Читать книгу Was am Ende bleibt - Marija Barisic - Страница 7

Die Fernfahrerbar

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Alle paar Minuten unterbrechen die beiden das Gespräch, um Bekannten zuzuwinken oder sie anzulächeln, ständig kommt jemand vorbei, um sie zu grüßen. Sie wirken wie ein lebendiges geselliges Paar. »Wir haben uns hier im Heim kennengelernt«, sagen sie, dann beginnen sie zu erzählen, nacheinander, durcheinander, und lächeln sich heimlich an, wenn sie dieselbe Geschichte gleich in Erinnerung haben.

Aufgeschrieben von: Laura Fischer

»Ich hasse ihn«, sagte ich als fünf- oder sechsjähriges Mädchen zu meiner Mutter. Als ich auf jedem Hof in Niederösterreich kniete und Rüben pflanzte für Geld, das ich nie sah. Die hölzerne Sparkasse, die er mir schenkte, blieb immer leer, oft nahm mein Vater mich noch mit in die Bar und ich musste zwischen den Beinen der Kartenspieler umherkriechen und das Kleingeld aufsammeln. Meistens sah er danach noch selbst nach, ob ich nicht etwas vergessen hatte. »Ich hasse ihn, wenn er bei der Tür reinkommt«, sagte ich mir, als ich vor meiner Mutter knien musste. »Hure«, sagte ich, so, wie er es mir befahl, dabei war sie keine, bei Gott nicht. Danach haben wir beide geheult, meine Mutter und ich. »Er soll bei lebendigem Leib krepieren«, sagte ich mir, und sagte ich meiner Mutter, als er die Hundepeitsche holte, ich dachte es mir, als er mich würgte, und dann dachte ich gar nichts mehr, dann war ich bewusstlos.

Das erste Mal geraucht habe ich als kleiner Bub mit sechs. Mein Freund aus der Schule ging damals immer zu den Russen, betteln. Ich bin 1945 geboren, kurz bevor die russische Besatzung begann. Einmal nahm mich der Freund mit. Einer der Russen gab mir eine Selbstgedrehte, das war nur Tabak in Zeitungspapier gewickelt. Manchmal bin ich mit dem Freund ins Russenlager gegangen, Kirschen klauen, und Marillen. Wenn sie uns gesehen haben, haben sie uns sofort weggejagt. Einmal habe ich den Stacheldraht oben am Zaun in die Augen gekriegt, geblieben ist mir aber nur eine kleine Narbe. Sonst ist nie etwas passiert.

In meinem Leben war ich oft Kellnerin. In Wirtschaften, Nachtlokalen, Cafés, überall, wo gerade eine Hand gebraucht wurde. Mit 16 war das noch in der Bar zu Hause in St. Pölten.

Ich sah sofort, wie er mich ansah, es war dieser männliche Blick, den ich mit 16 schon lange kannte. Er blieb bis nach meiner Schicht und fragte mich dann, ob er mich nach Hause begleiten durfte. Ich sagte ja. Wir gingen aus dem Lokal raus, die dunkle Straße entlang, und irgendwann legte er mir die Hand auf den Rücken. Ich kannte das schon, aber dann blieb er plötzlich stehen. Vorsichtig tastete er meinen Rücken entlang. Leise, fast zögerlich fragte er: »Darf ich mir das anschauen? Ich bin Arzt«, fügte er hinzu.

Ich hob die dünne Bluse an und er fuhr mir prüfend über den Rücken, über die Male, wo die Peitsche mir die Haut mitgenommen hatte. Er würde die Narben schleifen, sagte er. »Aber das kannst du dir nicht leisten.« Wer Schulden hat, muss sie abarbeiten, das wusste ich. »Bis du das abgebaut hast, bleiben wir zusammen«, sagte er. »Aber ich verspreche dir, ich rühr’ dich nicht an.«

Regelmäßig kam ich von da an verheult in die Arbeit, das Narbenschleifen tat so höllisch weh, aber gesagt habe ich nie etwas. Im Gegenzug habe ich gekocht, geputzt, den Garten gemacht, seine ganze Wohnung. Er hielt sein Versprechen, er rührte mich nie an, nie, nicht mal einen Kuss. Als die Narben fast weg waren, gab er mir noch eine Salbe mit, die durfte ich umsonst haben. »Die schenk ich dir«, sagte er, »weil mitgemacht hast du genug.«

Ich war siebzehn, als ich sie vom Nachtlokal nach Hause begleitete, obwohl sie nicht mit mir tanzen wollte. »Mit dir hab ich ja schon getanzt«, hat sie gesagt und den blonden Kopf geschüttelt, dabei war das mein älterer Bruder, der mir so ähnlich sah. Sie war gelernte Greißlerin1, und von da an begleitete ich sie immer von der Arbeit nach Hause. Irgendwann traute ich mich zu fragen: »Gehst du mit mir ins Kino?«

Aber sie meinte: »Da musst du meinen Vater fragen.«

Also ging ich hinauf und fragte. »Aber du musst sie so heimbringen, wie sie ist, und nicht irgendwie, weißt eh, einen Blödsinn machen«, sagte er zu mir. Und das habe ich auch nicht. Um elf war das Kino aus und pünktlich um zwölf war sie wieder zu Hause. Dann durfte ich mit ihr ins Kino gehen, wann ich wollte, oder ins Kaffeehaus, ihr einen Kaffee bestellen oder ein Stück Torte, wenn sie eines wollte. Und jeden Abend brachte ich sie wieder nach Hause, so wie sie war, ohne einen Blödsinn zu machen. So lange, bis ich drei Jahre später wieder zum Vater hinaufging. Diesmal aber, um um ihre Hand zu fragen.

Ich war siebzehn, als meine Mutter mich ansah, von oben bis unten, und dann nochmal meinen Bauch. Es war schon zu sehen, ich konnte schon die Hand darum legen. »Bei aller Liebe«, sagte meine Mutter, »aber du kannst daheim nicht bleiben.« Wegen der Nachbarn war es, was sollten die Nachbarn denken, ledig, siebzehn, schwanger? Dabei hätte das so gar nicht kommen sollen, ich wollte ja heiraten, wir wollten ja. Aber das Jugendamt wollte nicht. Weil ich minderjährig war, musste ich beim Gericht eine Erlaubnis einholen, aber einen Kriminellen, der sich immer prügelte, einen Vorbestraften wollten sie mich nicht heiraten lassen. Also fuhr ich nach Wien. Wien ist groß. Und die Nachbarn? Meine Mutter sagte ihnen, ich hätte einen Tumor im Bauch.

In Wien lebte ich unter der Reichsbrücke. Netter als die Nachbarn waren die Leute dort allemal. Ich war im Zelt mit zwei Frauen, beide hatten lange graue Haare, die eine war ein bisschen dicker, die andere ein bisschen dünner, aber von der Art her waren sie wie Zwillingsschwestern. Was die eine gemacht hat, hat die andere auch gemacht. Untertags gingen sie zusammen mit den anderen betteln, das waren sicher dreißig Männer oder noch mehr. Am Abend kamen sie zurück, an guten Tagen mit Taschen voller Einkäufe, und machten den Ofen an. Um den standen wir dann und aßen, an schlechten Tagen war das ein Igel, der gebraten wurde, an guten konnten das sogar Tortenstücke sein. Ich war ja schwanger, da hat man schon mal einen Gusto. Aber ich bekam immer, was ich wollte. Bestellte ich mir eine Biskottentorte, dann kam eine Biskottentorte. Nicht immer sofort, sie mussten ja zuerst ausspitzeln, wo nicht so genau aufgepasst wurde, wo so eine Torte schon mal mitgehen konnte, ohne zu zahlen. Aber dann kam sie immer, die Biskottentorte für mich. Und abends, wenn das Feuer gemacht wurde, konnte ich mich im Warmen waschen, und sie passten auf, dass mir keiner was antat. Kein Einziger hat mich je berührt.

Als ich sieben Monate schwanger war, kam wieder einmal die Polizei. Wir rannten in alle Himmelsrichtungen, so wie immer. Aber im siebten Monat, wo rennt man da noch groß hin? Sie erwischten mich und steckten mich ins Heim. Die zwei Frauen sah ich nie wieder, die anderen auch nicht. Sie wollten ja nichts mit den Behörden zu tun haben. Und dann, nach neun Monaten, kam ich ins Krankenhaus. Nicht lange nach mir war auch schon die Jugendfürsorge da, und das Kind war auch weg.

Mein Vater hat Autos verkauft, manchmal war er auch als Fahrer unterwegs. Schon als Jugendlicher half ich ihm dabei, meistens dann, wenn er Kohle ausfahren musste. Zusammen warfen wir uns die großen Kohlesäcke über die Schulter, machten sie vorne auf und kippten alles in die Kohlenkiste. Gefahren bin ich also immer schon.

Ich fing meine Ausbildung bei einem Automechaniker an, weil ich schon fahren konnte, ließ er mich sofort ohne Führerschein ans Steuer. Mit dem neuen Amerikaner, dem Chevrolet, fuhren wir zusammen auf die Autobahn. »Ist das schon alles?«, sagte mein Chef zu meinem Hunderter. »Komm, steig drauf!« Und ich beschleunigte auf 150. Als ich jung war, fuhr ich oft Rallyes im Wald, mit 18 durfte ich dann endlich den Führerschein machen. So bin ich Fernfahrer geworden.

Kinder hatte ich viele im Leben, und Männer noch mehr. Mein erster Mann war drogensüchtig, der hat den Putz von den Wänden gekratzt, wenn er nichts bekommen hat. Der zweite war Alkoholiker. Mein erstes Kind nahm mir die Jugendfürsorge weg, das zweite die Schwiegermutter. Beim dritten Kind stand die Frau von der Fürsorge wieder über dem Krankenhausbett. »Wenn du unterschreibst, dass du ihn weggibst, dann gibt dir der Arzt eine Spritze, damit es schneller geht.« Wissen Sie, wie sich eine Steißgeburt anfühlt? Jedenfalls habe ich unterschrieben. Erst über fünfzig Jahre später sah ich das Kind wieder, als es mir, Andi getauft und mittlerweile erwachsen, einen Brief schrieb. Dieser Andi ließ nämlich nachforschen, wer seine leibliche Mutter war. Er will sich mit mir treffen, am Westbahnhof, schrieb er. Ich stand beim Ausgang oben, dann kam plötzlich ein Mann auf mich zu, der sah ein bisschen mir ähnlich und ein bisschen seinem Vater. »Ich bin der Andi«, sagte er.

Und ich darauf: »Ich bin dei Mutti.«

Wir umarmten uns und ich konnte nur noch weinen. Zusammen gingen wir essen und redeten und redeten, am meisten über seinen Vater.

Behalten habe ich nur das vierte Kind, meine Tochter Monika. Eigentlich wollte ich sie abtreiben, wollte ich auch bei den Kindern davor, aber im Spital wiesen sie mich immer wieder ab. »Sie müssen erst viele gesunde Kinder auf die Welt bringen, dann können wir eine Abtreibung machen«, sagte der Arzt zu mir. Ich nahm zwar die Pille, aber nach einem Jahr musste man damals noch aussetzen. Kaum hatte ich die Pille abgesetzt, war ich wieder schwanger.

Monikas Vater war auch Alkoholiker. Er wollte mich heiraten, aber ich sagte: »Zeig mir erst einmal, dass du ohne Flasche auskommst. Ich bin doch keine Wäscherin für einen Besoffenen, und schon gar nicht für einen, der zwei Packerl Zigaretten am Tag braucht. Die Flasche oder wir«, sagte ich, als Monika sechs war. Er wählte die Flasche. Sechs Jahre später stand ich gerade in der Küche, als es wieder an der Tür läutete. Schnell wischte ich mir die Hände am Geschirrtuch ab und ging zur Tür. Verdammt. Mal wieder stand ein Polizist davor, diesmal hatte er meine Tochter am Ellbogen nach Hause gebracht. »Wir haben Ihre Tochter beim Stehlen erwischt«, sagte er und ließ sie los. Ich nahm sie am Handgelenk und zerrte sie bei der Tür herein. »Sie können Ihre Tochter nicht erziehen. Das ist ein Fall fürs Jugendamt.« Ich grinste ihn an. Monika war kein einfaches Kind. Mit elf hatten sie sie mir aus dem Puff gebracht, sie wollte sehen, warum dort so viele Lichter waren. Aber ein kluges Kind. »Sie können mir die Monika wegnehmen, ich kann Sie ja doch nicht aufhalten. Aber dann lass ich ganz Wien abbrennen.« Ich konnte sehen, wie ihn das aufregte, er plusterte sich gleich auf noch fünf Zentimeter mehr auf. »Das ist eine gefährliche Drohung, Madame, ich zeig’ Sie an dafür.« Ich lachte, ich glaube, ich habe ihn ausgelacht. »Wieso? Ich hab Ihnen ja nicht persönlich gesagt, dass ich Sie abbrenn’.« Damit machte ich die Tür zu, riss Monika am Handgelenk herum, und holte sie mit drei, vier Schlägen wieder in die Realität zurück. Aber immer nur auf den Hintern, nie ins Gesicht.

Mit meinem LKW war ich in ganz Europa. Moskau, Sibirien, Frankreich, England. Aber Sibirien war am schlimmsten. In Moskau kaufte ich mir zwei Waffen und fuhr los. Minus siebzig Grad und ich hatte nur einen Arbeitsmantel. Im Wagen ging es, da hatte ich eine Heizung, aber manchmal musste ich raus und einen Reifen wechseln. Aber da biss ich einfach die Zähne zusammen, zog den Mantel aus, um die Arme bewegen zu können, wechselte den Reifen und weiter ging es. Einmal geriet ich in eine Schneeweh, die war so hoch, dass ich den Laster oben mit der Plane abdecken konnte. Zum Glück hatten sie mir an der Grenze eine Nummer gegeben, für den Notfall. Am anderen Ende der Leitung war eine Kaserne. »Zwei Panzer bitte, ich stecke fest.« Zum Glück sprach einer von ihnen ein bisschen Deutsch, geschickt hat er mir aber trotzdem nur einen. Der zweite kam dann später, als sie merkten, mit einem kriegen sie mich nicht raus. Am schlimmsten waren aber die Eisbären. Ich erinnere mich noch, wie ich mal zwei auf der Straße sah. Um sie nicht anzufahren, blieb ich stehen. Ich schaue den Eisbären an, der Eisbär schaut mich an, auf einmal steht er auf und kommt auf mich zu. Plötzlich haut er mit der Pranke die Scheibe ein, reißt die Tür am Rahmen auf und langt mit der Tatze zu mir herein. Zum Glück hatte ich das Gewehr. Bumm, erschossen, und den zweiten mit dazu, als er seinem Kumpel zu Hilfe kam. Beim nächsten Telefon rief ich meine Frau an. »Glück gehabt«, sagte sie.

So sah ich die ganze Welt. In England schaute ich mir die Tower Bridge an, in Frankreich den Eiffelturm – und egal wo ich war, immer rief ich meine Frau an. Am Anfang, bevor ich Fernfahrer wurde und oft für ein ganzes Jahr weg war, sprachen wir darüber. »Willst du mich trotzdem?«, fragte ich. »Und kannst du damit leben?« Selbst wenn ich in Wien war, sah ich nicht meine Frau am öftesten, sondern die Zollbeamten. Bei jedem Zollpunkt musste man mit ihnen trinken, sonst verzollten sie nicht. Glauben Sie mir, da habe ich mit dem Trinken angefangen, aber so richtig. Eine Flasche Wodka allein, ohne irgendwas. Danach ging ich aber ins Hotel und schlief mich zwei, drei Tage aus. Dann erst teilte ich die Waren auf die Greißler auf, bevor ich zu meiner blonden Greißlerin nach Hause kam. Aber sie wollte mich trotzdem. Von überall her rief ich sie an und schrieb ihr eine Karte, egal wie teuer das war. »Ich bin gerade in Moskau, mir geht’s gut, ich liebe dich. Ich bin in Paris, alles ist gut gelaufen, ich liebe dich.« In Frankreich waren die nettesten Leute. Aber auch die schlimmsten Mädchen, die sind einem sofort über den Weg gelaufen. Ich habe aber nie eine angefasst. Ich war immer treu.

Meinen dritten Ehemann lernte ich kennen, da war Monika acht Jahre alt. Er hat sie kaum miterzogen. »Es ist dein Kind«, sagte er immer, meine Tochter akzeptierte ihn auch nie als Stiefvater. Er war 18 Jahre älter als ich, gegen Ende wurde er blind und fast taub, aber er war ein Engel. Er hätte alles für mich getan. Reich wurde ich aber auch mit ihm nicht.

Ich habe mein ganzes Leben gearbeitet, entweder in Wien oder in St. Pölten. In Wien habe ich in einer Gärtnerei angefangen, jeden Abend die Paradeiser zu gießen, hat mir gefallen. Wenn ich in St. Pölten war, habe ich meistens wieder gekellnert. Eine Zeit lang war ich dort in einem Nachtlokal. Nicht in so einem mit nackten Frauen, einem normalen. Das hätte gar nicht funktioniert, die Polizei war ja ständig da, um nach dem Rechten zu sehen. Unser Lokal wurde in der Früh oft von Fernfahrern besucht, die sich ihr Frühstück holten und dann weiterfuhren. Er war einer davon.

Sie erinnerte sich nicht gleich an mich, aber ich wusste sofort, das war die Kellnerin von damals. Ich hätte schon damals gewollt, aber das hätte ich nie gemacht, ich war ja verheiratet. Ins Heim kam ich, als ich schon längst verwitwet war. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass wir uns wieder treffen, und das auch noch in einem Heim in Wien, wo sie doch aus St. Pölten kommt?

Nachdem seine Frau gestorben war, hatte er kurz eine Freundin hier im Heim. Die war aber dement, die hat nichts geredet, nur gelacht und verkehrte Antworten gegeben. Aber als wir uns kennenlernten, entschied er sich sofort für mich. Er ist meinem dritten Mann ähnlich, beim Handkuss zum Beispiel oder bei den Küsschen auf die Wange. Heiraten werden wir nicht, sonst verliere ich meine Witwenpension. Aber in zwei Monaten ist die Verlobungsfeier.

Was am Ende bleibt

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