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Träume kommen und gehen. Sie zeigen sich nicht jedem, bleiben am liebsten im Verborgenen. Manche meinen, man kann sich das Träumen antrainieren, so wie man einem Hund beibringen kann, Stöckchen zu holen. Als wäre es eine Sache des eigenen Willens, ob ein Traum kommt, und wenn er es tut, wann er denn kommt.

Bestätigt fanden sich die selbst ernannten Traumdealer durch die Badehäuser, wohl leugnend, dass der Traum in ihnen nur eine Dienstleistung war, wenn auch eine, die kam und ging, wie es einem gerade beliebte.

Als ich am Morgen schweißgebadet auf dem Bett lag, wusste ich, dass es noch eine dritte Macht gab – hinter Wille und Tadpole, hinter Zauberei und Ware – die einem nicht bloß träumen ließ: Es war die Wirklichkeit. Sie hatte mich in der Nacht heimgesucht. Ich hatte mehr als elf Stunden geschlafen, elf Stunden, in denen mir immer wieder die Ereignisse des vorigen Tages vorgespielt wurden. Es war so, als hätte jemand auf die Wiederholen-Taste gedrückt. Immer wieder trat mir Sid von Neuem im Bahndepot gegenüber und jedes Mal endete die Szene mit dem einen Schuss, der ihn erlöste und aus dem Leben riss. Es war die Steigerung eines Albtraums, weil man nur allzu genau wusste, dass das, was man sah, in der Wirklichkeit stattgefunden hatte.

»Verzeih mir«, murmelte ich wieder zur Wand herauf.

»Du bist ich.«

New Neu York lag verschlafen unter mir. Der Smog tauchte die Stadt in ein Meer aus Rauch und Nebel. Die Luftverschmutzung war allgegenwärtig, gab es doch keinen Tag, an dem die Menschen ihrer Nähe nicht gewahr wurden. Von weit oben war man versucht, der Stadt nur noch wenige Jahre zu geben, zu sehr löste sich Gebäude für Gebäude und Individuum für Individuum in Luft auf.

Jemand hat einmal gesagt: »Wenn ich noch einmal verreisen könnte, und dann nie wieder, es wäre eine Reise weit in die Vergangenheit. Ohne Wiederkehr.« Als wäre damals alles besser gewesen, wo doch jedes Übel irgendwann seinen Anfang nahm. Ich konnte mich so genau an diese Aussage erinnern, weil sie von mir kam. Ich war derjenige, der auf die Wiederkehr verzichten wollte.

Nach einer Weile überflog ich die Grenze zum A-Sektor. Ein Kontrollfahrzeug der Einheit ließ mich passieren, ein anderes schwebte gemächlich an mir vorbei. Ich hatte längst das Blinken in der Ferne ausgemacht – dort lag mein Ziel.

Ich drosselte die Geschwindigkeit, den Blick nach oben gerichtet. Majestätisch tauchte das höchste Gebäude der Stadt vor mir auf: der­ hoch über allem thronende Turm der Exekutive und der Einheit. Es war mir, als würde der Bau mit jedem Tag mehr und mehr in die Höhe steigen. Die Macht ging hier eine beispiellose Symbiose mit der Schwärze ein. Egal wohin man schaute, überall herrschte dunkle Tristesse. Die Außenfassade war eine Aneinanderreihung von schwarzen Metallplatten, ab und zu nur von, ins grau neigenden, Lüftungsgittern unterbrochen, die fremd wirkten, so selten, wie sie waren. Fenster gab es keine. Ganz oben direkt unter dem Dach gelegen, befanden sich die einzig existenten Lichtquellen. An jeder der vier Ecken des Gebäudes war eine Leuchte angebracht – stand man auf der Straße und blickte gen Horizont, sah es aus, als würde das Licht geradewegs aus dem Himmel herabscheinen.

Ich suchte die Öffnung im Gemäuer. Mein Cloud registrierte eine Einfahrt, die mir sogleich orange umrandet auf der Frontscheibe angezeigt wurde. Ich navigierte darauf zu. Die Elektronik zeigte mir die Entfernung an: noch zwanzig Meter. Ich schaltete die Düsen auf Landung; der Rest war ein Kinderspiel.

Das Deck war kaum zur Hälfte gefüllt. Nur vereinzelt standen Fahrzeuge in einer der Parkbuchten. Neben den Polizei-Clouds zählte ich noch mehrere private Automobile. Ich erkannte Barklis' Dodge, der wenig unauffällig zwischen zwei Streifenwagen parkte. Das rechte Rücklicht war immer noch defekt – ein unschönes Souvenir aus dem Untergrund.

Ich stieg aus dem Cloud und nahm, wie jeden Tag, den Weg zum Aufzug. Ich hatte den Rufknopf gerade gedrückt, als sich die Türen öffneten.

»Jill.«

Als hätte sie dort auf mich gewartet.

»Es tut gut dich zu sehen, Sean.«

Meine Jill. Wie immer sah sie umwerfend aus, wozu sie nicht einmal einen Schleier benötigte. Ihr dunkles Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden, was sich früh als ihre Lieblingsfrisur herausgestellt hatte. Sie war ganz der Mensch, wieder oder schon immer: In ihrer Uniform, einer eng anliegenden Ledermontur, konnte sie einen Mann um den Verstand bringen. Doch sie spielte nicht. Wenn sie austeilte, dann an die bösen Jungs, wobei sie nur selten enttäuschte. Für die meisten im Präsidium war sie die zuverlässige Morhaime, die im Körper einer Powerfrau steckte. Für mich war sie einfach nur Jill.

Ich trat zu ihr in die Kabine.

»Kann ich dich mitnehmen?« Während sie das sagte, hatte sie den Aufzug bereits bis in die Leichenhalle heruntergeschickt. Mit einem Ruck setzte er sich in Bewegung.

»Ich habe wohl keine Wahl«, antwortete ich.

Sie sah mich aus zusammengekniffenen Augen heraus an: »Du bräuchtest einen Drink. Obwohl alles besser als eine Leiche ist.«

Ich wartete zu lange mit der Antwort. Sie grinste mich nur weiter an: »Ich bin bei dir, das weißt du.«

Ich nickte kaum merklich mit dem Kopf. »Hat jemand was erzählt?«

»Wir haben von dir gesprochen.«

»Wer ist wir?«, wollte ich wissen.

»Viggo hat mir erzählt, was gestern Abend am Depot passiert ist. Er meinte, du warst nicht mehr du selbst; nicht mehr derselbe.«

»Ich wünschte, es wäre anders gekommen«, gab ich zu verstehen.

Lautlos öffnete sich die Tür. Wir traten aus dem Licht und auf eine Treppe zu.

»Die sieben Stufen zum Fegefeuer«, kommentierte Jill den Abstieg. Ich sagte nichts, zu sehr konzentrierte ich mich auf das, was vor mir lag. Die Kopfschmerzen waren glücklicherweise verschwunden.

Vor der Wand stand ein Terminal. Ich scrollte mit dem Finger durch die Liste, bis ich auf die Namen der Neuankömmlinge stieß.

»MOS-Default. Name: Unbekannt (Prüfung noch ausstehend). Eingang: Heute Morgen. Zeitpunkt des Todes: Gestern, 18:00 Uhr.«

»Ist er das?«

Ich drehte mich herum: »Das werden wir gleich erfahren.«

Wir folgten dem Flur, bis wir an eine Tür mit der Aufschrift L-12 kamen, die sich zur Seite hin aufschob, als wir dicht davorstanden. Im Raum dahinter befand sich nur ein einzelner Autopsietisch. Ein Tuch lag halb drapiert darüber. Als ich näher trat, erkannte ich, dass nur der Unterkörper verdeckt war. Die obere Hälfte lag frei.

»Habe ich dir erzählt, wie ich Räuber kennengelernt habe!?«

Jill antwortete: »Nein.«

Ich ließ die Sekunden verstreichen.

»Es war, als meine Mutter starb.«

Jill kannte Räuber, aber sie kannte nicht meine Mutter. Hatte ich nur vergessen, ihr diese Geschichte zu erzählen, oder wollte ich nicht, dass sie sie kannte? »Was hat das mit ihm zu tun?« Sie stand jetzt so nah bei mir, dass wir uns fast berührten.

»Sein Name ist Sid.« Ich musterte sein Gesicht. Friedlich, wie er da lag, sah es aus, als würde er schlafen, wäre da nicht der Verband gewesen, der das auf der Stirn klaffende Loch provisorisch verdeckte.

»Ich bin ihm schon einmal begegnet. Er war mir eine Hilfe, als ich diese am nötigsten hatte. Als ich dabei war, meiner verstorbenen Mutter auf meine Weise Lebewohl zu sagen, in dem ich bei ihr wachte, tauchte er aus dem Nichts auf und nahm mich mit sich. Wäre er nicht gewesen, wäre ich nicht in den Wäldern gelandet, wo ich Räuber und Quentin begegnete und die guten Dinge am Leben kennen und schätzen lernte.«

Jill sprang ohne Vorwarnung in die Gegenwart: »Was ist gestern vorgefallen?«

Ich sparte den Anfang aus und kam direkt zum Wesentlichen: »Er war auf der Suche nach seiner Tochter und ich habe ihm versprochen, sie zu finden.« Ich unterdrückte einen Schluckreflex.

»Sie ist fort?«

»Nur deshalb war er überhaupt am Bahndepot. Und das war auch der Grund, warum ich dort war.«

Jill tänzelte von meiner Seite: »Die Nachricht in deinem Computer!? Sie war direkt an dich adressiert.«

»Die Zentrale hat eine Kopie erhalten.« Darum blieben wir nicht lange allein, wollte ich sagen, überlegte es mir dann aber anders. Es war offensichtlich: Viggo hatte den Auftrag erhalten, mir zu folgen. Ich bereute nur, dass er nicht früher aufgetaucht war. Vielleicht hätten wir die Tragödie gemeinsam verhindern können. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass uns so etwas gelang.

»Meinst du, er wusste über jeden deiner Schritte Bescheid?«

Ich schüttelte vehement den Kopf. »Nein, das passt nicht zu dem, was er mir erzählt hat. Er sprach davon, dass er ihr vor zwei Jahren einmal sehr nah war, sie ihm aber entwischt sei.«

»Ein Streit?«

Ich hob den Verband an seiner Schläfe leicht an. »Es steckt mehr dahinter. Sid war nicht bloß ein alter, verwirrter Mann. Er wusste, was er tat. Der Selbstmord ...« Jetzt begann ich doch zu schlucken. »... war beabsichtigt.«

»Ein letzter Ausweg ...« Jill riskierte einen Blick unter das Laken. »Sie haben ihm bereits Blut abgenommen.«

Jetzt bemerkte ich den Schlauch auch, der aus Sids linkem Arm herausführte und wieder unter dem Tisch verschwand. Dann fiel mir auf, dass Jill auf einem, mit dem Tisch verkabelten, Bildschirm stierte. Ich wollte ihn mir gerade genauer ansehen, als sie bereits das für mich Ungesehene aussprach: »Er litt an einer Lungenembolie, hervorgerufen durch giftigen Sauerstoff.«

Mich traf der Schlag: »So wie Barklis?«

»Oder schlimmer.«

Dann also die Volkskrankheit, dachte ich. Der Verdacht hatte sich erhärtet. Tausende Neu Yorker litten am giftigen Sauerstoff, der als das größte und hartnäckigste Zeugnis der Umweltverschmutzung galt. Die Statistiken der Exekutive zeichneten dabei ein erschreckendes Bild auf: Durchschnittlich jeder dritte Einwohner Neu New Yorks steckte sich im Laufe seines Lebens mit dem giftigen Sauerstoff an. Schützen konnte man sich kaum, da die Krankheit über die Luft übertragen und vonseiten der Regierung und der Wissenschaft zu wenig getan wurde, um dem Einhalt zu gebieten. Medizinische Mittel waren selten und teuer und schlugen noch dazu nicht bei jedem Patienten wie erhofft an. Leben oder Sterben verkündeten die Nachrichten. Viele lebten zwar noch, aber immer mehr starben.

Bei Sid war ich mir nicht sicher, was die Krankheit für eine Rolle in seinem Leben gespielt hatte. Sicher war nur, dass er jetzt tot vor mir lag. Vom Lieutenant wusste ich, dass man sich selbst mit einem solchen Handicap nicht ausbremsen lassen musste: Er hatte eine als schwierig eingestufte Therapie überstanden und lebte.

»Ich erinnere mich, wie er davon sprach, dass er krank sei. Doch ich maß dem nicht viel bei.« Die Aussage, dass man krank sei, war eines der Hauptargumente, die einem Suizid in den meisten Fällen vorausging. Doch man konnte sich bei der Ermittlung nicht alleine darauf stützen.

»Was hat er noch gesagt?«, wollte Jill wissen.

Ich forschte in mir selbst, bis ich an der richtigen Stelle angelangt war: »Er sprach von einer Lösung, die zu meinen Füßen läge. Sobald die Gegenwart in die Zukunft übergehe, würde sie sich mir zeigen.«

»Ein Rätsel!?« Jills graue Zellen waren produktiv an diesem Morgen: »Möglich, dass er sich selbst meinte, so wie er auf den Gleisen und damit zu deinen Füßen lag. Viele Selbstmordkandidaten neigen dazu, simple Dinge hoch zu stilisieren. War da noch etwas?«

»Er wollte, dass ich in seinem Innersten, am Ort seines Selbst grabe. Dabei solle ich sein Sturm sein und sein Räuber werden ...«

Jills Augen wurden groß: »Was liegt in ihm?«

Plötzlich schob sich die Tür auf. Schwere Stiefel erschienen sogleich im Türrahmen. Der Beamte, der sich vor uns auftürmte, trug den passenden Helm zur Schutzkleidung. »Detective Leto.« Er fixierte mich durch den Sichtschutz. »Der Lieutenant erwartet Sie.«

Ich sah Jill an. In diesem Augenblick kam mir eine Idee. Ich flüsterte sie aus: »DNA.«

Jill biss sich auf die Unterlippe, wie sie es immer tat, wenn sie über etwas nachdachte.

DNA-Informations-Speicherung, kurz DIS, galt als einer der Trendsetter in Neu New York. Alles entwickelte sich vor einigen Jahren im Untergrund und kochte dann wie eine überlaufende Suppe über die Oberwelt. Die Exekutive war erst gegen diese Art der Speicherung von Daten, weil ihr zu viel Geheimniskrämerei gegen den Strich ging. Dabei wurde nur ein neues Medium erschlossen: Es wurden persönliche und nicht ganz so persönliche Informationen, vom Geburtsdatum, über den Namen der Geliebten, bis zum letzten Testament in den Genen eines Menschen gespeichert, um sie so für die Ewigkeit aufzubewahren.

Wenn mich meine Intuition nicht trog, steckten Daten in Sids Körper, die er vor dem Zugriff Dritter sicher verwahrt wissen wollte. Er führte mich auf diese Spur, weil er mir Antworten schuldig war; Antworten, die mir dabei halfen, seine Tochter aufzuspüren.

Hinter mit ertönte wieder die Stimme: »Detective.«

Ich hoffte, Jill hatte den Wink mit dem Zaunpfahl verstanden. Immerhin bot sie mir einen Augenaufschlag, der sich sehen lassen konnte.

Ich trat am Uniformierten vorbei nach draußen, ging, ohne mich noch einmal umzusehen zum Aufzug, und fuhr schweigend in die oberste Büroetage.

Barklis' Büro befand sich am Ende eines langen, breiten Ganges. Der Weg führte vorbei an Tischen, an denen Beamte saßen, die geschäftig taten oder wirklich beschäftig waren. Sie wagten nicht einmal einen kurzen Blick auf den, der da an ihnen vorbeilief. Es kam zu häufig vor, dass der Lieutenant jemanden aus einer anderen Abteilung in sein Büro beorderte, als das man dafür noch großartig Interesse aufbrachte.

Die Tür stand sperrangelweit offen.

»Herein«, ertönte es nur von drinnen. Ich ließ mich nicht zweimal bitten und trat an einer Nachbildung der Freiheitsstatue vorbei in die Kühle des Büros.

Der Lieutenant saß vornübergebeugt über seinem Schreibtisch: »Setzen Sie sich, Leto.«

Ich nahm den einzigen noch freien Stuhl. Kaum dass ich saß, fiel mir die veränderte Inneneinrichtung auf: »Ich sehe, Sie haben umgeräumt.«

»Ich fand es mal wieder angebracht. Dachte ein Tapetenwechsel kann nicht schaden so kurz vorm Jahreswechsel.« Sein akkurat gestutzter Bart und das glatt nach hinten gekämmte Haar stachen mir ins Auge. Sie waren das – so schien es mir – Einzige, das von der Neuausrichtung verschont geblieben war. Ich sah weder Bücher – die einmal zahlreich vorhanden waren – noch Bilder oder andere persönliche Habe. Wäre Barklis nicht ein Teil des Inventars gewesen, man hätte das Büro als unfertig oder kurz vor der Schließung abgestempelt, so viel Alltägliches fehlte; die Erhabenheit prallte auf das Funktionelle.

Ich erhaschte einen Blick auf den Computermonitor – der immerhin noch existierte -, auf dem Aufnahmen einer Globus-Dokumentation liefen. Elv bemerkte mein Interesse: »Costa Rica, Frankreich, Japan – wie sich die Welt doch gewandelt hat.«

Er tippte den Monitor mit dem Zeigefinger an: »2000 bis 2025.« Ein Tempel war zu sehen, vor dem sich Kinder im Kreis drehten. »Der Mensch gab seine Ausnahmestellung auf.«

»Oder er verlor sie«, erwiderte ich.

Die nächste Einstellung zeigte eine weiße Taube, die geradewegs hoch zur Spitze des Eiffelturms flog, bevor sie irgendwo zwischen den Streben verschwand. »Wir kamen gerade zur rechten Zeit.«

»Warum wollten Sie mich sprechen?«

Als hätte er diese Frage kommen sehen, rückte er die Schreibtischlampe an den Rand des Tischs und griff mit langen, haarigen Armen in eine der vielen Schubladen, die auf seiner Seite des Tisches verborgen lagen. Zutage kam nach einigem Geraschel der mir nur allzu vertraute kugelrunde auf einer transparenten Schale aufliegende Blutmesser. Ich kannte die gängige Praxis, die keiner Worte des Lieutenants bedurfte: Jeder Polizist – ob Streife oder Detective – musste anhand seines Blutbildes eine Identifikationskontrolle über sich ergehen lassen, sobald er beim Lieutenant vorstellig wurde. Damit sollte bewiesen werden, dass man echt und keine Kopie oder ein Doppelgänger war. Elv bestand auf dieses Prozedere. Es war seine ganz eigene Art mit der Furcht vor dem Unbekannten fertig zu werden.

Ich tat wie verlangt und drückte meinen Finger auf die Kugel, aus deren Mitte eine unscheinbare, da kaum zu erkennende, Nadel ragte. Ich spürte keinerlei Schmerz.

Nach wenigen Sekunden stand fest, dass ich der echte Sean Leto war. Ich sah Elv an, dass er es innerlich gehofft hatte.

»Ihr Fall von gestern hat hohe Wellen geschlagen.« Er packte den Blutmesser zurück in die Schublade.

»Auf das, was passiert ist, war ich nicht vorbereitet«, entgegnete ich.

»Kannten Sie ihn?«

»Er kannte mich.« Was ich ihm nicht sagte: Sid war erst nur ein Phantom für mich gewesen, doch dann hat auch dieses Phantom Gestalt angenommen und einen Namen bekommen.

»Hat er Forderungen gestellt? Oder irgendetwas sonst gewollt?«

»Er wollte meine Hilfe.«

»Wobei?« Elv beugte sich in seinem Chefsessel nach vorne.

Ich wollte mit offenen Karten spielen: »Der Mann hat eine Tochter. Er ist ...« Ich dachte kurz darüber nach und korrigierte mich dann: »Er war auf der Suche nach ihr.«

»Und ...?« Elv kratzte sich über den Bart. »Wissen Sie, wo sie steckt?«

»Nein.« Es war nicht gelogen, noch nicht.

Ich ließ die Stille im Raum wirken. Nur das Summen der Klimaanlage über unseren Köpfen war zu hören.

»Wie heißt die Kleine?«, wollte der Lieutenant plötzlich wissen.

Zoe, dachte ich für mich, sprach es aber nicht aus. Stattdessen preschte ich vor: »Ich würde dem gerne weiter nachgehen, wenn Sie nichts dagegen haben!?«

»Ich brauche einen Namen.« Elv wurde sichtlich nervös und tippte mit den Fingerspitzen gegen die Kante seines Schreibtisches, um dies zum Ausdruck zu bringen – gewollt oder ungewollt, war mir in dieser Situation reichlich egal.

Mir wiederstrebte es, ihm ihren Namen zu nennen, wollte ich Sid doch nicht in den Rücken fallen.

Ticktack machte die Uhr an meinem Handgelenk.

»Minnie«, log ich schließlich.

»Wie bei der Maus?«, wollte er wissen.

»Wie bei der Maus«, wiederholte ich.

Er ging kurz in sich. »Ich werde in der Datenbank nach ihr fahnden. Ist sie da draußen, werden wir sie finden.«

»Sie haben ihn nicht gefunden, wie wollen Sie da sie finden?« Ich erinnerte mich an den Einlieferungsbeleg von Sids Leichnam. Er war ohne Namen hinterlegt, was nur bedeuten konnte, dass er für das System wie für die Stadt ein Unbekannter war.

»Können Sie mir denn sagen, wer er ist?«

»Für so vertrauenswürdig hielt er mich nicht«, log ich erneut. Mit erschien es leicht, die Unwahrheit zu sagen. Ich überlegte, ob es das war, was Sid von mir wollte: Zum Räuber werden. Ein Räuber, der die Gunst der Stunde nutzte und schwindelte, wenn es zu seinem Vorteil gereichte? Wie weit steckte ich in diesem Treiben schon drinnen, ohne dass ich mich dagegen wehren konnte oder wollte?

Ich lenkte ihn auf ein anderes Thema: »Wie kommen Sie mit Ihrer Krankheit zurecht?«

Er atmete hörbar aus: »Wenn ich schwach bin, bin ich stark.«

»Der Leitspruch der Einheit?«

»Wohl eher der Bibel«, antwortete er.

Es sollte eigentlich wie eine rein hypothetische Frage klingen, doch Elv hatte mich durchschaut: »Auch ich habe meine Hausaufgaben gemacht, bevor Sie in mein Büro kamen. Ich weiß, dass unser Mann ebenfalls mit dem giftigem Sauerstoff zu kämpfen hatte.« Sein Grinsen strahlte triumphierend in den Raum. »Die Welt ist klein, doch hatte er sich vermutlich schon zu weit von ihr entfernt. Was mich angeht: Ich komme mit zehn Milligramm Trepsalin aus. Ab und zu spüre ich zwar noch ein Zwicken in meinen Eingeweiden, aber Schmerz und Angst sind wie weggeblasen. Und das ist, was zählt, meinen Sie nicht auch?«

Ich schwieg.

»Es tut mir leid für unseren Freund. Für ihn brauchte es eine Kugel, um die Schmerzen zu bekämpfen. Und wo seine Zukunft endete, wissen wir beide nur zu genau.«

»Eine Vermutung allein legt noch keine Rechenschaft ab«, erwiderte ich. »Zu viele Menschen sterben, wo andere nur teilnahmslos zuschauen. Wenn das unsere Zukunft ist, dann sollten Sie sich besser noch einige Bibelsprüche mehr zurechtlegen. Denn irgendwann werden Sie sie bestimmt gebrauchen können.«

Elvs Miene hatte sich nicht verändert. Er wippte auf dem Stuhl vor und zurück: »Als ich Sie in mein Büro habe kommen lassen, bin ich davon ausgegangen, dass dieser Fall bereits abgeschlossen ist. Aber etwas sagt mir, dass Sie keine Ruhe geben werden. Ich kenne Sie einfach schon zu lange, Leto.«

»13 Jahre«, warf ich ihm wie einen angenagten Knochen entgegen.

»Sie sind lange dabei. Länger als ich es selbst bin. Wissen am besten, wann Flut und wann Ebbe ist. Sie arbeiten nicht nach dem Credo: erst der Tod, dann das Vergnügen. Und das imponiert mir. Ich werde Ihnen alle Freiheiten geben, die Sie ja sowieso schon so entschieden einfordern. Halten Sie mich nur auf dem Laufenden. Geben Sie mir Bescheid, wenn Sie die Tochter dieses Mannes gefunden haben.« Er zog das Tochter in die Länge.

Ich stand von meinem Platz auf, wollte ich doch nicht länger in diesem Raum bleiben. Ich rückte meine Jacke zurecht und wollte gerade gehen, als er mich noch einmal zurückhielt: »Sean.« Es kam selten vor, dass er mich mit meinem Vornamen ansprach. »Nach all dem haben Sie sich eine Auszeit verdient.« Er sagte nach all dem, meinte aber, wenn das alles vorbei ist.

Ich konnte die Tür nicht schnell genug hinter mir schließen. Ich fühlte mich frei und doch nicht. Was auch immer ich von dem Gespräch mit Barklis erwartet hatte, ich war mir nicht sicher, was auf der Ergebnistafel am Ende wirklich stand. Ich hatte Zeit gewonnen, so viel stand fest, aber um welchen Preis?

Kaum war ich auf den Flur herausgetreten, als sich mein Pocket X mit einer Nachricht aus der Leichenhalle meldete. Doch ich vermisste den Text. Statt Buchstaben befand sich nur ein Bild im Anhang, welches auf dem kleinen Display kaum richtig zu erkennen war. Ich drehte das Mobile in die Horizontale. Was ich sah, erstaunte mich:


Es war ein Gemälde. In Grautönen gehalten, zeigte es eine idyllische Impression aus der Natur. Das Bild zeigte Flora und Fauna. Ein Dutzend Tiere, paarweise oder alleine, verteilte sich gleichmäßig im Vordergrund. Im Hintergrund zog ein Fluss dahin, hoch zu den Bergen, die sich schwach im Nebel abzeichneten. Dazu zählte ich drei Personen – zwei Erwachsene, Mann und Frau, und ein Kind. Sie trugen nichts außer einem Lendenschurz und die Frau, so viel konnte ich erkennen, nicht einmal den.

Das Bild kam mir bekannt vor. Ich war mir sicher, es schon einmal gesehen zu haben. In meinem Inneren öffnete ich Türen und schloss Truhen auf, nahm der Zeit Sekunde um Sekunde, bis ich gefunden hatte, wonach ich gesucht hatte.

Ich wusste nicht, ob ich das Gemälde noch immer dort finden würde. Was ich aber wusste, glich einer Erkenntnis, die das Feuer in mir neuerdings entfachte: Als ich das erste Mal dort war, war ich nicht allein: Sid war bei mir.

Dort, das war meine Natur.

Deus Blue

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