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Sie entdeckten ständig etwas Neues. Einen dritten und einen vierten Pflaumenbaum, eine Spirale aus Steinen, die irgendwann jemand sorgsam ausgewählt und so dort hingelegt hat, Stachelbeersträucher, ein in den Stamm der Linde geritztes Herz, Rosen, einen ausgetrockneten Brunnen, einen Winkel voller Minze und Melisse, den sie ihre Teeplantage tauften. Sie entdeckten, dass der kleine Hügel hinten kein Hügel war, sondern ein überwucherter Schutthaufen. Wenn etwas reif war, pflückten sie es. Sie machten Mirabellenmarmelade. Kuchenteig, in den sie Pflaumen schütteten, was ein matschiges, rosafarbenes, säuerliches Etwas ergab, das völlig auseinanderfiel. Sie machten Apfelmus und Apfelkuchen. Eine Nachbarin kam vorbei und zeigte ihnen den überall wuchernden Giersch. Bruch entdeckte online, dass Giersch nicht nur eine Plage war, sondern auch etwas, woraus man Suppe oder Pesto machen konnte. Sie waren fest entschlossen: Sie würden nicht die Natur bezwingen, sondern es andersherum machen und sich selbst zähmen lassen.

Der Herbst verwandelte in Windeseile das gesamte Bild des Gartens. Die Aussicht auf weitere Auswirkungen der Jahreszeiten, wie prägend diese hier sein würden, erfüllte sie mit Ehrfurcht. Sie wurden sich bewusst, dass es ewig dauern würde, bis sie hier ganz zu Hause waren. Mit Leo im Tragesack machten sie Spaziergänge über ihr eigenes Grundstück. Achtzig Meter vom Haus entfernt der morsche Steg, der Fluss, der von links nach rechts strömte, immer von links nach rechts, wie eine Gedichtzeile, sagte Bruch an dem Abend, da ihnen das aufgefallen war.

Anfangs hatten sie Wohnzeitschriften gekauft und sich in Küchenstudios umgesehen. Sie hatten Skizzen gemacht und verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Sie wollten Wände durchbrechen, die Treppe versetzen, den Dachboden ausbauen. Doch schon nach einer Woche beschlossen sie, die gelbe Fünfzigerjahreküche einfach so zu lassen, wie sie war. Und in den Wochen darauf ließen sie nach und nach auch alle ihre anderen Vorhaben fallen. Das Haus war genau richtig, mochte es auch noch so veraltet und baufällig sein. Emilias Lieblingsort war vorläufig der Wintergarten. Dessen Fensterscheiben hatten eine kaum wahrnehmbare Verfärbung, wodurch das Licht dort unglaublich war. Emilia lag mit Leo auf dem Bauch in dem warmgelben, staubigen Schein und verschlief ganze Nachmittage.

Bruch würde seine neue Stelle am regionalen Krankenhaus erst Mitte Oktober antreten, und Emilia hatte Babypause. Sie waren praktisch ununterbrochen zusammen. Sie packten Umzugskartons aus. Sie lasen, lagen im Gras, schauten in die Wolken und schwammen im Fluss. Sie betrachteten Leos stilles, ernstes Gesichtchen. Er war wehrlos und schien zugleich mit etwas verbunden zu sein, das außerhalb ihrer Reichweite lag, eine Verbindung, die ihm Autonomie verlieh. Er war ein pflegeleichtes Baby. Wenn er weinte, konnte sie ihn trösten. Er schlief viel und trank problemlos. Während der Schwangerschaft hatte sie eine Abneigung gegen die sich ausstülpende Körperlichkeit gespürt, insbesondere die Öffentlichkeit dieser Transformation. Aber derartige Gedanken über sich selbst hatte sie jetzt nicht mehr, sie war da und sie war nicht da.

Einmal holte sie Bruch einen runter, während sie Leo stillte. Blickte auf Leos kleine Lippen an ihrer Brustwarze und auf das konzentrierte Gesicht Bruchs. Sie war in ein neues Universum gelangt, von der Außenwelt isoliert, eine Intimität von schwindelerregender Tiefe. Es bestand kein Gegensatz zwischen ihrem Körper in seiner Funktion als Ernährer und Beschützer ihres Kindes und als Bestandteil der sexuellen Beziehung zu ihrem Mann, alles floss nahtlos ineinander über. Ihr Glück war ein Rausch, der ihr Dasein ganz wirklich machte und sie selbst zugleich verwischte. Es hatte die Intensität des Verliebtseins, aber weitaus mehr Gewicht und nichts Flatterhaftes. Es war nicht so, dass sie keine Gedanken gehabt hätte. Eher so, als wäre ihre Persönlichkeit abhandengekommen. Sie war Kopf, und sie war Körper, aber es gab kein übergeordnetes Ganzes, keine Verantwortung, kaum Reflexion. Sie war nicht mehr verankert. Bevor sie das erlebte und nachdem es wenig später verging, war es für sie völlig un- denkbar gewesen, dass es so etwas gab und wie schön es war.

Sie kamen auf die Idee, ein Fest zu geben. Mutter und Kind besuchen und Hauseinweihung in einem Aufwasch. Es sollte der krönende Abschluss dieser Phase ohne Verpflichtungen sein und auch den Beginn der neuen Realität markieren. Sie verschickten mit Pflaumenflecken verzierte Einladungen und gaben Herbstlaub in die Kuverts. Sie räumten auf und richteten Betten für Übernachtungsbesuch her. Sie reservierten die drei Zimmer in der örtlichen Pension. Bei den Nachbarn kauften sie Hähnchen, die vor ihren Augen betäubt, geköpft, gerupft, ausgenommen und eingepackt wurden. Sie hängten Lampions im Garten auf.

»Essen wir draußen an einem langen Tisch? Oder ist es zu kalt dafür?«

»Es ist viel zu kalt.«

»Jacob findet garantiert, dass das hier ’ne Ruine ist.«

»Jacob ist selbst ’ne Ruine.«

»Meinst du, dass alle kommen?«

»So gut wie alle.«

»Sollen wir es abblasen?« In der Küche fing Leo an zu schreien.

»Quatsch.«

»Ich gehe einkaufen.«

»Leo schreit.«

Sie nahm Schlüssel und Geldbeutel vom Schrank, ging zur Tür hinaus, stieg ins Auto, ignorierte Bruch, der ihr von der Tür aus nachrief und mit den Armen fuchtelte. Sie fuhr zum Supermarkt. Sie machte Einkäufe. Danach setzte sie sich in ein Café und trank Kaffee. Sie las die Zeitungen, sie las die Prospekte, die auf dem Tisch lagen, sie las die Speisekarte. Als sie sich endlich auf den Heimweg machte, fühlte sie sich krank. Sie fuhr die schmale Landstraße entlang. Die Milch nässte ihre Bluse.

Bruch war sauer. Er hatte sich drei Stunden lang aufgeschmissen gefühlt.

»Er schläft, Bruch.«

»Seit fünf Minuten!«

»Ich weck ihn jetzt.«

»Vor Erschöpfung! Nicht!« Sie machte ihren Oberkörper frei und hob Leo aus seiner Wiege. Er musste ihr Erleichterung verschaffen, denn sie platzte schier. Sie sah, wie Bruch auf sie schaute. Auf das Kind, das mit rotem Kopf seine Mutter fraß. Auf die Mutter, die mit ebenso rotem Kopf und bleichen, nassen Brüsten auf dem Sofa saß und heulte. Es war vorbei: das Zeitloch, das Paradies der Gedankenlosigkeit, die Idylle.

Es kamen rund fünfundzwanzig Leute. Freunde von ihr, Freunde von Bruch. Ihre Kollegen Eddy und Martijn und Josepha. Mascha und Abdul, die einzigen Menschen, die sie gemeinsam kennengelernt hatten, bei einem Spanienurlaub, und die, wie sich dann herausstellte, damals in derselben Straße wohnten. Ihre beiden Brüder waren da. Bruchs Schwester Philippa mit ihren drei Töchtern, die sich schon nach einer Stunde wieder verabschiedete. Seine Eltern, die in ihren feinen Sachen alt und steif aussahen. Sie zeigten in der einsetzenden Dämmerung den Garten und die Aussicht, und wie viel Platz sie hatten. Sie zeigten die Dämmerung selbst.

»Schaut mal«, sagte Bruch, »schaut mal, wie die Farben schwinden, wie sich alles zu einem Kontrast vereinfacht, und wenn kein Mond da ist, sieht man später gar nichts mehr, nicht die Hand vor Augen, Leute, schaut euch das an!«

Sie ließen sie die Stille hören. Die Stille im Garten, zwischen den rauschenden Bäumen und dem glucksenden Wasser und dem Rascheln kleiner Tiere. Bruch zählte die Namen von Bäumen und Pflanzen auf, und Arend, der Mann der Frau mit dem Giersch, verbesserte ihn ständig, bis Bruch schließlich bei allem sagte: »Und das, meine Damen und Herren, das ist also die Kastanie.« Er mimte die städtische Version seiner selbst, die zu ihren städtischen Freunden passte, bei denen die Natur eher als Verschrobenheit galt.

Jemand fragte, was es eigentlich bedeute, wenn man im Deichvorland wohne, wie groß die Wahrscheinlichkeit von Überflutungen sei. Ihr Bruder Jacob nahm die Zigarre aus dem Mund und sagte: »Emilia und Bruch finden Gefallen an diesem Risiko. Hier zu wohnen, dehnt die statische Sicherheit der Familie zu einem zerbrechlicheren und von daher bedeutsameren Glück aus. Es kann jeden Augenblick vorbei sein. Lässt sich auch nicht versichern, also wenn es schiefgeht, und das tut es immer, bleibt nichts als der Kern der Existenz.« Man lachte, doch als sie Jacobs Blick auffing, sah sie die Wut in seinen Augen. Sie hätte in seiner Nähe bleiben sollen. Er betrachtete ihren Wegzug als Verrat. Sie unterdrückte die Anwandlung, sich im hintersten Winkel des Hauses zu verkriechen. Stattdessen machte sie den Champagner auf und schnitt den Birnenkuchen in Stücke. Leo verschlief das alles schön zugedeckt in einem Weidenkorb.

Als die Magie erst einmal gebrochen war, entschwanden jene ersten Wochen in das Reich der Träume. Emilia fiel schnell in Altvertrautes zurück. Obwohl sie nicht das Gefühl gehabt hatte, dass ihr etwas verloren gegangen war, fand sie ganz offensichtlich etwas wieder, etwas Bekanntes, etwas Zwangsläufiges.

Unwetter

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