Читать книгу Die Dunkelheit der Unschuld - Marina Köhler - Страница 5

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Langsam verebbten auch die letzten Stimmen der Kollegen, an der vorderen Spielwarenkasse zählte Lydia noch die Tageseinnahmen, aber ansonsten war Ruhe eingekehrt. Emma schloss kurz die Augen und streckte sich, um ihre Verspannungen im Rücken etwas zu lockern. Die Luft im Lagerraum war muffig und abgestanden, aber sie genoss die Stille nach dem nicht zu enden scheinenden Stimmengewirr der vorhergegangenen Stunden. Ein Kunde nach dem anderen hatte sich an die Kasse gedrängt, neben ihr hatten Kinder die neuesten Spielzeuge ausprobiert, andere wurden heulend oder quengelnd von ihren Eltern aus dem Geschäft gezogen. Manchmal hatte Emma sich wie in einer Blase gefühlt, in der alles an ihr vorbeizog, ohne dass sie selbst richtig beteiligt war.

Sie war müde, es war ein langer Tag gewesen, erst die Schule, dann die Arbeit. Morgen würde sie noch eine Vormittagsschicht schieben müssen und dann irgendwann nachmittags die Hausaufgaben erledigen. Und als ob das alles nicht genug wäre, hatte ihr Chef beschlossen, sie müsse jetzt noch die gelieferten Tüten verstauen. Dabei hätte das morgen auch locker gereicht. Sie mochte Fischer nicht sonderlich und sie glaubte, er spürte das auch, obwohl sie immer höflich war. Schon bei seiner Vorstellung war er ihr unsympathisch und verplant erschienen, dieser Eindruck hatte sich noch verstärkt, seit er im Dienst war. Herr Baumgart, der sie eingestellt hatte, war okay gewesen, er hatte einen jungenhaften Charme gehabt, dann war für einen kurzen Zeitraum Herr Meiller gefolgt, bis nun schließlich Fischer kam. Emma hatte nicht verstanden, warum man den zweiten Chef, Herr Brock, nicht einfach befördert hatte; er kannte das Geschäft, war höflich und verfügte über wesentlich mehr Wissen. Emma seufzte; sogar der zweite Chef war schon nach Hause gegangen, nur sie, die Aushilfe, ackerte noch. Die Tür zum Nebenbüro war eben ins Schloss gefallen, was ihr verriet, dass auch Lydia nun fertig war und Feierabend machen konnte.

Sie fluchte leise, zehn Minuten würde sie vermutlich noch brauchen und dann musste sie ebenfalls noch die Abrechnung machen, bevor sie endlich nach Hause konnte.

Emma war dankbar für das Geld, das sie hier verdiente. Bei ihnen Zuhause war nie viel dagewesen und so konnte sie sich wenigstens etwas auf die Seite legen für Urlaub oder eben den Führerschein, den sie vor kurzem erlangt hatte. Ihre Mutter Irina arbeitete im Schichtbetrieb, der Vater war verschwunden, als sie vier gewesen war. Ganz hatte ihre Mutter das nie verwunden. Sie hatte zwar immer dafür gesorgt, Emma finanziell das bestmögliche zu bieten, wie zum Beispiel die Ausbildung am Gymnasium, die durch Schulmaterialien, Ausflüge und sonstige Veranstaltungen ordentlich ins Geld ging. Auf der Gefühlsebene jedoch standen sie sich nicht sehr nah, ihre Mutter war verbittert und immer auf der Suche nach dem wahren Mann fürs Leben; letztlich blieb es jedes Mal jedoch nur ein Lebensabschnittsgefährte. Emma arbeitete hart in der Schule, weil sie auf ein besseres Leben hoffte, wollte etwas erreichen, leben, glücklich sein, die Welt sehen. Dafür nahm sie die Arbeit neben der Schule in Kauf. Und viel verpasste sie ja eh nicht, in letzter Zeit interessierten sie keine Discotheken mehr und sie hatte nie etwas davon gehalten, sich sinnlos zu betrinken. Es konnte teilweise recht einsam sein als 18-Jährige, wenn man sich mehr Gedanken über die Welt und den Sinn des Lebens als die nächste Party machte. So war es aber nun mal, wenn man aufwuchs wie sie – man wurde schneller erwachsen.

Ein Geräusch dicht hinter ihr ließ Emma herumfahren. Fischer war zu ihr getreten und sah sie mit merkwürdigem Blick an. „Sie sind die Letzte, die noch hier ist.“ Emma spürte, wie Ärger in ihr aufstieg. Zuerst ließ er sie diesen undankbaren Zusatzjob machen und jetzt dauerte es ihm scheinbar auch noch zu lang. „Es waren einige Kisten, aber ich bin fast fertig“, antwortete sie kühl und um Fassung bemüht. Er fixierte sie weiter. „Es war ein langer Tag. Ich finde, es ist Zeit für etwas Entspannung.“ Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sich vorgebeugt, nach einer Haarsträhne von ihr gegriffen und versuchte nun ihr Gesicht zu seinem heranzuziehen. Sie wich entsetzt zurück und wischte sich über ihren Mund, den Fischers Lippen gestreift hatten. „Ich möchte das nicht. Bitte lassen Sie das“, presste sie hervor und spürte ihr Herz hart gegen die Rippen pochen. Er lachte auf. „Immer die Unberührbare, die sich nichts sagen lässt. – Ich weiß, dass deine Meinung von mir nicht sehr hoch ist, dabei bin ich dein Chef und als solcher verdiene ich Respekt. Gerade deswegen finde ich, ist es Zeit für eine kleine Wiedergutmachung.“ Er kam auf sie zu und sie wich entsetzt einen Schritt zurück, spürte dann aber einige Kartons in ihrem Rücken. Sie war überrumpelt von der plötzlichen Aktion, die ihr absurd und wie aus einem Film erschien, gleichzeitig spürte sie Wut in sich. „Ich war nie unhöflich zu Ihnen. Wenn Sie mit meiner Arbeit unzufrieden sind, finde ich nicht, dass das hier der richtige Rahmen für ein Gespräch ist. Und schuldig bin ich Ihnen überhaupt nichts. – Ich denke, es ist besser, wenn ich jetzt gehe.“ Sie versuchte sich an ihm vorbeizuschieben, doch im nächsten Moment packte er sie grob am Arm und schob sie gleichzeitig nach hinten. Sie spürte die Kartons an ihren Beinen, aber er drängte sie weiter, so dass sie ins Taumeln geriet und rücklinks stürzte. Durch ihren Kopf jagte ein stechender Schmerz und ihr blieb die Luft weg, außerdem schmerzte ihr Arm, auf den sie gefallen war. Sie fühlte sich benommen, doch gleich darauf realisierte sie, dass Fischer sich auf sie gelegt hatte und sie mit einem Knie nach unten drückte. Mit der einen Hand presste er ihren freien Arm auf den Boden, die andere hatte den Kittel aufgerissen und machte sie nun an dem Reißverschluss ihrer Hose zu schaffen. Sie wollte sich aufbäumen und wehren, doch ihr Kopf fühlte sich immer noch wie in Watte und sein Gewicht lastete schwer auf ihr. Sie versuchte zu schreien, doch es kam nur ein Wimmern aus ihrem Mund. Er hatte ihr inzwischen die Hose herunter geschoben und fingerte an seiner herum, kurz darauf holte er seinen erigierten Penis heraus und drückte sie nochmal mit Macht nach unten. Dann schob er brutal mit seinem Knie ihren Schenkel nach oben, sie spürte seinen heißen Atem an ihrem Ohr… Im nächsten Moment war das Gewicht plötzlich von ihr verschwunden und sie hörte einen lauten Knall, dann Stimmen, doch sie konnte es nicht richtig einordnen. Ihr ganzer Körper schmerzte, vor ihren Augen flimmerte es und ein tiefer Schock schien sie zu lähmen. Weg, nur weg, bevor er wiederkommt, schrie ihr Kopf, doch ihr Körper versagte den Dienst.

Der Schmerz jagte in Wellen durch ihren Körper und es schien ihr, als wäre die Welt einfach stehengeblieben. Das alles konnte gerade nicht passiert sein, nein es DURFTE nicht geschehen sein. Gleich würde sie aufwachen, gleich würde sie merken, dass es wieder nur einer ihrer Albträume war. Sie spürte, wie sich jemand näherte und unbewusst hielt sie den Atem an, unfähig sich zu bewegen. Dann spürte sie eine Hand sanft auf ihrer Schulter. „Frau Schenker! Um Gottes willen, geht es Ihnen gut?“ Das war nicht Fischers Stimme, aber irgendwoher kannte sie sie. Vorsichtig öffnete sie die Augen und wandte mühsam den Kopf. Herr Brock kniete vor ihr und sah sie entsetzt an. Sie blickte ihn an, dann schüttelte sie kurz den Kopf und schloss wieder die Augen. Nein, ihr ging es überhaupt nicht gut.

Und das war der Tag, an dem alles begann.

Über Kleinigkeiten konnte sich Emma wahnsinnig schnell aufregen, aber in echten Krisensituationen nahm ihr Gehirn alles klar und akribisch auf. So auch jetzt; das einzige woran sie sich nicht mehr erinnern konnte, war, wie Fischer weggekommen war. Sie erinnerte sich, wie man ihr empfohlen hatte, zu einer Gynäkologin zu gehen und sie zugestimmt hatte. Sie wurde in ein Krankenhaus gebracht, eine Frau mittleren Alters sah sie bedrückt an und erklärte ihr, was sie machen würde. Emma beantwortete Fragen und ließ sich untersuchen. Zusätzlich holten sie auch einen Allgemeinarzt, der ihren Kopf und ihren Arm versorgte. Sie hatte eine Platzwunde am Hinterkopf, sowie einen geprellten Arm und einige Blutergüsse. Man hatte ihr angeboten, sie nach Hause zu bringen und die Aussage erst am Folgetag zu machen, doch sie hatte abgelehnt. Auch der Einwand aktuell sei keine Frau im Dienst und eine Befragung durch eine Beamtin wäre sicher angenehmer für sie, konnte ihre Meinung nicht ändern, sie wollte es einfach hinter sich bringen. Später würde sie sich wundern, wie blauäugig sie gewesen war, dass sie damals dachte, sie könnte danach vergessen.

Ein junger, sehr freundlicher Mann übernahm die Befragung. Er versuchte möglichst feinfühlig vorzugehen, an mehr konnte sie sich von ihm aber nicht erinnern. Sie wollte ihn nicht näher anschauen, vermied jeden Augenkontakt.

Sie hatte darum geben ihre Mutter zu informieren, damit sie es selbst nicht machen musste, ließ aber ausrichten, dass es ihr soweit gut gehe und dass sie nicht von der Arbeit kommen müsste. Sie wollte allein sein, niemanden sehen, sich in vertrauter Umgebung verstecken, ohne reden zu müssen.

Doch als sie die dunkle Wohnung betrat, verkrampfte ihr Magen sich und sie drückte schnell den Lichtschalter. Sie hatte oft gelesen, dass vergewaltigte Frauen stundenlang duschten, aber sie hatte kein Bedürfnis danach. Vielleicht weil sie nur FAST vergewaltigt worden war? Hatte sie überhaupt ein Recht sich so zu fühlen, wie sie es tat? Im Endeffekt war doch alles gut ausgegangen.

Sie wollte nicht duschen, sie wollte nicht weinen, sie wollte sich nur hinlegen. Doch das Bett fühlte sich nicht richtig an, ein starker Drang zog sie auf den Boden, wo sie sich zusammenrollte.

Das Blut rauschte in ihren Ohren und sie spürte ihr Herz heftig pochen. Plötzlich fing sie an am ganzen Körper zu zittern, ihre Zähne klapperten aufeinander und eine tiefe Kälte durchströmte sie. Sie zog eine Decke vom Bett und die Wolldecke dazu, aber es brachte keine Linderung. Der Schüttelfrost jagte durch ihren Körper und schien sie zu vereinnahmen. Da war nichts warmes, da waren keine heißen Tränen, da war nur die kalte Hand, die nach ihrem Herzen gegriffen hatte und sie jetzt komplett einnahm.

Irgendwann war das Zittern verebbt und sie hatte sich mit schmerzenden Gliedern ins Bett geschleppt. Als sie den Schlüssel ihrer Mutter an der Haustür gehört hatte, hatte sie schnell das Licht gelöscht. Sie hätte es nicht ertragen, mit ihr jetzt reden zu müssen.

Irina hatte sich immer schwer getan Gefühle zu zeigen und was sie jetzt am wenigsten brauchen konnte war, dass ihre Mutter das Ganze bagatellisierte aus Unsicherheit, was sie sagen sollte.

Die Stunden in der Dunkelheit hatten sich gezogen wie Kaugummi, doch irgendwann musste sie eingeschlafen sein, denn als sie die Augen öffnete, war es hell um sie. Schmerz tobte durch ihren Körper, aber in erster Linie fühlte sie sich schwer und kraftlos. Gleich darauf klopfte es an ihrer Tür und ihre Mutter schob den Kopf herein und schaute sie prüfend an. „Wie geht es dir?“

Fast hätte Emma aufgelacht. Was für eine Frage an so einem Tag! Doch sie würgte nur ein

„Geht schon“ heraus. Reden fiel ihr schwer und kam ihr unendlich anstrengend vor. „Was ist denn genau passiert?“ Emma schloss die Augen. „Hat die Polizei es dir nicht erzählt?“ „Doch, aber ich dachte, ich wollte…“ „Ich möchte bitte momentan nicht darüber reden.“ Ihre Mutter nickte. „Gehst du heute arbeiten?“ Emma zuckte zusammen und konnte nicht glauben, was sie gerade gehört hatte. Sie sollte arbeiten, zurück an den Ort, an den sie nicht mal denken wollte? Sie schüttelte vehement den Kopf und fühlte ihr Herz heftig gegen ihren Brustkorb schlagen. Irina strich sich die Haare zurück, sie fühlte sich merklich unwohl. „Ich dachte nur, weil du doch eingetragen bist. Man müsste vielleicht wenigstens Bescheid sagen.“ Emma versuchte der Angst in sich Herr zu werden. Sie hob den verbundenen Arm. „Ich bin krankgeschrieben. Kannst du anrufen und Bescheid sagen. BITTE.“ Irina nickte eifrig. „Natürlich. Wenn du krankgeschrieben bist, ist das kein Problem.“ Emma schwieg, obwohl ihr auf der Zunge lag, dass sie dort nie, nie wieder auch nur einen Fuß hineinsetzen würde.

Sie wünschte sich plötzlich, ihre Mutter würde zu ihr kommen, ihr über den Kopf streichen und sie in den Arm nehmen, doch Irina sah eher aus, als hätte sie am liebsten fluchtartig das Zimmer verlassen.

„Triffst du dich Samstag nicht immer mit Anna, Mama?“ Irina blinzelte unsicher und versuchte ein Lächeln. „Ja, aber das werde ich natürlich absagen. Ich bin für dich da.“ Es klang wie eine Zeile aus einem Stück, die tausendmal wiederholt worden war, einstudiert, fremd, nicht echt.

Emma wollte nicht zu hart mit ihrer Mutter sein, sie war schon mit kleinen Gefühlen überfordert und diese Situation war neu und unkontrollierbar für sie. Doch jetzt gerade fehlte ihr jede Kraft sich auch noch damit auseinander zu setzen. Daher versuchte sie ein Lächeln, wusste aber nicht, ob es auch nur annähernd gelang. „Geh bitte, Mama. Es ist okay. Mein Körper tut etwas weh und ich bin müde, ich möchte einfach noch schlafen. Mir geht es soweit gut. Ich werde mich nachher noch mit Jenny treffen, es ist also wirklich kein Problem. Glaub mir.“ Irina zögerte, doch Emma sah, wie sehr sie ihrem Vorschlag folgen wollte. Sie versuchte das Lächeln oder was für eine Grimasse auch immer es war noch zu verstärken. Ihre Mutter holte tief Luft und schien merklich erleichtert. „Okay, aber Frühstück richte ich uns gleich her. Ich gehe zum Bäcker und rufe dann in deiner Arbeit an. In 15 Minuten ist alles fertig.“ Emma nickte und schloss wieder die Augen. Dann hatte sie noch 15 Minuten um irgendwie aufzustehen, um diese Last auf ihrem Körper loszuwerden und wieder zu lernen sich zu bewegen. 15 Minuten – Zeit schien zu einer zähen Masse geworden zu sein seit dem Moment, als Brock sie gerettet hatte, Emma schien darin gefangen, ohne eine Möglichkeit einzugreifen oder zu reagieren. Minuten waren unerträglich lang, doch jetzt rannten sie, drängten sie in eine Welt, in der sie aufstehen und sich normal benehmen sollte. Dabei schien es ihr als läge das „normale“ Leben tausende Kilometer entfernt und sie hätte bereits vergessen, wie es sich anfühlte.

***

Nur einmal hatte Emma in den Wochen nach der Tat geweint und das war gewesen, als sie ihrer Freundin Jenny davon erzählt hatte und diese sie fassungslos an sich gezogen hatte. Schluchzer hatten sie geschüttelt und die Tränen schienen nicht zu versiegen.

Als sie später den anderen wenigen Personen in ihrem Umfeld, die es wissen mussten, davon erzählte, hatte sie es abgespult wie eine Geschichte, an der sie selbst kaum beteiligt war. Keine Details, nicht zu viel Worte, sonst würden die Schatten sie vielleicht auch tagsüber jagen und nicht nur nachts in ihren Träumen.

Emma tat das, was sie am besten konnte – sie funktionierte. Und ihre Umwelt schien dankbar dafür zu sein.

Am Anfang versuchte sich ihre Freunde noch besonders Zeit für sie zu nehmen, aber nach gut einem Monat reduzierte es sich auf ein Normalmaß, es schien ihr ja ganz gut zu gehen.

Emma hatte etwas abgenommen, aber das fiel kaum auf, da sie bevorzugt weitere Klamotten trug, um keine Aufmerksamkeit auf ihren Körper zu lenken.

Sie ging zur Schule und lernte, die Arbeit hatte sie aufgegeben. Man war ihr entgegengekommen und hatte den Monat noch weitergezahlt und den Vertrag problemlos aufgelöst, nicht ohne ihr zu sagen, dass sie jederzeit wiederkommen könne. Als ob das auch nur annähernd eine Option gewesen wäre…

Die Tage vergingen und jeden Abend war sie stolz, wenn sie wieder einen geschafft hatte, ohne groß aufzufallen.

Am schwierigsten waren jedoch die Nächte. Eigentlich war sie immer müde, aber kaum lag sie im Bett, war sie hellwach. Sie wünschte sich Schlaf, aber sie fürchtete gleichzeitig die Träume, die immer wieder kamen. Irgendwann schlief sie doch vor Erschöpfung ein, aber nicht für lange. Der Körper holte sich nur das, was er zum Überleben brauchte. Manchmal wachte sie mit nassem Gesicht auf, sie schien im Schlaf zu weinen, aber am Tag kamen keine Tränen.

Innerlich fühlte sie sich wie tot, aber nach außen wahrte sie den Schein. Sie trug eine Maske, wie sie es ihr Leben lang getan hatte. Alles war also wie immer - irgendwie. Und doch war alles ganz anders. Dunkler, grauer, kälter. Manchmal spielte sie das „was wäre, wenn Spiel“: was wäre, wenn sie an diesem Tag nicht gearbeitet hätte? Oder was, wenn Herr Brock nicht mehr zurückgekommen wäre, wenn die Vergewaltigung zu Ende gebracht worden wäre? Vielleicht würde sie sich dann eher so fühlen, als hätte sie ein Anrecht auf Schmerz und Verzweiflung, auf Aufmerksamkeit und Unterstützung.

Doch meistens war ihr Kopf nur damit beschäftigt irgendwie ein Bild der Normalität aufrechtzuhalten und den Alltag zu meistern. Bis zur Nacht, wenn er die ganzen verdrängten Bilder wieder hochholte und die Dunkelheit gewann.

***

Erst war es nur eine leichte Nervosität. Ein Gefühl, als würde irgendwo Gefahr lauern, unvermittelt entstanden scheinbar ohne Grund. Emma schaute sich im Supermarkt um, aber die konnte nichts Ungewöhnliches entdecken. Die wenigen Leute, die auch einkauften, schienen alle mit sich selbst beschäftigt. Trotzdem wuchs die Unruhe in ihr, ihr Herz schlug immer schneller, es begann regelrecht zu rasen. Jetzt nur nicht durchdrehen, beschwor sie sich selbst und versuchte sich an eine Atemübung zu erinnern, die sie früher mal gemacht hatte. Vier Sekunden einatmen, kurz anhalten, dann acht Sekunden ausatmen. Doch der Fokus auf den Atem schien es nur noch schlimmer zu machen. Inzwischen pochte ihr Herz so stark, dass sie es hart an ihrem Brustkorb spürte. Sie bemerkte, dass ihre Hände zitterten und krallte sie um den Griff des Einkaufwagens. Schwindel stieg in ihr auf und ihre Knie wurden weich. Was war, wenn sie hier jetzt umkippte? Ihr Brustkorb schmerzte, ihre Lunge brannte, ohne, dass sie es gemerkt hatte, war ihr Atem schneller und kürzer geworden. In Panik drehte sie sich um und stürzte nach draußen.

***

„Darf ich fragen, was Sie dazu bewegt hat, sich doch auf eine Therapie einzulassen?“ Die Psychologin der Beratungsstellte blickte sie freundlich an. Emma schluckte. „Nachdem die Panikattacken immer öfter kamen, bin ich eines Morgens aufgewacht und hab mir gedacht, dass es so nicht weitergehen kann. Das Leben, welches ich geführt habe in den letzten Wochen war einfach kein Leben mehr. Ich schwebte irgendwo zwischen Leben und Tod und musste mich endlich für eine Seite entscheiden.“ „Und Sie haben sich letztlich für Leben entschieden?“ „Ja, aus Mangel an umsetzbaren Alternativen. Ich fand den Gedanken zu sterben wesentlich angenehmer, aber alle Tötungsmethoden, die für mich in Frage gekommen wären, waren zu unsicher. Ich wollte nicht auch noch krank vor mich hinsiechen, weil mein Selbstmord nicht geklappt hat. Ich habe sogar im Internet recherchiert, erstaunlich was man dort alles findet. Letztlich musste ich einsehen, dass keine Lösung, die nicht mit zu großen Schmerzen verbunden ist, sicher genug ist.“

Falls die Psychologin geschockt war, ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. „Eine rationale Entscheidung, also? Wie war ihr Gefühl dabei?“ Emma blickte starr auf den Boden. „Verzweiflung, Hilflosigkeit, schließlich ergebenes Hinnehmen. Aber wenn ich schon am Leben bleiben muss, dann will ich wenigstens das Beste daraus machen. Und eine kleine, sehr leise Stimme in mir sagt auch, dass ein Arschloch wie Fischer mich nicht klein kriegen soll.“ Die Therapeutin machte eine kurze Notiz. „Wenn Sie sich ein Mantra für sich aussuchen sollten, dass ihnen dabei helfen könnte, weiterzumachen, welches wäre es?“ Emma schloss die Augen und überlegte. „Alles wird besser.“ Sie spürte, wie die Therapeutin ihr einen Blick zuwarf. Ja, alles sollte besser werden, denn daran, dass es wirklich wieder gut werden würde, konnte sie nicht glauben.

Es war das eine zu beschließen weiter zu leben, aber das andere, dies auch ihrem Körper beizubringen. Tagsüber konnte sie sich beschäftigen, doch nachts, wenn das Unterbewusstsein freie Bahn hatte und sie sich nicht wehren konnte, zog es immer wieder die hässlichen Bilder heraus und konfrontierte sie damit. Nachdem sie morgens immer sofort aufgesprungen war ohne Rücksicht auf die Uhrzeit, um sich eine Beschäftigung zu suchen, bevor die Erinnerung sie einholte, änderte ihr „Es“ die Taktik. Jede Nacht suchten sie lange intensive Träume heim, die sich immer um die versuchte Vergewaltigung drehten. Die Träume schienen endlos, manchmal sagte sie sich im Schlaf, dass es nur Träume seien und es war, als würde sie aufwachen. Aber es waren Träume in den Träumen, was es noch schwieriger machte, weil sie so den Überblick verlor und die Geschehnisse ihr real erschienen.

Manchmal schreckte sie auch hoch, ohne zu wissen warum und suchte in Panik den Lichtschalter, um zumindest die Dunkelheit im Raum zu vertreiben.

Tagsüber war sie eigentlich immer müde. Sie lernte dennoch intensiv für die Schule und nebenbei Fremdsprachen, sie hatte zu joggen begonnen und lief bis zur Erschöpfung. Eine Zeit lang hatte sie im Wertstoffzentrum gearbeitet, musste aber feststellen, dass bei der stumpfsinnigen Tätigkeit ihr Kopf zu viel Zeit zum Nachdenken hatte. Glücklicherweise hatte sie eine Arbeit in einem kleinen Tante-Emma-Laden gefunden, wo sie Ware einräumte und der älteren Besitzerin stundenweise half. So war sie abgelenkt und fühlte sich sicher und lernte gleichzeitig auch wieder unter fremden Menschen zu sein.

Die Innenstadt hatte sie lange gemieden, die Angst vor ihrer alten Arbeitsstätte war zu groß. Auf Anraten ihrer Psychologin näherte sie sich jedoch dem Ort in immer größeren Kreisen, irgendwann schaffte sie es sogar an dem Geschäft vorbeizugehen. Sie hatten einen Stein im Magen, zitterte und schwitzte stark, aber immerhin war es ihr gelungen. Nur hinein ging sie nicht; allein der Gedanke löste grenzenlose Panik aus und sie wollte auch auf keinen der Kollegen treffen. Was hätte sie schon sagen sollen? Dass es ihr gut ging? Dass es okay war?

Sie würde Fischer vor Gericht wiedersehen müssen, dafür musste sie Kraft sammeln und jede Belastung vermeiden, die sie nicht weiterbrachte.

Die Arbeit mit ihrer Therapeutin war recht angenehm, sie hatten über die Vergewaltigung gesprochen, jetzt ging es aber generell darum Methoden zu finden, mit dem Schmerz in ihr fertig zu werden und Wege zur Bewältigung zu finden. Sie probierte jede Möglichkeit aus, die ihr aufgezeigt wurde. Sie wollte einfach nur irgendwie wieder lebensfähig werden, wenn sie schon weiter hier weilen musste. Ihre Noten waren unverändert gut, sie hatte wieder Arbeit und nach außen wirkte sie normal. Das waren riesige Schritte für sie; sie hatte beschlossen sich zurück zu kämpfen. Schritt für Schritt, um irgendwann das letzte große Ziel auf ihrer Liste erreichen – Vergessen.

***

Mick war überrascht, als er die junge Frau sah, die in sein Büro gebracht wurde. Beim letzten Mal, als er Emma gesehen hatte, stand sie stark unter Schock. Sie hatte geantwortet wie ein Roboter, ihr Erinnerungsvermögen arbeitete sehr präzise und genau, aber sonst war sie wie erstarrt. Sie war seinem Blick ausgewichen und ihre Stimme war eher leise gewesen. Einmal hatte er es geschafft in ihre Augen zu schauen und hatte dort tiefen Schmerz und große Angst gesehen, zudem etwas wie Ungläubigkeit, über das was geschehen war. Es hatte ihm einen Stich versetzt. Er war nun schon einige Jahre bei der Polizei, hatte viel gesehen und war erfolgreich in seiner Arbeit. Doch dies war sein erster Kontakt mit einem Vergewaltigungsopfer gewesen und es hatte irgendwie in ihm nachgewirkt. Wenn er sich vorstellte, jemand würde seine kleine Schwester anfassen, schnürte es ihm die Kehle zu. Es war schon öfter vorgekommen, dass ein Fall ihn nach Feierabend verfolgt hatte, gerade am Anfang seiner Dienstzeit. Warum er jedoch das Bild dieser jungen Frau nicht aus seinem Kopf bekommen hatte, wusste er nicht.

Als sie jetzt vor ihm stand um noch etwas zu unterschreiben, war er beruhigt. Sie war schmaler geworden, aber sonst wirkte sie, als hätte sie die Situation halbwegs gut gemeistert. Sie sah ihm bei der Begrüßung kurz in die Augen und drückte fest seine Hand. Mick reichte ihr die Dokumente. Sie blickte ihn kurz prüfend an. „Kennen wir uns?“ Er war etwas überrascht, lächelte aber. „Ich habe in der Nacht damals ihre Aussage aufgenommen, Frau Schenker.“ „Oh.“ Sie lief etwas rot an. „Das tut mir leid. Sie kamen mir bekannt vor, aber die Erinnerung an diese Nacht, also an die Zeit danach, ist etwas verschwommen und...“ Sie bracht abrupt ab und strich sich verlegen eine Strähne hinter ihr Ohr. Er hob beschwichtigend eine Hand. „Das ist kein Problem, ich kann das vollkommen verstehen. Und das heißt ja zumindest, dass ich Ihnen nicht unangenehm in Erinnerung geblieben bin.“ Oh Mann, hatte er das wirklich gesagt? War er denn jetzt vollkommen bescheuert? Das klang fast, als versuchte er mit ihr zu flirten. Er setzte zu einer Entschuldigung an, aber sie lachte kurz. „Manche Leute sind doch der Meinung – lieber einen schlechten Eindruck, als gar keinen. Aber ich verspreche, ich werde diesmal versuchen mich an sie zu erinnern, falls wir uns wiedersehen. Wobei ich darauf gerne verzichten kann. – Oh.“ Sie schlug sich mit der Hand auf den Mund und ihr Gesicht färbte sich noch etwas dunkler. „Tut mir leid, das hat nichts mit ihnen zu tun. Es ist nur...“ Nun musste auch er lachen. „Keine Angst, ich verstehe das schon. Mit uns Polizisten hat man nicht so gern zu tun, das ist unser hartes Los.“ Sie lächelten sich kurz an, dann erhob sie sich. Er reichte ihr die Hand und blickte sie ernst an. „Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, vor allem viel Kraft für die Verhandlung.“ Sie zuckte zusammen, dann nickte sie kaum merklich und wandte sich zum Gehen. An der Tür drehte sie sich nochmal um, als wollte sie etwas sagen, überlegte es sich jedoch anders.

Es hätte ein Abschied für immer sein können, ein weiterer Fall, der abgearbeitet war und in den Archiven verschwand. Doch das Schicksal wollte es anders.

Die Dunkelheit der Unschuld

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