir nicht irgendwann einmal sagen, dass du einen Fehler gemacht hast. Der geht dann auf mein Konto. Das hast du dir sehr klug ausgedacht. Aber nicht mit mir, mein Lieber. Aus diesem Schlamassel musst du schon selbst herausfinden. Wenn ich die Möglichkeit habe, dir zu helfen, werde ich natürlich für dich da sein. Doch jetzt ist die Zeit gekommen, da du beweisen musst, dass du ein ganzer Mann bist, und vor allem, dass du mich noch liebst. Daran beginne ich nämlich langsam zu zweifeln.«

»Das ist nicht fair. Habe ich dich nicht in all den Jahren, die wir zusammen sind, immer geliebt und es dir auch sehr deutlich gezeigt?« Pierre hasste solche Grundsatzdiskussionen. Eva schien sie plötzlich zu genießen. Das gefiel ihm gar nicht. Er erhob sich müde. »Ich sehe schon, aus unserem gemütlichen Abend wird nichts mehr. Deshalb werde ich diese Schmusestunde jetzt abbrechen und in mein Bett gehen.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, verließ er das Wohnzimmer.

»Das hast du ja wunderbar eingefädelt, Karin. Erzähl mir nicht, dass da keine Absicht im Spiel war. Es passt dir nicht, dass dein Exmann eine gute Frau gefunden hat. Du hattest erwartet, dass er ein ganzes Leben lang um dich trauern würde. Jetzt siehst du, dass du dich getäuscht hast und versuchst alles zu zerstören. Was bist du nur für ein hinterhältiger, gemeiner Mensch.« Unglücklich legte Eva die Hand über die Augen und begann zu weinen.

*

Endlich hatte Raoul Feierabend. Es war ein harter Tag gewesen. Mittags hatte er mit Catherine telefoniert, und als er hörte, dass es ihr einigermaßen gut ging, freute er sich umso mehr auf das Zusammensein mit der Familie. Bei der kleinen Gärtnerei in der Nähe des Parkplatzes erstand er noch einen bunten Frühlingsstrauß, dann machte er sich auf den Heimweg.

Immer, wenn es still wurde um ihn, fiel ihm Karin wieder ein. Sie lag wie ein drohender Schatten auf seiner Seele, als wollte sie seine kleine heile Welt zerstören. Wie gern hätte er jetzt mit dem Finger geschnippt und sie einfach weggezaubert. Aber das ging natürlich nicht.

Leise betrat er über die Terrasse das Wohnzimmer. Er stellte seine Tasche neben der Tür ab und schaute sich suchend um. Es war niemand da, das Wohnzimmer war leer. Er schnupperte, doch auch der gewohnte Essensgeruch fehlte. Ihm wurde ganz seltsam zumute. Bei ihrem Telefonat hatte Catherine eigentlich ganz normal geklungen. Sie wollte gerade anfangen zu kochen, als er anrief. Es musste etwas passiert sein.

»Catherine! Wo bist du, Cathe­rine?«

Er lauschte, doch es war nichts zu hören. Endlich entdeckte er Amelie, die ihn offensichtlich nicht kommen gehört hatte, denn sie zuckte erschrocken zusammen, als sie plötzlich vor ihm stand. »Papa, du?«

»Was ist denn los, Amelie?«

»Papa, das Essen ist noch nicht fertig.« Die Neunjährige war den Tränen nahe. »Ich hab es nicht geschafft. Der Mama ging es auf einmal nicht mehr gut, und ich musste den Doktor holen.«

Raoul fuhr der Schreck vom Kopf bis in die Zehenspitzen. »Ist der Doktor noch da? Ich hab sein Auto nicht vor der Tür gesehen. Was ist denn passiert? Ist die Mama im Bett?«

Amelie nickte. »Mama hat gesagt, du sollst gleich zu ihr kommen. Der Doktor ist schon lange wieder weg. Mama sagt, dass du von dem Fleischsalat im Kühlschrank essen sollst. Sie konnte heute nicht kochen. Soll ich dir etwas herrichten?«

»Das ist doch nicht wichtig. Ich gehe zur Mama, und dann entscheiden wir, ob wir uns eine Pizza kommen lassen. Wo sind denn deine Brüder abgeblieben?«

»Benjamin ist in seinem Zimmer und Luis bei einem Freund. Mama hat gesagt, wir brauchen jetzt dringend eine Haushaltshilfe, wenigstens so lange, bis das Kind da ist.« Amelie gab sich sehr erwachsen, obwohl ihr die Angst zeitweise den Hals zuschnürte. »Bitte, Papa, mir wäre auch wohler, wenn ich mich nicht mehr um alles kümmern müsste. Ich weiß doch gar nicht, was ich machen soll. Hausaufgaben habe ich auch noch keine gemacht.«

»Du hast ja recht, mein Schatz. Ich werde mir eine Lösung überlegen müssen.« Es tat ihm von Herzen leid, dass er seiner kleinen Tochter in der letzten Zeit so eine schwere Last aufgebürdet hatte. »Aber jetzt werde ich erst einmal nach Mama sehen und dann mit ihr gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.«

Er streichelte seiner Tochter über das dunkle Haar und hauchte ihr einen raschen Kuss auf den Scheitel. Dann stürmte er, gleich zwei Treppenstufen auf einmal nehmend, nach oben.

Catherine schaute ihm mit einem müden Lächeln entgegen. »Da bist du ja wieder, Lieber. Ich bin froh, dass du da bist und Amelie entlastest. Sie hat mir so leidgetan heute Nachmittag, aber ich konnte es nicht ändern. Plötzlich sind mir einfach die Beine weggesackt. Für einen Moment lang habe ich das Bewusstsein verloren. Als ich wieder zu mir kam, kniete Amelie neben mir und versuchte verzweifelt mich wachzurütteln. Nach einer Weile schaffte ich es dann wieder aufzustehen. Ich schleppte mich mit letzter Kraft ins Bett, und Amelie rief in der Arztpraxis an. Sei nicht böse, dass ich dir nichts zu essen kochen konnte.« Sie streckte ihre Hand nach ihm aus, die Raoul sofort ergriff.

»Du solltest in die Klinik, dann wäre uns allen geholfen. Jeder Tag wird zu einem immer größer werdenden Risiko für dein Leben. Was hat der Doktor gesagt?«

»Dasselbe wie immer«, antwortete Catherine. »Ich soll mich schonen, viel liegen, und wenn es Ärger gibt, dann soll ich Augen und Ohren schließen. Ganz wichtig wäre eine Hilfe im Haushalt. Ich darf nicht mehr Auto fahren und, wie du weißt, haben wir hier eine ganz schlechte Busverbindung. Wie also sollen die Kinder in die Schule kommen?«

Raoul ahnte Schlimmes. »Was willst du mir damit sagen?« Er hielt den Atem an, seine schlimmsten Albträume schienen zum Leben zu erwachen.

»Ach Raoul, es wäre doch nur für höchstens drei Monate.«

»Du denkst jetzt aber nicht das, was ich auch denke?«

»Raoul, bitte …«

»Das kommt gar nicht infrage. Ich werde mich morgen um eine Hilfe bemühen. Bis dahin soll Denise einspringen. Du weißt doch, dass sie es gern macht. Ich ruf sie gleich an. Vorher jedoch werde ich für die Kinder und mich Pizzen bestellen. Magst du auch eine?«

Catherine schüttelte den Kopf. »Ich kann jetzt nichts essen. Es passt einfach nichts mehr in meinen Bauch. Ich weiß nicht, wie ich das letzte Vierteljahr bis zur Geburt herumkriegen soll. Bis unser Kind geboren ist, sind wahrscheinlich wir beide verhungert.«

»Das werde ich zu verhindern wissen.«

Raoul ballte die Hände zu Fäusten. Plötzlich stieg Panik in ihm auf.

»Mach es uns doch nicht so schwer, Raoul«, bat Catherine. »Denise und Eva sind völlig mit den Nerven am Ende, seit Karin bei ihnen wohnt. Pierre steht zwischen den Feuern und verbrennt sich regelmäßig sämtliche Finger. Es wäre für alle eine Erleichterung, würde Karin für eine Weile bei uns einziehen und mir zur Hand gehen. Sei doch nicht so stur. Merkst du denn nicht, dass du mir damit wehtust? Meine Meinung, mein Wunsch gilt bei dir plötzlich überhaupt nichts mehr. Das habe ich nicht verdient.« Stöhnend drehte sich Catherine zur Seite, um ihn nicht mehr ansehen zu müssen. Sie war ärgerlich wie selten.

Raoul war der Appetit auf eine Pizza gründlich vergangen. In ihm schritten sämtliche Alarmglocken, wenn er sich vorstellte, dass seine leibliche Mutter in seinem Haus das Zepter schwingen sollte. Ausgerechnet Karin, an die er die letzten zwanzig Jahre nur mit Magengrimmen, Verzweiflung und heißem Zorn gedacht hatte. Nein, das konnte er sich überhaupt nicht vorstellen.

»Erst mal für ein paar Tage als Versuch«, bat Catherine leise. Traurig schaute sie ihn an.

»Du brauchst eine Hilfe für ein Vierteljahr, nicht für ein paar Tage«, widersprach Raoul seiner Frau heftig. »Außerdem lehrt uns die Erfahrung, dass Karin, wenn sie einmal sitzt, nicht mehr so schnell wieder aufstehen wird. Das siehst du jetzt bei meinen Eltern. Vater kommt auf dem Zahnfleisch daher, und Eva und Denise sind nur noch Schatten ihrer selbst. Dabei sind gerade erst drei Tage vergangen. Sie hat es geschafft, den ganzen Haushalt aufzumischen und diese wunderbare Familie infrage zu stellen. Was willst du noch mehr als Beweis, dass gerade Karin nicht für uns geeignet ist? Sie würde uns nur zusätzlich zur Last fallen.«

»Bitte«, antwortete Catherine nur. »Du weißt genau, dass du eine Haushaltshilfe nicht aus dem Ärmel schütteln kannst. Selbst wenn du dich morgen gleich auf die Suche machst, würde es Wochen dauern, bis du eine geeignete gefunden hättest. Karin ist mit Sicherheit keine gute Mami gewesen, aber sie könnte doch zumindest den Haushalt irgendwie am Laufen halten. Morgens bringt sie die Kinder zur Schule, und am Nachmittag kann sie sie wieder abholen. Ich helfe, so gut es geht, mit, kann ihr zumindest Anweisungen geben, was sie zu tun hat. Das geht auch vom Sofa aus.« Sie lachte leise, obwohl ihr eigentlich gar nicht danach zumute war.

In Raoul tobte ein heftiges Unwetter. Zwei Seelen stritten sich in seiner Brust, die eine war dafür, die andere sehr heftig dagegen. Ihm graute vor der Vorstellung, jeden Tag Karin in seinem Haushalt begegnen zu müssen.

Doch in Anbetracht des Problems, dass sich inzwischen jeden Tag etwas steigerte, würde ihm vermutlich nichts anderes übrig bleiben, als Catherines Wunsch zu entsprechen.

»Es ist die einfachste Lösung«, flüsterte Catherine, denn sie spürte, dass sie beinahe gewonnen hatte. Ein kleiner Schritt noch, und sie hätte eine große Sorge weniger. »Denk nach, Raoul. Es wäre allen geholfen, wenn Karin eine Weile bei uns bleiben könnte.«

»Karin ist ebenfalls krank. Ich bezweifle, dass sie der vielen Arbeit überhaupt gewachsen ist. Was machen wir, wenn sie überraschend zum Pflegefall wird? Kannst du dich dann um sie kümmern?« Raoul war sehr erleichtert, dass ihm dieses schlagkräftige Argument noch rechtzeitig eingefallen war.

»Darüber werde ich nachdenken, wenn es soweit ist. Bitte, ­Raoul, es kann so nicht mehr weitergehen. Lass es uns doch wenigstens versuchen.«

Raoul erhob sich. »Kannst du noch eine Weile allein bleiben? Amelie ist ja hier, wenn etwas ist, soll sie mich sofort anrufen. Ich werde mit Eva reden. Es muss eine andere Lösung geben. Wenn nicht, wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben, als dir deinen Wunsch zu erfüllen. Aber nur bis das Kind da ist. Dann muss Karin gehen. Darauf bestehe ich.«

»Versprochen.« Catherine war den Tränen nahe vor Erleichterung. »Danke, Liebster.«

Raoul sagte nichts dazu. Er hatte das Gefühl, eine kleine Maus in einem großen Käfig ohne Tür zu sein. Es gab einfach kein Entrinnen für ihn. Karin war plötzlich aufgetaucht, und schon war sie im Begriff, sich unentbehrlich zu machen. Dabei hatte sie noch gar nichts dazu getan.

Er setzte sich in sein Auto und fuhr los. Eigentlich war die Entscheidung schon gefallen. Karin hatte gewonnen. Warum nur fühlte er sich bei diesem Gedanken so schlecht? Tief in seinem Innern kannte er bereits die Antwort.

*

»Ist was mit Catherine?«, fragte Denise erschrocken, als der Bruder mit raschen Schritten ins Haus gestürmt kam. »Mami ist nicht hier. Sie ist rasch zum Einkaufen gefahren, wird aber bald wieder da sein. So rede schon, Raoul, ist was mit Catherine?«

Raoul schüttelte den Kopf.

»Es geht ihr langsam wieder besser«, antwortete er ausweichend. »Amelie hat erzählt, dass heute Nachmittag der Arzt kommen musste. Es hat sich jedoch grundsätzlich nichts an ihrem Zustand geändert. Sie wird immer schwächer, und die Hausarbeit und die Kinder sind für sie einfach nicht mehr zu schaffen. Hätte ich mich nur früher um eine Haushaltshilfe gekümmert.« Raoul fasste sich an den Kopf. »Wie konnte ich nur so fahrlässig sein.«

»Mach dir jetzt keine Vorwürfe, Raoul. Es ändert nichts, helfen kannst du niemandem damit. Wir müssen eine Lösung finden.« Denise ging wie immer praktisch an das Problem heran.

»Danach suche ich schon sehr lange.«

»Ich hatte euch angeboten, dass ich ein Vierteljahr mit der Schule aussetze, bis das Kind geboren ist. Ihr wolltet das ja nicht.«

»Das wär’s ja. Du brichst deine Schule ab, um deiner Schwägerin im Haushalt zu helfen. Es muss doch noch eine andere Lösung geben. Naja, Catherine hat die wohl gefunden.« Raoul blickte seine Schwester bedeutungsvoll an. Er seufzte tief auf. »Deshalb bin ich hier. Ich hoffe sehr, euch fällt noch was anderes ein.«

»Wie meinst du das? Dein Blick spricht Bände, aber nicht meine Sprache. Was hat Catherine für eine Lösung?«

»Karin«, flüsterte er. Unsicher schaute er sich um, als hätte er Angst, belauscht zu werden.

»Ich verstehe noch immer nicht.«

»Karin«, wiederholte er und grinste freudlos. »Catherine hat sich in den Kopf gesetzt, diese Frau in unser Haus zu holen. Fang jetzt nur nicht an, dich zu freuen, Schwesterchen. Noch ist es nicht amtlich, denn ich bin geistig absolut nicht damit einverstanden. Es muss eine andere Lösung geben.« Wie oft er diesen Satz heute schon ausgesprochen hatte, wusste er nicht. Aber es musste sehr oft gewesen sein.

»Natürlich gibt es die. Ich setze mit der Schule aus und ziehe für die Zeit zu euch. Bei uns zu Hause fühle ich mich ohnehin nicht mehr wohl, seit diese Frau hier eingezogen ist. Mami scheint sich mit der Situation zwar arrangiert zu haben, doch ich glaube nicht, dass sie dabei auch nur ansatzweise glücklich ist.« Denise holte aus der Küche zwei Gläser und füllte sie mit frischer Limonade, die sie vorhin erst aus Zitronensaft und Honig selbst gemacht hatte.

»Eigentlich wäre damit allen geholfen«, überlegte Raoul und schaute seine Schwester nachdenklich an. »Sollen wir es versuchen? Aber nein«, gab er sich selbst die Antwort. »Es wäre keine Lösung eines Problems, sondern nur eine Verlagerung. Pierre würde mir den Kopf abreißen, wenn ich erlaubte, dass du von deiner geliebten Schule fernbleibst, nur um uns zu helfen. Dafür zahlt er nicht jeden Monat eine Menge Geld für deine Ausbildung. Hätte ich nur Karins Briefe gelesen, dann wäre ich mit Sicherheit vorher in der Lage gewesen, diesen Besuch zu verhindern. So etwas soll mir nie wieder passieren.«

»Jetzt ist es so, und wir müssen sehen, dass wir das Beste aus der Situation machen. Was denkst du, sollen wir Karin zu unserem Gespräch dazuholen?«

»Du tust ja gerade so, als sei die Sache bereits entschieden. Deshalb bin ich nicht zu dir gekommen, um mich überrumpeln zu lassen. Du willst Karin nicht, und ich will sie auch nicht. Ach ja, eigentlich wollte ich ja mit Eva sprechen, nicht mit dir.«

»Jetzt bist du beleidigt, Raoul. Du selbst hast doch gesagt, dass es für alle die beste Lösung wäre. Warum redest du auf einmal wieder anders?« Denise war den Tränen nahe. Da hatte sich endlich eine Lösung des allgemeinen Problems abgezeichnet, und nun machte ­Raoul wieder einen Rückzieher. Aus ihm wurde sie auch nicht mehr schlau.

»Ach, Kleine, ich wollte dich nicht zum Weinen bringen. Bitte verzeih mir. Ich weiß, dass ich ungerecht bin. Aber diese Situation wächst mir schlicht und ergreifend über den Kopf. Seit Wochen lebe ich in ständiger Angst um Cathe­rine, und dann kommt diese Frau ins Haus geschneit und bringt alles noch zusätzlich durcheinander. Natürlich wäre es die beste Lösung, wenn sie für eine Weile zu uns ziehen würde. Doch allein der Gedanke, ihr ständig begegnen zu müssen, verursacht mir schlimmes Bauchgrimmen. Kannst du das nicht verstehen?« Gequält wischte sich Raoul mit der rechten Hand über sein Gesicht. Plötzlich wirkte er alt und müde.

»Ich weiß ja, dass du mit ihr nichts zu tun haben willst. Sie hat dir und unserem Vater genug angetan. Deshalb verstehe ich dich. Dennoch musst du eine Hilfe für Catherine organisieren, wenn ich das nicht sein soll.« Sie lächelte unsicher. »Ich würde schon gerne diese Hilfe sein, vergiss das bitte nicht. Und – es tut mir leid, wenn ich über das Ziel etwas hinausgeschossen bin.«

»Das muss dir nicht leidtun. Ich bin ja selbst an der Misere schuld.« Er rang sich ein müdes Lächeln ab.

»Es tut mir auch leid, dass ich keine bessere Lösung anzubieten habe. Warum wollt ihr mein Angebot nicht annehmen?« Offensichtlich hatte sie noch nicht ganz aufgegeben.

»Weil du auch ein eigenes Leben hast, Schwesterchen. Du kannst jetzt, im letzten Jahr, nicht einfach deine Schule unterbrechen. Du hast bald Prüfung, und davor liegt noch ein schweres Stück Arbeit.«

»Das ist meine Sorge, nicht deine.«

»Du bist mindestens ebenso stur wie unser Vater. Doch anscheinend hast du vergessen, dass ich ebenfalls sein Sohn bin. Ich bin stur wie ihr beide zusammen. Also, nein, du wirst nicht bei uns arbeiten. Aber ja, ich werde Karin fragen, ob sie für ein paar Wochen bei uns wohnen will. Allerdings werde ich ihr von vornherein klarmachen, dass sie keinen Tag länger als bis zur Geburt unseres Kindes bleiben darf. Sie wird sich nicht als meine Mutter aufspielen und auch nicht als die Großmutter meiner Kinder. Ich bestehe darauf, dass ich ihr einen Stundenlohn bezahle, wie ich das bei jeder anderen Angestellten ebenso getan hätte.«

Denise schüttelte den Kopf. »Dann sag ihr das, lieber Bruder. Ich bin allerdings nicht sicher, ob sie dein Angebot unter diesen Bedingungen annehmen wird.«

»Wir werden sehen. Ist sie zu Hause?«

»Keine Ahnung. Ich bin vorhin ebenfalls erst zurückgekommen. Marcel und ich haben noch einen kleinen Spaziergang gemacht und einen Kaffee getrunken. Ihm geht es auch nicht gut. So wie es aussieht, wird sein Arbeitgeber bald Insolvenz anmelden müssen. Marcel ist jetzt freigestellt und weiß nicht, was er mit seiner vielen Zeit anfangen soll.«

»Könnte er nicht bei uns einspringen?« Raoul hatte plötzlich das Gefühl, dieses schlimme Problem noch ganz anders gelöst zu bekommen.

»Marcel?«

»Ist das so abwegig? Ich könnte mir vorstellen, dass er selbst auch irgendwann eigene Kinder haben möchte. Da bietet sich meine Familie ausgezeichnet an, um sich schon einmal in dieses Thema einzuarbeiten.« Raoul lachte herzlich. Er war begeistert von seinem Gedanken.

»Vergiss es. Ich möchte Marcel nichts schuldig sein. Wir sind zwar befreundet, und er geht auch davon aus, dass wir bald ein Paar werden, doch für mich ist das im Augenblick kein Thema.« Es war Denise sichtlich peinlich, über ihre eigenen Gefühle zu sprechen. Sie musste es jedoch, wenn sie erklären wollte, weshalb sie Marcel nicht als Kindermädchen für ihre Nichte und Neffen vermitteln wollte.

Raoul zuckte die Schultern. »Dann eben nicht.« Demonstrativ blickte er auf seine Armbanduhr. »Ich muss zurück. Catherine wird Wunder was denken, wo ich abgeblieben bin. Sprich bitte mit deiner Mutter über meinen Vorschlag. Ich könnte mir vorstellen, dass sie nichts dagegen hat. Sag Karin, ich würde sie morgen Abend abholen, wenn das von euch aus klar geht.«

»Das musst du nicht. Wenn wir durch die Wiesen gehen, haben wir gerade eine Viertelstunde Fußmarsch. Das wird sie doch wohl noch schaffen. Ich werde sie morgen bei euch vorbeibringen, so früh wie möglich. Mach dir keine Sorgen, Raoul, wir alle lassen dich nicht allein.«

»Das habe ich befürchtet.« ­Raoul schmunzelte in sich hinein, dann nahm er seine Schwester in die Arme. »Bleib stets ganz ruhig, Schneewittchen. Du weißt doch, wenn es den Berg hinunter geht, dann geht es ihn irgendwann wieder hinauf. Das ist nun mal der Lauf des Lebens.«

»Ich weiß, Brüderchen. Darin habe ich Erfahrung. Ich bin schon öfter nach unten gegangen.« Sie lachten beide und umarmten sich. Dann verließ Raoul das Wohnzimmer wieder durch die Terrassentür.

Denise begleitete ihn noch bis zum Auto, dann ging sie leichtfüßig wieder zurück ins Haus. Plötzlich hätte sie die ganze Welt umarmen können. Es hatte den Anschein, als würden sich ihre Probleme bald ganz von allein auflösen. Die Mutter würde mit Sicherheit einverstanden sein, und Karin konnte eigentlich nichts Besseres passieren, als dass sie eine Zeit lang bei Sohn und Schwiegertochter leben durfte. Sicher würde es ihr Freude machen, sich um die Enkelkinder zu kümmern.«

Denise konnte es kaum erwarten, bis die Mutter endlich wieder nach Hause kam und sie ihr die frohe Kunde übermitteln konnte. Jetzt war das Leben auf einmal wieder schön.

*

Karin erschrak, als sie Raouls Auto vor dem Haus stehen sah. Was hatte das zu bedeuten? Hatte Eva den Familienrat einberufen, um über ihren weiteren Verbleib zu beratschlagen? Wollte man sie jetzt rigoros loswerden, einfach auf die Straße stellen? Schließlich hatte sie niemandem gesagt, dass sie für den Notfall noch eine Wohnung besaß.

Sie blieb ganz ruhig und versuchte zu lauschen. Zwar konnte sie die Stimmen im Wohnzimmer hören, doch nicht verstehen, was sie sagten. Dann ging Raoul wieder, und offensichtlich waren sie bester Laune, denn sie konnte die beiden bis ins Gästezimmer lachen hören.

Langsam begann sie einzusehen, dass es keine gute Idee gewesen war, ihre einstige Familie zu besuchen. Dass ihre vielen Briefe an Raoul unbeantwortet geblieben waren, hätte ihr zu denken geben müssen. Doch sie war sich so sicher gewesen, dass Pierre auch in seiner zweiten Ehe Schiffbruch erlitten hatte, weil sein Herz noch immer ihr, Karin, gehörte, dass sie keinen Zweifel gehabt hatte, in ihr altes Leben wieder eindringen zu können.

»Ach, Pierre, es ist wie verhext. Damals konnten wir nicht zusammenleben, weil ich noch nicht bereit war für eine dauerhafte Bindung, heute können wir nicht zusammenkommen, weil du gebunden bist. Dabei passt Eva gar nicht zu dir, sie ist viel zu jung und zu langweilig. Sie hat doch gar kein Format. Was kann dir so ein Hausmütterchen schon bieten?« Wie sooft in letzter Zeit redete sie vor sich hin und fühlte sich gut dabei.

Als später eine Türe klapperte, wusste sie, dass Eva vom Einkaufen zurückgekommen war. Dann hörte sie Mutter und Tochter leise miteinander reden. Sie legte ein Ohr an die Türe, doch die beiden waren zu leise. Sie konnte kaum etwas verstehen, und die wenigen Wortfetzen ergaben keinen Sinn.

Karin wurde immer unruhiger. Dass es bei der Unterhaltung um sie ging, davon war sie fest überzeugt. Und es musste mit Raouls Besuch zu tun haben. Sie setzte sich wieder auf das Sofa und überlegte, was sie tun sollte. Jetzt das Gästezimmer verlassen, würde aussehen, als hätte Neugierde sie getrieben. Also blieb ihr gar nichts anderes übrig als abzuwarten, was die beiden über ihren Kopf hinweg beschlossen.

Lang dauerte es nicht, da klopfte es. Karin zuckte erschrocken zusammen. »Karin, bist du da?«, hörte sie Evas etwas atemlose Stimme. Offensichtlich war sie ziemlich aufgeregt, was Karin nur noch mehr durcheinanderbrachte.

»Klar bin ich da, wo sollte ich denn sein?« Karin sprang auf und riss die Tür auf. »Ist was passiert?«

Eva lächelte sie freundlich an und bemühte sich offensichtlich ruhig zu wirken. »Nein, nicht wirklich«, antwortete die Jüngere. »Wir haben nur ein kleines Problem, das wir mit dir besprechen möchten. Es ist… Du könntest eine sehr große Hilfe für uns sein.«

»Oh, das klingt gut.« Karin atmete innerlich erleichtert auf. Solange man ihr nicht sagte, sie solle verschwinden, war ihr alles recht. Eilig folgte sie Eva ins Wohnzimmer. »Ich setz mich schon mal, sicher dauert unsere Unterhaltung etwas länger.« Sie schlug ihre langen, dünnen Beine übereinander. »Schießt los, ich bin ganz Ohr.« Ihre flapsige Redeweise lockerte die Stimmung etwas.

»Catherine braucht Hilfe.« Eva schwieg, nachdem sie diesen einen Satz gesagt hatte. Unauffällig beobachtete sie Karin, während sie auf deren Reaktion wartete.

Doch da kam nichts. »Warum sagst du mir das, Eva?«

Eva begann sich zu ärgern. Sie warf Denise einen giftigen Blick zu, doch die schüttelte kaum merklich den Kopf, was heißen sollte, dass es bis jetzt noch keinen Grund zum Aufregen gab.

»Raoul war vorhin hier«, übernahm Denise jetzt die Erklärung. »Catherine meinte, dass es für dich vielleicht schön wäre, eine Zeit lang für deine Enkel sorgen zu dürfen. Catherine braucht wirklich Hilfe, und wer weiß, wann du wieder einmal eine solche Gelegenheit bekommst, etwas Gutes zu tun.«

Eva atmete hörbar ein. Sie spürte, wie bei Denises Worten heißer Zorn in ihr aufstieg. Raouls Kinder waren nicht Karins Enkel, sondern ihre eigenen, und hätte sie nicht ihren Beruf als Lehrerin gehabt, den sie sehr liebte, wäre es für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, bei seiner Familie einzuspringen, bis Catherine wieder selbst alles in die Hand nehmen konnte.

»Was wollt ihr mir damit sagen?«

»Du könntest, wenn du willst, zu Raoul, Catherine und den Kindern ziehen, bis das Kind geboren ist. Du würdest für den Haushalt sorgen, die Kinder zur Schule fahren und jeden Tag etwas kochen. Ich kann mir vorstellen, dass dir das viel Freude macht.« Denise beobachtete das wechselnde Mienenspiel der Frau mit Verwunderung.

»Mit Haushalt habe ich es nicht so«, murmelte Karin unsicher. Sie spürte, dass ihr weiterer Aufenthalt hier maßgeblich von ihrer Reaktion abhing. Allerdings hatte sie absolut keine Lust dazu, ihre Qualitäten als Hausfrau und Ersatzmutter unter Beweis zu stellen, die sie niemals im Leben gehabt hatte.

»Hast du bei dir zu Hause keinen Haushalt?«, fragte Denise verwundert.

»Doch, natürlich. Aber das hat bis jetzt mein Lebensgefährte erledigt.«

»Und du? Was machst du den ganzen Tag?« Denise kam aus dem Staunen nicht mehr heraus.

»Da gibt es genug anderes, das ich machen kann. Ich habe einige sehr liebe Freundinnen, wir gehen shoppen, Kaffee trinken, und am Nachmittag kommen meine Lieblingsserien im Fernsehen. Ich habe keine Langeweile«, fügte Karin lachend hinzu. »Da müsst ihr euch keine Sorgen machen.«

»Willst du damit sagen, dass du Catherine nicht helfen willst?«, fragte Eva entsetzt.

»Von Wollen kann gar keine Rede sein. Ich… mhm… ich kann es nicht. Wann hab ich zum letzten Mal etwas gekocht? Lasst mich nachdenken.« Sie runzelte die Stirn. »Vor zehn Jahren oder länger. Doch, es ist länger als zehn Jahre her. Damals war mein Freund krank und wollte eine warme Suppe. Ich habe eine Tüte in heißes Wasser geschüttet, und nach einer Weile wurde eine Tomatensuppe draus. Hat toll geschmeckt.« Sie lachte herzlich, anscheinend war sie sehr zufrieden mit ihrer Antwort.

Eva war entsetzt. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken. »Ich könnte das Kochen übernehmen, mache das hier bei mir und bringe es dann zu euch hinüber. Deine Aufgabe wäre es dann nur, die Kinder zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Du kannst das mit Catherines Auto tun, deines ist zu klein für drei Kinder.« Sie wollte nicht beleidigend sein und etwas Negatives über Karins alte Klapperkiste sagen, für die sich die Kinder mit Sicherheit vor ihren Freunden geschämt hätten.

»Das alles kann ich nicht, was ihr da von mir erwartet.«

»Warum nicht?« Eva wollte noch nicht aufgeben.

»Ich kann das nicht. Was glaubt ihr, weshalb ich damals meine Familie verlassen habe? Es ging mir nicht mal so sehr um einen anderen Mann. Ich war noch nie ein Hausmütterchen. Das Leben an Pierres Seite hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Er war ein begnadeter Chirurg, hatte ein phantastisches Einkommen. Wir hatten eine Hausdame, die sich um alles gekümmert hat, und eine Frau fürs Grobe hatten wir auch.«

Langsam verstanden Eva und Denise, was damals schief gelaufen war. »Warum hast du dich dann getrennt, obwohl du alles hattest?«, fragte Denise, die immer alles ganz genau wissen wollte.

»Als Raoul geboren wurde, wollte ich eine Kinderfrau für ihn. Am besten eine Amme. Ich hatte auch eine, als ich geboren wurde. Schließlich ruiniert man seine Figur beim Stillen. Das habe ich abgelehnt. Pierre war zum ersten Mal zornig und hat mir meinen Wunsch abgeschlagen. Unsere Hausdame hat dann das Kind übernommen. Ich musste mich nicht um Raoul kümmern, nur abends habe ich ihn zu Bett gebracht. Immerhin hab ich das zehn Jahre ausgehalten, bis mein Sohn alt genug war, um auf mich verzichten zu können.« Stolz schwang in ihrer Stimme mit.

»Auf so eine Mutter hätte ich schon viel früher verzichten können«, flüsterte Denise zornig und ballte ihre Hände zu Fäusten. »Also, was ist, nimmst du das Angebot an, dann kannst du noch eine Weile bleiben. Wenn nicht, möchten wir dich bitten, deine Zelte bei uns bald abzubrechen, denn wir brauchen das Gästezimmer dringend für meine Schulfreundin. Ihr Besuch ist schon lange besprochen, ich kann sie jetzt nicht mehr ausladen.« Diese Ausrede war Denise spontan eingefallen, weil sie am Vormittag mit Stefanie telefoniert hatte.

»Danke, das war deutlich.« Karin drehte sich um und wollte das Wohnzimmer verlassen.

»Machst du es? Du würdest ­Catherine und Raoul sehr helfen.« Eva versuchte noch immer ruhig zu bleiben.

»Wenn das die einzige Möglichkeit ist, noch eine Weile bei meiner Familie bleiben zu dürfen, werde ich es zumindest versuchen. Was soll ich tun? Reicht es, wenn ich morgen umziehe? Ich würde gern vorher noch eine Nacht ausruhen.«

»Klar reicht das.« Eva sprang auf und umarmte Karin spontan. Es fühlte sich nicht gut an, als sie den ausgemergelten Körper der Frau an sich drückte. Karin war mit ihren siebenundfünfzig Jahren eine verhärmte, ausgezehrte alte Frau, mit der man Mitleid haben sollte. »Ich danke dir, Karin. Du hilfst uns allen damit, und ich kann mir vorstellen, dass es dir viel Freude machen wird, mit den Kindern zusammen zu sein. Es sind wunderbare Kinder.«

»Wir werden sehen.« Karin lächelte etwas säuerlich. »Aber jetzt muss ich gehen, gleich fängt meine Serie an, die darf ich nicht verpassen. Ich will doch wissen, ob Lisa aus der Psychiatrie entlassen wird oder drinbleiben muss.«

»Natürlich sollst du deine Serie sehen.« Eva fiel es sehr schwer, ihre Gesichtszüge unter Kontrolle zu halten. Je genauer sie Raouls leibliche Mutter kennenlernte, desto besser konnte sie seine Abneigung gegen sie verstehen.

»Danke«, sagte sie nur.

»Schon in Ordnung.«

Noch ehe jemand etwas erwidern konnte, war Karin im Gästezimmer verschwunden. Sie hatte keine Ahnung, was bei der neuen Aufgabe von ihr erwartet wurde. Wichtig war ihr nur, dass die Familie im Nachbarhaus einen großen Fernseher hatte.

*

Pierre wunderte sich beim Frühstück, dass seine beiden Frauen sich immer wieder bedeutungsvolle Blicke zuwarfen. Er wagte allerdings nicht nach dem Grund zu fragen. Dass jedoch eine neue Schwingung im Haus war, konnte er ganz deutlich spüren. Eine leichte Fröhlichkeit war da, die sich sehr angenehm für ihn anfühlte.

»Ich geh jetzt in die Praxis«, sagte er nach einer Tasse Kaffee. »Ist Karin eigentlich noch da? Hab sie heute noch gar nicht gesehen.«

»Sie wird ausschlafen wollen«, bemerkte Eva leichthin und begann den Tisch abzuräumen. »Sie frühstückt immer viel später als wir.«

Darauf wusste Pierre nichts zu erwidern, deshalb verzog er sich zu seiner Arbeit. Zwar hatte sich der erste Patient erst gegen Mittag angesagt, doch im Labor gab es immer genügend zu tun.

Er saß noch nicht lange an seinem Schreibtisch, als es klopfte. »Darf ich reinkommen?«

Es war unverkennbar Karin, deren jammervolle Stimme ihm durch den ganzen Körper fuhr. Er sprang vom Stuhl hoch und riss die Tür auf. »Geht es dir nicht gut, Karin? Warst du deshalb nicht beim Frühstück?« Er nahm ihren Arm und führte sie zum Stuhl.

Karin genoss sichtlich die bevorzugte Behandlung. »Es geht, ich hab nur die ganze Nacht wieder nicht geschlafen vor Schmerzen«, antwortete sie und lehnte sich zurück.

»Was war denn?«

»Immer diese Schmerzen.«

»Kannst du es nicht genauer erklären? Wo sind sie, und wie fühlen sie sich an? Stechen, brennen, klopfen…«

»Herzklopfen«, antwortete Karin und machte statt einer weiteren Erklärung eine schöpferische Pause.

Pierre legte ihr die Manschette an, um den Blutdruck zu prüfen. Er war völlig normal. Auch der Herzschlag war nicht auffällig.

»Du hast dich bestimmt über etwas aufgeregt. Was war es?« Das Verhalten seiner beiden Frauen war ihm wieder eingefallen. Was hatten die beiden gemeinsam ausgekocht, um den ungewollten Besuch von hier zu vertreiben?

Karin zuckte die Schultern. »Eigentlich müsste ich mich darüber freuen, doch ich weiß nicht, ob ich den Anforderungen gewachsen bin.«

»Sprich nicht in Rätseln mit mir. Darin war ich noch nie gut. Was ist los?«

»Raoul war gestern hier.«

»Hat er etwas gesagt, das dich so aufgeregt hat?« In Pierre läuteten sämtliche Alarmglocken.

»Mit mir hat er gar nicht geredet.«

Pierre spürte, wie sein Adrenalinspiegel gefährlich anstieg. Jede noch so banale Erklärung so spannend wie möglich zu machen, war schon immer eine von Karins unerträglichen Eigenschaften gewesen. »Wer hat dann mit dir gesprochen?«

»Eva hat es mir gesagt.«

»Und was, wenn ich fragen darf?«, fragte er spöttisch und atmete mehrmals hörbar ein. Dabei zählte er immer wieder auf zehn und wieder zurück, bis er sich einigermaßen beruhigt hatte.

»Sie suchen eine Hilfe für den Haushalt. Raoul kam auf die Idee, dass ich das ja machen könnte.«

»Das war mit Sicherheit nicht Raouls Idee«, widersprach Pierre. »Ich glaube nicht, dass du für den Job die Richtige bist. Wenn es um Hausarbeit geht, hast du zwei linke Hände. Die beiden werden sich etwas anderes überlegen müssen.«

»Das habe ich ja auch gesagt«, jammerte Karin. »Bis jetzt hatte ich immer Leute, die das für mich erledigt haben. Auch mein Lebensgefährte hat sich immer darum gekümmert. Ich hatte andere Aufgaben.«

»Ich weiß, Einkaufsbummel und Fernsehen, das konntest du schon immer am besten. Dann hat sich in dieser Richtung also bis heute nichts geändert«, stellte er sarkastisch fest.

Sie schüttelte den Kopf und grinste kläglich. »Nicht viel. Deshalb weiß ich nicht, ob ich der Aufgabe gewachsen bin. Natürlich reizt es mich, in der Familie unseres Sohnes zu leben.«

»Willst du meine ehrliche Meinung wissen? Dass es dich reizen würde, glaube ich dir nicht. Bei ­Raoul müsstest du öfter mit anpacken, bei uns wirst du bedient. Wer gibt schon freiwillig ein warmes Plätzchen hinter dem Ofen her, wenn es nicht unbedingt sein muss.«

»Ihr habt euch alle gegen mich verschworen.«

»So ein Unsinn. Wir sehen dich nur so, wie du bist. Deshalb wundere ich mich, dass Eva dir dieses Angebot gemacht haben soll. Warum hat sie es nicht vorher mit mir besprochen?«

»Vielleicht, weil sie wusste, dass du mir nicht mehr zumuten würdest, als ich mit meiner schweren Krankheit leisten kann. Eine Familie mit drei Kindern, das geht über meine Kräfte.« Karin wischte verstohlen eine imaginäre Träne aus dem Auge.

Pierre spürte, wie Ärger über seine Frau in ihm aufstieg. Warum hatte sie nicht mit ihm geredet, dann wäre er wenigstens auf dieses Gespräch vorbereitet gewesen. So wusste er nicht, wie er reagieren sollte. Karin hatte ihn wieder einmal voll da erwischt, wo er hilflos war, nämlich bei seiner mitleidigen Ader.

»Was soll ich tun?«

»Was möchtest du denn tun?«, kam sofort die Gegenfrage. »Die Entscheidung liegt bei dir.«

Ein verhaltenes Schluchzen war die Antwort.

»Bitte, Karin, hör auf mit diesen Spielchen. Die Zeit, in der du damit bei mir noch punkten konntest, ist längst vorbei. Sag, was Sache ist, dann werden wir gemeinsam überlegen, wie es weitergehen soll.«

»Ich kann das nicht«, jammerte sie. »Kinder sind mir ein …« Erschrocken schwieg sie. Eigentlich hatte sie sagen wollen, dass Kinder ihr ein Gräuel seien, doch damit hätte sie sich Pierre mit Sicherheit nicht zum Freund gemacht. »Ich kann einfach nicht gut mit Kindern umgehen. Sie verstehen mich nicht, und ich verstehe sie nicht.«

»Wo ist das Problem? Wenn du es nicht kannst, musst du es ablehnen.«

»Denise hat gesagt, dass sie das Gästezimmer bald für ihren Besuch braucht.«

»Das kann sein. Ich habe mal läuten hören, dass ihre Schulfreundin sie besuchen möchte. Allerdings wusste ich nicht, dass dies jetzt schon der Fall sein würde.« Erleichtert atmete Pierre auf. Zum Glück war ihm eingefallen, dass seine Tochter schon öfter von Stefanies bevorstehendem Besuch erzählt hatte.

»Kann diese Freundin denn nicht bei Denise schlafen?«

»Na ja, dafür haben wir das Gästezimmer. Wie lange hattest du eigentlich vor zu bleiben? Besuch zu haben ist ja ganz nett, doch nach einiger Zeit sollte auch wieder jeder seine eigenen Wege gehen.« Pierre wunderte sich über sich selbst, dass solche Worte über seine Lippen gekommen waren.

Entsetzt starrte Karin ihn an. »Ist das dein Ernst?«

Als Pierre nicht antwortete, schlug sie die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen. »Ich weiß, dass ich in der Vergangenheit viele Fehler gemacht habe. Jetzt, da es zu Ende geht, wollte ich versuchen, ein bisschen was davon gutzumachen. Doch ihr gebt mir keine Chance dazu. Ich werde mein schlechtes Gewissen vermutlich mit ins Grab nehmen müssen.«

»Besorge mir endlich deine Diagnose und sämtliche Blutuntersuchungen, dann können wir weiter sprechen. Auf dieser Basis jedoch bin ich nicht bereit, länger mit dir zu reden«, sagte Pierre gefährlich leise. Sein Geduldsfaden war am Zerreißen. »Ich kann deine ewigen Andeutungen nicht mehr ertragen. Wenn es wirklich so schlecht um dich steht, wenn du tatsächlich Angst um dein Leben hast, dann zeig mir alle Arztberichte, die du dabei hast. Den Rest kann ich selbst anfordern. Aber lass mich dir helfen, und spar dir diese dauernden Andeutungen.«

Karin hörte nicht auf mit haltlosem Schluchzen. Sie überlegte fieberhaft, wie sie sich verhalten sollte. Die Situation, die bis jetzt eigentlich ganz gut funktioniert hatte, war plötzlich in eine Sackgasse geraten. Im Grunde hatte sie gar keine Möglichkeit, etwas zu entscheiden. Entweder sie zog zu ­Raoul und kümmerte sich um seine Familie, oder sie musste ihre Zelte abbrechen und zu ihrem ungeliebten Freund zurückkehren. Beides gefiel ihr überhaupt nicht.

Pierre taten seine harten Worte schon wieder leid. Vielleicht hatte er sie wirklich zu herzlos angepackt. Wie damals vor zwanzig Jahren war er ihren Gefühlsausbrüchen nicht gewachsen.

»Krank und heimatlos, das ist zu viel.« Karin spielte ihren letzten Trumpf aus. Zwischen Mittelfinger und Zeigefinger hatte sie einen kleinen Spalt gelassen und konnte auf diese Weise Pierre sehr gut beobachten. Ganz deutlich sah sie den Zwiespalt der Gefühle, in dem er sich befand. Dies war ein untrügliches Zeichen für sie, dass sie fast schon wieder gewonnen hatte.

»Ich hab einen Vorschlag für dich. Verbringe einen Tag bei Raoul und den Kindern, dann wirst du sehen, ob du der Aufgabe gewachsen bist. Wenn nicht, müssen wir eine andere Lösung finden. Du kannst jedoch nicht auf unbestimmte Zeit bei uns wohnen bleiben, das stört unseren Familienfrieden ja jetzt schon ganz erheblich. Ich hoffe, du kannst das verstehen.«

»Was habe ich denn für eine Alternative?«

»Du könntest wieder nach Hause fahren. Was ist überhaupt mit deinem Lebensgefährten? Weiß er darüber Bescheid, dass du hier bist?«

Sie schüttelte heftig den Kopf. »Um Himmels willen, das darf er nie erfahren. Er kann sehr grob sein, wenn ihm etwas nicht passt. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich ihn verlassen habe. Bei Nacht und Nebel bin ich davongeschlichen, weil ich Angst hatte, er würde mich zurückhalten.«

»Hätte er dich geschlagen, wenn er dich erwischt hätte?«, fragte Pierre entsetzt.

Sie zuckte die Schultern. »Ich weiß es nicht«, antwortete sie bedeutungsvoll langsam. Innerlich jedoch musste sie ein Lachen unterdrücken, wenn sie sich ihren Freund vorstellte. Der konnte keiner Fliege etwas zuleide tun, geschweige denn, die Hand gegen jemanden erheben. Für einen Moment lang empfand sie sogar so etwas wie ein schlechtes Gewissen, weil sie ihn verleugnete. Aber das verflog rasch.

»Ich merke, dass ich gar nichts von dir weiß«, bekannte Pierre und stellte bei sich fest, dass es ihn eigentlich auch gar nicht interessierte.

»Wenn wir genügend Zeit haben, werde ich dir gern mehr erzählen«, schlug Karin glücklich vor. »Da gibt es eine ganze Menge. Du würdest dich wundern«, fügte sie bedeutungsvoll hinzu.

»Dazu habe ich jetzt keine Zeit. In ein paar Minuten kommt mein erster Patient.« Das war zwar gelogen, denn er hatte mindestens noch eine Stunde bis dahin zur Verfügung. Doch die Vorstellung, diese mit Karin verbringen zu müssen, fühlte sich nicht gerade gut an.

»Auch bei dir hat sich nichts geändert.« Sie schenkte ihm ein wehes Lächeln. »Damals hattest du noch weniger Zeit für mich als heute.«

»Wie hast du dich entschieden?«

»Zu welchem Thema?«, tat sie ratlos.

»Versuchst du es bei Raoul? Ich kann dich heute Abend zu ihm bringen, wenn du möchtest.«

»Ich hab wohl keine Wahl.«

Pierre schüttelte den Kopf. »Nein, keine«, antwortete er ehrlich. »Ich hoffe, du kriegst das hin.«

Schweigend erhob sie sich und ging zur Tür. Dann drehte sie sich noch einmal zu ihm um. Für einen kurzen Moment schaute sie aus dem Fenster und entdeckte Denise, die vermutlich bereits eine ganze Weile ins Zimmer starrte.

»Wenn ich dir eine Vollmacht gebe und den Namen meines Hausarztes, würdest du dich dann um alles Weitere kümmern? Es gibt wohl keine Hilfe mehr für mich, aber ich bin noch nicht bereit, kampflos aufzugeben.« Sie beobachtete zufrieden seine Reaktion.

»Das ist eine wunderbare Entscheidung.« Pierre sprang prompt von seinem Stuhl auf und wollte auf sie zulaufen. Doch Karin war schneller. Mit zwei großen Schritten war sie bei ihm und fiel ihm um den Hals. »Danke, Pierre, danke, dass du dich so um mich kümmerst«, stammelte sie, barg ihr Gesicht an seiner Schulter und schluchzte herzzerreißend. Dabei beobachtete sie aus ihrer äußerst vorteilhaften Position, dass Denise alles mitansehen konnte. Sie hatte die Hand vor den Mund geschlagen und stand bewegungslos an der Gartenmauer, auf der einige Geranientöpfe ihren Platz gefunden hatten.

»Es reicht, Karin.« Energisch schob Pierre sie von sich. Ihre körperliche Nähe war ihm sehr unangenehm.

»Ja, du hast recht«, stimmte sie zu, denn Denise war inzwischen verschwunden. »Ich muss noch darüber nachdenken. Erst einmal werde ich versuchen, unserem Sohn beizustehen.« Bei diesem Ausspruch fühlte sie sich wunderbar und edel, ganz die gute Mutter, die immer für ihre Kinder sorgte.

»Ich fahr dich heute Abend.« Er sagte das so bestimmt, dass Karin nicht wagte, ihm zu widersprechen.

Sie nickte und verließ das Zimmer. Leise machte sie die Tür zu. »Tu das, mein Lieber«, sagte sie leise. »Tu das.« Dann lachte sie triumphierend in sich hinein.

*

Zitternd stand Denise in der leeren Garage und versuchte ihre aufgescheuchten Nerven zu beruhigen. Das, was sie eben gesehen hatte, schüttelte ihr gesamtes Weltbild durcheinander. Ihr geliebter und stets so geradliniger Vater stand in seinem Behandlungszimmer und hielt seine Exfrau im Arm. Sie hatte es ganz deutlich gesehen. Ein Irrtum war völlig ausgeschlossen.

»Das kann er nicht machen«, murmelte sie vor sich hin und hatte das Gefühl, als sei ein Blitz mitten durch sie hindurchgefahren. »So etwas geht nicht.«

»Was geht nicht?« Marcel, dem zu Hause die Decke auf den Kopf gefallen war, hatte Denise gleich gefunden, weil er ihre Stimme in der Garage gehört hatte. Jetzt wunderte er sich, denn sie befand sich ganz allein in diesem leeren Raum.

»Das kann er nicht machen.« Mit leerem Blick starrte sie ihn an. »Was willst du hier?«

»Wie bitte? Wenn ich ungelegen komme, kann ich auch wieder gehen.«

Marcel wirkte beleidigt.

Endlich kam Denise zu sich. Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin ja froh, dass du da bist«, flüsterte sie. »Ich weiß nicht mehr, was ich noch denken soll.«

Er sah, dass sie sich kaum mehr auf den Beinen halten konnte. Sofort war er bei ihr und hielt sie fest. Sie zitterte in seinen Armen. »Willst du reden?«

»Mein Vater und Karin… sie haben sich umarmt«, flüsterte sie mit schwacher Stimme.

»Das kann nicht sein.«

Marcel lachte.

»Dein Vater und dieser Hungerhaken? Da musst du etwas falsch verstanden haben.«

»Hab ich nicht.«

»Du glaubst doch nicht wirklich, was du da sagst. Deine Mutter ist eine bildschöne, blitzgescheite Frau. Die wird er doch nicht gegen so eine … gegen diese Frau eintauschen.«

»Immerhin war er mit ihr einmal verheiratet. Und als sie sich von ihm getrennt hat, war er am Boden zerstört.«

»Das ist zwanzig Jahre her«, konterte Marcel. Er führte Denise zu der Bank, die an die Garagenwand gelehnt in der Sonne stand. »Setz dich erst einmal und beruhige dich.«

»Soll ich es Mam erzählen?«

»Nein, lass das. Du musst dich nicht immer in alles einmischen, alle retten. Deine Eltern sind alt genug, um ihre Probleme selbst zu meistern.«

»Mam weiß es nicht. Wie soll sie da etwas unternehmen.«

»Wenn dein Vater wirklich ein Auge auf Karin geworfen hat, was ich nicht glaube, wird er es ihr irgendwann selbst erzählen.«

»Dann ist es für alles zu spät.« Denise schluckte den Schluchzer hinunter, der ihr den Hals zuschnüren wollte. »Heute früh waren wir so glücklich, weil Karin zu Raoul zieht, um im Haushalt und mit den Kindern zu helfen. Ich versteh es einfach nicht. Warum macht mein Vater so etwas?«

»Verurteile ihn nicht. Du kennst die Umstände nicht.«

»Soll ich mit ihm reden?«

Marcel schüttelte den Kopf. »Du sollst gar nichts. Kümmere dich um deine Ausbildung. Die Ehe deiner Eltern geht dich nichts an.«

»Du kannst das nicht beurteilen, du hast keine Familie«, murmelte Denise leicht verärgert.

Der Hieb hatte gesessen. Marcel nahm seinen Arm von ihren Schultern. »Wie du meinst«, sagte er leise. »Du musst es ja wissen, wie du immer alles weißt und richtig machst.«

Sie merkte, dass sie ihn da getroffen hatte, wo es ganz besonders wehtat. »Tut mir leid.«

»Ist schon in Ordnung. Ich sollte besser wieder gehen, ehe wir noch mehr Porzellan zerschlagen. Melde dich, wenn du dich einmal nach meiner Gesellschaft sehnst.«

»Bitte geh nicht.« Die Vorstellung, jetzt ganz allein sein zu müssen, konnte Denise nicht ertragen. »Ich wollte dir nicht wehtun.«

»Hast du aber.«

»Entschuldige bitte.«

»Du denkst immer, das Rad der Welt kann ohne dich nicht fahren. Das ist ein Irrtum. Jeder Mensch ist zu ersetzen, das haben sie alle mir jetzt wieder ganz deutlich gezeigt. Niemand braucht mich, du auch nicht.«

»Das ist nicht wahr.«

»Doch, ist es. Aber auch du bist zu ersetzen. Für mich zwar nicht so einfach, aber auch das muss gehen. Jeder ist für sich allein verantwortlich. Je eher du lernst, dass nur du allein wirklich wichtig bist für dich, umso früher legst du unwichtige Dinge zur Seite und kümmerst dich um das, was wirklich wichtig ist.«

»Was ist deiner Meinung nach wichtig? Ich will doch mein Elternhaus so behalten, wie ich es gewöhnt bin. Was mache ich, wenn hier alles zerbricht?«

»Das wird es nicht«, versuchte er sie zu beruhigen. »Bis jetzt bist du doch noch nie mit Schwierigkeiten konfrontiert worden. Deshalb hat man dich völlig unvorbereitet ins kalte Wasser gestoßen. Komm zu dir, und versuche die Situation nüchtern zu betrachten.«

»Mach ich doch die ganze Zeit. Sie wird dadurch nicht schöner. Was ist bloß in meinen Vater gefahren? Welchen Knopf muss man bei ihm drücken, dass er seinen Verstand so total verliert?« Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Marcel an.

Der hätte fast laut gelacht. Ihre Ausdrucksweise war zu komisch, das stellte er immer wieder fest. »Wenn du den Knopf in achtzehn Jahren nicht gefunden hast, sehe ich schwarz«, sagte er schmunzelnd.

»Du nimmst mich nicht ernst.«

»Sollte ich?«

»Ja, es ist eine ernste Angelegenheit. Immerhin geht es um mein Elternhaus.«

»… das dir mit Sicherheit erhalten bleibt. Du machst aus einer Fliege einen Elefanten. Warte es doch ab. Und wenn du es gar nicht aushältst, dann sprich deinen Vater tatsächlich drauf an. Aber bring nicht deine Mutter um ihre Ruhe, solange dein Verdacht gar nicht bestätigt ist.«

Denise dachte lange nach. Immer wieder seufzte sie auf, dann griff sie nach Marcels Hand. »Ein Glück, dass du gerade gekommen bist. Ich hätte vermutlich alles falsch gemacht.«

»Du bist viel zu impulsiv. Erst nachdenken, dann denken, dann wieder denken, und dann, wenn es noch nötig ist, kannst du handeln. Nicht immer gleich losrennen und alles kaputttrampeln.« Marcel lächelte. Er fühlte sich gut dabei, für Denise ein Rettungsanker gewesen zu sein.

»Ich bin gespannt, ob Karin wirklich zu Raoul geht und ihm hilft«, überlegte sie halblaut vor sich hin.

»Oh, sie wird das schon versuchen. Ich glaube aber nicht, dass sie den vielen Aufgaben dort gewachsen ist. Schon körperlich wird sie dazu vermutlich nicht in der Lage sein.«

»Wenn ich nur wüsste, wo sie hergekommen ist. Man müsste einmal ihr bisheriges Leben erforschen. Es muss doch einen Auslöser gegeben haben, dass sie ausgerechnet jetzt ihre frühere Familie besuchen wollte. Hast du eine Idee, wie man das herausfinden könnte?«

»Immerhin hat sie eine Autonummer, da weiß man zumindest die Stadt, wo das Auto gemeldet ist. Dann gibt es ein Telefonbuch, und wenn wir Glück haben, ist sie da gelistet. Ich hab ja jetzt Zeit. Wenn du willst, kümmere ich mich drum. Falls ich sie finde, machen wir einfach einen Ausflug und schauen uns die ganze Geschichte mal mit unseren eigenen Augen an.«

»Das würdest du tun?«

»Aber klar, gern sogar. Wenn ich dir damit helfe, deinen Seelenfrieden wiederzufinden, mache ich fast alles.« Er lachte leise und legte ihre Hand an seine Wange.

»Marcel, du bist wunderbar.« Denise drehte sich zu ihm um und schaute ihm tief in die Augen. Dann küsste sie ihn.

*

»Hast du mit Eva gesprochen? Was sagt sie dazu?« Catherine lag auf dem Sofa und atmete schwer. »Du kannst nicht immer früher von der Arbeit nach Hause kommen und dich um die Kinder kümmern.«

»Ich habe mit Eva geredet und mit Denise. Pierre bringt Karin heute Abend zum Probeleben bei uns. Im Haushalt wird sie wohl nicht sehr viel tun können, das war früher schon nicht ihre Welt, und deshalb wird sie das heute ebenfalls nicht sein. Doch mir ist hauptsächlich wichtig, dass immer jemand da ist, falls du Hilfe brauchst. Die Hausarbeit kann ich abends irgendwie erledigen, das ist kein Problem.«

»Ich hätte nie gedacht, dass nach drei wundervollen Schwangerschaften die vierte so eine Katastrophe sein würde. Wenn ich das geahnt hätte, wäre meine Entscheidung vermutlich anders ausgefallen.« Catherine schluchzte, wurde jedoch gleich wieder stark, wie es ihre Art war.

»Wir schaffen das zusammen, Liebes. Vielleicht wird dieses Kind etwas ganz Besonderes. Versuchen wir, uns trotz allem zu freuen. Wenn es nicht anders geht, bringe ich dich ins Krankenhaus, vielleicht können sie dort deine Beschwerden etwas besser lindern, als wir das hier tun können.«

»Wann kommen sie?«

Raoul zuckte die Schultern. »In einer Stunde oder so. Pierre will seine Praxis heute etwas früher schließen und sie gleich einpacken. Eigentlich dachte ich, dass er dieser Lösung nicht zustimmen würde.«

»Warum sollte er etwas dagegen haben? Meinst du, er hat sich wieder in sie verliebt?«

»Nein, so ein Unsinn«, fuhr ­Raoul auf. »Da wäre er schön dumm. Er wird froh sein, dass er ihr damals so einfach entkommen ist. Sie war keine Partnerin, sondern ein Püppchen, das verwöhnt werden wollte. Als mein Vater dazu keine Zeit hatte, trennte sie sich von ihm. Er weiß, wie sie ist. Da wird er keinen Gedanken an sie verschwenden, zumal er eine wunderbare Partnerin hat.«

»Komm zu mir, Raoul.« Cathe­rine streckte die Hand nach ihrem Mann aus. »Mir fehlt deine Nähe so sehr, dass ich es gar nicht in Worte ausdrücken kann. Magst du mich überhaupt noch, obwohl ich in der letzten Zeit nur noch eine Belastung bin für dich?«

»Rede doch nicht solch einen Unsinn«, schimpfte Raoul und setzte sich zu seiner Frau auf das breite Sofa. Zärtlich streichelte er über ihren stark gewölbten Bauch. »Bewegt es sich?«

»Gerade nicht. Warte einen Moment.«

Raoul ließ seine Hand auf ihrem Leib liegen und wartete. Kaum ein paar Minuten später spürte er es. Kräftig fühlte es sich an, und dann wieder ganz sanft und zärtlich. »Es bewegt sich«, stellte er mit rauer Stimme fest.

Catherine lächelte. »Ich weiß«, sagte sie leise. »Es hat seinen Vater begrüßt.«

Raoul neigte sich zu Catherine hinunter. Sein Kuss war zärtlich und fürsorglich, und auf einmal schmeckte er ein bisschen salzig.

Catherine merkte das, und es machte sie glücklich, als sie feststellte, dass es Tränen der Rührung waren. »Ich liebe dich, Raoul. Ich liebe dich so sehr, dass es keine Worte dafür gibt.«

Raoul vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Seine Schultern bebten. Sein Schweigen sagte mehr als tausend Worte.

*

Schweren Herzens packte Karin zusammen. Sie wollte nicht zu ­Raoul, aber sie wollte auch nicht nach Hause. Seit sie Pierre wiedergesehen hatte, wusste sie, dass er der Mann war, mit dem sie ihr restliches Leben verbringen wollte. Doch da war Eva, und sie war seine Frau. Sie stand ihrem Lebensglück im Weg.

Immer wieder stellte sich Karin vor, wie es sich am Vormittag angefühlt hatte, als sie in Pierres Armen gelegen hatte. Na ja, ganz so war es nicht gewesen. Er hatte sie ja schlecht wegstoßen können, als sie ihm unerwartet um den Hals gefallen war. Doch das wollte sie jetzt nicht mehr wahrhaben.

»Bist du soweit, Karin?«

»Bald«, antwortete sie und drehte Eva im Geist den Hals um vor Zorn. Ihr hatte sie es zu verdanken, dass sie gehen musste, davon war Karin überzeugt. Doch über die weitere Zukunft war das letzte Wort noch nicht gesprochen. Außerdem lebte Raoul nur wenige Minuten zu Fuß von seinem Vater entfernt. Dass sie, Karin, oft als Patientin in Pierres Praxis kommen würde, das wusste sie jetzt schon ganz sicher.

»Kann ich dir helfen?«

»Nein, kannst du nicht«, antwortete Karin genervt und starrte Eva böse an. »Du kannst es wohl kaum erwarten, mich loszuwerden. Bin ich denn so eine Belastung für euch? Ich war extra immer in meinem Zimmer geblieben, damit ich das glückliche Familienleben nicht störe«, schimpfte sie.

Eva zuckte zusammen. So böse hatte sie Karin noch nicht erlebt. »Du warst beim Frisör?« Erst jetzt bemerkte sie, dass diese ganz anders aussah als noch am Morgen. Mit halblangen grauen Haaren war sie gekommen, jetzt standen sie raspelkurz wie Stacheln und feuerrot von ihrem Kopf ab.

»Gefällt es dir?«

»Ich… mhm, eigentlich hat es vorher besser ausgesehen.«

»Es macht mich jung«, hat die Friseuse gesagt«, trumpfte Karin auf.

»Jung… ja, vielleicht«, stimmte Eva zu. Sie war so glücklich, den Besuch bald verabschieden zu können, dass sie Karin fast alles bestätigt hätte, was diese von ihr verlangte. »Wenn du Hilfe brauchst, oder wenn es Catherine schlecht geht und du nicht weiter weißt, ruf bitte gleich hier an«, schärfte sie ihr ein.

»Ich bin ja nicht doof.«

»Das hab ich auch nicht behauptet.«

»Wenn du der Meinung bist, ich krieg das nicht hin, dann geh doch selbst. Ich halte dann inzwischen hier die Stellung.« Sie grinste.

›Das könnte dir so passen‹, stellte Eva bei sich fest. »Nein, so ist das nicht. Ich möchte nur nicht, dass du denkst, wir lassen dich im Regen stehen. Wenn du möchtest, koche ich für euch mit, und einer von uns bringt es am Nachmittag rüber zu euch.«

Karin wollte schon dankend ablehnen, doch dann überlegte sie, dass sie auf diese Weise öfter Pierres Gesellschaft genießen konnte, wenn Eva keine Zeit hatte zu kommen. »Das ist natürlich sehr nett von dir.« Sie lächelte Eva freundlich an. »Es tut mir leid, wenn ich mich in der letzten Zeit als Ekel aufgeführt habe«, sagte sie.

»Ganz so schlimm war es nicht, aber auch nicht gut«, gab Eva zu.

»Es ist nicht einfach, wenn man ständig Schmerzen hat, nicht schlafen kann und zudem noch heimatlos ist«, erklärte Karin mit weinerlicher Stimme. »Dafür möchte ich mich bei dir entschuldigen. Du hast dich fantastisch verhalten, Eva. Pierre hat so ein Glück, dass du seine Frau bist.« Ihre Worte klangen so süßlich, dass Eva sich ausgesprochen unwohl dabei fühlte.

»Paps kommt gleich, ich hab ihn schon die Praxis zusperren gehört.« Denise kam atemlos angelaufen. Sie konnte es kaum mehr erwarten, Karin verschwinden zu sehen. Es gefiel ihr nur nicht, dass ihr Vater sie brachte und nicht die Mutter.

»Können wir?«

Pierre gesellte sich zu den Frauen. Er schien sich ausgesprochen wohlzufühlen. »Hast du Raoul informiert, dass wir kommen?«, wandte er sich an Eva.

Die nickte. »Sie warten sicher schon.« Sie schmiegte sich für einen kurzen Moment an ihn, gerade in dem Moment, als Karin zu ihnen blickte. Zufrieden beobachtete sie, dass Karin den Blick gleich wieder abwandte.

Der Abschied von Eva und Denise fiel kurz und schmerzlos aus, immerhin war Karin ja nicht aus der Welt, wie sie immer wieder betonte. Gepäck hatte sie nicht viel, ein bisschen Wäsche und einige Pullover und Shirts, die Eva erst am Vortag gewaschen hatte.

Die Fahrt durch die Stadt verlief schweigend. Karin wertete das für sich positiv, sagte sich, dass Pierre nicht unbedingt damit einverstanden war, wie sich alles entwickelte. Vielleicht hatte er heute früh gespürt, dass er noch immer mehr für seine erste Frau empfand, als er sich zunächst hatte eingestehen wollen.

»Bist du mir böse?«, fragte sie, als sie die Stille nicht mehr ertragen konnte.

»Warum sollte ich?«, gab er eine knappe Antwort.

»Ich wäre gern bei euch geblieben.«

»Das glaube ich dir. Wenn du mit den Kindern nicht klar kommst, brich den Versuch ab, ehe etwas passiert. Es ist eine Menge Verantwortung, die du da übernimmst. Denise könnte ja öfter helfen, bis du dich eingearbeitet hast.«

»Eine gute Idee. Darf ich dich anrufen, wenn ich nicht mehr weiter weiß?«

»Natürlich«, stimmte Pierre zu. »Wir sind da.« Er war erleichtert, dass die Fahrt zu Ende war.

Raoul kam aus dem Haus gelaufen. Er begrüßte Karin kühl, reichte ihr nicht einmal die Hand. »Ich hab dein Zimmer bereits gerichtet. Für heute habe ich Pizza bestellt für alle, ab morgen hoffe ich, dass du kochst. Du bekommst einen normalen Stundenlohn, dafür erwarte ich, dass du dich bemühst.«

Entsetzt starrte Pierre seinen Sohn an. Davon, dass er seine Mutter für ihre Arbeit bezahlen wollte, hatte er nichts gewusst. Er erwartete heftigen Protest von Karins Seite, doch die nickte nur, ohne etwas zu sagen.

»Kann ich euch allein lassen?«, fragte Pierre, weil er sich äußerst unwohl fühlte in dieser eisgekühlten Atmosphäre.

Raoul winkte ab. »Wir werden uns schon nicht die Köpfe einschlagen«, antwortete er, griff nach Karins Taschen und marschierte zum Haus.

»Das kann ja lustig werden«, murmelte Karin und schaute Hilfe suchend zu Pierre. »Ich glaub, jetzt hab ich einen Fehler gemacht«, murmelte sie.

»Versuch es«, bestimmte Pierre, drückte Karin kurz an sich und stieg in sein Auto. »Ein Sprung ins kalte Wasser ist oft besser, als wenn du erst mit dem großen Zeh anfängst und dich langsam hoch arbeitest.« Er grinste. »Du schaffst das, ich glaub an dich.« Er startete den Motor und fuhr los. Im Rückspiegel konnte er sehen, dass Karin langsam zum Haus ging. Jeder Schritt schien wie von Bleigewichten belastet zu sein.

Als er endlich um die Kurve gefahren war und sie nicht mehr sehen konnte, atmete er erleichtert auf.

*

»Hast du sie gut abgeliefert? Was hat Karin gesagt? Freut sie sich?« Mit gemischten Gefühlen hatte Eva auf die Rückkehr ihres Mannes gewartet. Dass er jedoch so schnell zu Hause sein würde, damit hatte sie nicht gerechnet.

»Ich glaube nicht, dass Karin der Aufgabe gewachsen ist. Wir müssen uns was anderes überlegen.« Pierre schaute ziemlich besorgt drein.

»Wie hat Raoul auf sie reagiert?«

»Wir haben nichts geredet. Er hat ihre Taschen genommen und ist ins Haus gegangen. Ich werde das Gefühl nicht los, er nimmt es mir oder uns übel, dass wir sie ihm aufs Auge drücken. Doch er braucht dringend Hilfe, und so schnell wird er niemanden finden.«

»Denise wollte doch unbedingt für ein Vierteljahr zu ihnen ziehen.«

»Ich weiß, aber das hätte ich nicht gut gefunden, dass sie sich vom Unterricht beurlauben lässt. Ich weiß auch nicht, ob das überhaupt möglich wäre.« Pierre ließ sich stöhnend aufs Sofa fallen.

»Wir sollten die Zeit nützen und uns für alle Fälle nach einer anderen Hilfe umsehen, falls Karin das nicht packt«, schlug Eva vor, die überglücklich war, dass sie ihren Mann endlich wieder einmal für sich allein hatte, ohne Angst, dass Karin gleich wieder mit von der Partie sein würde. Es war schon auffallend gewesen, dass sie immer dann aufgetaucht war, wenn Eva mit Pierre ein wenig kuscheln wollte.

»Endlich wieder allein.« Denise betrat das Wohnzimmer, schaute sich strahlend um und breitete die Arme aus. Sie holte tief Luft und jubelte. »Ich wusste gar nicht mehr, wie schön wir es haben.«

Eva lachte. »Ja, das, was man hat, weiß man erst zu schätzen, wenn man es einmal eine Weile nicht mehr gehabt hat. Ich vermute, wir werden jetzt alle drei wesentlich vorsichtiger mit unserem Glück umgehen als vorher. Wie schnell man es doch verlieren kann.«

Die Worte ihrer Mutter holten Denise in die Wirklichkeit zurück. Die Szene, wie ihr Vater Karin im Arm gehalten hatte, stand wieder vor ihrem geistigen Auge. Ihr Lachen erlosch. »Ja, stimmt«, sagte sie nur und griff nach der Programmzeitschrift. Gespielt interessiert blätterte sie darin. Sie fühlte sich plötzlich seltsam gehemmt in der Gegenwart ihres Vaters.

»Wollt ihr etwas essen? Ich hab zur Feier des Tages Linsen gekocht.«

Erwartungsvoll schaute Eva in die Runde. Linsen waren das Leibgericht der ganzen Familie.

Pierre stimmte begeistert zu. »Und nach dem Essen gönnen wir uns eine Partie Rommee. Einverstanden?«

Denise hätte die Welt umarmen können. Jetzt war alles wieder wie immer. Ihr altes Leben hatte sie wiedergefunden. Was wollte sie mehr.

An diesem Abend wurde Karin mit keinem Wort mehr erwähnt, obwohl alle drei vermutlich immer wieder an sie dachten. Doch sie wollten nicht die gemeinsame Zeit zerstören, die sie endlich wieder einmal miteinander verbringen durften.

Eva war die erste, die ihre Gedanken laut aussprach. »Ob sie das schaffen kann?«

Pierres Miene verfinsterte sich. »Sie ist eine erwachsene Frau, und doch wage ich es zu bezweifeln. Sie konnte früher schon nichts mit Familie anfangen. Deshalb fand ich die Idee auch etwas danebengegriffen. Aber lassen wir uns überraschen.«

»Fehlt sie dir, Paps?«, fragte Denise und hätte sich im nächsten Moment am liebsten auf die Zunge gebissen für diese unsinnige und überflüssige Frage.

»Sie hat mir die letzten zwanzig Jahre nicht gefehlt«, antwortete Pierre und wich Denises Blick aus. Er wusste selbst nicht, weshalb er sich auf einmal verlegen fühlte. Denises Frage hatte ihn unerwartet getroffen. Die Umarmung vom Vormittag fiel ihm wieder ein, für die er gar nichts konnte.

Für einen Moment lang hatte er das ungute Gefühl, bei etwas Verbotenem ertappt worden zu sein. Doch das war natürlich Unsinn.

Er empfand nichts mehr für Karin.

Eva strahlte ihren Mann arglos an.

»Warum sollte er sie vermissen? Er hat doch uns«, beantwortete sie Denises Frage. »Und jetzt lasst uns den wundervollen Abend genießen. Ich habe frische Limonade in der Küche. Noch scheint die Sonne. Was haltet ihr davon, wenn wir unseren Feierabend auf der Terrasse verbringen? Hol Gläser, Denise, ich bring die Limonade.« Fröhlich ging Eva in die Küche.

In dem Moment läutete das Telefon.

Am anderen Ende der Leitung war Raoul. Seine Stimme klang zornig.

»Was genau habt ihr euch vorgestellt, als ihr uns diese Frau als Hilfe angeboten habt?«

Eva erstarrte innerlich. »Ich … Wir dachten, das wäre eine gute Lösung für alle.«

»Für euch ganz bestimmt«, kam die bittere Antwort wie aus der Pistole geschossen. »Karin hat ihre Pizza mit gutem Appetit vertilgt, dann hat sie sich in ihr Zimmer zurückgezogen, weil sie ihre Serien sehen will. So hab ich mir ihre Hilfe nicht vorgestellt.«

»Lass ihr ein bisschen Zeit, damit sie sich eingewöhnen kann«, versuchte Eva ihn zu beruhigen. Doch da hatte Raoul bereits aufgelegt.

»Was war denn?«, fragte Pierre, als seine Frau mit der Limonade kam. »War es Raoul?«

Eva nickte. »Ja, und er war nicht gerade glücklich«, antwortete sie ausweichend.

»Was ist denn passiert?« Denise ahnte Schlimmes.

»Nichts ist passiert. Noch nicht«, antwortete Eva. »Karin muss ihre Fernsehserien sehen. Für die Familie hat sie keine Zeit mehr gehabt.«

»Ich habe es befürchtet.« Pierre legte seinen Arm um Eva und zog sie an sich. »Was bin ich dem Schicksal dankbar, dass ich dich gefunden habe.«

Denise betrachtete unauffällig ihre Eltern und war in diesem Moment trotz allem glücklich. Nur wenn sie an die Zukunft dachte, spürte sie eine Gänsehaut, die ihr über den Rücken kroch. Über das Problem Karin war das letzte Wort noch nicht gesprochen.

Sophienlust, wie alles begann Staffel 1 – Familienroman

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