Читать книгу Die Frau des schönen Mannes - Mario Schneider - Страница 5

ICH MAG DICH SOGAR SEHR!

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Die ›Queen Mary 2‹ war beim letzten Mal direkt vor meinem Hotelfenster vorbeigefahren. Ich konnte in die tausend beleuchteten Kabinen schauen und die tausend Fernseher hinter den halb durchsichtigen weißen Gardinen flackern sehen.

Dieses Hotel hier hatte nichts dergleichen zu bieten. Das Zimmer war eng, und an den Wänden waren graue, feuchte Flecken. Ich fühlte die Anwesenheit von hunderten dumpfen Gestalten, die dieses Zimmer bewohnt und abgenutzt hatten. Neben dem Bett hatten sie sich die Schuhe ausgezogen und dabei an der Tapete schwarze und braune Kratzer hinterlassen. Die Energiesparlampe an der Decke tauchte den hohen Raum in eine kalte Schäbigkeit. Das war alles so erbärmlich, und ich war es auch. Das wurde mir jetzt klar. ›Ich werde anrufen und das absagen‹, dachte ich. ›Die werden sagen, gebucht ist gebucht. Haben ja auch sicher recht damit. Also gut, dann wird es so sein.‹

Ich schaltete das große Licht aus, ging im Halbdunkel zum Fenster, und warf einen kurzen Blick auf die gegenüberliegende Häuserzeile, an der ein großes Schild »Kino« ab und zu die Farbe wechselte. Ich zog die Gardinen zu und machte die kleine Nachttischlampe an. Ich holte meinen Laptop aus der Tasche, klappte ihn auf und legte ihn aufs Bett. iTunes war noch offen. Ich klickte auf den Ordner ›Easy‹ und dann auf den Titel 1. Ich schaute auf die Uhr. Es war genau zehn. Es klopfte.

›Pünktlich‹, dachte ich ›Das ist absurd.‹

Ich ging zur Tür, drückte die Klinke nach unten und zog schwer, gegen den automatischen Verschluss, die Tür auf.

Da waren fünf Sekunden, in denen ich mich nicht zurechtfand. Sie war die schönste Frau, der ich je die Tür geöffnet hatte. Sie war vollkommen in Schwarz gekleidet. Das Einzige, was ich von ihr sah, war ihr Gesicht, das mich nicht anschaute, sondern an mir vorbei ins Hotelzimmer blickte. Mir war klar, dass sie so eine Absteige nicht gewohnt war, denn sie war keine, die man für fünfzig Euro bekommen konnte. Noch bevor ich etwas sagen konnte, tat sie es. »Was soll das denn für ein Hotel sein?«

»Ja, entschuldige, das … normalerweise, das Hotel, in dem ich sonst immer bin, war ausgebucht, Zahnarztkongress. Ich wusste nicht, dass das hier so aussieht. Entschuldige.«

Erst jetzt sah sie mich direkt an, und ich konnte in ihrem Blick sehen, dass sie überlegte, ob sie bleibt oder wieder geht. Sie traf ihre Entscheidung sehr schnell. »Naja, machen wir das Beste draus.« Sie trat einen Schritt auf mich zu und lächelte. »Darf ich?«

»Ja natürlich, komm rein.«

Sie ging an mir vorbei ins Zimmer. Sie war einen Kopf kleiner als ich und roch nach einem Parfüm, das mir bekannt war. Eine meiner Ex-Freundinnen hatte es getragen. Ich schloss die Tür. Sie blieb in der Mitte des Zimmers direkt vor dem Doppelbett stehen und drehte sich zu mir um. »Wie ist dein Name?«

»Martin.«

Sie gab mir ihre Hand, und ich berührte sie zum ersten Mal. Es war eine kleine Hand, und sie passte genau in die meine.

»Monique.«

Wir schauten uns direkt in die Augen. Ihre waren schwarz und sanft. Es schien mir, als wäre etwas Ehrliches darin. Ich ließ ihre Hand los und ging zum kleinen Glastisch am Fenster. »Es gibt hier keine Minibar, deswegen war ich vorhin noch etwas einkaufen.«

Sie lachte kurz, als sie den Sekt und die Schokolade sah. »Ist ja süß.«

»Willst du was?«

»Wir sollten erst das mit dem Geld klären«, sagte sie freundlich.

»Ja, entschuldige, natürlich.«

»Ich weiß, viele machen das hinterher. Aber meine Agentur besteht darauf, dass ich es vorher kläre.«

»Na klar, kein Problem«, sagte ich und ging hinüber zur Garderobe, an der meine Jacke hing. Ich gab ihr die 350 Euro. Sie steckte das Geld, nachdem sie es gezählt hatte, in ihre Handtasche und fragte schnell, so, als hätte es diese Übergabe nie gegeben: »Was ohne Alkohol hast du wohl nicht?«

Ich fragte, ob sie Bionade mag.

»Oh ja, das trink’ ich gern.«

Ich bückte mich, holte zwei Flaschen aus der Einkaufstüte, öffnete sie und hielt ihr eine hin. Sie nahm sie, schaute mich kurz an und stieß ihre Flasche gegen die meine. »Prost«, sagte sie und setzte sich auf die Liege an der Wand, gegenüber dem Bett. »Das ist ein bisschen wie in einem Studentenwohnheim hier.«

Ich lächelte und setzte mich zu ihr. »Stimmt.«

Wir schauten uns beide stumm im Zimmer um. Ich dachte, ich müsste etwas sagen, da sie nichts sagte. »Ich mache das hier zum ersten Mal und weiß nicht so richtig, wie das abläuft.« Natürlich, ich war nervös und hatte Angst. Als ich bei ihrer Firma anrief, hatte ich gehofft, sie würde sich einfach nur ausziehen, dann mich und wir würden es miteinander treiben. Nun kam mir diese Vorstellung unangenehm fremd vor.

»Das hängt von dir ab«, sagte sie und als ich nichts erwiderte, »Wir können uns erst etwas unterhalten und dann werden wir weitersehen, oder?«

›Danke, unterhalten, das ist gut, danke‹, dachte ich. »Ja, das ist gut.«

»Warum hast du eigentlich mich verlangt? Ich meine, in der Agentur sind so viele gut aussehende Frauen, warum gerade ich?«

»Du warst mir am sympathischsten«, und das war die Wahrheit. Ich sah mich am Schreibtisch in meiner Wohnung sitzen, meinen aufgeklappten Laptop und die Bilder dieser Frauen vor mir. Aber nur sie konnte es sein. In ihrem Blick stand keine laszive Antwort, sondern eine stille Frage. Unter ihrem Namen blinkte in roter Schrift das Wörtchen »NEU«.

»Und wieso machst du das?«, fragte sie mich.

Das kam mir unpassend vor. Ich zögerte. Mir war nicht klar, warum ich das tat. Doch, es war mir klar. Ich wollte Sex, nur Sex.

»Ich wollte das einfach ausprobieren, und da ich gerade solo bin, dachte ich, jetzt oder nie.«

»Du hast keine Frau?«, fragte sie mich.

»Seit einem Jahr.«

»Ach so, würdest du das hier nicht machen, wenn du eine Frau hättest?«

»Nein, da würde doch etwas nicht stimmen, oder?«

Sie schaute mich einen Augenblick an, dann sagte sie: »Du bist mein erster Kunde«, und klopfte mir dabei vertraulich auf den Oberschenkel, »du hast doch nichts dagegen, wenn ich dich so nenne, nein, du bist mein erster Kunde, der keine Frau hat.«

Ich war verblüfft. »Das glaub’ ich nicht.«

»Ist aber so, die haben fast alle Frauen.« Sie überlegte. »Und Kinder. Die zeigen mir gleich am ersten Abend die Fotos von den Kindern und ihrer Frau und erzählen dann, wie hübsch sie sind und wie toll sie ist oder wie kompliziert.«

Sie trank einen Schluck. »Ich habe den Glauben verloren, dass es anständige Männer gibt, glaub’ mir. Du bist da wirklich der Erste. Das imponiert mir.«

Ich fühlte mich geschmeichelt, und gleich darauf kam ich mir wieder abartig und schlecht vor, ja, wie jemand, der etwas unsagbar Schlechtes tut. ›Wir könnten uns doch einfach nur unterhalten. Sie behält das Geld, und am Ende bedanke ich mich bei ihr für den schönen Abend.‹ Das war eine gute Idee, und dabei wurde mir ganz wohl. Ich fühlte mich wie ein guter Mensch.

»Wie lange machst du das schon?«, fragte ich so normal wie möglich.

»Vier Monate«, antwortete sie.

»Das ist nicht lange.«

»Das ist sehr lange«, sagte sie. Sie kramte in ihrer Handtasche. »Darf ich rauchen?«, fragte sie in ihre Tasche hinein.

»Ich glaube schon, auf dem Tisch steht ein Aschenbecher.«

»Ja schon, aber du schläfst hier.«

»Ach so.« Ich überlegte. »Ja, ja, das geht schon.« Sie öffnete die Schachtel ›P&M‹ und nahm sich eine Zigarette heraus.

»Darf ich auch?«, fragte ich.

»Du rauchst?«

»Nur wenn ich nervös bin.«

Sie hielt mir die Schachtel hin. »Du wirkst ganz und gar nicht nervös.«

»Das ist äußerlich.«

Sie zog den Rauch, nachdem sie ihn mit der Nase ausgeblasen hatte, mit dem Mund wieder ein. Es war, als wäre sie allein auf der Welt.

Ich bemerkte, wie ich sie anstarrte.

»Was ist?«, fragte sie.

»Du bist so schön.«

Sie lächelte. »Och, danke, ich verstehe trotzdem nicht, wieso du mich ausgesucht hast.«

»Wegen deiner Augen. Sie sahen ehrlich aus.«

»Ach komm, das glaubst du ja selbst nicht, oder?«

Es gab auch ein Bild von ihr, auf dem sie halb nackt war, und ihr Körper war makellos. »Nein, wirklich«, sagte ich.

»Du siehst auch gut aus«, sagte sie und schaute mir ins Gesicht.

›Das muss sie jetzt sagen‹, dachte ich.

»Das meine ich ernst, ich wäre vorhin fast wieder gegangen.« Sie ruckte kurz mit ihrem Kopf. »Wegen dem Zimmer. Ich bin geblieben, weil du nett aussiehst. Und ich glaube, du bist es auch.«

›Das muss sie jetzt sagen.‹ Sie nahm einen letzten Zug, dann drückte sie die Zigarette im Ascher aus. »So, jetzt könnt’ ich einen Sekt vertragen.«

»Oh ja, sicher.« Ich ging hinüber zum Tischchen und griff die Flasche. Ich ließ den Korken nicht knallen, holte zwei Zahnputzgläser aus dem Bad und setzte mich wieder neben sie. Ich traute mich nicht, auf die Uhr zu schauen. Ich hatte Lust auf sie und wusste nicht, wie viel Zeit mir von den zwei Stunden noch geblieben war. Wir stießen an. Dann erzählte sie mir von ihrem letzten Urlaub am Mittelmeer, von ihrem Ex-Freund, mit dem sie noch zusammenwohnte, von ihren zwei Hunden, ihren drei Kanarienvögeln, ihrer Eidechse und der Schildkröte, die dreißig Jahre älter war als sie.

»Von wem hast du sie?«, fragte ich. Sie trank ihren Sekt aus und antwortete nicht.

Ich streichelte ihren Arm, mit dem sie sich auf dem Bett abstützte, und sie blickte verwundert auf meine Hand, wie sie ihren Arm streichelte. Wir schwiegen, und ihr Lächeln wurde zu der Frage, die sie dann auch stellte: »Das ist seltsam, oder?«

›Ja, sie hat recht, es ist seltsam, ich verliebe mich gerade in sie. Aber es ist nicht echt, und das ist seltsam.‹

»Ja«, sagte ich. ›Ich möchte sie jetzt küssen, und sie wird es zulassen.‹ Ich beugte mich zu ihr, griff unter ihren Arm, zog sie etwas zu mir heran und küsste sie. Ihr Mund war weich, und ihre Zunge begegnete der meinen mit solcher Bereitschaft und Ruhe, dass ich mich ihr voll und ganz überließ.

Ich weiß nicht mehr, wie lange wir uns küssten. Es war der beste Kuss, es war der Kuss meines Lebens, mit einer Frau, die ich nicht kannte und die ich gekauft hatte, die mich küsste, als würde sie mich lieben, die mich küsste wie keine der Frauen, die mich geliebt hatten.

Mir war schwindlig, und ich beugte mich von ihr zurück.

»Du küsst gut«, sagte sie.

›Das muss sie jetzt sagen, natürlich muss sie das.‹

»Ich gehe jetzt kurz ins Bad, und du kannst ja versuchen, etwas gemütlicheres Licht zu machen.« Und dann war sie weg.

Ich war bereit. Ich löschte die Nachttischlampe und öffnete die Gardine etwas. Ein Spalt Licht schlug ins Zimmer und wechselte immerfort die Farbe. Sie kam aus dem Bad, als es blau wurde. Sie hatte nur noch schwarze Unterwäsche an, und ihr Körper erschien mir noch weißer und strahlte in dem Blau, dem Rot und dem Grün. Sie war wie eine Galionsfigur und hinter ihr ein Schiff aus schwarzem Stahl, das sie schwer zu mir ins Zimmer schob.

Ich lag ausgestreckt auf dem Bett und wartete auf ihre Hände, die mich ausziehen würden. Sie knöpfte mein Hemd auf und küsste sanft meine Brust. Ich nahm ihr kleines, weißes Gesicht zwischen meine Hände, zog sie zu mir und küsste ihren Mund. Und ich dachte: ›Das ist Wahnsinn.‹ Ich nahm nicht wahr, wie sie meine Hose auszog, wie sie meine Strümpfe von den Füßen streifte und meine Shorts über die Beine zog. Ich war bereit. Die ganze Zeit über. Ich öffnete ihren BH. Ihre Brüste waren klein, die Haut wie Samt. Ich weiß nicht mehr, wie ich ihren Slip auszog. Dann lag sie neben mir und schaute mir in die Augen. »Du machst mich nervös«, sagte sie. Ich spürte ihren warmen Körper.

»Wie?«

»Du machst mich nervös.«

Ich verstand das nicht. ›Meint sie das ernst?‹

Sie küsste meine Schulter, und ihre Zunge fuhr meinen Hals entlang und langsam hinab an meiner Brust.

›Meint sie das ernst? Was ist hier los? Ich mag sie. Das kann nicht echt sein. Wie kann so etwas echt sein?‹

»Halt, warte.« Ich zog sie zu mir nach oben. »Warte«, sagte ich.

Sie schaute mich fragend an. Dann umarmte sie mich. Wir passten genau zusammen. Unsere Körper passten ganz genau zusammen. Ich drückte sie fest an mich, und sie verschwand in mir, denn sie wollte verschwinden und ich nahm sie auf, weil ich gewartet hatte auf jemanden wie sie.

»Du magst mich. Das ist das Problem, stimmt’s?«

»Ja, es ist verrückt, wir kennen uns nicht, aber ich mag dich.«

»Nein, das ist nicht verrückt, ganz und gar nicht, ich mag dich auch.«

›Sie muss das sagen‹, dachte ich, und dann sagte ich es: »Du musst das sagen.«

Ihre Stimme veränderte sich, ich spürte etwas Verletztes darin. »Du glaubst mir nicht?«

»Nein, entschuldige, ich glaube dir nicht. Du musst das sagen.«

»Glaubst du, ich würde einen meiner Kunden so umarmen wie dich? Glaubst du, ich würde mich von einem meiner Kunden so küssen lassen wie von dir? Ich mag dich, ich mag dich sogar sehr.«

Ein heißer Schwindel überkam mich. »Das kann nicht sein«, sagte ich, und da hatte ich bereits aufgegeben. Ich glaubte ihr. »Das kann doch nicht sein.«

Sie drückte sich fest in mich und sagte so still und so sicher, wie man nur die Wahrheit sagt: »Es ist aber so.«

Sie verbarg ihren Kopf in meinen Armen.

»Mir ist kalt«, flüsterte sie.

Ich deckte uns zu. Es war warm und wohl, und ich schloss meine Augen. Wir lagen sehr lange so. Bis der Wecker klingelte, denn sie hatte zu Beginn, wie sie es wohl immer bei ihren Freiern tat, ihr Handy auf ein und eine dreiviertel Stunde gestellt.

»Musst du jetzt gehen?«

»Nein, noch nicht, wir haben noch eine Viertelstunde.« Sie richtete sich im Bett auf und saß jetzt neben mir. »Ich möchte mit dir schlafen«, sagte sie. »Ich würde jetzt sehr gern mit dir schlafen.«

Ich wollte nicht. Ich konnte nicht. »Nein, entschuldige, lass uns bitte nur hier sitzen.«

Sie legte sich wieder neben mich und lehnte ihren Kopf auf meine Schulter.

»Lea.«

Ich hatte sie verstanden, sie hatte ›Lea‹ gesagt. »Wie?« fragte ich.

»Lea, ich heiße Lea. Das ist mein richtiger Name. Lea, und ich bin nicht sechsundzwanzig, sondern dreiunddreißig.«

Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. ›Ist das ihr richtiger Name? Sie sagt das immer, zu jedem. So macht sie aus allen Freiern Stammkunden‹, dachte ich. »Du siehst nicht aus wie dreiunddreißig«, sagte ich.

»Ich weiß, deswegen haben die mich auch jünger gemacht. Und wie heißt du?«, fragte sie.

»Na Martin.«

»Ach, das ist dein richtiger Name?«

»Ja sicher.«

»Die meisten nehmen sich andere Namen und haben ein extra Handy. Du machst das wirklich zum ersten Mal.«

Ich sah halb unter der Decke ihre rechte Brust, wie sie leicht meinen Bauch berührte. Es fühlte sich schön an, sie war etwas kalt. Ich legte meinen Arm fester um ihre Hüfte und zog sie näher zu mir heran.

»Warum machst du das?«, fragte ich.

Sie schaute mich an und ich sah zwischen ihren Augenbrauen eine kleine Falte. »Was?«

»Na, das hier.« Ich deutete auf uns. »Warum hast du damit vor vier Monaten angefangen? Warum sagst du den Männern, dass du sie magst?«

»Das tue ich nicht. Ich sage es ihnen nicht. Ich habe es nur dir gesagt.«

»Gut, du hast es nur mir gesagt, aber was war vor vier Monaten? Wieso vor vier Monaten?«

»Es gab verschiedene Gründe, damit anzufangen.«

Ich wartete.

»Ich habe in einer Wasserspenderfirma gearbeitet, weißt du, die Dinger, die beim Arzt stehen, mit einem rosa und einem blauen Knopf, für normales und gekühltes Wasser. Ich war fürs Controlling der Firma zuständig. Zweihundert Angestellte. Sechzig Stunden Arbeit die Woche. Ich habe das gebraucht. Ich war immer ansprechbar. Mein Handy war die ganze Nacht an. Es kam vor, dass mein Chef vier Uhr morgens aus China angerufen hat, und ich bin rangegangen. Ich habe immer alles bis zur Erschöpfung gemacht. Eines Abends kam ich nach Hause. Mein Freund, wir waren schon getrennt, hat mir die Füße massiert, wir verstehen uns immer noch sehr gut. Er massierte mir die Füße, und ich merkte, wie mir der linke einschläft. Es war unangenehm. Ich sagte ihm, er solle doch links mal etwas mehr machen. Ich spürte nichts. ›Weiter oben und kräftiger‹, sagte ich. Er schaute mich komisch an. Ich sagte, dass er kräftiger zudrücken soll, denn ich hab’ gar nichts gespürt. Er drückte voll zu. Wir hatten gerade gegessen, und die Teller standen noch rum. ›Nimm die Gabel da!‹, sagte ich zu ihm. Er wollte erst nicht. Dann nahm er sie und stach leicht in meinen Oberschenkel. Ich spürte nichts. Es war beängstigend. Ich hab’ die Gabel genommen und so lange gedrückt, bis es zu bluten anfing. Er schaute mich an. So hatte ich ihn noch nie gesehen. So ängstlich. Ich fragte, was los ist. Er sagte nur, dass mit meinem Gesicht etwas nicht stimmt. Ich bin sofort ins Bad und schaute in den Spiegel. Meine linke Gesichtshälfte hing nach unten, wie geschmolzen, wie geschmolzenes Wachs. Es war so eine Art Schlaganfall. Es hat vier Wochen gedauert, bis ich meinen Mundwinkel wieder bewegen konnte. Mit der Arbeit war es erstmal vorbei. Ich dachte, es geht nie wieder weg. Jetzt ist es einigermaßen okay. Bis auf das hier.« Sie deutete auf ihr linkes Auge, das sich nicht bewegte und mich stumm anschaute.

Ich hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit so einer Geschichte. Aber es sind wohl immer solche Geschichten. Dann sagte ich so etwas wie »Krass« oder »Das ist schlimm.« Was soll man da sagen.

»Du bist der Erste, dem ich das erzähle«, sagte sie, und ich dachte: ›Das muss sie jetzt sagen. Wie gemein das ist, dass ich so etwas denke, wie gemein und niederträchtig, so etwas zu denken.‹ Vielleicht war ich ja wirklich der Erste.

Sie wusste nichts über mich, und ich kannte diese Geschichte. Ich fragte sie, warum sie es nicht ihren Eltern erzählt hat; und dies war die zweite Frage, die sie an diesem Abend nicht beantwortete. Sie blickte mir nur fest in die Augen.

Ich ruderte sie schweigend über den See, in seichteres Gewässer, zu einer Insel, auf der man durchatmen kann, auf der man sich aufrecht hinsetzt und durchatmet. Sie holte tief Luft, und ich liebte sie dafür. Ich glaube jetzt, dass sie damals wirklich frei atmen konnte.

Sie blieb drei Stunden bei mir und bat mich, mir ihre Nummer geben zu dürfen. Ich wunderte mich nicht und klappte mein Handy auf. Sie diktierte. »Null, eins, sieben, eins, fünf, fünf, drei, sieben, zwei, fünf. Hast du’s?« Ich tippte auf ›Nummer speichern‹. »Ja, ich hab’s.« Das Handy forderte mich auf, den Namen einzutippen. Ich schaute sie an, und was ich jetzt tat, war schlimm. Ich sagte es langsam und laut, während ich es eintippte: »Lena.«

Sie reagierte sofort und lächelte noch: »Nein, nein, Lea.«

Es schmerzte mich. Erst jetzt fiel ihr auf, was ich getan hatte. Sie wurde wütend. »Wolltest du mich gerade testen? War das ein Test, ja? Du wusstest genau, dass ich Lea heiße. Du wolltest wissen, ob ich das erfunden habe, oder?« Ich schaute ihr in die Augen, die leicht schielten, schwarz und tief waren und in die sich eine Trauer mischte.

»Entschuldige«, sagte ich und dachte: ›Ich wollte dir nicht wehtun, aber ich kann das alles nicht glauben.‹ Doch ich sagte es ihr nicht.

Zum Abschied standen wir in der Tür zum Flur und küssten uns. Ein Kuss, in dem man noch den Schmerz schmeckt. Es war, als würden wir uns sicher wiedersehen.

Ich habe sie nie angerufen. Ich hatte Angst vor der Wahrheit, vor der einen wie vor der anderen.

Die Frau des schönen Mannes

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