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Dass sich ausgerechnet dieses Bild in Sids DNA versteckte, konnte kein Zufall sein. Er wollte, dass ich es dort fand. Auch wenn es nur ein flüchtiger Gedanke war, so stellte sich die Annahme, dass etwas in seinen Genen verborgen lag, doch als goldrichtig heraus. Zweifel, dass ich einer falschen Fährte folgte, hatte ich nun keine mehr, wollte Sid doch, dass ich mich meiner Vergangenheit stellte; und wo gab es mehr von meiner Vergangenheit zu finden, als da draußen weit abseits im Herzen der Natur!?

Das Gemälde war wie ein Rätsel – unscheinbar für Fremde war es für Eingeweihte jedoch so vielsagend -, welches nur derjenige lösen konnte, der wusste, wo die Verbindung zwischen Träger und Empfänger bestand. Noch lag der Weg, wie die Lösung am Ende selbigem, im Dunkel verborgen. Es war meine Aufgabe, den Brotkrumen zu folgen, tief geduckt, sodass ich sie auch sah, mit allem ausgestattet, was mir in dieser so heiklen Stunde an Möglichkeiten und Hoffnungen zur Verfügung standen.

Ich saß in meinem Cloud, die Lichter der Stadt im Rückspiegel betrachtend. Unter mir nichts als Leere. Man konnte das Wasser unter dem Nebel erahnen; konnte, wenn man die Augen eines Falken besaß, das Meer wogen sehen. Doch weder wollte ich nur eine Ahnung haben, noch hatte ich die Augen eines Falken.

Ich folgte der Spur zu meinem alten Zuhause, dem ich so lange keinen Besuch mehr abgestattet hatte. Aber was hätte mich auch nach dort treiben sollen? Quentin und ich verließen die Natur kurz nach Räubers Tod. Räuber war auch der Grund gewesen, warum ich nur noch selten in den Wald fuhr. Bis jetzt war es mir unmöglich erschienen, sein Grab zu besuchen, vermied ich es doch so gut es ging, alte Wunden aufzureißen. Seit Langem schon besuchte ich die Bäume nur in meinen Träumen und rannte dabei durch das tiefe wie hohe Gras; seit Langem hing ich einer Freiheit nach, in der ich doch nicht wirklich frei sein konnte.

Ich wusste noch ganz genau, wo sich die Stelle befand. Die Natur hatte eine natürliche Lichtung erschaffen, die sich gut als Landeplatz gebrauchen ließ. Sie lag nur einen Steinwurf vom alten Haus entfährt.

Als ich auf das Gras trat, prasselten die Erinnerungen wie Wespen auf mich ein. Viele Male stachen sie mich und ließen mich in der Bewegung innehalten. Die Zeit meiner Jugend war auf einmal wieder so nah. Ich spürte und sah, was ich als verloren glaubte. Kein Traum mochte die Intensität ausstrahlen, die ich in diesem Moment verspürte. Es war wahrhaftig, um nur ein Wort zu gebrauchen: real.

Behutsam folgte ich dem Trampelpfad zum Haus hoch. Die Mauer um das Anwesen war teilweise in sich zusammengefallen, sodass ich einen ungehinderten Blick auf das Haupthaus werfen konnte. Es hatte sich stark verändert. Sträucher und Wurzeln wanden sich um die Fassade, verdeckten Stein und Glas. Der Teich war nicht da, wo er sein sollte und Blumen wuchsen hier seit einer Ewigkeit keine mehr. Die einzigen Geräusche kamen vom Wind, der mich sanft umschloss und vorwärtstrieb.

Auf der Türschwelle erwartete mich ein erstes Begrüßungsgeschenk: eine einzelne Rose. Sie war halb unter einem Stein eingeklemmt. Winzig und kaum größer als meine Hand strahlte sie dennoch immer noch dieselbe Farbe aus, die man früher im Garten zuhauf sah: ein sattes und kräftiges Rot. Ihre Blüten, vollzählig vorhanden, so schien es mir, verharrten erst regungslos, bis ich den Stein, der den Stängel belastete, versetzte und sie damit aus ihrer Gefangenschaft befreite. Kaum dass ich sie in der Hand hielt, brauste eine Böe durch den Garten und nahm sie mit sich. Ich drehte mich nach hinten um und sah ihr kurzzeitig nach, wie sie über den Boden sauste, die Steine auf ihrem Weg anstupsend und dann in Richtung Wildnis davontrieb, meinem Blick entfliehend.

Ich ließ sie ziehen und machte mich stattdessen an der Eingangstür zu schaffen, von der nicht mehr viel übrig war. Ich sah, dass es im Inneren des Hauses heller war, als ich angenommen hatte. Durch die Decke fiel genügend Licht, um den ganzen Raum zu erhellen.

Kaum war ich im Inneren, lauschte ich auch schon auf alle möglichen Geräusche. Ich hörte Hundegebell aus der Ferne, wusste aber, dass es nur meine Erinnerung war, die mir einen Streich spielte. Das Gebell war nicht wirklich, jedoch wusste ich nicht, was Quentin mit Räubers Leichnam gemacht hatte. Als mein Freund starb, rannte ich so weit weg, wie ich nur konnte, zu tief saßen die Trauer und der Schmerz. Die Trauer ließ nur langsam nach – erst nach einer Woche kehrte ich ins Haus zurück -, während der Schmerz noch immer anhielt. Es war eine plötzlicher Impuls, der mich zurückkehren ließ. Und gerade noch rechtzeitig: Die Exekutive war bereits dort. Sie drangen in das Haus ein und stellten alles auf den Kopf, was nicht niet- und nagelfest war. Wäre Quentin nicht wie aus dem Nichts aus dem Schatten aufgetaucht und hätte mich zurückgehalten, ich hätte unseren Besitz verteidigt oder es zumindest versucht.

Nun war es dafür zu spät.

Ich erwartete ein Chaos, fand das Haus stattdessen jedoch in einem annehmbaren Zustand wieder. Hätte es die zerbrochenen Fensterscheiben und die sich ins innere ausbreitenden Schlingpflanzen nicht gegeben, ich hätte die Szenerie als ein Abziehbild meiner Jugend verstanden. Die wenigen Möbel, die noch vorhanden waren, befanden sich an den ihnen zugedachten Plätzen, und säuberlich ausgebreitete Decken verbargen das, was auf den Tischen lag und sich jetzt gegen den Stoff abzeichnete.

Ich ging in den hinteren Bereich, wo ich das Gemälde vermutete – und sollte nicht enttäuscht werden. Es hing immer noch an der Wand, einwandfrei im Rahmen liegend, als hätte es sich keinen Zentimeter bewegt. Die Leinwand hatte zwar etwas an Spannkraft verloren, war aber immer noch im soliden Zustand. Ich verlor keine Zeit und ging auf Tuchfühlung. Das Gemälde jetzt im Original zu sehen und nicht bloß als Kopie auf einem kleinen Bildschirm, machte den Unterschied zwischen Sehen und Erleben aus.

Die Menschen sprangen mir als Erstes entgegen. Doch ich zählte diesmal vier anstatt drei. Ein weiteres Kind kauerte hinter dem ersten. Auf dem Pocket X war es mir entgangen, hier in seiner vollen Größe trat es, wenn auch nur zögerlich, aus der Leinwand heraus, auch wenn der Maler bei der Ausarbeitung des kleinen Körpers sichtlich weniger Pinselstriche aufgewendet hatte. Ich untersuchte das Gemälde in seiner Gesamtheit, unterstützt von meinen Händen, mit denen ich sanft über die Tusche strich.

So lange ich mir auch Zeit ließ, ich fand keinen Hinweis, der mich Zoe näherbrachte. Ich stieß weder auf ein verstecktes Muster noch auf ein hinterlassenes Zeichen.

Ich nahm das Bild vom Haken und sah mir die Rückseite an. Der Keilrahmen war unversehrt. Ich hielt das Bild gegen das von oben kommende Licht. Schwach glaubte ich eine Inschrift zu erkennen, die in verschnörkelten Lettern am Rand angebracht war:

Dea Excitare Unicus Sopor

Es war Latein. Dea hieß Göttin, so viel wusste ich. Aber die anderen Wörter waren mir unbekannt. Quentin hatte ständig aus dem Lateinischen zitiert, aber es mir nie beigebracht. Dass er die Sprache beherrschte, wusste ich, aber dass er auch ein Künstler war, sah ich erst jetzt: Unter den Wörtern stand sein Name. Das Gemälde musste aus seiner Feder stammen, doch nie hatte ich ihn beim Malen beobachtet, noch hatte er mir je davon erzählt gehabt. Noch so eines seiner kleinen Geheimnisse. Ich nahm mir vor, ihn bei nächster Gelegenheit darauf anzusprechen.

Dea Excitare Unicus Sopor – was bedeutete dieser Satz? War es überhaupt ein Satz? Einer, der mir den Weg ebnete? Ein Satz, wie ihn die großen Schriftsteller in ihren Werken verwendeten?

Schriftsteller? Bücher? Ein Buch.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf das Bücherregal, welches direkt neben dem Gemälde an der Wand stand. Unzählige Exemplare gierten darin um die Aufmerksamkeit eines Lesers. Auf einigen Buchrücken standen die Titel, während andere unbeschriftet waren. Eine dicke Schicht Staub lag auf dem Großteil von ihnen. Dass überhaupt so viele Bücher im Regal standen, war Quentins Leidenschaft für das Lesen geschuldet. In einer Zeit, wo Geschichten nur noch selten auf Papier gedruckt wurden, brachte er es nicht übers Herz, sich von seinen Schätzen, wie er sie immer nannte, zu trennen. Große Literatur gehörte für ihn zwischen zwei Buchdeckel, bei kleiner machte er – vor allen neuerdings – aber auch häufiger eine Ausnahme. Mit seinem Verhalten schwamm er gegen den Strom an: Wenige machten sich noch viel aus richtigen Büchern und den Geschichten, die sie erzählten oder den Themen, die sie ansprachen.

Als Quentin mich bei sich aufnahm, waren auch mir die Bücher unheimlich – weil ich nichts mit ihnen anzufangen wusste. Er musste mir erst erklären, was es mit ihnen auf sich hatte. Erst danach verlor ich meine Furcht vor ihnen. Dann ging alles sehr schnell: Wenn ich nicht gerade einem von Quentins wissenschaftlichen Experimenten beiwohnte, mit Räuber spielte oder die Wälder unsicher machte, las ich eines der Bücher über riesige Raumschiffe im Weltraum und Märchen aus 1001 Nacht, die zuhauf die Regalmeter füllten. Bald schon hatte ich einen Großteil der Romane verschlungen.

Eine Frage wurde ich nach unserer Flucht in die Großstadt lange Zeit nicht los: Warum hatte Quentin die Bücher nicht mit sich genommen oder, wenn er es nicht konnte, warum hatte er sie später nicht nachgeholt? Ich hatte ihn einmal danach gefragt, aber er hatte nur geantwortet: »Wir haben Zeit, Sean. So viel Zeit.«

Zurück in der Gegenwart überflog ich einige der Bücher – Belletristik und wissenschaftliche Literatur hielten sich die Waage – und nahm eines mit dem Titel Das lateinische Kind und die geklonte Sprache aus dem Regal, weil es als Einziges eine Assoziation zum Lateinischen erlaubte. Ich hatte es nie gelesen und würde dazu wohl auch jetzt nicht kommen.

Ich schlug das Inhaltsverzeichnis auf und suchte nach einem der vier Wörter, fand aber keines. Überhaupt hatte ich nicht das Gefühl, als würde die lateinische Sprache überhaupt eine Rolle spielen. Eines der Kapitel trug den Namen Schöne neue Nachkommenschaft und bezog sich auf die Methoden des Klonens in unser Gesellschaft.

Dea? Fehlanzeige.

Excitare, Unicus, Sopor? Nichts.

Ich wollte schon konsterniert aufgeben, als mir das Glück entgegenschien: Auf der letzten Seite sprang mir ein einzelner Satz ins Auge, den ich kaum für wichtig erachtet hätte, wäre er nicht unterstrichen gewesen:

Die Göttin erwacht,

einzigartig,

aus dem tiefen Schlaf.

Da steckte sie also, die gesuchte Göttin. Wenn mich nicht alles trog, waren dort auch die anderen Wörter, übersetzt als erwacht, einzigartig und tiefen Schlaf. War dies die Lösung? Wenn ja, für was? Mir war nicht, als wäre ich schlauer geworden. Eine tote Sprache alleine brachte keinen Heiligenschein, so viel stand fest. Irgendetwas fehlte noch, aber ich wusste nicht was.

Ich schob das Buch zurück ins Regal. Dabei war mir, als hörte ich ein Klagen.

Was hatte ich übersehen?

Ich rief mir noch einmal Sids Worte ins Gedächtnis: »Nutze die Kunst und finde den Schutz, den ich dir gab. Ich bürdete dir eine Last auf und werde sie dir wieder aufbürden. Diese Last treibt dich weiter zu dem, der du bist.«

Ich hatte die Kunst gefunden, was fehlte, war der Schutz; den Schutz, den Sid mir einmal gegeben hatte und der somit direkt mit ihm in Verbindung stehen musste. Mir fiel ein, dass Sid seine Tochter auch als sein Schutzschild bezeichnet hatte. Spielte dies eine Rolle? War Zoe vielleicht sogar bereits mein Schutzschild?

Ich blickte mich links wie rechts um und schlenderte dann durch das Haus mit seinen überschaubaren Zimmern.

Ich ging ins Schlafzimmer. Kaum, dass ich auf der Schwelle stand, blieb ich auch schon abrupt stehen.

Ich hatte zu kompliziert gedacht: An der Wand hing etwas so Banales, dass es mir nicht einmal im Traum eingefallen wäre. Etwas, das Sid mir gab; etwas, das zu groß geraten auf meinen Schultern lag; etwas, das mich in die Natur begleitete, mich wärmte und Schutz bot: Sids Mantel. Ich sah, dass er nur mit einer dünnen Staubschicht bedeckt war, was bedeutete, dass jemand ihn vor Kurzem bewegt haben musste. Ich fuhr über das raue Leder und genoss das Kribbeln unter meinen Fingern. Ich durchsuchte die Taschen, die jedoch leer waren. Doch ich gab die Hoffnung nicht auf, dass sich hier noch etwas befand. Immerhin hatte der Mantel auch noch Innentaschen. Ich prüfte links: leer; dann rechts: bingo. Ich packte das Etwas, zog die Hand aus der Tasche und besah mir den Gegenstand genauer. Zu meiner Überraschung war es eine DNA-Disc. Sie wog nur ein paar Gramm und bedeckte gerade mal meine Handinnenfläche. Die runde, matt glänzende Scheibe steckte zur Hälfte in einer billigen Plastikummantelung, auf der eine Doppelhelix eingraviert war. Normalerweise enthielten die Scheiben den Namen des Eigentümers samt Identifikationsnummer oder Datum der Speicherung der zu sichernden Informationen in der DNA. Diese Scheibe war jedoch unbeschriftet. Immerhin schimmerte der Rand der Scheibe leicht bläulich, was auf eine aktive Beanspruchung hinwies. Sid musste Daten in seiner DNA gehabt haben, die er für so wichtig hielt, dass er sie nicht in seinem Körper lassen konnte. Da kam ihm die Disc gerade recht.

Ich wusste nicht, was mich erwartete, hoffte jedoch, dass es nicht bloß wieder ein Gemälde war. Ging ich davon aus, dass Sids Worte in der korrekten Reihenfolge standen – was sie bisher auch taten -, so kam jetzt der Teil, in dem ich zu dem werden sollte, der ich bin. Dies würde mich sehen lassen, was Zoe sah.

Ich stopfte die Disc in meine Hosentasche, von der ich annahm, sie wäre leer gewesen, als ich auf Metall stieß. Es war die Dienstmarke, die mir Sid am Depot zugeworfen hatte. Ich hatte sie in dem Trubel ganz vergessen. Einen Moment überlegte ich, ob ich sie in Sids alten Mantel stecken sollte, entschied mich aber dagegen. Sie war ein Andenken, ob vom ehemaligen Besitzer geliebt oder nicht, und als ein solches wollte ich sie auch behandeln. Mir war sofort klar, wem ich sie geben würde, sobald ich die Person gefunden hatte. Vorsorglich verstaute ich die Marke in meiner eigenen Jackentasche.

Die Disc konnte ich nicht an Ort und Stelle auslesen. Ich musste dafür nach Hause, in mein jetziges Zuhause, zurück in die Gegenwart, was bedeutete, einen Teil meiner Vergangenheit fürs Erste hinter mir lassen.

Wehmütig sah ich mich noch einmal um. Eine gebieterische Stille lag über dem Haus. Davor wurde es nicht besser.

Deus Blue

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