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GESPRÄCHE MIT OBEN – OLGA

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Es war an einem heißen Sommertag, als Olga, über den Patienten Baranow gebeugt, das Ende der Bauchsonde mit dem Schlauch zum Tropf verbinden wollte. Da sprang die Tür des Krankenzimmers auf, und Andrej, ein junger Pfleger, stürmte herein. Olga drehte sich erschrocken um, noch den Katheter in ihrer Hand.

»Er ist dran! Er ist dran!« Andrej schnappte nach Luft, denn er war die fünf Treppen aus der Verwaltung, immer vier Stufen auf einmal nehmend, heruntergesprungen, und nun konnte er nur noch in kleinen Stückchen sprechen.

»Oben! Am Telefon! Schnell!«

Olga wusste nicht gleich, worum es ging, doch dann begriff sie.

Sie drehte sich noch einmal zu dem Patienten um, dann wieder zu Andrej gewandt sagte sie: »Mach du das hier!« Er war schnell bei ihr und übernahm den Schlauch. Dann rannte sie los, und ohne zurückzuschauen rief sie: »Danke!«

Andrej schrie ihr noch hinterher: »Und grüß ihn von mir! Grüß ihn!«

Der Patient Baranow hatte seine Augen geschlossen und hörte dies alles nur durch den dichten Schleier aus Schmerzmitteln und dumpfer Erschöpfung.

Olga musste nun diese fünf Treppen hinauf. Auf dem Gang kam ihr die Oberschwester entgegen und blieb überrascht mitten im Weg stehen. Olga lief auf sie zu und mit den Worten »Entschuldigen Sie, aber er ist dran!« knapp an ihr vorbei.

Sie hörte noch, wie ihr die Schwester nachrief, dass sie ihn grüßen solle, dass sie ihm alles Gute wünschen solle, alles Gute.

Als sie außer Atem oben in der Verwaltung ankam, wartete ihre Freundin Irina Andrejewna schon ungeduldig auf sie, streckte ihr den Hörer entgegen, und als Olga ihn vorsichtig an ihr Ohr hielt, war die Raumstation bereits über Europa hinweggeflogen, hatte, während Olga vom dritten in den vierten Stock gelaufen war, fünfhundert Kilometer zurückgelegt und war nun mit ihrem Mann an Bord im Erdschatten über der Mongolei verschwunden.

Olga setzte sich enttäuscht, noch außer Atem, an den kleinen Tisch im Raucherraum neben der Personalabteilung. Einige Minuten saß sie da und konnte an nichts denken, nur fluchen konnte sie. Sie zündete sich eine von ihren dünnen weißen Zigaretten an. Das Zimmer war schäbig. An der Wand hing ein einziges verblasstes Bild von der Küste des Schwarzen Meeres. Auf der Wachstuchdecke vor ihr stand ein Aschenbecher, sonst nichts. Sie zählte die Stummel darin. Es waren vierundzwanzig. Als sie zu Ende geraucht hatte, drückte sie ihre Zigarette aus und sagte leise: »Fünfundzwanzig.«

Sie sah aus dem offenen Fenster nach draußen. Von dort aus, wo sie saß, konnte sie ihre Wohnung im neunten Stock des gegenüberliegenden Plattenbaues sehen. Sie dachte daran, wie sie am Abend wieder allein dort drüben im Wohnzimmer sitzen und der Fernseher flimmern würde. Sie sah sich selbst dort hin- und herlaufen und dachte daran, wie schön es sein wird, wenn ihr Mann zurück ist. Sie dachte, dass sie dann unbedingt tapezieren müssten, denn oben in einer der Zimmerecken blätterte schon etwas Tapete von der Wand. Sie fegte immer mit dem Besen die Spinnweben von der Decke, aber wie lange würde sie dazu noch die Kraft haben?

Sie ärgerte sich darüber, dass sie ihr nicht vorher Bescheid gesagt hatten, dass sie überhaupt nie vorher Bescheid sagen würden; und dann fiel ihr ein, dass Irina Andrejewna jeden Tag eineinhalb Stunden mit der Bahn quer durch die Stadt fahren musste, um auf Arbeit zu kommen, und ihr fiel wieder auf, wie groß Moskau eigentlich war. Irgendwer hatte ihr erzählt, dass wenn man diese Stadt einmal zu Fuß durchqueren wolle, es zwei Wochen dauern würde.

Gleich darauf musste sie an den Patienten Baranow denken, dass es ihn am schlimmsten erwischt hatte, viel schlimmer als all das, was ihr bisher in ihrem Leben passiert war. Er war sicher einmal ein hübscher Mann gewesen, selbst der kahle Kopf stand ihm noch gut. Sie dachte, ein Mensch sollte so nicht sterben müssen wie er. Sie dachte daran, wie sie ihm zwei Tage zuvor die Wahrheit nicht mehr verschweigen konnte, als er immer wieder nachgefragt hatte, wie es stünde mit ihm, sie könne es ihm ruhig sagen, er würde keinen Ärger machen, aber er müsse es wissen, ob der Professor diese Woche noch kommen würde. Er hatte sie wirklich gefragt: »Liebe Olga, sagen Sie mir ehrlich, kommt der Professor diese Woche noch zu mir?« Und sie hatte nur kurz innegehalten und genickt und nichts gesagt, denn sie wusste, dass er wusste, was es bedeutet, wenn der Professor kam.

Warum musste ihr Mann auch so ein Mensch sein, der sich hingibt für solch eine Sache, der sich freiwillig einsperren lässt, auch wenn es das erhabenste Gefängnis der Welt ist, eingesperrt ist er, und dann formulierte sie den Satz, den sie dachte, noch einmal um: ›Nein‹, dachte sie, ›eingesperrt hat er sich selbst, schon immer hat er sich einschließen lassen.‹

Damals schon hatte er den Versuch gemacht, neunzig Tage auszuhalten in einem Raum, der noch kleiner war als die Station, in der er jetzt saß. Er durfte sie, seine Frau, nicht sehen, das gehörte dazu, denn sie wollten wissen, ob ein Mensch stark genug sei, diese ganze Zeit allein nur mit sich selbst zurechtzukommen.

Sie hatte ihn einmal besucht. Davor gestanden hatte sie, vor diesem Raum aus Holz, der von außen aussah wie das schlecht gebastelte Haus eines Kindes und drinnen wie der Nachbau einer Station, die man irgendwann einmal zu den Sternen schicken wollte. Sie hatte damals davorgestanden und gedacht: ›Was wird er jetzt gerade machen, in diesem Moment? Spielt er Schach mit sich selbst? Kratzt er sich am Kopf? Liest er in einem Buch? Schreibt er einen Brief an mich? Wäscht er sich gerade das Gesicht?‹ Was konnte er schon tun da drin.

Sie hatten ihr angeboten, ihn über eine der Kameras sehen zu können, und eigentlich war sie nur deswegen hingefahren; aber als dann nur diese dünne hölzerne Wand zwischen ihr und ihm war, konnte sie es nicht mehr. Sie wollte ihn nicht so sehen, sie wollte nicht wissen, was er tat, wie er aussah nach zwei Monaten Isolation. Sie wusste, dass er ihr fremd sein würde, denn er musste sich sehr weit im Zentrum seines Selbst befinden, und von dort aus kann nur etwas wie Fremdheit von einem Menschen abstrahlen, und davor hatte sie mehr Angst als vor der Zeit der Trennung, die noch vor ihnen lag.

Sie hatten ihr gesagt, dass er sich sehr gut mache, dass er sich wohl fühle und alles wirklich gut verlaufe, viel besser als bei seinem Vorgänger, der nach einem Monat abbrechen und, wie sie erfahren hatte, ›behandelt‹ werden musste. Ihr Mann musste nicht abbrechen, er musste auch nicht behandelt werden. Ihr Mann brauchte niemanden, auch nicht sie, obwohl er immer das Gegenteil behauptete: er könne das alles nur, weil er wüsste, dass sie auf ihn warte, weil er sich ihrer sicher war, und das konnte er auch sein, dachte sie. Er hatte sich nun mal in den Kopf gesetzt, das zu schaffen, zum Wohle der Wissenschaft, zum Ruhme des sozialistischen Arbeiter- und Bauernstaates, der großen Sowjetunion, dass man später, ja, vielleicht irgendwann sogar er selbst, zum Mars und noch weiter hinaus ins Universum fliegen könne. Sie lag immer mit sich im Streit darüber, ob sie stolz oder wütend auf ihren Ehemann sein sollte, der etwas so Unmenschliches fertigbrachte.

Das alles dachte sie jetzt, während sie schon seit einiger Zeit Ringe mit ihrem Zeigefinger auf das Tischtuch malte. Und dann dachte sie noch, dass sie all das niemandem erzählen konnte, denn sie hatte Angst, sie würden ihn dann nicht mehr hoch lassen, und das wäre tatsächlich das Einzige, was er ihr nie verzeihen würde.

Die Frau des schönen Mannes

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