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Verschwundener Teller

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– Nein, nein, nein, – die Dame im Sessel schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. Und da tanzten die goldenen Locken, die ihr längliches Gesicht umrahmten, heftig auf ihren elfenbeinfarbigen Schultern.

Natalja Andrejewna Orlowa-Denissowa war zwar ein wenig korpulent, aber hoch und besaß einwandfreie Statur. Trot dieses Nachteils galt sie immer noch als Moskaus Schönheitskönigin, und das blaue modisch geschnitene Ausgangskleid betonte aufs Schönste ihre Reize.

– Nie werde ich an die honnêteté[1] des niederen Volkes glauben. Erinnern Sie sich, meine Herrschaften, was Monsieur Karamsin gesagt hat, als er über Russland und sein Volk gefragt wurde?

Sie blickte auf die Gäste fraglich und seufzte ausdrücklich tief:

– Das ist also der Ruhm! Solange der Mensch lebt, ist sein Name in aller Munde; sobald er stirbt, verlässt der Ruhm diese Welt mit ihm… Meine Herrschaften, wie könnte man die Worte vergessen, die das ganze Wesen des Volkes wiedergeben?… Nikolas, mein Freund, erinnerst du dich etwa daran?

Nikolai Wassiljewitsch wendete seinen Blick von Spielkarten ab und schaute seine Ehegatin, die umgeben von vielen Gästen saß, ärgerlich an. Er mochte es nicht, vom Spiel durch dummes Geschwät abgelenkt zu werden. Aber als er auf die charmante Natalja Andrejewna blickte, auf deren rot gewordenen Wangen Grübchen schon zu sehen waren, konnte er sich ein Lächeln nicht verbeißen. «Die ist aber so süß!» – dachte Nikolai Wassiljewitsch, der trot des Alters in seine Frau wahnsinnig verliebt war. Seine Frau war aber wirklich mehr als schön. Ihr vergeistigtes Gesicht, von Intelligenz geprägter Blick ihrer lebhafter Augen, ihre Lebensfreude und innere Energie zogen die Menschen an. Ihr freundlicher und gutherziger Charakter, ihre außergewöhnliche Gastfreundschaft luden viele Gäste unter das Dach ihres kleinen, aber gemütlichen Hauses ein.

– Nein, ma chérie[2]. Ehrlich gesagt habe ich davon vergessen. Du weißt doch, dass ich für den Sentimentalismus, für den Herr Karamsin und derartige so viel schwärmten, keine Sympathie hege.

Natalja Andrejewna warf auf ihren Mann einen verächtlichen Blick und sette das unterbrochene Gespräch fort:

– Lassen wir uns dem Grafen seine Besinnungslosigkeit verzeihen, – sagte sie mit einer um Entschuldigung bitenden Stimme. – Nous continuerons, mes amis[3]… Bei einem Gespräch mit dem Botschafter Frankreichs… des Namens kann ich mich jett nicht genau entsinnen… antwortete Monsieur Karamsin auf die Frage, was er von Russland hält: «Auch wenn Sie mich um Miternacht in einem fernen Winkel der Welt aufwachen und fragen, was man eben in Russland tut, kann ich ihnen mit Sicherheit antworten: Man klaut».

– Tjaa, – sagte ein alter Mann neben der Gräfn bedächtig und schmatte dabei komisch mit den Lippen. – Es war unlängst ein Vorfall in Kurskaja Gubernia… Es brannten Grafen Dawydow Gutshof, Pferdestall und alle Wirtschaftsgebäude. Und da haben seine Leibeigenen alles, was sie nur vom brennenden Heim holen konnten, davongeschleppt, ohne Angst, sich vom Brandrauch zu ersticken. Und dann rannten sie mit dem ganzen Gut los… So ist es. In unserer Zeit…

– Wie immer, haben Sie recht, Onkel, – wurde er von Natalja Andrejewna unterbrochen, die die Redseligkeit ihres bejahrten Verwandten kannte.

– Das ist aber so grausam, – ließ sich ein junges Wesen ins Gespräch und begann, mit ihren großen braunen Augen entsett zu blinzeln.

Die niedliche Gräfn mit ihren pechschwarzen Locken war ein voller Gegensat von Natalja Andrejewna. Diese junge Frau war ein kantiges und ungefüges Wesen. Besorgtheit überschatete ihr blasses Gesichtlein, das beim ersten Anblick ganz reizlos schien, aber auflühte und sich aufichtete, immer wenn ein Gedanke oder ein Gefühl es belebten, und ihre dunklen Augen strahlten dann und wann Erschrockenheit aus. Eine hochempfndliche Person, wurde die junge Gräfn bei jeder Herzensangst ohnmächtig.

– Mon Dieu[4], – zwitscherte das junge Wesen weiter. – Wohin steuert denn Russland, wenn man schon vor seinen Leibeigenen Angst haben sollte? Wie hält man das alles aus?

Sie war schon bereit, erneut in Ohnmacht zu fallen, aber da kam ein streng aussehender Mensch ins Gespräch:

– Mir kommen Vorfälle in den Sinn, da sie revoltierten und die Gutshöfe ihrer Grundherren selbst in Brand setten, – brüllte Fürst Besborodski, den die Gesellschaft für einen energievollen, eigenwilligen und kompromisslosen Menschen hielt. Er hate zu jeder Zeit und von jeder Sache seine eigene – seines Erachtens einzig richtige – Aufassung, – Was immer man sagt, ist das Volk heute diebisch.

– Das sind lauter Verleumdungen, Nikifor Andrejewitsch, – erwiderte ein statlicher Mann von etwa 40 Jahren, der einen eleganten tabakbraunen Rock trug. – Lauter Verleumdungen, meine Herrschaften. Glauben Sie meinen Worten.

Ein Ausruf der Verblüftheit fog durch den Salon von Gräfn Orlowa-Denissowa. Mit unverhohlener Neugier guckten die Gäste auf den Sprechenden.

– Treten Sie etwa für die Rotüre ein, Graf? – Ein ironisches Lächeln berührte das Gesicht von Natalja Andrejewna. – Nicht umsonst wurde Ihnen also Sympathie zu den Dezembristen nachgesagt.

– Ganz und gar nicht, Gräfn, – erwiderte der Graf und sah die Gastgeberin vorwurfsvoll an. – Aber sie von Ihrer Meinung abbringen werde ich auch nicht. Ich muss gestehen: Als ich jung war, felen mir schön oft rebellische Gedanken ein. Glücklicherweise hörte alles somit auf: Nie würde ich den Eid brechen und meinen Herrscher betrügen.

Der Graf warf mit Stolz seinen Kopf auf, sein Blick umkreiste auffordernd die Gesellschaft.

– Ärgern Sie sich nicht, Iwan Dmitrijewitsch, – setzte sich Graf Akussin für Natalja Andrejewna ein, dem auffiel, dass die Worte die Gräfin bis ins Mark trafen. – Ich versichere Sie, dass Natalja Andrejewna nicht beabsichtigt hat, Sie mit solchen Verdächten zu verletzen.

– Aber selbstverständlich, was für ein Unsinn, – redete die Dame des Salons ihm nach und sah den Grafen schmeichelnd an. Ihre entzückenden dunkelblauen, ein wenig geschlitzten und von langen Wimpern umrahmten Augen funkelten. Sie bedachte Grafen Lunin – den nächsten Freund ihrer Familie – mit einem strahlenden Lächeln, das seine Kälte blitzschnell auftauen ließ. Ein wenig rot vor Verwirrtheit, begann er etwas Undeutliches vor sich hin zu murmeln und senkte den Blick. Eine peinliche Pause kehrte in den Salon ein. Doch die junge Gräfin brach plötzlich die Stille.

– Ihre Worte haben meine Neugierde erregt, Graf, – fing sie an zu sprechen, – Wollen Sie denn sagen, dass… so eine Eigenschaft wie Edelmut diesen Menschen eigen sei?

Als sie das sagte, fuhr der Onkel von Natalja Andrejewna von seinem Schlummer im Sessel auf, schnatterte empört und schmatzte mit den Lippen.

– Meine liebe Gräfin, – sprach Fürst Besborodski sie freundlich an, – ich erfreche mich eine Bemerkung zu machen, es kommt mir vor, Sie haben alles nicht so verstanden wie es gemeint war.

– Doch. Die Gräfin hat ihren Gedanken ganz justement[5] geäußert – erwiderte Graf Lunin, der derzeit von seiner Verwirrtheit schon erholt hatte. – In jeder Schicht kann man die Menschen finden, denen edle Vorsätze nicht fremd sind.

– Um Gottes Willen, Graf, – brauste der Fürst aus und sah Iwan Dmitrijewitsch zornig an, – Wie können Sie das behaupten? Wer sind die und wer sind wir?

– Manchmal können auch unter geringen, analphabetischen, jämmerlich gekleideten Leuten warmherzigen und mitleidigen personnes begegnet sein, denen das fremde Leid nicht kalt lassen kann. Einmal wurde ich Zeuge eines tragischen, aber bemerkenswerten Vorfalls, dass meine Vorstellung von denen, die sie «Rotüre» nennen, für immer änderte.

– Sie haben uns einen Floh ins Ohr gesetzt, – sagte Gräfin Orlowa-Denissowa mit Neugierde. – Seien Sie so lieb und erzählen Sie uns diese spannende Geschichte, damit auch wir unsere Vorstellung vom russischen Volk ändern könnten.

– Tun Sie uns ein Gefallen, – zwitscherte das junge Wesen wieder und faltete anflehend ihre kleinen Hände, – nous vous demandons… s’il vous plaît[6]… – Den schönen Damen kann ich nicht Nein sagen, – gab Graf Lunin liebenswürdig nach und beugte sich demütig. Er blickte verliebt auf Natalja Andrejewna. Ihre Wangen wurden sofort rosenrot. Um die Verwirrtheit zu verbergen, schlug sie ihren Fächer auf und begann sich damit umwehen. Die Gespräche hörten auf. Atemlos warteten alle auf die Erzählung von Grafen Lunin.

– Es war vor fast fünfzehn Jahren, – fing Graf an. – Ich diente damals als FliegelAdjutant Seiner Imperatorischen Hoheit. Viele von Ihnen haben wohl vom ungeheuren Drama gehört, das im Winterpalast am 17. Dezember 1837 abspielte.

– Geht es etwa um den Brand, gnädiger Herr? – erkundigte sich der Onkel von der Gräfin.

– Ganz recht, gnädiger Herr, – Iwan Dmitrijewitsch nickte ihm leichthin mit dem Kopf zu.

– Tjaa, – sagte der alte Mann nachdenklich und schmatzte wie immer mit den Lippen.

– Der Feuerschein war so groß, dass viele ihn sehen konnten, seien es Bauern aus umliegenden Dörfern oder Wanderer auf den Wegen, 60 Wersten von Sankt Petersburg entfernt. So ist es… Ich war damals…

– Was Sie immer sagen, Onkel, war das ein erschütterndes Geschehen, – unterbrach ihn Natalja Andrejewna und seufzte traurig, – und es hatte bittere Konsequenzen. N’est-ce pas?[7]

Die Gräfin sah Iwan Dmitrijewitsch fraglich an. Kaum stieg die Röte in die glatt rasierten Wangen des Grafen, verloren sie sofort die Farbe. Er wurde konfus und schlug die Augen nieder. Doch da er der Sache bewusst war, die Gräfin mit seinem Benehmen kompromittieren zu können, nahm er sich zusammen und setzte seine Erzählung fort:

– Unseligerweise ja… Die grausamen Ereignisse, die ich erleben musste, verursachten wirklich viel Elend. Das Brandfeuer vernichtete zahlreiche unschätzbare Kunstwerke und brachte viele Menschen ums Leben.

– Menschen? – Von allen Seiten des Salons kamen erstaunte Ausrufe. – Das ist aber unmöglich! Man sagte, alle hätten sich gerettet! Comment est ce possible?[8] Sie irren sich… Waren Sie während des Brandes mit Seiner Imperatorischen Hoheit? Wie hatte er das zugelassen?

– Meine Herrschaften, – wehrte Graf Lunin die Fragen ab. – Nicht alle auf einmal, bitte! Wenn Sie gestatten, würde ich zuerst meine traurige Erzählung fortsetzen und dann alle Ihre Fragen beantworten – wenn es dann welche bleiben… Also, noch ein frostiger Tag des scheidenden Jahres näherte sich seinem Ende zu. Dazu muss ich sagen, der Winter hatte in dem Jahr ziemlich früh seinen Einzug gehalten, und es wurde mit jedem Tag immer kälter. An jenem Abend hatte ich im Winterpalast Wachdienst. Am nächsten Tag musste die Inspektion der Rekruten und der niederen Ränge stattfinden, man erwartete die Ankunft des Großfürsten Michail Pawlowitsch. Deshalb fingen die niederen Ränge an, sich neben dem Feldmarschallsaal zum letzten Hinweisempfang zu sammeln, sobald der Imperator mit seiner Familie den Palast verließ, um sich an der «Verliebten Bajadere» zu ergötzen. Die Versammlung wurde vom Kasernengeist umhüllt, doch auch er konnte den entstandenen Brandgeruch nicht dämpfen, der schon seit einigen Tagen in der Luft lag.

– Waren denn weder Diener, noch wachhabende Offiziere dadurch beunruhigt? – staunte Fürst Besborodski.

– Doch. Natürlich störte es sie. Ich kann Sie versichern, dass ich selber in den Keller gegangen war und dort jede Ecke untersuchte. In einem der Bauten, befand sich nämlich das Labor, wo die Medikamente für den Hof zubereitet wurden. Das Zimmer wurde so gestaltet, dass es über dem Tisch eine eiserne Haube hing. Es wurde ursprünglich angenommen, die schlimmen Gerüche würden verfliegen. Doch leider hatte der Architekt einen Fehler gemacht, und die Menschen litten stark unter erstickenden Dünsten. Dann wurde in den Schornstein ein Loch geschlagen. Den Menschen, die dort arbeiteten, hat es wirklich eine Erleichterung gebracht. Doch zusammen mit dem Rauch zog auch die warme Luft aus. Und wie ich schon erwähnt habe, war der Winter hart, und den Dienstleuten, die hier übernachten mussten, s’engourdissait du froid[9]. Kein Wunder also, dass das Gesinde die Weise erfunden hatte, die Wärme zu sparen: Für die Nachtzeit wurde das Loch mit Bastdecken und Lappen vollgestopft.

– Maintenant, il est clair[10], – brummte Fürst Besborodski vor sich hin. – Man hätte sie bloß davon treiben sollen.

– Aber gnädiger Herr, – Natalja Andrejewna schlug ihre Hände über dem Kopf zusammen. – Ich würde diese Leute nicht verteidigen, aber man kann die auch verstehen.

– Ich habe für sie so gut wie kein Verständnis. Jeder Schuster sollte bei seinen Leisten bleiben, – sprach der Fürst aus, seine Arme übereinandergeschlagen, und ließ seinen Blick über die anderen Gäste gleiten.

– Aber Herrschaften, bitte! – stotterte die niedliche Gräfin, ihre Wangen rot vor Aufregung. – Lassen wir den Grafen mit seiner Erzählung fortfahren. Er hat uns so… so…

– … so fasziniert, ma chérie? – sprach Graf Akussin seine junge Ehegattin an.

– Oui, très intéressant[11], – sagte die Gräfin bestürzt und wurde schamrot.

– Setzen Sie fort, lieber Iwan Dmitrijewitsch, – sagte Natalja Andrejewna. Die Erzählung erweckte ihr Interesse, und sie war auf die Fortsetzung gespannt.

– Ich unterwerfe mich Ihrem Willen, Gräfin, – antwortete der Graf ehrerbietig. – Also… Wir hatten die Rauchquelle gefunden und den Schornstein, so sorgfältig wir es nur konnten, gefegt. Nach einiger Zeit war der Geruch verschwunden und alle hatten sich beruhigt. Aber wahrscheinlich schwelten die Reste von Bastdecken weiter und bald war der Rauchgeruch wieder zu spüren. Eben diese Fetzen wurden dann Grund der Not… Jener Abend war besonders frostig. Draußen war es klirrend kalt. Alle Fenster waren skurril gemustert. Wie ich schon gesagt habe, hatten sich neben dem Feldmarschallsaal viele Leute versammelt. Zuerst wurde der Rauchgeruch durch die Weihrauchbrenner, die Dufte ausströmten, und dem kräftigen Kasernengeist gedämpft. Aber ein wenig später bemerkte einer der Offiziere, dessen Namens ich mich nicht mehr entsinnen kann, einen leichten Rauch unter der Tür hervorsickern. Es wurde ein Bote gesandt, um mich zu holen. In Minutenschnelle kam ich zum Saal. Wir öffneten die Tür und sahen das Feuer durch das nicht abgedichtete Luftloch durchdringen. Alle blieben starr und steif stehen; niemand konnte seinen Augen glauben. Alle haben sich wohl naïvement[12] gehofft, der Brand würde ganz von alleine aufhören, um so mehr als die Flammen immer kleiner wurden. Doch, es stellte sich heraus, das Feuer kam eben in Schwung. Als das Feuer mit Geknister und Gezisch in der Saalecke ausbrach, wurde ich des ganzen Ernstes der Situation bewusst. Ich ließ den Feuerwehrdienst, den es am Hof gab, benachrichtigen und beginnen, alle Porträts und Ausstattungsgegenstände zu retten und eilte selber ins Theater, wo der Imperator das Ballett genoß, ohne zu ahnen, was geschah. Ich drang tatsächlich in die Zarenloge ein, was seinen Zorn erregte. Aber, meine Tat mit außerordentlicher Eile rechtfertigend, sprach ich den Imperatoren direkt an. Sein Gesicht verlor das Lächeln und die Seelenruhe und wurde wie versteinert. Er sagte der Imperatorin, dass dringende Angelegenheiten ihn in den Palast treiben, ließ seine Familie nach der Aufführung in seinen eigenen Palast fahren und ging eilig aus.

Graf Lunin schwieg eine Weile. Die Gäste hörten ihm in atemberaubender Spannung zu. Iwan Dmitrijewitsch seufzte tief und sprach weiter:

– Wie ein Pfeil schnellten wir zum Palast. Der Imperator stieg aus der Kutsche und blickte den Palast einschätzend an, sein Gesicht wurde grämlich: Das Feuer hatte sich nämlich über viele Säle verbreitet. Niemand konnte seinem Geschwelge widerstehen – es war der Held des Abends. Als der Imperator den Streitkräften und allen Feuerwehrdiensten der Hauptstadt befahl, unverzüglich zu kommen, lief er nach innen. Ich wollte ihn daran zu hindern, aber der rigorose Blick, dessen der Imperator mich würdigte, war beredter als die Worte. Ich unterordnete mich…

– Wurde die Bekämpfung des Brandes selbst vom Imperator geleitet? C’est incroyablе![13]

– Ja, der Imperator ging durch die Säle und erteilte persönlich alle Befehle, Gräfin. Aber es wurde mit jeder Minute immer offensichtlicher, dass es fast keine Chancen gibt, die Schlacht gegen die gefräßige Feuerschlange zu gewinnen. Die Feuerwehrtruppen arbeiteten ohne Rast und Ruh, indem sie die Säle mit Wasser ausgiebig besprühten. Doch die Flamme gab nicht nach – im Gegenteil, rückte sie noch wütender an. Der Winterpalast war zum Zerstören verurteilt. Allerdings ließ der Imperator seinen Geist nicht sinken und gab weitere Befehle den Feuerwehrdiensten und den Soldaten, die zum Palast eben gekommen waren. Inzwischen war das Feuer an den hölzernen Haltungssäulen der Petersaalnische und begann, das Dachbodengebälk anzugreifen. Es brannten die hölzernen Lüster, von allen Seiten fielen abgebrannte Balken und Balustradenteile. Jemand schrie, dass das Feuer bis in die Palastkirche gedrungen war. Ohne eine einzige Sekunde zu zögern, ließ der Imperator dorthin eine Gruppe vom Preobrashenski-Regiment schicken. Späterhin feierte er mehrmals den Mut der einfachen Soldaten, denn sie hatten es geschafft, fast alle Devotionalien und die heiligen Gebeine zu retten. Doch diese Verwegenheit kostete manchen das Leben…

– Soweit ich weiß, gab es damals nach offiziellen Angaben keine Opfer, Graf, – Iwan Dmitrijewitsch wurde vom Fürsten Besborodki unterbrochen.

– Nach dem Brand untersuchte ich selber jede Ecke des Palastes und sah recht viele Leichen erstickter, abgebrannter und entstellter Menschen.

– Aber… – der Fürst versuchte wiederholt ihm zu erwidern.

– Bezweifeln Sie meine Worte? – fragte Graf Lunin und sah den Fürsten auffordernd an.

– Herrschaften, – griff Natalja Andrejewna in den aufbrechenden Konflikt ein. – Iwan Dmitrijewitsch ist keiner jener Menschentype, mein lieber Fürst, die ihre Geschichten ausschmücken, um die Zuhörer zu faszinieren. Wozu bräuchte er so etwas? D’accord?[14] – Die Gräfin bescherte Grafen, der seine Brauen runzelte, ein versöhnendes Lächeln und bat ihn, weiter zu erzählen.

– Ich habe schon davon erwähnt, dass das Feuer peu-a-peu neue Grenzen überwand. Der Brandgeruch und der schwarze Rauch füllten fast den ganzen Palast. Die Menschen erstickten. Der Husten würgte sie, der beißende Rauch reizte ihre Augen. Da ließ der Imperator die Fenster zerbrechen, damit der Brandgeruch verfliegen könnte. Aber, – da hielt der Graf eine Pause und setzte tief seufzend seine Erzählung fort, – das machte die Sache noch schlimmer. Der Rauch ging wirklich nach außen, und für eine Weile spürten alle eine Erleichterung, doch in demselben Augenblick flammte das Feuer mit fassungsloser Wut auf. Die frischen Luftströme brachten den Menschen Erleichterung und verliehen noch mehr Kraft dem Feuermolch, das über den ganzen Palast unglaublich schnell kroch. Es brannte ein Saal nach dem anderen…, abgebrannte Balken, Geländerdocken und dann die Wände stürzten mit Krach ab, wobei sie donnerten und um sich herum Funken ausspritzten. Dem Imperator wurde gemeldet, dass das Feuer nicht nur seinem Gemach, sondern auch der Hermitage immer näher zukam und drohte jeden Augenblick, sich darauf zu übertragen. Sobald der Imperator anordnete, das Dach abzumontieren, eilte er ins Gemach. Ich folgte ihm auf Schritt und Tritt. Die Flamme kam mittlerweile der Neva Enfilade zu, wobei sie auf ihrem Wege den gewachsten Parkettboden, die formidablen Schnittarbeiten und malerische Plafonds vernichtete. Das Feuer schonte niemand und nichts. Hin und wieder liefen wir gegen Menschen an, die sich aus Leibeskräften bemühten, die kostbaren Schätze zu retten… Neben der Schlafzimmertür sah der Imperator zwei Soldaten. Sie husteten sich die Seele aus dem Leib wegen des beißenden Rauchs, bemühten sich aber redlich, einen riesigen Spiegel in einer unglaublich schönen Fassung von der Wand abzureißen. «Weg von hier!» – brüllte der Imperator. – «Lasst den verdammten Spiegel! Was nutzt er nun?… Weg von hier! Wie dumm seid ihr! Ihr werdet alle damit brennen!» Als ich sah, dass die

Soldaten ihn nicht hören oder den Sinn seiner Worte nicht kapieren, lief ich ihnen zu und wiederholte den Befehl des Imperators. Aber sie zogen den Spiegel weiter wie verrückt und sagten dazu: «Macht nischt, hochwürdiger Herr, macht nischt… Mit etwas Glück und Gottes Hilfe werden wir nicht ersticken… werden wir mal schaffen… Guck mal wie fest das Ding hängt… sei unsereinem nicht bös…» Inzwischen packte die Flamme das Zimmer und durchhellte das blasse Gesicht des Imperators. Als er begriff, dass er die Muschkoten nicht überreden kann, holte er zu einem Streich aus und warf das Theater-Fernglas, das er unbewusst in der Hand hielt, gewaltig in den unheilbringenden Spiegel. «weg von hier!» – schrie er mit Berserkerwut zwei Soldaten an, die vor Überraschung gelähmt da standen. Ohne sie wieder anzusehen, verschwand er im Schlafzimmer seiner Ehefrau; ich schickte die verwirrten Muschkoten weg und folgte ihm eilig. Als ich das Gemach der Imperatorin betrat, geriet dessen ferne Ecke schon in Brand. Aber nicht das fiel mir allererst auf. Für eine Weile wurde ich vor Überraschung fassungslos…

– Wodurch wurden Sie denn so erstaunt, Graf? – stotterte das junge Wesen, das von der ganzen Geschichte gepackt war, mit aufgeregter Stimme, – Оh, wie gerne würde ich auf das Schlafgemach der Imperatorin einen Blick werfen. Sie hatte bestimmt einen vortrefflichen Geschmack! C'est vrai?[15]

Iwan Dmitrijewitsch fiel nicht gleich ein, wie er diese Frage beantworten sollte. Die Leichtsinnigkeit der jungen Gräfin entmutigte ihn ein wenig. Die peinliche Stille wurde zu lang. Graf Akussin sah seine Ehefrau, in deren Wangen die Röte sofort stieg, vorwurfsvoll an. Die Gräfin senkte ihren Kopf vor Befangenheit und begann, sich nervös umzuwehen.

– Leider kann ich ihre Neugierde nicht stillen, Gräfin, – fuhr Graf Lunin nach einer Minutenpause fort. Nicht weil ich unaufmerksam bin. Ganz im Gegenteil: Ich kann immer bis ins kleinste Detail eine Stelle schildern. Aber in dem Augenblick fiel mir nicht die Schönheit des Schlafgemaches, deren ich wegen des dicken Rauchs sowieso nicht gerecht werden könnte, sondern das verärgerte…besser gesagt, das zornige Gesicht des Imperators auf. Er stand in der Mitte des Zimmers und hielt den Schrein seiner Ehegattin in den Händen. Er wusste, wie lieb sie die Schmuckstücke hatte, und wollte wenigstens die retten. Aber… der Schrein war leer.

– Sehen Sie wohl! – rief Natalja Andrejewna und sah die Gäste triumphierend an. – Was habe ich Ihnen gesagt? Wie immer habe ich recht. Der Rotüre kann man nicht vertrauen. Jamais![16]

– Verzeihen Sie mir meine Frechheit, Gräfin, aber bei Ihrem Verlaub stimme ich Ihnen nicht zu, – erwiderte Graf Lunin mit sanfter Stimme.

– Aber lieber Iwan Dmitrijewitsch, Sie haben selbst meine Worte eben bewiesen! – protestierte Natalja Andrejewna empört. Der Ausdruck äußersten Missbehagens erschien auf ihrem hübschen Gesicht.

– Ich sagte nur, dass es sich erwies, dass der Schrein mit den Schmuckstücken Ihrer Majestät leer war.

Die Gäste wurden laut.

– Gnädige Herrschaften, lassen wir Iwan Dmitrijewitsch vielleicht selbst seine Erzählung schließen? – schlug Graf Akussin vor. Die Zuhörer nickten bejahend mit den Köpfen.

– Bien… Der Imperator stand also in der Mitte des Zimmers und schwieg. Ich kam ihm zu, beugte mich leichthin und sagte ihm: «Ihre Imperatorische Majestät, das Feuer kann uns in jedem Augenblick den Weg zum Ausgang abschneiden. Ich bitte Sie… Wir müssen uns beeilen!» Aber er schien mir nicht zuzuhören. «Was für ein bitteres Gefühl ist es, das zu ahnen, Graf… Es ist mir wegen Russland so bange… Wenn jemand Fremder das gestohlen hätte… doch… Sogar die Treusten stehlen!»…

In demselben Moment gerieten die Portieren des Schlafgemaches in Brand. Ohne eine einzige Sekunde zu zögern (ich muss gestehen, das war meinerseits ziemlich frech), nahm ich den Imperator, der immer noch nachdenklich da stand, an den Ellbogen und holte ihn aus dem Zimmer… Als einige Feuerwachen unserer Stadt kamen, stand der Palast größtenteils in Flammen. Das Feuer drang unaufhaltsam von Saal zu Saal, indem er die Räume schaurig rot ausleuchtete. Durch Brandgeruch und Rauch drängten wir zum Ausgang vor. Von allen Seiten war das Getöse abstürzender vergoldeter Lüster, die wegen des frechen Feuers schwarz wurden und wegen der Glut nun sich in Teile zerschlugen… Als es klar wurde, dass der Palast nicht zu retten ist, fasste der Imperator einen wichtigen Entschluss: «Holen Sie die Soldaten zurück und lassen Sie sie mindestens die Hermitage retten!». «Zu Befehl, Ihre Majestät,» – meldete ich und richtete unverzögert die Anordnung dem Leiter des höfischen Feuerwehrdienstes aus. In demselben Augenblick schloß uns Fürst Wolkonski an. Nun ähnelte sich dieser gestrobelte Mann dem pedantischen, immer funkelnagelneu gekleideten, strammen «Fürsten NEIN» (wie man ihn am Hof nannte) gar nicht. «Aber Ihre Majestät,» – seine Worte wurden vom Getöse, Krach und Geschrei gedämpft. – «Ob das vernünftig ist? Es gibt im Palast immer noch viele Gegenstände, die zu retten sind!» Der Imperator sah ihn trübe an. «Wenn wir nicht einmal die Hermitage retten, woran werden sich unsere Nachfolgen erinnern? Glauben Sie, sie werden auf unsere großen Siege besinnen? Nein, ganz im Gegenteil. Sie werden an unsere blamablen und bedauernswerten Verluste denken.» Dann sah er sich um und blickte auf die vieltausendköpfige Menschenmenge, die in einiger Entfernung stand und schweigend und mit stockendem Herzen beobachtete, wie das Höllenfeuer das einst prachtvolle Gebäude zerfrisst und wie der Teil von der russischen Geschichte für immer ins Vergessen schwindet… «Lassen Sie das Volk in den Palast hinein!» – folge der imperatorische Befehl. «Wie, bitte» – fragte Pjotr Michailowitsch und sah den Imperator erstaunt an. – Habe ich mich verhört? Wollen Sie alle diese… Leute den Palast betreten lassen? Aber wozu? Ich kann Sie nicht verstehen!» Der Imperator schwieg eine Weile, dann drehte er sich zum Fürsten um und sah ihn mit unverwandtem Blick an. «Lassen wir jeden etwas aus dem Palast holen», – folgte seine Antwort. Das Staunen vom Fürsten Wolkonski wollte kein Ende nehmen. Er nahm mich auf die Seite und begann zu überzeugen: «Mein lieber Freund, jetzt ist nur auf Ihren Einfluss auf den Imperator die Hoffnung.

Reden Sie ihn von diesem dummen Vorhaben ab. Das ist doch Wahnsinn! Ich würde es lieber verbrennen lassen, damit dieses ganze Gesindel davon nichts kriegt.» «Pjotr Michailowitsch», – ich gab mir Mühe so laut wie möglich zu sprechen. – «Ich bin nicht berechtigt, Seiner Majestät etwas zu raten. Ich bin genauso wie Sie ein einfacher Soldat und bespreche die Befehle nicht.» «Aber Graf…» – Fürst Wolkonski machte noch einen Versuch mich zu überreden, den Imperator zu bewirken. Aber ich schüttelte ablehnend den Kopf. Als der Fürst einsah, dass seine Zureden kein Effekt haben, ging er selbst dem Imperator, der steif wie Marmorbild stand, zu und rief leidvoll aus: «Da wird man alles davon schleppen!» «Lassen wir es meinetwegen lieber so sein. Dem Feuer alles zu überlassen wäre viel schlimmer… So ist allem Ansehen nach Herren Gottes Willen,» – sagte der Imperator trübe, seufzte tief und ging vom Palast zu seiner Kutsche.

– Hatte der Imperator jene Vandalen den Palast vernichten lassen? Unglaublich! – rief Fürst Besborodski erstaunt aus. – So ein Absurd! Der Imperator hätte das nicht tun können.

– Schon das zweite Mal während dieses Abends erlauben Sie sich, die Richtigkeit meiner Worte in Zweifel zu ziehen, Nikifor Andrejewitsch. Möchten Sie mir vielleicht Lüge vorwerfen? – Graf Lunin sah den Fürsten herausfordernd an.

– Nein, natürlich nicht, Graf, – erwiderte der Fürst, der wegen des unerwarteten Ausfalls von Iwan Dmitrijewitsch in Verwirrtheit geriet. – Aber die Sachen, von denen Sie uns jetzt erzählen, sind so seltsam, dass man sich den Zweifel kaum verbeißen kann. Jedenfalls bitte ich Sie ganz herzlich um Verzeihung, wenn mein ungekünsteltes Erstaunen Sie gekränkt hat.

– Allerdings ist das pure Wahrheit, – antwortete der Graf. Er nahm sich dank Natalja Andrejewnas flehendem Blick, den sie zur rechten Zeit auf ihn warf, zusammen. – Ich verstehe Ihr Missvertrauen sehr gut, und Sie können mir glauben, Sie sind nicht die einzigen die so meinen. Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, dass nicht das winzigste Detail meiner Erzählung erfunden ist…

– Und was passierte dann, Graf? – fragte die junge Gräfin, die sich von ihrer Befangenheit schon erholt hatte.

– Es verging so ziemlich viel Zeit, bis die Menschenmenge, die sich vor dem Palast versammelt hatte, begriff, was man von ihr verlangt. Aber als die Menschen begriffen, war so ein ohrenbetäubendes Gebrüll über dem Platz zu hören, dass es mir schien, das Feuer sei selbst für ein paar Sekunden vor Überraschung lahm geworden und habe die Flammen in den Palast hineingezogen. Schreiend stürzten die Menschen ins brennende Gebäude. Fürst Wolkonski war ein wahres Jammerbild. Sein verblasstes, ziemlich attraktives Gesicht mit edlen Zügen drückte den ganzen Schmerz und Zweifel aus, die seine Seele quälten. Dieser felsenfester Mann, der viele Schlachten überstanden und nie Angst aufgewiesen hatte, stand vor dem Winterpalast, seine Augen voller Tränen, und stellte sich entsetzt vor, welchen Schaden der ihm anvertraute Haushalt erlitt und mit welchem Schaden er später noch zu rechnen hatte. Während die einen nacheinander folgend in den Palast hineinliefen, sprangen die anderen im Schweiß vor unerträglicher Hitze badend heraus. Sie schnappten nach Luft und husteten sich die Seele aus dem Leib wegen des beißenden Rauchs, doch jeder hielt etwas in den Händen. Der Haufen der vom Feuer geretteten Gegenstände wuchs mit jedem Augenblick. Unter den herumlaufenden Menschen war der Palastlakei Fjodor, fuchtelte bitterlich mit seinen Händen herum und jammerte: «Auf euch ist jetzt die ganze Hoffnung, Brüder… Bloß nicht klauen, Brüder… Um Christi Willen, bloß nicht klauen… Orthodoxen!» An mir lief ein kräftiger Bauer vorbei, in seinen Händen hielt er eine riesige Vase. Er stellte sie sorgfältig auf den Schnee, wischte den Schweiß mit dem Ärmel seines Schafspelzmantels und sagte trübe: «Wieso schreist de? Sind wir halt nicht kopflos. Unseren gnädigen Herrn in Not alleine zu lassen… Is es möglich?» Als er das sagte, lief er in den Palast wieder… Gegen 6 Uhr morgens war das ganze Gebäude von Flammen gebannt…

– Kann ich mich jetzt gut daran erinnern, – sagte der bejahrte Onkel der Gräfin nachdenklich. – Am Abend jenes Tages stieg ich in einer Station ab, um die Pferde zu wechseln. Es blieben etwa 20 Wersten bis Petersburg. Der Feuerschein von der Seite der Hauptstadt war so groß, dass es uns Sündern vorkam, die Erde habe sich aufgetan.

– So war es leider wirklich. In seinen Lebenserinnerungen verglich Andrej Wassiljewitsch Schukowski den Brand im Winterpalast mit einem Vulkanausbruch. Eine genauere Beschreibung wäre schwer zu finden, – redete Graf Lunin dem alten Herrn nach.

– War das trotzdem gelungen, mindestens einen Teil des Gutes zu behalten oder war alles endgültig verloren und vom Pöbel ausgeplündert? – erkundigte sich Natalja Andrejewna.

– Ich erfreche mich nicht mehr, Sie zu quälen und mit Anspielungen zu reizen, gnädige Herrschaften, – antwortete Iwan Dmitrijewitsch lächelnd. – Obwohl das Feuer, wie ich schon gesagt habe, zwei Tage wütete, nahm Fürst Wolkonski, der immer in seiner Pedanterie unübertrefflich war, die Berichte von den ihm anvertrauten Menschen an und überprüfte aufs Penibelste jeden einzigen Buchstaben. Doch als er alle Berichte, Register und Unterlagen eines der Dienste durchsah und überprüfte, wollte sein Staunen kein Ende nehmen… Es war gelungen, aus dem brennenden Palast das GANZE dortige Gut herauszuholen und zu retten. C’est la pure vérité![17] Ohne seinen Augen zu glauben, ließ er den Hauptlakaien zu sich holen und befragte ihn mit aller Strenge: «Bist du sicher? Nichts ist also verschwunden?» Der Lakai senkte seinen Blick und antwortete in schuldbewusster Stimme: «Doch, Ihre Erlaucht… Ach sie unseligen!». «Was ist denn verschwunden? Schweige nicht!» – befahl Pjotr Michailowitsch, der sich über den tölpelhaften Fjodor entzörnte. «Ein Sektglas und ein Teller,» – antwortete der Lakai befangen. «Och die Orthodoxen… Seien Sie mir nicht bös, denn ich habe nicht gut aufgepasst.» Der Fürst sah verblüfft den Lakaien an: «Bloß jene paar Sachen? Woher weißt du das? Hast du wohl alles nach Augenmaß überschlagen und erzählst mir jetzt Fabelei?» «Ganz und gar nicht, Ihre …tät,» – stotterte der Lakai und blinzelte angstvoll mit den Augen. «Hum… ein Teller,» – Fürst Wolkonski fauchte verächtlich. Doch als Pjotr Michailowitsch auch die Berichte sonstiger Dienste überprüfte, stellte es sich heraus, dass alles – sogar der Spiegel, den der Imperator zerschlagen hatte – während des Brandes aus dem Palast herausgeholt worden war. Ihr Leib und Leben wagend hatten jene geringen Leute das Zarengut gerettet und auf den Palastplatz sorgfältig gelegt.

– Ich bin überrascht! – rief Natalja Andrejewna erstaunt. – Wie kann so etwas möglich sein? Sie haben uns wohl einen Streich gespielt.

– Also, jetzt sind es Sie, liebe Gräfin, diejenige, die meine Worte bezweifelt, – ließ Iwan Dmitrijewitsch einen Vorwurf fallen.

– Und wie stand es denn bei den Schmucksachen von Ihrer Majestät? – fragte Fürst Besborodski, der den Grafen mit dieser Frage überrumpeln wollte.

– Die Kammerdame Ihrer Majestät hatte sie gerettet und sie in höchsteigener Person in den Imperatorpalast gebracht, wo die Zarenfamilie nach dem Brand eben ihr Domizil aufschlug.

– Tjaa, – sagte Graf Akussin bedächtig. – Die russische Seele ist unbegreiflich. Man springt ins Feuer, erstickt sich, riskiert sein Leben – und das alles um wessen Willen? Würde das aus Habgier getan, dann wäre die Sache erfassbar. Aber da… als nichts davon genommen wurde… Unbegreiflich!

– Wieso denn nichts? – fuhr die Gräfin auf, die nie gerne verlor. – Wie wäre es dann mit dem Sektglas und dem Teller?

– Ach mein Schätzchen, – sprach ihr Onkel aus und schmatzte dabei wie immer mit seinen Lippen, – das ist doch so eine Kleinigkeit. Sie hätten sich schließlich in der Hektik zerbrechen können. Niemand wird je etwas davon hören.

– Da irren Sie sich, mein Herr, – antwortete Graf Lunin behaglich und sah die Gräfin schelmisch an. – Das Sektglas war ganz unbeschädigt, und ich bin es sicher, dass der Esstisch des Zaren bis heutzutage damit verziert ist.

– Aber wie? Woher? – kamen von allen Seiten überraschte Ausrufe. – Wurde auch er denn gefunden?

– Ganz genau, – bekräftete Iwan Dmitrijewitsch unerschütterlich. – Umso mehr, dass jenes Sektglas von keinem geringen Kerl geklaut worden war, wie es Sie und Fürst Wolkonski vermuteten. Es wurde von einem Soldaten der Garde gestohlen, der davon sein Schäfchen scheren sowie seine Kartenschulden begleichen wollte. Das kam nach einigen Tagen zum Vorschein, als jene rohen und analphabetischen Kerle, von denen sie sprechen, den Soldaten ins Polizeirevier angeschleppt brachten, den sie selber zuvor geschlagen hatten.

– Wie wurde dann festgestellt, dass eben der Soldat das Sektglas bewahrt hatte?

– Da der Gardist den Wein in der Kneipe nicht bezahlen konnte, versuchte er eben dort das Sektglas zu verschleudern. Aber niemand wagte, ein Glas mit dem Namenszug des Zaren zu kaufen. «Du hast wohl das Ding von der Brandstätte hingeschleppt, du armer Sünder. Wie hat sich deine schamlose Schnauze so was getraut?» Die Kerle machten sich mit ihm keine Umstände, verabreichten ihm eine schöne Tracht Prügel und schleppten ihn ins Polizeirevier.

– Nie würde ich ahnen, dass den geringen Leuten so eine Eigenschaft wie Edelmut eigen ist, – sagte die Gräfin und zuckte dabei ihre tadellosen Schultern.

– Edle Gesinnung ist wahrscheinlich nicht die Eigenschaft, die die Menschen anregte, Opfer auf sich zu nehmen, – mischte sich Graf Akussin ins Gespräch ein. – Ich vermute (und muss dabei gestehen, dass ich hier dem Fürsten zustimme), es geht hier eben um die Unbegreiflichkeit des russischen Charakters und der russischen Seele, um das russische Mitleid, das man zu denen Menschen zu empfinden weiß, die in Not geraten sind. Was immer man sagt, wir wandeln alle unter Gott…

– Und was wäre mit dem Teller? Wurde er also gestohlen und nie wieder gefunden? – Das junge Wesen lebte auf. Alle wendeten sich zum Grafen und sahen ihn fraglich an.

– Doch. Der Teller wurde gefunden, und zwar dort, wo niemand danach gesucht hatte…

– Lieber Iwan Dmitrijewitsch, hören Sie bitte auf, uns mit Ihren endlosen Rätseln zu quälen, – flehte ihn Natalja Andrejewna an.

– Noch einige Monate lag er allen vor der Nase, – schloß Graf Lunin seine Erzählung und ließ seinen schelmischen Blick über die Gäste gleiten. – auf dem Palastplatz, mit Schnee bedeckt…

1

La honnêteté (fr.) – Ehrlichkeit

2

Ma chérie (fr.) – meine Liebe

3

Nous continuerons, mes amis (fr.) – Fahren wir fort, meine Freunde

4

Mon Dieu (fr.) – mein Gott

5

Justement (fr.) – genau

6

Nous vous demandons… s’il vous plaît. (fr.) – Wir bitten Sie

7

N’est-ce pas? (fr.) – Nicht wahr?

8

Comment est ce possible? (fr.) – Wie ist das möglich?

9

S’engourdissait du froid (fr.) – starrten alle Glieder vor Kälte

10

Maintenant, il est clair (fr.) – Nun ist alles klar.

11

Oui, très intéressant (fr.) – Ja, sehr interessant.

12

Naïvement (fr.) – naiv

13

C’est incroyable (fr.) – Das ist unglaublich.

14

D’accord? (fr.) – Sind Sie mit mir einverstanden?

15

C’est vrai? (fr.) – Nicht wahr?

16

Jamais (fr.) – Nie

17

C’est la pure vérité (fr.) – Das ist eine pure Wahrheit.

Wahre Geschichten eines Abends

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