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Emilia schließt die Hände um ihr Glas Tee und legt den Kopf auf den Tisch. Aus diesem schrägen Winkel schaut sie ihm zu. Er räumt die Küchenschränke aus und verstaut alles in Kartons und Kisten. Auf Knien zieht er die Töpfe hervor, Staubflocken wirbeln hinterher. Zwischen seinem Shirt und seinem Hosenbund ein Streifen weißer Rücken. Er hält ab und zu etwas hoch, woraufhin sie ja sagt oder manchmal auch nein. Bei einem Nein verschwindet es in der Mülltüte. Der Erfolg einer Ehe besteht darin, dass man die Haushaltsführung des anderen erträgt.

Bruch ist ein schöner Mann. Sein relativ großer Kopf mit dem störrischen braunen Haar, die Augenbrauen, der weiche Mund, die sprühende Unabhängigkeit in seinem Blick, seine Haut, sein leicht gekerbtes Kinn und dessen Symmetrie, die Verbindung aus Stärke und Sanftheit, all das hat eine magnetische Wirkung. Erst wenn man ihn von hinten oder von der Seite sieht und der Blick nicht auf sein Gesicht gelenkt wird, fällt ins Auge, wie hager und schlaksig sein Körper ist. Hat er nichts an, sieht man, dass seine Hüftknochen und Knie spitz herausstehen und sein bleicher Rücken mit Leberflecken übersät ist.

Sie hat ihn kennengelernt, als er schon vollendet war, als er den Eindruck erweckte, vollendet zu sein. Er war vierunddreißig. Er hatte einen weißen Kittel an, aus dessen Brusttasche eine Reihe Stifte hervorschaute. Internist, Immunologe, interessiert an Formen der Selbstzerstörung des Körpers. Er hatte einen Beruf, er hatte ein Leben, er hatte einen Backenbart, der nicht pubertär oder flippig war, sondern perfekt zu seinem Gesicht und seinem verhältnismäßig adretten Haarschnitt passte. Er hatte eine Eigentumswohnung. Sie stellt sich vor, sie hätte ihn schon gekannt, als er zehn war, bevor er diesen ausgeprägten Adamsapfel bekam, als sich sein Körper noch auf dem Weg zu der Größe befand, die in ihm angelegt war. Sie stellt sich vor, sie hätten als Kinder zusammen auf der Straße gespielt.

»Unvorstellbar, nicht?«

»Was?«

»Douwe und Sophie.«

»Hmmm.«

»Nicht?«

Er brummelt irgendwas vor sich hin.

»Ich finde das unvorstellbar.«

»Sieht aber doch ganz gut aus.«

»Findest du?«

»Du nicht?«

»Meinst du nicht, dass das was von Vater-Mutter-Kind-Spielen hat?«

»Ja, vielleicht.« Er richtet sich auf und schiebt die vollen Kartons Richtung Wintergarten.

»Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?« Bruch macht sich jetzt an die Oberschränke, räumt sie aus und türmt alles auf der Anrichte auf. So ausgebreitet scheint es viel mehr zu sein, als die Schränke jemals fassen könnten. Geordnet nehmen die Sachen sehr viel weniger Platz ein.

»Bruch? Was meinst du mit: Sieht ganz gut aus?«

»Wie ich’s sage, sie scheinen glücklich zu sein, es sieht nicht so aus, als seien sie irgendwo stecken geblieben. Ich hab nicht genug Kartons.« Er geht nach oben.

»Ich finde es kindisch!« Er kommt die Treppe herunter, bleibt auf der untersten Stufe stehen und sieht sie an, mit einem missbilligenden, fast tadelnden Blick. Sie wiederholt ihre Worte. Er stellt die Kartons ab. »Ich finde das unerwachsen! Mir ist das suspekt. Warum sollte man bei seinem Sandkastenfreund und im Dorf bleiben? Da nimmt man das Leben doch gar nicht ernst. Zumindest ist man überhaupt nicht daran interessiert, mal was zu erleben, oder?«

»Wer sagt denn, dass sie nichts erleben? Vielleicht erleben sie mehr als wir. Vielleicht gerade sie. Was ist denn Glück?«

»Stillstand etwa?«

»Also weil du eine Reihe von Freunden hattest, bevor du mir begegnet bist, hast du etwas erlebt, hast das Leben ausgekostet, hast daraus gelernt, bist erwachsen geworden?« Sein Gesichtsausdruck ist unverhohlen spöttisch. Sie denkt an die Phase, in der sie mit ihrem Bruder zusammen Heroin geraucht hat. Als Freizeitdroge. Etwas, das man niemals machen würde, wenn man mit seinem Schulfreund verheiratet war. Erst als sie entdeckte, dass ihr Bruder auch ohne sie Drogen nahm, dass er süchtig war, dass sie nur als Alibi diente, als sein Schutzschild, wurde ihr klar, auf welchen Abgrund sie sich zubewegten. Sie verriet Jacob, schaltete ihren anderen Bruder Viktor ein und rief seinen Hausarzt an.

»Und sie nicht.«

»Was sie nicht?«

»Sie sind nicht erwachsen, weil sie sich kennenlernten, als sie drei waren, ja?«

»Ja.«

»Du liebe Güte, El, wer führt sich denn hier jetzt kindisch auf?«

»Ich finde das einfach komisch! So symbiotisch.«

»Symbiotisch ist doch was Gutes, oder? In Beziehungen.«

»Ernsthaft.«

»Ich meine es ernst.«

»Glaubst du, dass sie sich besser kennen, als wir uns kennen?«

»Ja.«

»Aber es kann auch sein, dass man sich, gerade weil man die ganze Zeit zusammengluckt, gar nicht wahrnimmt, oder?«

»Ja.«

»Wenn man keinerlei Ansichten entwickelt hat, ohne den anderen dabei im Blick zu haben.«

»Ja, ja.« Er seufzt.

»Warum denkst du, dass sie sich besser kennen als wir uns?«

»Sie kennen die Familie, aus der der andere kommt, einer kennt die Eltern des anderen, was weiß ich. Sie wissen, welchen Rang der andere früher auf dem Schulhof hatte.«

»Das weiß ich auch von dir.«

Bruch sieht sie an.

»Nicht wirklich der Anführer, scheinbar gleichgültig, aber trotzdem tonangebend.«

Er lacht.

»Und?«

»Wenn ich jetzt ja sage, ist es dann wahr?«, fragt er.

»Soll ich dir mal mein Elternhaus zeigen? Sollen wir nach Groningen fahren, damit ich dir zeigen kann, mit welcher Aussicht ich aufgewachsen bin?«

»Das wäre nett.«

»Nett?«

»Interessant. Gern.«

»Glaubst du, dass du mich dann besser kennenlernst? Glaubst du, man kann sich nach zwölf Jahren noch besser kennenlernen?«

»Ja, natürlich.«

»Willst du das?«

»Ja. Warum nicht?«

»Ich war ein unglückliches Kind.«

»Ja, das weiß ich.«

»Glaubst du, es würde helfen, wenn ich dir noch genauer erzähle, wie unglücklich ich war?«

»Bei was helfen?«

»Mich besser kennenzulernen.«

»Sind wir jetzt in irgendeinem Projekt gelandet, Emilia? Einem Projekt, in dem ich dich besser kennenlerne?«

Bedauern bringt einen um, sagte ihr Vater. Sie hasste ihn für diesen Satz. Er bedauerte in ihrem Beisein die Vergangenheit, ignorierte sie dabei, ertränkte in diesem Bedauern jede Möglichkeit der Annäherung oder Besserung. Aber jetzt spürt sie, wie sie selbst die gleiche klamme Unruhe beschleicht. Sie hat ihre Chancen verpasst. Nach zwölf Jahren ist man für die Geheimnisse des anderen nicht mehr so empfänglich wie am Anfang. In der ersten Zeit damals veranlasste sie jede Einzelheit, die Bruch ihr erzählte, zu stundenlangem Sinnieren und Spekulieren über die Art seiner Gedanken und Gefühle, die Geheimnisse seines Charakters, die Details der Ewigkeit von vierunddreißig Jahren Leben vor ihr. Bei jeder Neuigkeit, die er ihr über sich erzählte, wurde alles wieder auf den Kopf gestellt, und sie ordnete Informationen um, füllte Lücken aus und setzte sich ein Bild zusammen, das ihr mit jeder weiteren Version begehrenswerter vorkam. Die Art, wie man jemanden kennenlernt, wenn man verliebt ist, dieses grenzenlose Interesse an Einzelheiten und Trivialitäten ist nicht wiederholbar.

»Vielleicht«, sagt er, während er vor ihr steht und die Fäuste auf den Tisch stützt, »vielleicht führen Douwe und Sophie ja ein ganz ähnliches Gespräch über uns. Sie finden es vielleicht abartig, wie alt wir waren, als wir uns ineinander verliebt haben. Und glauben, dass das niemals echt sein kann.«

»Und denken, dass wir Torschlusspanik hatten.«

»Angst davor, allein sitzen zu bleiben.«

»Vielleicht glauben sie nicht, dass ich drei Monate nachdenken musste.«

»Wer tut das schon?« Er sieht ihr in die Augen. Der Moment dauert ewig. Dann richtet er sich endlich auf und wendet sich ab.

»Ich mach das morgen fertig.«

»Tu das«, sagt sie.

Unwetter

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