Читать книгу Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser - Mario Krüger - Страница 3

Pedro

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Trödler, Teppichhändler, Friseure, Garküchen, eine Apotheke, ein Optiker und andere Geschäfte befanden sich in der Columbia Road. Aus einem Geschäft roch es nach Kräutern, aus einem anderen nach frischem Brot. Ich lief einfach der Nase nach, bog in die Gosset Street ein und hatte endlich, trotz einsetzenden Nieselregens, den muffigen Geruch von Meerschweinchen in der Nase. Vorsichtig öffnete ich die Tür, damit die Ladenglocke nicht bimmelte, denn Hawkins zu erschrecken, machte einfach zu viel Spaß. Das Geschäft war dunkel und kundenleer, so wie üblich. Leise hörte ich Hawkins schnarchen und das unverständliche Geplapper einiger Kanarienvögel, alles lief nach Plan. Vor einem Aquarium blieb ich stehen. Ich könnte den ganzen Tag mit dem Beobachten von Fischen zubringen, hätte ich überhaupt kein Problem mit. Die Sauerstoffanlage blubberte, ein Wels lutschte das Glas seines Gefängnisses sauber und sorgte so für Licht und dafür, dass ich ihn besser beobachten konnte. Ich klopfte gegen die Scheibe. Nichts. Keine Reaktion. Er tat seinen Job, so als wenn nichts geschehen wäre. Sollte ich mich ein wenig mit ihm unterhalten?

Ich zog einen Holzschemel heran, stieg hinauf, griff nach dem Kescher, der gleich neben der Dose mit dem Trockenfutter lag, und tauchte ein: „Komm kleiner Wels, komm in mein Netz.“ Er umschwamm Korallen, versteckte sich hinter Wasserpflanzen, beschrieb eine Acht und entkam.

Unerwartet drehte ich mich um. Meine Augen wanderten über Regale mit Katzenstreu, Hundefutter, Glaskästen für Spinnen und Schlangen, über die Käfige der Kanarienvögel und Meerschweinchen. Nichts, niemand war zu sehen oder zu riechen. Hawkins schnarchte nach wie vor, es schien nichts passiert zu sein. Vielleicht war auch nur ein Hund am Geschäft vorbeigelaufen und meine Instinkte reagierten mal wieder über? Im Büro bekam ich einmal die totale Panik, weil Lili, eine Arbeitskollegin, ihre Katze mit zur Arbeit gebracht hatte. Zuerst, noch bevor ich ihn gerochen hatte oder ich überhaupt einen Gedanken fassen konnte, richteten sich meine Nackenhaare auf und ohne dass ich auch nur den geringsten Einfluss nehmen konnte, spannten sich meine Muskeln an.

Wäre zu diesem Zeitpunkt Mister Salomon mit einem Stapel Veränderungsmitteilungen vorbeigekommen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, hätte ich ihm das Lineal über den Schädel ziehen können – ohne auch nur mit der Wimper zu zucken!

Dann hatte ich den säuerlichen Geruch einer Katze in der Nase und ging von einem Löwen, Tiger oder Panther aus. Panther sind besonders gefährlich, weil sie gut klettern können. Der Geruch wurde stärker. Lili hatte noch nicht das Büro betreten, da sprang ich auf einen Aktenschrank und schrie aus Leibeskräften. Nicht aus Angst, sondern um meine Artgenossen zu warnen, so wie es bei uns üblich ist.

Erst als ich sah, wie Lili ihren Katzenkorb abstellte und es sich um einen ganz normalen Stubentiger handelte, beruhigte ich mich und stieg vom Schrank herunter. Das Katzenvieh tat ganz unschuldig und strich um ihre Beine herum, dabei hab’ ich genau gesehen, wie es fies in sich hinein gegrinst hat. Ob ich einen Arzt bräuchte, eine Pause, einen Tee? Die halbe Belegschaft stand um meinen Arbeitsplatz herum und wollte mir etwas Gutes tun. Nein, nein, nein, es geht mir schon wieder besser, erklärte ich. Ich hätte einfach nur meine Beruhigungspillen vergessen. Manchmal bekomme ich eben Panikattacken, die aber nach ein paar Minuten vorüber sind. Mister Salomon, der Bürovorsteher, schickte mich nach Hause, was ich nach dem Schrecken fair fand. Ich bin dann gleich in die nächste Apotheke, um Rizinusöl zu kaufen. Ich wolle mir ein bisschen Arbeit mit nach Hause nehmen, sagte ich zur Begründung, warum ich noch einmal zurückgekommen war, kramte ein paar Papiere zusammen und träufelte dem Katzenvieh das Rizinusöl in den mitgebrachten Fressnapf. Lili erzählte mir am nächsten Tag, dass er, ein Kater, von seinem Klo nicht mehr heruntergekommen war. Tja, Rache ist süß.

Ich stieg vom Schemel, ging einen Schritt am Becken entlang und entdeckte ihn hinter einer Kokosnussschale. Ich krempelte mir meinen Ärmel hoch, stieg zurück und streckte meinen Arm zuerst nur bis zum Ellenbogen, dann bis zur Schulter ins Wasser und trieb ihn in eine Ecke. „Warte nur, kleiner Wels, du entkommst mir nicht“, sprach ich vor mich hin und wirbelte einiges an Ablagerungen auf. Ich zog den Kescher aus der dunkelbraunen Brühe und entleerte ihn in meine Hand. Er schnappte nach Luft, sagte aber keinen Ton. „Ist da jemand?“ hörte ich eine verschlafene Stimme. Das war Hawkins. Schnell tauchte ich mein Taschentuch in das Aquarium, wickelte meinen kleinen Freund darin ein, und steckte ihn in meine Manteltasche. Das Wasser roch sehr unangenehm, gleich morgen würde ich den Mantel in die Reinigung geben müssen. Ich stieg vom Schemel, duckte mich ab, krempelte meinen Ärmel herunter und hielt vorsichtig nach Hawkins Ausschau. Nichts zu sehen! Gut, so konnte ich die Inspektion noch ein bisschen fortsetzen. Unmittelbar neben dem Aquarium stand ein Käfig mit Kanarienvögeln. Da sie meine Aufmerksamkeit bemerkten, begannen sie eine Diskussion, wie lange sich ein jeder im Spiegel betrachten dürfe. Ein gelber argumentierte, dass immer wenn er Lust dazu habe, es ihm möglich gemacht werden müsse, sich zu betrachten. Während ein anderer dafür eintrat, eine gewisse Reihenfolge einzuhalten. Ich wendete mich einer Vitrine mit aufgespießten Käfern zu, worauf sie sich bei Hawkins über meine Ignoranz beschwerten. Aber daran sieht man doch, dachte ich, dass Kanarienvögel ziemlich dumm sind, denn anscheinend hatten sie noch immer nicht kapiert, dass Menschen die Sprache der Vögel nicht verstehen.

Arme Käfer, überlegte ich, nachdem mein Blick weiter gewandert war, für eine zweifelhafte Wissenschaft wurden sie aufgespießt. Wenn ich nicht aufpasste, würde es mir genauso ergehen, präpariert würde ich ein schönes Ausstellungsstück abgeben. Der erste Affe, der eine Nummer eins in den Charts hatte, könnten die Besucher im British Museum über mich lesen und bitte nicht berühren.

Bis vor ein paar Wochen hatte ich eine Nummer eins in der Hitparade. Aber der Erfolg reichte mir nicht. Ich wollte das Weltbild des Menschen vom Kopf auf die Füße stellen. Ich, ein Schimpanse, breite Schnauze, fliehende Stirn, krumme Beine, dort der Mensch, der Gipfel der Schöpfung: Ich denke, also bin ich. Die Menschen gestanden uns zwar zu, dass wir einfachste Werkzeuge herstellen konnten, sowie Charme und Liebenswürdigkeit besäßen, aber wie sagte schon der griechische Philosoph Aristoteles? „Das Vernunftvermögen unterscheidet den Menschen vom Tier.“ Ach so, und was ist mit der Erderwärmung, dem Abholzen von Regenwäldern und dem Zweiten Weltkrieg? Und wem das zu allgemein ist, den frage ich nach menschlichen Tobsuchtsanfällen und illegalen Autorennen - und was ist mit denjenigen, die, bis sie 55 Jahre alt sind, täglich zwölf Stunden arbeiten und dann an einem Herzinfarkt sterben? Sieht so die menschliche Vernunft aus?

Ich gründete die Produktionsfirma „Subjekt“ und spielte in einer Dokusoap einen Krankenkassenangestellten, der wie ein ganz normaler Mensch seine Arbeit erledigt. Ich spielte einen Sachbearbeiter, der jeden Tag zur Arbeit geht, um 17 Uhr Feierabend macht, um 20 Uhr vor dem Fernseher sitzt und am Wochenende aufs Land fährt. Nur das ich ein Schimpanse war und das auch ganz selbstverständlich zeigte.

Die Öffentlichkeit war gespalten. Die einen hielten das Ganze für einen Schwindel. Zum Beispiel schrieb „The Times“: „Gewissenlose Fernsehmacher missbrauchen Tiere für die Einschaltquote“ und forderte, mich ins Heim zu sperren.

Die Tierschützer protestierten: „Es dürfen keine neuen Bedürfnisse geweckt werden, die nicht in der Natur des Tieres liegen. Affen dürfen nicht zu Konsumenten herangezüchtet werden, nur weil gerade Absatzflaute herrscht.“

„Ja, warum denn nicht?“ frage ich Sie. Warum sollen schmackhafte Delikatessen, elegante Kleidung, und modische Accessoires allein dem Menschen vorbehalten bleiben? Cartiér und Lagerfeld auch für mich. Wenn ich etwas sehe, das mir gefällt, dann möchte ich es auch kaufen können.

Dann gab es die anderen, die sehr wohl erkannten, dass ich die Arbeit eines Menschen genauso gut erledigen konnte, wie diese. Nur mit dem Unterschied, dass diese Menschen gar keine Lust hatten, dies auch zu akzeptieren. „Was wird aus der menschlichen Art“, schrieb „The Sun“, „wenn uns neuerdings Affen die Jobs wegnehmen? Vielleicht haben wir demnächst ein Schaf als Premierminister?“

Kurz darauf steckte ich in einem Supermarkt ein Eis in die Manteltasche, zwar wollte ich es an der Kasse aufs Band legen und ehrlich bezahlen, doch ein Wachmann zog seinen Revolver. Meine Instinkte übernahmen zum Glück das Kommando und während ich von Regal zu Regal davonsprang, schoss er eine Kugel auf mich ab. Mein Anwalt sagte: „Den krieg ich über das Tierschutzgesetz ran, aber mehr als eine Geldstrafe wird wohl nicht dabei rauskommen.“ Das war glatter Mordversuch und der Typ würde bestenfalls mit einer lächerlichen Geldbuße davonkommen!

Am nächsten Morgen klingelte es an meiner Tür. Verschlafen schaute ich durch den Spion. Ich sah meinen Vermieter, einen Polizisten und einen Mann um die dreißig, der einen gelben Sakko, ein rotes Hemd und eine blaue Krawatte trug. Irgendwie erinnerte er mich an einen Kanarienvogel. Ich wollte schon öffnen, schaute aber zum Glück noch einmal durch den Spion und sah, wie der Mann ein Netz ausbreitete, zu mir schaute und seine Pupille plötzlich so groß war, wie das Gelbe in einem Spiegelei.

Es klopfte.

Sollten sie sich doch die Knöchel blau klopfen. Ich drehte mich um, verlagerte mein Gewicht und löste Dielenknarren aus.

„Sind Sie zu Hause?“ hörte ich meinen Vermieter fragen.

Auf Zehenspitzen schlich ich zurück. Auf keinen Fall würde ich die Tür öffnen! Ich legte mich ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf.

Meistens schlief ich auf meinem Katzenkletterbaum, den ich mir ganz billig vom Flohmarkt besorgt hatte, ging aber dieses Mal wie ein Mensch zu Bett. Unter der Bettdecke hörte ich es klingeln und klopfen, ich hielt mir einfach die Ohren zu, schließlich war es noch früh und ich brauchte meinen Schlaf. Ich drehte mich auf den Bauch, als ich ein schrilles, ohrenbetäubendes Geräusch hörte. Mit drei Sprüngen war ich im Korridor, als auch schon die Tür aufsprang und mich die Hereinstürmenden, ohne es zu ahnen, an die Wand drückten. Vorsichtig versuchte ich herauszubekommen, was geschehen war. Ich schob meinen Kopf zur Seite und sah hinter der Tür hervor. Der Korridor war frei, wahrscheinlich suchten sie in Bad oder Küche nach mir. Mit einem Satz war ich wieder in meinem Schlafzimmer, zog mir in Windeseile etwas über und sprang vom Balkon. Das war kein Problem, da der rettende Ast nur ungefähr zwei Meter entfernt war. Im Busch hatte ich mit Hilfe von Schlingpflanzen weit größere Entfernungen zurückgelegt.

Ich kletterte ein paar Äste weiter nach unten und öffnete eine Baumhöhle, die ich eines Nachts, als ich nicht schlafen konnte, entdeckt und in der ich mein Erspartes versteckt hatte.

Niemals würde ich mein Geld einer Bank anvertrauen! Ich bin doch nicht verrückt! Ich holte das Bündel heraus, vorsichtshalber hatte ich es in eine Plastiktüte gesteckt, als der Kanarienvogelmann auf den Balkon trat: „Ich weiß, dass du da bist.“ Mein Vermieter kam dazu und schaute sich ebenfalls um. „Wir können doch über alles reden. Es wird sich schon eine Lösung finden. Du kannst uns vertrauen!“ versuchten sie mir einzureden.

Der Polizist betrat den Balkon, zog sein Mobiltelefon und sprach hinein.

Ich berechnete die Flugbahn zum Nachbarbaum und von dort weiter zum Nächsten. Die Berechnung war das eine, aber ich war nicht mehr so fit, zu leben wie ein Mensch hatte meine Muskeln schlaff werden lassen. In Zukunft würde ich jeden Tag trainieren: Klettern, Turnen, Akrobatik und einhundert Liegestütze nahm ich mir vor. Gleich nach dem Aufstehen. Vorsichtig hüpfte ich auf meinem Ast auf und ab. Ich musste es versuchen. Masse mal Geschwindigkeit ist die Grundformel für die Berechnung des Schwunges. Der Nachbarbaum ist ein Kirschbaum und sehr biegsam. Er wird meinen Schwung aufnehmen und wenn ich die Energie geschickt nutze, könnte ich zum nächsten Baum fortschwingen, redete ich mir ein.

„Dort sitzt er!“ rief der Kanarienvogelmann und zeigte mit dem Finger auf mich.

Ich sprang einfach los, ohne weiter nachzudenken. Der gegenüberliegende Ast federte mich, genauso wie ich es berechnet hatte, weiter zum nächsten Baum. Ich genoss den Flug. In einem Nest saß ein Fink und schaute mich irritiert an. Statt den Flug zu genießen, hätte ich mich lieber auf die Landung konzentrieren sollen. Ich griff daneben, fiel in die Tiefe und schrammte mir den linken Arm. Ich fiel weiter, bekam mit den Füßen einen Ast zu fassen, schlug mit dem Hinterkopf gegen den Stamm und hing kopfüber über dem Gehweg. Eine Frau sagte: „Träum ich oder wach ich, King Kong ist wieder da!“

Sie irrte, denn King Kong ist ein Gorilla.

Bei dieser Aktion muss ich übrigens mein Smartphone verloren haben. Ich war immer ein Freund der sozialen Medien, Gesichtsbuch, etc., denn warum soll es ihnen anders ergehen als uns? Jeder ihrer Schritte, jedes Verhalten kann und wird pausenlos überwacht! Durch die modernen Medien werden die Menschen zu Kanarienvögeln. Twitter habe ich nie wieder benutzt.

Da kam auch schon der Kanarienvogelmann aus dem Aufgang gelaufen. Über seinem Kopf wirbelte er etwas, wie ein Lasso. Das war das Netz, das ich durch den Spion gesehen hatte. Wenn er es schaffen sollte, es mir überzuwerfen, war ich verloren. Ich ließ mich in den Handstand fallen, kam auf die Beine und lief im Hüpferschritt davon – im Hüpferschritt kommt kein Mensch mit.

Ich hob eine Feder vom Fußboden auf, um Hawkins, der noch immer schlafend in seinem Sessel saß, ein bisschen damit zu kitzeln. „Fass meine Feder nicht an!“ schilpte ein Kanarienvogel. Ich reagierte nicht darauf, war mir einfach zu blöd, als plötzlich die Glocke bimmelte und ein circa 1, 55 Meter großer Mann den Laden betrat, seinen Regenschirm entspannte und in die Ablage stellte. Er trug einen grünlichen Tweedsakko und einen schwarzen Filzhut. Freundlich grüßte er mit einer tiefen, melodischen Stimme. Da ich in dem halbdunklen, schummrigen Licht seine Gesichtsfarbe nicht erkennen konnte, ging ich davon aus, dass es sich um einen Farbigen handeln müsse. Wahrscheinlich ein Geschäftsmann aus dem hiesigen Viertel. „Hawkins“, dachte ich und schaute mich nach ihm um, der, aber ich hatte ihn doch gerade noch gesehen, nicht mehr in seinem Sessel saß. Der farbige Fremde trat zu den Kanarienvögeln, klopfte gegen den Käfig und versuchte ihre Stimmen zu imitieren. Komischer Kauz.

„Was kann ich für Sie tun?“ fragte Hawkins und stand direkt neben mir.

„Haben Sie mir einen Schrecken eingejagt!“

„Tut mir leid, Sir“, sagte er und klopfte mir freundlich auf die Schulter. „So ein Schrecken soll ja die kostbare Lebenszeit um ein Jahr verkürzen.“

Sehr witzig, dachte ich und sagte: „Ein „Pfund Bambus, bitteschön. Wie üblich.“

„All zuviel kann ich Ihnen diesmal nicht mitgeben. Schauen Sie nur, dort hinten habe ich ein ausgesprochen schönes Exemplar.“ Ich schaute in die von ihm angedeutete Richtung und hörte leises Schmatzen. Zwischen mit Plastikfolie umwickelten Paletten, Kisten und Kartons sah ich einen Käfig stehen. In der fensterlosen Nische war es noch dunkler, als im übrigen Raum. Langsam bewegte ich mich auf den Käfig zu. Das Schmatzen verstummte vollends.

Ich griff in meine Manteltasche um nach einer Streichholzschachtel zu suchen, fand sie schließlich unter dem nassen Taschentuch, entnahm ihr ein Zündholz und fuhr damit über die Reibefläche. Fehlanzeige, die Schachtel war feucht! Nach einigen, vergeblichen Versuchen ähnelte sie einem aufgeweichten, vielleicht sogar, pilzkranken Daumennagel. Keine Ahnung, wie ich auf diesen Vergleich gekommen bin. Verflixter Wels, hätte ich dich bloß nicht aus dem Aquarium gefischt! dache ich.

„Probieren Sie es damit!“ Hawkins reichte mir eine neue Schachtel.

„Danke.“

Ich entzündete ein Streichholz und trat im flackernden Licht an den Käfig heran. Sämtliche Haare sträubten sich mir, denn ich sah ein Schimpansenmädchen.

„Gestern Abend ist er erst geliefert worden. Ganz frische, erstklassige Ware.“

„Er ist eine sie.“

„Also gut, eine sie, wenn Sie sich so gut damit auskennen. Jedenfalls frisst er mir den ganzen Bambus weg.“

„Er ist eine sie.“

„Meinetwegen eine sie. Für nur zweitausend Pfund können Sie den gleich mitnehmen. Der ist bestimmt das Dreifache wert.“

„Er ist aber immer noch eine sie.“

„Schon gut, schon gut. Ich bin ja auch für Gleichberechtigung unter Tieren“, lenkte Hawkins ein und kicherte.

„Was gibt’s denn da zu kichern?“

„Nichts. Das sollte doch nur ein Scherz sein.“

„Ich biete Ihnen fünfhundert Pfund“, versuchte ich zu handeln, denn für zweitausend Pfund musste ich einen ganzen Monat im Büro absitzen.

„Ich gebe Ihnen noch ein Halsband dazu. Wir haben sehr schöne rote, aber mehr ist beim besten Willen nicht drin.“

Ich erntete einen vernichtenden Blick. Dieser Blick gefiel mir. In ihm lag etwas Trotziges, ein Hinweis vielleicht dafür, dass sie noch nicht gebrochen war. Wenn ein Schimpanse zu lange in Gefangenschaft lebt, verliert er jeden Lebensmut und starrt nur noch apathisch vor sich hin.

„Machen Sie ruhig ihre Bekanntschaft. Sie werden ihrem Charme nicht widerstehen können.“ Hawkins schaute mich lächelnd an.

Ich reagierte nicht auf seine Provokation.

„Sie wissen, wo ich zu finden bin“, sagte er und ging kichernd davon.

Ich entzündete ein weiteres Streichholz, mein Puls klopfte heftig und fragte sie nach ihrem Namen. Sie schaute mich nicht einmal an.

Noch bevor ich mir die Finger verbrennen konnte, pustete ich das Flämmchen aus. Für zweitausend Pfund konnte ich mir eine Freundin kaufen. Zweitausend Pfund war in meiner Situation nicht wenig, aber wenn ich bedachte, wie viel Geld ich schon dafür ausgegeben hatte, um Menschenfrauen kennen zu lernen, war es auch nicht viel.

„Hallo“, schlug ich einen freundlichen Ton an, „ich bin der Pedro“. Sie schaute demonstrativ weg. Ich klopfte gegen das Gitter. Keine Reaktion, sie ignorierte mich. War sie denn nicht auch eine Gefahr für mich? Würde ich mit ihr nicht Aufsehen erregen? Mit ihr würden mich die Menschen erkennen, mich einfangen und in ein Heim sperren oder, was noch schlimmer war - in ein Labor. Verkabelt, und auf einer Pritsche festgeschnallt würden sie mit immer neuen Experimenten versuchen zu beweisen, dass ich doch nur ein primitiver Affe war – darauf lief doch alles hinaus!

Neben mir flammte ein Feuerzeug auf. Der andere Kunde stand direkt neben mir. Er stellte die Flamme größer und hielt sie dicht an mein Gesicht. Unwillkürlich trat ich einen Schritt zurück und konnte meine angesengten Haare riechen. „Was soll denn das?“ frage ich und pustete die Flamme aus. Er hatte eine braune, fast schwarze Hautfarbe, ganz so, wie ich es vermutet hatte.

Er ließ von mir ab und fragte sie auf Kru nach ihrem Namen. „Sue“, antwortete sie. Warum war ich nicht auf die Idee gekommen, sie in der Sprache meiner westafrikanischen Heimat anzusprechen? Erneut ließ er sein Feuerzeug aufflammen.

Ihr lebendiger Blick eilte durch den spärlich beleuchteten Raum. „Du hast aber einen schönen Namen“, schmeichelte er ihr.

„Danke“, antwortete sie.

Sie nenne sich Sue, nach der Schauspielerin Sue Lyon, die in Stanley Kubricks Film Lolita, die Hauptrolle spielte, erklärte sie.

Er sei ein großer Verehrer Stanley Kubricks, sagte er und dass „A Clockwork Orange“ sein Lieblingsfilm sei.

„So ein Zufall aber auch“, antwortete sie. „A Clockwork Orange’ ist auch mein Lieblingsfilm.“

Ob er sie nicht Lolita nennen dürfe, fragte er.

„Natürlich!“ antwortete sie.

„Ich nehme sie!“ rief ich dazwischen – das ging entschieden zu weit.

„Tut mir leid, aber der Herr hat ein Vorkaufsrecht“, sagte Hawkins und trat, nur ein paar Schritte entfernt, hinter einer Palette vor. „Er ist ein sehr guter Kunde.“

Da stand ich herum und sinnierte über Welse und aufgespießte Käfer und dieser Fremde kaufte mir mein Mädchen direkt vor der Nase weg! „Ich zahle das Doppelte! Ich bezweifle, dass dieser Herr in der Lage ist, dieser bezaubernden Frau einen angemessenen Lebensstandard zu garantieren.“ Ich sagte wirklich bezaubernden Frau! Wie kam ich nur auf diese altbackene Formulierung? Wahrscheinlich hatte ich zu viele englische Filme gesehen? „Vielmehr vermute ich“, sprach ich weiter, „dass er ihr das Fell abzieht und sie in den Topf steckt.“

„Sie kenn’ ich doch! Sie waren doch im Fernsehen. Sie sind doch der Affe aus dem Fernsehen!“ sagte der Unbekannte.

Sue schaute mich zum ersten Mal interessiert an.

„Ja, nein, nein, ja, Sie müssen sich irren, mich verwechseln.“ Wie gern hätte ich zugestimmt und eine Strophe gleich hier an ihrem Käfig gesungen: „All the microphones make me crazy, like a funky daisy.“

„Sorry Sir, Sie irren sich. Aber viel Spaß mit ihr.“ Ich klopfte dem unbekannten Schwarzen auf die Schulter, „sie ist wirklich sehr hübsch. Ich meine, ein sehr schönes Tier.“ Langsam bewegte ich mich in Richtung Ausgang, das heißt, ich ging rückwärts, da ich die beiden nicht aus den Augen verlieren wollte.

„Warten Sie“, rief Hawkins, „ich bekomme heute noch eine Lieferung ausgesuchter Schmalnasenaffen. Ich telefoniere nur schnell mit dem Großhändler. Möchten Sie vielleicht etwas trinken?“

Meine Instinkte übernahmen mal wieder das Kommando. Ich hüpfte auf eine Palette mit Katzenstreu, griff nach einer tief hängenden Lampe und schaukelte so zu einem Schaukasten mit allerlei Gewürm, sprang von dort weiter zum Aquarium, stieß mich von diesem ab, so dass das Wasser über den Rand schwappte und war so mit einem Satz an der Ladentür. Die Glocke bimmelte und der Regen hatte mich zurück. So schnell ich konnte, nun aber wieder nach Menschenart, lief ich zur nächsten Hausecke. Ich drehte mich um, niemand schien mir gefolgt zu sein. Gut, ich war noch einmal davongekommen.

Es war Mitte Oktober und keine Aussicht auf Wetterbesserung - Regen, Nebel und Graupel würde es zur Genüge geben. Wenn es doch nur einmal richtig schneien würde, dann könnte ich meinen Eltern ein Foto von mir im Schnee schicken! Sie haben Schnee ja noch nie gesehen, aber Frost und Schnee gibt es in London so gut wie nie. Kennen Sie den? Was ist der Unterschied zwischen Sommer und Winter? Im Winter ist der Regen kälter. Ho, ho, kleiner Scherz am Rande, sprach ich vor mich hin und sprang über eine Pfütze.

Wäre ich doch nur zu Hause geblieben! Den ganzen Tag hätte ich faul in einer Astgabel liegen und mir eine Frucht nach der anderen in den Mund schieben können, doch ich wollte es wissen.

Was würde aus Sue werden? überlegte ich und gab einer Coladose einen Kick, sodass sie scheppernd über den Gehsteig flog. Wenn ich ein Mensch wäre, würde ich jetzt den Helden spielen und versuchen, sie zu befreien. In einem Gemüseladen kaufte ich mir einen Salatkopf und während ich den Weg fortsetzte, stopfte ich mir ein Blatt nach dem anderen in den Mund. Jeder ist sich selbst der Nächste, diese Lektion hatte ich noch zu lernen. Außerdem hatte sie sich mit dem Fremden prima verstanden. „Mein Lieblingsfilm ist ‚Clockwork Orange’. Darf ich dich Lolita nennen? Aber natürlich.“ Sie würde schon sehen, was sie davon hatte.

Ärgerlich trat ich einem Mann in den Absatz. Er stolperte, so dass sein Hut auf den Gehweg fiel. Schnell hob er ihn auf und sah mich an. Ich hatte jedoch überhaupt keine Lust, mich zu entschuldigen und zeigte ihm stattdessen den Scheibenwischer. Kopfschüttelnd ging er weiter. Wollte er sich denn gar nicht ärgern? Warum tat er mir nicht den Gefallen? Ich lief ihm nach und trat noch einmal zu. Er drehte sich um und drohte mir erbost mit der Faust. „Get lost“, rief ich, was verpiss dich heißt und in England ein ziemlich übles Schimpfwort ist. Ich lief in die Old Street Richtung Hackney Road, als sich mir ein Staffordshire Bullterrier in den Weg stellte und mich anbellte. Er war über und über mit Narben bedeckt.

Er bellte ziemlich aggressiv und völlig unverständliches Zeug, weil er ja nicht wissen konnte, dass ich ganz gut Hund sprach.

Was er von mir wolle? fragte ich.

„Wuff“, ich könne Hund? fragte er.

„Wuff, ja.“

„Das ist ja mal eine Überraschung. Wie ist denn dein Name, wuff?“

„Pedro. Sonst noch Fragen?“

„Eine noch. Nur noch eine Frage. Mein Herr hat mir ‚Fass’ aufgetragen, dich zu beißen, und ich hätte auch große Lust dazu, aber du bist doch kein Mensch, sondern ein Affe, wenn ich mich nicht irre, noch dazu einer, der einen Denkzettel ganz gut gebrauchen könnte. Was würdest du denn dazu sagen, wenn ich dich dem nächsten Polizisten übergeben würde? Affen gehören doch in den Zoo, oder? Wuff!“

„Ich, ich bin ein Primat! Damit das mal klar ist. Und zweitens würde ich mir das an deiner Stelle noch einmal überlegen.“ Grinsend zog er seinen Mund breit.

Ich musste auf der Hut sein, denn ich hatte es ganz offensichtlich mit einem gerissenen Burschen zu tun.

„Und was passiert mit freilaufenden Hunden?“ antwortete ich. „Werden die nicht ins Heim gesperrt?“

„Mir doch egal. Vorher mache ich einen Primaten fertig“, knurrte er.

„Du kennst doch die Fleischerei in der Gosset Street?“ fragte ich.

„Klar man“, antwortete er, „wer kennt die nicht?“

„Wenn du mich laufen lässt, erfülle ich dir jeden Wunsch. Du kannst aus der Fleischerei haben, was du willst, wuff.“

„Wirklich jeden Wunsch?“

„Wirklich! Ehrenwort, wuff!“

„Dann, dann hätte ich gerne ein Kilo Roastbeef, so wie mein Herr welches frisst. Oder besser, gleich zwei Kilo, geht das?“

„Natürlich.“

Wir liefen weiter die Old Street entlang, bogen in die Gosset ein und kamen an der Tierhandlung vorbei. Ich versuchte einen Blick hineinzuwerfen, aber wie üblich war alles verdunkelt und nichts zu erkennen. Ob er von meinem Salat kosten möchte, fragte ich meinen Begleiter.

„Red keinen Quatsch“, fuhr er mich an, „ich mag doch keinen Salat.“

Wir näherten uns einer Bushaltestelle. Die Schirme aufgespannt, standen die Menschen wie eine Perlenkette aufgereiht und warteten auf den Bus. Diszipliniertes Volk. Mein Begleiter begann unangenehm zu sabbern.

Ein Doppeldecker fuhr heran und hielt scharf bremsend an der Haltestelle. Das war meine Chance. Geordnet stiegen die Menschen einer nach dem anderen ein. Der letzte Fahrgast betrat den Bus, jetzt oder nie, dachte ich und schob meinen Kohlkopf wie eine Bowlingkugel in die entgegengesetzte Richtung, der Staffordshire Bullterrier jagte ihr nach, ich sprang, machte einen Satz und noch einen, die Tür schloss sich, ich klemmte mich dazwischen, und schon war ich im Bus. Er fuhr an und schon lief der Köter, den Salat zwischen den Kiefern, neben dem Bus her, bis dieser endlich an einer Kreuzung abbog. Schnell lief ich zum Oberdeck und setzte mich unauffällig. Fast hätte ich laut losgelacht, da hatte er sein Roastbeef. In Zukunft müsste ich vorsichtiger sein, nahm ich mir vor, denn Menschen zu ärgern war doch eine ziemlich gefährliche Angelegenheit. An der nächsten Haltestelle wechselte ich in die Tube und fuhr nach Hause. Ich nahm eine heiße Dusche, putzte mir die Zähne und ging wie ein Mensch zu Bett. Der Lichtkegel eines vorbeifahrenden Autos leuchtete mein Zimmer aus. Immer diese Lichtkegel. Ich hatte Hunger und konnte deutlich das Knurren meines Magens hören. Ich stand auf und schaute in den Kühlschrank. Bis auf ein paar welke Salatblätter herrschte gähnende Leere. Ich bestrich sie mit Erdnussbutter, salzte sie ein wenig und verzehrte sie hastig. Ich hatte alle Zeit der Welt, aber ich verschlang mein Essen geradezu. Ich trank ein Glas Wasser und trat ans Fenster. Schwarz glänzend lag die regennasse Straße vor mir. Mein schöner Salatkopf, seufzte ich. Der Regen schien etwas nachzulassen. Genussvoll langsam zu essen, hatte ich verlernt. Wenn mir früher jemand gesagt hätte, dass ich langsam zu essen verlernen könne, hätte ich das nicht glauben können, aber die Hektik der Großstadt übertrug sich auf jeden Bereich, auch auf den des Essens. Mittlerweile bestaunte ich meine Verwandten dafür, dass sie den ganzen Tag nur mit der Nahrungsaufnahme und Faulenzen verbringen konnten. Wenn sie nicht schliefen, lagen sie in einer Astgabel und schoben sich eine Frucht nach der anderen in den Mund.

Hatte ich nicht schon längst Bedürfnisse entwickelt, wie sie im Dschungel unbekannt waren? Müsste ich heute im Busch nicht als komischer Kauz gelten, wenn ich mich ein wenig nach Zivilisation sehnte? Wie würde ein Leben ohne Musik und Bars aussehen? Welche Gespräche wurden denn im Busch geführt?

Die Regenzeit lässt dieses Jahr aber auf sich warten. Wollen wir nicht einen Ausflug ans Wasserloch machen? Mein Pelz müsste mal wieder geschrubbt werden. Nein, nein, vor der Regenzeit ist das viel zu gefährlich. Nimm lieber noch eine Kokosnuss? Aber gern, mit viel Soda und crunched Eis, bitte. Verständnislos würden sie mich angaffen.

Ich legte mich wieder auf meine Matratze. Morgen müsste ich in der verhassten Krankenkasse einigermaßen fit sein. Wenigstens einmal wollte ich das Pensum erfüllen. Ich schloss die Augen und versuchte zu schlafen.

Ob sie schon schlief? Oder schwamm sie womöglich schon als Einlage in einer Suppe?

Tief ein- und ausatmen, redete ich mir ein. In einer Zeitschrift hatte ich gelesen, dass wenn ich mir nur lang genug „tief ein- und ausatmen“ einreden würde, ich wie von selbst einschliefe.

Tief ein- und ausatmen, wiederholte ich immer wieder. Autosuggestion nannten sie das.

Eine leckere Suppe mit Bambussprossen wäre jetzt genau das Richtige. Mein Magen knurrte. Was bin ich doch für ein Geizhals gewesen? Wenn ich sie nur gekauft hätte, könnten wir jetzt in ein hübsches Restaurant gehen. Natürlich müsste sie noch lernen, mit Messer und Gabel zu essen.

Tief ein- und ausatmen.

Und wenn ich morgen noch einmal in die Gosset ging? Ich könnte versuchen, sie zu befreien, wenn Hawkins nicht im Geschäft war, oder ihr wenigstens meine Telefonnummer zustecken. Sie würde mich nicht anrufen, wie sollte sie auch, wahrscheinlich wusste sie nicht einmal, was ein Telefon ist. Die Sache war viel zu gefährlich für mich. Lust auf Labor? Lust auf endlose Versuche, fragte ich mich und drehte mich auf die andere Seite. Tief ein- und ausatmen.

Hellwach lag ich da. Ja, ich hatte den Eindruck, dass ich durch diese Atemübung, nur noch wacher geworden war.

Ich stand auf und zog mich an, mit leerem Magen konnte ich einfach nicht einschlafen. Die nassen Schuhe hinterließen auf dem Teppichboden einen feuchten, schmutzigen Fleck. Mit dem Fahrstuhl fuhr ich nach unten und lief so schnell ich konnte zur Haltestelle Buckhurst Hill. Der Regen wurde nun wieder stärker, und ich erwischte gerade noch die letzte Bahn. Durchnässt fuhr ich zum Trocadero. Schwerer Dunst hing über Soho, auf dem Trottoir breiteten sich mächtige Pfützen aus. Langsam schlenderte ich in die grelle Leuchtreklame. Sogar bei diesem nasskalten Wetter, waren die Straßen überfüllt mit Touristen und Nachtschwärmern. Ein endloser Brei aus Menschen schob sich die Straßen entlang.

An einem Imbiss bestellte ich mir einen Salat und trank einen Mangolimettensaft. Schräg gegenüber lag das „Old Marys.“ Dort hatten wir unsere ersten Auftritte gehabt. „Wer will schon Musiker in Affenkostümen sehen?“ hatte der Manager gefragt. Wir bekamen keinerlei Honorar und übernahmen das volle Risiko. Dann erschienen die ersten Kritiken und von da an war die Hütte voll. Wir wären so ein Ding zwischen Blues und Jazz, nur dass unsere Beats mit einem Stakkato vorgetragen würden, die an die Grenze des Hörbaren gingen. Wir wären hervorragende Musiker, die nur den Spleen hatten, in Affenkostümen aufzutreten. Die Presse wollte einfach nicht glauben, dass wir echte Schimpansen waren. Bis auf Bob, der war ein Bonobo. Bob hatte einen helleren Teint und war der Kleinste von uns, aber an den Drums war er eine Macht.

Endlich kam der Salat. Maniok, Süßholz und Bambussprossen angemacht mit einem Dressing aus Minze und Koriander.

Es ging mir nicht nur darum, Musik zu spielen, die Zeit war reif für soziale Veränderungen. Ich wollte die Welt vom Kopf auf die Füße stellen. Nach einem Konzert erläuterte ich den Kollegen meine Pläne.

Louis, der Bassist, wäre gern mit von der Partie gewesen, nur wollte er nichts ohne seinen Agenten entscheiden. Bob spielte mit seinem Ring und sagte, dass so ein Sozialprojekt nicht zu unserem Image passen würde.

Ich sprang auf den Billardtisch: „Leute, wir müssen unsere Popularität nutzen und den Menschen endlich klarmachen, dass wir echte, hundertprozentige Primaten sind! Wirklich eigenständige Subjekte!“

Ich würde nicht nur meine Sicherheit, sondern die Sicherheit

aller meiner Kollegen aufs Spiel setzen, entgegnete Louis.

„Wann, wenn nicht jetzt?“ rief ich, hüpfte vom Tisch und schlug vor lauter Aufregung einen Salto rückwärts – wie fit ich damals doch noch war!

„Ihr redet über Imageprobleme, während ich die Welt verändern will!“

Chuck, der Saxofonist, schlug mir auf die Schulter: „Pedro“, sagte er, „nutze deine Bekanntheit und setz’ dich für eine bedrohte Art ein, kämpfe gegen Laborversuche oder gegen das Abholzen der Regenwälder, aber fordere die Menschen nicht heraus. Es darf den Menschen nicht wirklich wehtun, verstehst du. Wenn sie sich bedroht fühlen, werden sie es dich fühlen lassen.“

„Nein, nein, nein und nochmals nein! Blues, Rock and Roll, HipHop, das sind doch alles Zeichen. Die Welt braucht Veränderung! Wir können etwas bewegen! Versteht ihr das denn nicht?“

Bob saß schweigend da und betrachtete seinen Ring. Von Zeit zu Zeit hielt er ihn in den Strahl eines Scheinwerfers, der eine Ecke des Hinterzimmers ausleuchtete. „Ich schenke dir diesen Ring, sieh dir dieses herrliche Feuer an, diesen Berg des Lichts.“ Er stand auf und kam auf mich zu. „Ich schenke ihn dir, wenn du von deinem Vorhaben ablässt. Ich habe Angst um dich. Verstehst du das?“ sagte er und nahm mich in die Arme. Oh, wie schön es ist, von den langen, kräftigen Armen eines Freundes gehalten zu werden. Wie habe ich es genossen.

„Verstehst du das?“ fragte er erneut. Wenn er doch nur nicht so eindringlich gefragt hätte. Bestimmt wäre alles ganz anders gekommen.

Er schob mich von sich und fragte erneut.

Was sollte die Fragerei? Glaubte er wirklich, dass ich nicht verstehen würde, dass ihn nichts weiter als Musik interessierte?

„Das ist nichts für dich. Verstehst du das?“ fragte er schon wieder, trat auf mich zu und begann mich zu schütteln.

„Ja“, gab ich ihm recht, „aber versuch’ bitte nicht, mich zu belehren!“ antwortete ich und wand mich aus seinem Griff.

„Du setzt aber nicht nur deine Sicherheit aufs Spiel, sondern unser aller! Warum willst du das denn nicht begreifen?“

„Bin ich etwa begriffsstutzig? Bin ich dein dummes kleines Äffchen, das du belehren kannst?“ entgegnete ich patzig. Steck dir deinen Brillianten sonst wo hin, kaufen lasse ich mich nicht!“

Der Salat war hervorragend. Ich nahm mir eine Serviette, wischte mir den Mund und bestellte ein Thunfischsandwich. Es schmeckte bitter mit einem öligen, fauligen Beigeschmack. Den Fisch spuckte ich auf die Straße und kaute nur das Brot. Ob Sue schon schlief? Warum fuhr ich nicht zu ihr? Vielleicht war sie noch wach? Es musste doch möglich sein, ihr ein Zeichen zu geben. Mit einer Taschenlampe oder Klopfzeichen.

„Oh nein“, den hatte ich ja ganz vergessen. Ich zog das feuchte Taschentuch aus meiner Manteltasche und wickelte es auseinander. Reglos lag mein kleiner Freund darin. „Das hab’ ich nicht gewollt. Wirklich nicht.“

Ich kaufte eine Flasche Mineralwasser, steckte ihn hinein und schüttelte alles ordentlich durch, die Kohlensäure würde ihn schon wieder zum Leben erwecken. Ich trat an einen Gully und goss den Inhalt in die Kanalisation. Mit ein bisschen Glück würde er den Weg in die Themse finden und wäre in Freiheit. Wir kämpfen doch alle um unsere Freiheit und niemand kann uns eine Garantie dafür geben, dass wir sie jemals erlangen werden. Warum sollte es ihm anders gehen? sinnierte ich vor mich hin und trank noch einen Orangensaft.

Aber hatte ich ihn nicht einfach nur aus seiner sicheren Umgebung entführt und damit dem sofortigen Tod überantwortet? Redete ich mir nicht alles nur schön? Von wegen Freiheit. Selbstbestimmtes Leben und so. Ich musste Vernunft annehmen Jetzt sofort!

Es war nicht zum Aushalten: ich wurde immer menschlicher.

Ich zahlte, lief zum nächsten Taxistand, fuhr nach Hause und legte mich aufs Ohr.

Es war halb acht, als ich erwachte. Ich drückte mich in den Handstand, ging kopfüber ins Bad, setzte mich aufs Klo und nahm anschließend eine heiße Dusche. Genüsslich frottierte ich mich ab, putzte mir die Zähne, ging kopfüber zum Telefon und wählte mit den Füßen Lilis Nummer. Um diese Zeit machte sie immer ihr Morgenyoga, indische Turnübungen, und dabei wollte ich sie ein bisschen stören. Ich hörte das Freizeichen.

„Wer da?“ Ich traute meinen Ohren nicht. „Wer ist denn da?“ fragte der Teilnehmer am anderen Ende der Leitung. Ich ließ mich auf die Füße fallen. Das war doch nicht etwa? Ich meldete mich besser nicht. „Bist du es, Pedro? Wenn du es bist, ruf hier bloß nicht mehr an! Sonst gibt’s Ärger, verstanden!“ Dann legte er auf. Seit wann können Katzen ans Telefon gehen? Und woher wusste er, dass ich der Anrufer war?

Wenn ich unterwegs noch etwas frühstücken wollte, musste ich los, denn in der Kantine gab es nur Donuts und Spiegelei mit Speck und ähnliches, ungenießbares Zeug. Ein typisch englisches Frühstück eben.

Ich warf mir meinen Mantel über, er war vom Regen noch feucht, zog die triefend nassen Schuhe an und verließ meine Wohnung. Kalter Morgennebel hüllte mich ein und machte mich unsichtbar. Gut so.

Ich fuhr durch die halbe Stadt bis Holborn, schaute kurz aus dem Bahnhof heraus, ob nicht irgendwo ein Gemüsehändler zu sehen war, bestieg die Tube Richtung Cockfosters, wechselte Kings Cross in den Bus und fuhr ein paar Minuten später durch die Gosset Street. „Was sollte das?“ fragte ich mich. Mit fast schlafwandlerischer Sicherheit landete ich in der Gosset. Ich wollte mir einen Salatkopf zum Frühstück kaufen, in London gab es Tausende Gemüsehändler und ich fuhr durch die halbe Stadt, um in einer abgelegenen Nebenstrasse einen Salat zu kaufen. Mein Puls beschleunigte sich, als ich an Hawkins Geschäft vorbeiging. Um diese Zeit war es, wie üblich, noch geschlossen und das Ladeninnere nicht einzusehen. Vor einem Gemüsehändler blieb ich stehen, kaufte mir Chicoree und biss hinein.

Sprühregen setzte ein. Ich ging zur Tierhandlung zurück und versuchte durch die beschlagene Scheibe in das Geschäft zu sehen. Ich klopfte dagegen, nichts war zu hören oder zu sehen. Ich klopfte heftiger und, war das nicht etwa Hawkins? Ich sprang einen Schritt zurück, er musste mich gesehen haben und war sofort wieder verschwunden. Unsinn, die Scheibe war verdreckt und beschlagen und es war unmöglich, etwas zu erkennen. Ich lief auf die andere Straßenseite, betrat einen chinesischen Imbiss und bestellte mir einen Tee. Ich riss ein paar Blätter vom Salat ab und stopfte sie mir in den Mund. Ich schaute auf die Uhr. Es war bereits neun, ich musste zur Arbeit. Ich bestellte den Tee wieder ab und eilte zur Untergrundbahn.

Klamm und schwer hing mein Mantel an mir herunter, als ich eine Stunde zu spät das rot verputzte Gebäude der Krankenkasse betrat. Ich grüßte den Pförtner mit einem Kopfnicken und fuhr mit dem Fahrstuhl in die vierte Etage. Auf dem Gang traf ich den Bürovorsteher: „Guten Morgen, Mister Salomon, ich werde die Stunde nacharbeiten.“

„Schon gut, schon gut.“

Auf meinem Arbeitsplatz lag noch ein Stapel unerledigter

Veränderungsmitteilungen und gleich würde der Bote einen neuen bringen. Aber mehr als das tägliche Pensum von 9 bis 15 Uhr hielt ich einfach nicht aus. Dazu verbrachte ich die meiste Zeit mit dösen. Wozu sollte ich mich auch anstrengen? Mein Gehalt war mir sicher, denn wir wurden nicht nach Leistung bezahlt. Manchmal zischte Lili: „Pedro, Mister Salomon“, dann stürzte ich mich für ein paar Minuten in die Arbeit und setzte, sowie er vorüber war, mein Nichtstun fort. Meistens aber ging ich in der Mittagspause von Tisch zu Tisch und mischte den Kollegen meine Arbeiten unter oder ich spülte sie einfach in der Toilette runter. Wenn Lili fertig war, spielten wir „Vier gewinnt“ oder Rommé. In „Rommé“ hatte sie keine Chance.

Lili musterte mich von oben bis unten, als sie mich kommen sah. „Du holst dir noch eine Erkältung? Soll ich dir einen Tee machen?“

„Danke, aber ich muss mit dir reden“, antwortete ich und entdeckte, dass ich eine feuchte Spur, auf dem billigen Teppichboden, hinterlassen hatte.

„Klar, du kannst mit mir über alles reden.“

„Ich habe vor einer Woche einen Allergietest gemacht und du darfst das jetzt auf gar keinen Fall persönlich nehmen“. Ich machte eine lange bedeutungsvolle Pause. „Ich habe eine Katzenallergie und deshalb halte ich es hier nicht mehr aus. Verstehst du, wegen deines Katers halte ich es hier einfach nicht mehr aus.“

„Aber er war doch nur einmal hier!“

„Einmal war eben schon einmal zu viel!“

„Das tut mir so leid“, sagte sie und wendete sich wieder ihren Karteikarten zu. Sie ging einfach so zur Tagesordnung über? Ich hatte mir schon eine stärkere Entschuldigung gewünscht. Wenigstens hätte sie einen Teil meiner Arbeit übernehmen können.

„Pedro“, sagte sie und zog mich völlig unerwartet mit meinem Drehstuhl zu sich heran: „ich habe für alles Verständnis, du kannst mit mir über alles reden. Wenn du ein Problem hast, sprich mit mir, denn dass du etwas auf dem Herzen hast, das sieht man dir doch an.“

Ich wendete meinen Kopf ab, denn normalerweise hätte ich ihr für diese Frechheit meine Zähne gezeigt, instinktmäßig zur Abschreckung, aber sie roch irgendwie angenehm. Sie roch nach einer Blume, überlegte ich und schnupperte unwillkürlich an ihrem Busen.

„Du bist ja komisch“, sagte sie und drehte mich kurz hin und her.

Sie roch nach einer Blume, die bei uns im Busch wächst und nach der auch meine Mutter roch. Ganz unwillkürlich legte ich meinen Kopf an ihren Busen.

„Aber das geht doch nicht. Nicht hier im Büro.“

„Vielleicht sollten wir uns einmal auf einen Drink verabreden?“ schlug ich vor. „Wir arbeiten schon so lange zusammen und kennen uns noch kein bisschen.“

Punkt 15 Uhr saß ich in dem chinesischen Imbiss gegenüber der Tierhandlung. Ich hatte das Büro eine Stunde früher verlassen. „Wichtige Erledigungen!“ hatte ich Mister Salomon zugerufen. Für heute war die Sklaverei beendet. Ich bestellte mir eine Glasnudelsuppe. Wie konnte ich am Computer sitzen, während Sue gefangen war? Hinter der Eingangstür klemmte ein Schild „Open.“ Licht war im Geschäft wie üblich nicht zu sehen. Wahrscheinlich schlief Hawkins in seinem Sessel. War jetzt die Gelegenheit gekommen, sie zu befreien? Ein Held zu werden? Unsterblich zu werden? Aber Helden leben bekanntlich nicht allzu lange und was, wenn sie gar nicht mitkommen wollte oder schon längst verkauft worden war? Wenn sie sich wehrte und um Hilfe schrie? Schließlich hatte sie sich mit dem Fremden prima verstanden. „A Clockwork Orange ist auch mein Lieblingsfilm“, hatte sie gesagt und mich ignoriert. Zuerst einmal würde ich meine Suppe essen und dann weitersehen.

Ein Blitz zuckte durch die Wolkendecke, dass ich zusammenfuhr und wenn Hawkins recht haben sollte, meine Lebenserwartung rapide sank. Der Verkäufer sagte: „Keine Angst mein Herr, wir haben Blitzableiter.“

Da war sie wieder, die menschliche Arroganz, die Machtdemonstration. „Wir haben Blitzableiter.“ Ich klammerte mich an meinem Stuhl. „Ganz ruhig Pedro, ganz ruhig. Es ist nichts als ein Gewitter. Auch Menschen haben Angst vor Gewittern“, sprach ich zu mir selbst. Es blitzte wieder. Ich zitterte am ganzen Körper, rutschte von meinem Stuhl herunter und nahm unter dem Tisch Deckung.

„Sie haben große Angst.“

„Nein, hab ich nicht.“

Schon zuckte der nächste Blitz auf. Ich durfte aber nicht unter dem Tisch hocken bleiben und versuchte aufzustehen, versuchte halbwegs normal zu wirken, lässig das Gewitter zu betrachten und dabei entspannt zu essen. Ich umschloss die Schüssel, aber meine Hände zitterten so, dass ich den Inhalt verschüttete. Leck jetzt bloß nicht die Suppe auf, befahl ich mir. Dann der ohrenbetäubende Donner. Ich nahm den Löffel und versuchte so ruhig wie möglich, den Rest der Suppe zu verzehren. Der Verkäufer hinter seinem Tresen beobachtete mich, das konnte ich spüren. Wir Primaten fassen solch ein Angestarrtwerden als Bedrohung auf, und genau das war es auch, da gab ich mich keiner Illusion hin. Noch ein paar Minuten Blitz und Donner und der Verkäufer würde mich gefangen nehmen und mir das Fell abziehen - schließlich galt ich bei seinem Volk als Delikatesse.

So wie der nächste Blitz aufzuckte, zuckte auch ich zusammen und stieß dabei die Schüssel um. Ich sprang auf, und mit einem Satz war ich bei dem aufdringlichen Verkäufer. Was er mich so anglotze, schrie ich ihn an. Er solle sich gefälligst um seinen Job kümmern und seine Gäste in Ruhe lassen. Er verschwand, kam mit Eimer und Lappen zurück und wischte den Boden auf.

Ich hatte meine Angst besiegt und einen Menschen in die Flucht geschlagen. Ich verließ den Imbiss, lief durch den einsetzenden Regen und begann von Gehwegplatte zu Gehwegplatte zu hüpfen. Dancing in the rain, sang ich vor mich hin und betrat eine Telefonzelle. Musste ich jetzt noch Angst vor Hawkins haben? Ich sollte den Laden mal ein bisschen auseinandernehmen, auf den Kopf stellen. Es würde sicher so einiges an illegalen Machenschaften dabei herauskommen.

Ich hob ab und rief ihn an.

„Thatcher und Hawkins.“

Ich sei auf der Suche nach etwas Ausgefallenem, sprach ich, „Hätten Sie nicht einen Bewohner der Regenwälder, ein seltenes Exemplar, irgendwie eine schillernde Persönlichkeit?“

„Eine Persönlichkeit? Hm, ich könnte Ihnen ein paar Meerschweinchen anbieten. Fische und Kanarienvögel haben wir natürlich auch, alles erstklassige Ware.“

„Fische und Kanarienvögel interessieren mich nicht!“

In welche Richtung denn mein Interesse ginge, erkundigte er sich.

Ich sei auf dem Gebiet der Verhaltensforschung tätig und auf der Suche nach einer Gefährtin, einer Freundin.

Hawkins schwieg.

Ob er eine Äffin im Angebot habe?

„Nein Sir, ich bin doch keine Partnervermittlung. Das Artenschutzgesetz erlaubt den Handel mit Primaten auch nicht mehr. Ja früher, das waren noch Zeiten!“ sagte er und kicherte, „aber diese Zeiten sind vorbei!“

Sollte ich diesem Lügner nicht die Tierschützer auf den Hals hetzen? Aber wenn Sue noch im Geschäft war, würden die sie zwar befreien, aber wiedersehen würde ich sie dann garantiert nicht mehr, denn Tierschutz bedeutete im besten Fall, dass sie zurück geschickt wurde.

„Kann ich noch etwas für sie tun?“

„Danke“, antworte ich und hängte ein, als ich- der verfluchte Schrecken fuhr mir in die Glieder und kostete mich schon wieder ein Jahr Lebenszeit- den Staffordshire Bullterrier sah. Schnüffelnd, die Nase dicht über dem Trottoir, lief er direkt auf mich zu. Er hatte doch nicht etwa meine Witterung aufgenommen? Ich ging in die Hocke und suchte Schutz hinter der Sichtblende. Wenn ich Glück hatte, lief er vorbei. Lief er aber nicht, sondern blieb direkt vor der Telefonzelle stehen. „Hab’ ich dich endlich aufgespürt“, knurrte er und versuchte, mit seinen Pfoten die Tür zu öffnen.

„Lass uns reden.“

„Zum Reden war genug Zeit.“

Ich setzte mich auf die Ablage, hielt mit den Füßen die Tür zu und wählte den Notruf.

„Du erkältest dich bei dem Wetter.“

„Red keinen Unsinn und komm raus!“

„Ich weiß ja nicht einmal deinen Namen.“

„Brauchst du auch nicht. Komm raus, du Feigling.“

„Hallo“, meldete sich eine freundliche Stimme am anderen Ende der Leitung.

„Ich werde von einem Kampfhund bedroht und habe mich in eine Telefonzelle geflüchtet.“

„Du alarmierst doch nicht etwa die Polizei, wuff?“

„Wo befindet sich die Telefonzelle?“

„In der Gosset Street.“

„Wie viele Hunde sind es denn?“

„Es ist nur einer.“

„Aber es können mehr werden. Seien Sie vorsichtig! Ich schicke ihnen vorsichtshalber eine Streife vorbei.“

Ich hängte ein und wählte den Taxiruf. Der Staffordshire Bullterrier war nicht mehr da, er hatte sich bestimmt, was blieb ihm auch weiter übrig, versteckt. Ein paar Minuten später hielt ein Taxi vor der Telefonzelle und kaum hatte ich sie verlassen, sprintete er auch schon los. Hinter einem Papierkorb hatte er gewartet, wie einfallslos, doch bevor er seine Zähne in meine Waden schlagen konnte, schlug ich ihm die Türe vor der Nase zu. Glück gehabt. „Fahren Sie mich nach Chelsea zum Sloane Square und wenn Sie unterwegs ein Blumengeschäft sehen, halten Sie bitte.“ Sein mieses Gekläff interessierte mich nicht, ist es nicht wert, auch nur ein Wort darüber zu verlieren.

Mit einem Strauß Margariten stand ich vor Lilis Tür. Es roch penetrant nach Kater, überall hatte er seine Duftmarken gesetzt.

In einem gelben Sari, eine Art seidiger Morgenmantel, öffnete sie die Tür. Der Kater tat ahnungslos und strich ihr um die Beine. Sie bedankte sich für die Blumen und presste mich freudig an ihren Busen. Sie roch wieder so gut und so drückte ich meine Nase dazwischen und sog den Duft tief ein.

Lili hatte ein kleines, orange gestrichenes Ein-Zimmer-Appartement. In einer Vitrine standen Fotos. Sie mit ihren Eltern, mit Kater, als kleines Mädchen mit Schulklasse und Freunden. Ich würde mir vom Flohmarkt auch ein paar Familienfotos zulegen müssen, der besseren Tarnung wegen. Sie bot mir Tee an und sagte, dass sie froh sei, dass ich gekommen bin, denn ich mache ihr wirklich Sorgen. Sie streckte ihre Arme aus und drückte mich erneut an sich. Nur zu gern ließ ich es geschehen.

Wir kochten Mangos in Kokosnuss. Natürlich knackte ich die Kokosnuss mit meinen bloßen Händen. Lili staunte nicht schlecht und erzählte mir, dass sich Mister Salomon in der Kantine das Hemd bekleckert hatte und da er in den vergangen Tagen nicht dazu gekommen war, seine Wäsche zu bügeln und folglich nichts zum Wechseln dabei hatte, er den ganzen Nachmittag im schmutzigem Hemd herumlaufen musste.

Beim Essen erzählte ich ihr- sie hatte extra für mich ihr kostbares Porzellan, ein Erbstück, wie sie sagte, aufgedeckt-, dass mein Vater an Ebola gestorben sei und meine Mutter nach einem schweren Verkehrsunfall im Rollstuhl sitze, ich sie deshalb unterstützen müsse und später einmal, wenn ich genug Geld gespart hätte, Kunst studieren wollte.

Lili hörte aufmerksam zu, sagte aber kein Wort.

„Kann ich noch eine Tasse Tee haben?“ fragte ich. Schweigend schenkte sie mir nach. Das Wetter, versuchte ich ein bisschen Konversation, sei nicht schön, aber zeitgemäß. Langsam leerte sie ihre Tasse. „Von deinen Lügen wird mir ganz schlecht und wenn du nicht sofort aufhörst, sondern auspackst, endlich sagst, was mit dir los ist, setze ich dich sofort vor die Tür. Damit das klar ist!“

Schön, dachte ich und trank, um etwas Zeit zu gewinnen, einen Schluck. „Aber ob du aber auch die Wahrheit vertragen kannst?“ begann ich verhalten.

„Das lass mal meine Sorge sein“, unterbrach sie mich energisch.

Gut, du willst es nicht anders haben, dachte ich und erzählte ihr, dass ich Musiker und Fernsehstar war. Dass ich in einer Tierhandlung Sue kennen gelernt, ich mich wahrscheinlich verliebt hatte und von einem Kampfhund verfolgt wurde. Ich weiß nicht, wie lange sie mich schweigend ansah, aber schließlich, nachdem ich meinen Nachtisch verdrückt hatte, es war kein Pudding, sondern Vanilleeis mit Erdbeeren, nahm sie mich wieder in die Arme und drückte mich an sich. Natürlich nutzte ich die Gelegenheit aus und steckte meine Nase zwischen ihren Busen. Sie hatte eben diesen Geruch an sich und so saßen wir und hielten uns in den Armen.

Am nächsten Morgen erwachte ich in der Küche. Sie hatte mich auf eine hölzerne Bank gelegt. Keine Zudecke, kein Kopfkissen, nichts. Ich stand auf, inspizierte den Kühlschrank und aß einen Apfel.

„Schmeckt es Dir? Lili stand in der Tür. Sie kam herein und setzte Wasser auf.

Aufrichtigkeit sei für sie das A und O, sagte sie, nahm ein Sieb und füllte Tee hinein. Ich hätte ihre Gastfreundschaft missbraucht und sie den ganzen Abend über belogen. Das Parfüm sei ein Geschenk ihrer Mutter gewesen und jetzt wäre es wirklich besser, wenn ich gehen würde.

„Was denn für ein Parfüm?“

„Tu doch nicht so!“

Ich wusste es wirklich nicht, hatte aber eine böse Ahnung.

„Das Parfüm, das ich heute früh benutzen wollte, eine halbe Stunde gesucht, und schließlich in deiner Manteltasche gefunden habe.“

Das konnte nur der Kater gewesen sein. Wie auf Kommando erschien er in der Küche, setzte sich auf die Hinterbeine und leckte sich seine Vorderpfote.

Ich weiß auch nicht, aber auf einmal hatte ich so ein komisches Bild: Ich trage eine eiserne Uniform, eine Rüstung vielleicht, ich schwinge ein Schwert und hacke dem Katzenvieh die Pfote ab. Die Diebespfote.

Sollte ich Lili die Wahrheit sagen? Würde sie mir glauben, dass das miese Katzenstück den Flakon in meine Manteltasche gesteckt hatte? Ziemlich unwahrscheinlich.

Ob sie mir den Blumenstrauß zurückgeben könnte, fragte ich. Bekam aber keine Antwort.

Margariten schmecken sehr gut, erklärte ich, und da ich von ihr ja wohl kein Frühstück zu erwarten hatte, würde ich gern die Margariten essen. Sie holte die Blumenvase und stellte den Strauß auf den Tisch.

„Hast du Erdnussbutter im Haus?“

Sie stellte ein Glas dazu.

Ich schmierte die Margariten damit ein und ließ es mir schmecken.

Schweigend starrte sie mich an.

Auf dem Weg zur Tube fing es zu schneien an. Ich hatte Schnee ja noch nie gesehen und hüpfte den Flöckchen entgegen. Sie schmeckten bitter, doch ich mochte es, wenn sie auf der Zunge schmolzen. Ein Passant warf mir eine Münze vor die Füße, wahrscheinlich hielt er mein Hüpfen für Straßentheater, eine Art Performance.

Vor einer Pfütze wartete ich, bis ein paar Passanten vorbeikamen, und spritzte sie nass. Sie regten sich furchtbar darüber auf und einer lief mir sogar nach und drohte mir mit dem Regenschirm, aber ihr Schimpfen bereitete mir keine Freude mehr.

Wozu und für wen sollte ich mich in der Krankenkasse noch weiter abmühen? Für den Fall, dass ich einen menschlichen Freund fand, er mir Glauben schenkte, war das doch die größte Gefahr für mich. Es machte alles keinen Sinn mehr, überlegte ich. Ich war allein und meine Sachen bis auf die Unterwäsche durchnässt. Frierend stellte ich mich an den Straßenrand, musste Husten, hielt ein Taxi an und fuhr zu Hawkins.

Er war gerade mit Fischefüttern beschäftigt und machte große Augen als er mich sah.

„Welche Ehre für mich, Sie in meinem Geschäft begrüßen zu dürfen!“

Er kam auf mich zu und streckte mir, indem er seinen Oberkörper leicht zurückschob, seine Rechte entgegen.

„Ist sie noch hier.“

„Ich verstehe nicht ganz!“

„Die Primatin, dort hinten im Käfig. Ist sie noch hier?“

„Ach so. Nein, sie ist leider abgereist.“

„Machen Sie doch keine Witze.“

„Es war ihre freie Entscheidung, ich habe sie nicht gezwungen. Aber nehmen Sie doch bitte Platz, ich bin gleich zurück, ich muss nur kurz telefonieren.“

„Warten Sie“, rief ich ihm nach und musste schon wieder Husten, „Sie brauchen die Polizei nicht zu verständigen, sie brauchen mich auch nicht einzufangen, zu betäuben oder sonst wie kampfunfähig zu machen, denn ich mache Ihnen ein Angebot, das Ihnen gefallen dürfte.“

Haloperidol oder vom Ende der Luftschlösser

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