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2. Kapitel

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§ 140

(1) Die Mitwirkung eines Verteidigers ist notwendig, wenn…

2. dem Beschuldigten ein Verbrechen zur Last gelegt wird.

§ 139

Der als Verteidiger gewählte Rechtsanwalt kann mit Zustimmung dessen, der ihn gewählt hat, die Verteidigung einem Rechtskundigen, der die erste Prüfung für den Justizdienst bestanden hat und darin seit mindestens einem Jahr und drei Monaten beschäftigt ist, übertragen.

(Strafprozessordnung der Bundesrepublik Deutschland, Stand 08.05.2015)

Koch war ein Kaffeejunkie. Er war in der Lage, täglich literweise den schwarzen Muntermacher in sich hinein zu kippen. Es war nicht sein Ziel, sich damit aufzuputschen. Nein, das Heißgetränk schmeckt ihm einfach, am besten einen Pott zu jedem Tagesabschnitt. Wahrscheinlich hatte sein Körper sich bereits derart daran gewöhnt, dass ihm der Kaffeegenuss keine Minute Schlaf rauben konnte. Am liebsten trank er ihn schwarz, also ohne „Zusätze“ und so stark als möglich. Jeder andere hätte wohl bei seiner Dosierung der schwarzen Brühe Gift und Galle gespien, aber nicht er! Und eines stand für ihn außer Frage, den besten Kaffee kochte Alisha. Regelmäßig schleppte sie unaufgefordert Tasse für Tasse aus dem Vorzimmer in sein Büro, um sie dann mit einem kopfschüttelnden Lächeln und einem wohl gemeinten „Eines Tages bekommst du von dem Zeug einen Herzinfarkt“ auf seinen Schreibtisch zu stellen. Mit einem: „Glaub ich nicht ...“, lächelte er dann gewöhnlich zurück. Dieses Prozedere wiederholte sich so oft, dass es schon langsam eine Art Kultstatus annahm. Es klopft an der Tür und Alisha steckt ihre schwarze Wuschelmähne zur Tür herein. „Jetzt übertreibst du es aber! Alle zehn Minuten, das schaffe noch nicht mal ich!“, quittiert er. „Du hast Besuch.“ Koch verzieht leicht das Gesicht: „Hättest du nicht einen Termin machen können? Du weißt doch, dass ich diese blöde Bilanz hier fertigkriegen muss! Morgen kommt der Müller. Der will den Scheiß hier abholen und ich habe gerade mal die Hälfte fertig.“ „Glaube mir, dieser Besuch wird dich interessieren …“, flüstert sie leise und fügt hinzu: „Herr und Frau Hohmann!“ Er sieht sie mit starrem Blick an. „Siehst du, sage ich doch, dass dich das interessieren wird. Soll ich sie reinbitten?“, erwidert sie, mit einem leicht bitteren Unterton. Alisha kannte die Wartenden, zwar nur aus Erzählungen und das auch nur wenig, aber immerhin wusste sie, dass es sich um die Eltern seiner großen Liebe handelte. Koch nickt stumm. So stark wie die Neugier auf diesen Besuch auch sein mag, die Gedanken an die Vergangenheit schießen in diesem Moment wie Blitze durch den Kopf. Plötzlich ist seine Erinnerung wieder da, diese Sehnsucht, die er doch so quälend langsam aber mit wachsendem Erfolg bekämpft hatte. Sonja. Seine Sonja. Im inneren Zeitraffer laufen die Erinnerungen in Sekundenbruchteilen ab, das erste Aufeinandertreffen, die wunderschönen anderthalb Jahre und das jähe Ende. „Ja, schick sie rein!“ Betont schnippisch verlässt sie das Büro. Was hatte sie erwartet? Dass er sagen würde: „Nein, ich will sie nicht sehen?“ Unrealistisch! Sie verwirft ihren Wunschgedanken im Handumdrehen. Sekunden später erhebt er sich und geht auf das Ehepaar Hohmann zu, nimmt Sandra Hohmann zur Begrüßung in die Arme und reicht Lutz, ihrem Ehemann, freundschaftlich die Hand: „Was für ein seltener Besuch. Wir haben uns Jahre nicht mehr gesehen …“ „Ziemlich genau sechs“, bestätigt Hohmann. Koch deutet auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch: „Nehmt Platz! Möchtet ihr was trinken, ein Wasser, einen Kaffee vielleicht?“ Sandra schüttelt lächelnd den Kopf: „Nein danke. Deine Art von Kaffee kenne ich noch zu genüge.“ „Kann dir ja einen Besucherkaffee machen lassen.“ „Nein. Lieb gemeint.“ Ihr Lächeln schwindet. „Also gut, was führt euch her, was kann ich für euch tun?“ Sie wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Mann, der zustimmend nickt. „Sonja…“ Sie stockt, dann fährt sie fort: „Sonja steht unter Mordanklage.“ Koch schluckt, ist irritiert: „Sonja? Was ist passiert?“ Wieder zögert sie: „Darum geht es ja gerade. Wir wissen es nicht.“ „Nun mal schön langsam! Beruhige dich und erzähle mir alles in Ruhe.“ „Sonja soll ihren Lebensgefährten getötet haben. Die Beweise sind anscheinend erdrückend. Was allerdings fehlt, ist der Grund, ein Motiv. Man hat festgestellt, dass sie zum Tatzeitpunkt unter dem Einfluss einer Droge stand.“ „Sonja war ein Feind jeglicher Drogen und hatte auch kein Verständnis für Leute, die diese konsumierten.“ Lutz stimmt ohne Zögern ein: „Das ist es ja. Wir vermuten, dass ihr jemand das Zeug untergejubelt hat. An diesem Abend hatte sie eine Diskothek besucht. Vielleicht dort.“ „Wann war das?“ „Vor einem guten halben Jahr.“ Sandra fällt ihrem Mann ins Wort: „In zwei Wochen beginnt der Prozess.“ „In zwei Wochen? Da kommt ihr jetzt erst?“ „Das Gericht hat einen Pflichtverteidiger berufen.“ „Was soll denn der Mist? Warum seid ihr nicht gleich zu mir gekommen?“ Sandra zuckt mit den Schultern: „Ich weiß es nicht. Wie du schon sagtest, es ist Jahre her, und auf das Nächstliegende kommt man vielleicht nicht so schnell.“ „Zwei Wochen …“

Erneut schaut sie zu ihrem Mann, als wolle sie von ihm eine Art Bestätigung erhalten: „Es geht auch nicht darum, dass du sie vertrittst. Wie schon gesagt, das Gericht hat einen Anwalt gestellt. Falk, wir brauchen deine Hilfe. Der Anwalt hat bei dieser Beweislast kaum Möglichkeiten auf mildernde Umstände zu plädieren, solange nicht der tatsächliche Tathergang und ein Motiv erkennbar sind. Und nur Sonja ist in der Lage darüber Auskunft zu geben. Das Problem besteht darin, dass sie seit ihrer Festnahme mit niemandem ein Wort gewechselt hat. Weder mit ihrem Anwalt, nicht mit der Gerichtspsychologin und auch nicht mit uns.“ „Verstanden. Und was kann ich tun? Habt ihr einen Plan?“ „Ich weiß, dass sie dich auch noch nach eurer Trennung geliebt hat…“ Und, weil man jemanden so richtig liebt, möchte man ihn loswerden. Und macht von einer Sekunde zur anderen Schluss – das und vieles andere geht Koch durch den Kopf. „Wir dachten, dass du sie mal besuchst. Vielleicht vertraut sie sich dir an.“ „Wie stellt ihr euch das vor? Eine Untersuchungshaftanstalt ist doch kein Sanatorium, in dem durchgängig Besuche möglich sind. Der Zugang ist nur der Verteidigung und der Staatsanwaltschaft vorbehalten. In diesem Fall bin ich weder das eine noch das andere.“ „Wir haben Sonjas Verteidiger unseren Vorschlag unterbreitet und er hat gesagt, er würde dafür sorgen, dass du mit ihr sprechen kannst. Vorausgesetzt, du machst es. Hier ist seine Karte. Wenn du uns helfen willst, dann solltest du ihn anrufen.“ Mit zittriger Hand schiebt sie die Visitenkarte über den Schreibtisch. Nein, das war keine Bitte, es war ein Flehen. In ihren Augen spiegelte sich die Angst einer besorgten Mutter. „Natürlich werde ich alles Mögliche versuchen. Ich werde diesen Anwalt gleich mal anrufen. Gebe euch dann sofort Bescheid, wenn ich was Neues weiß.“ „Danke.“ „Nicht dafür. Ist doch selbstverständlich.“

Unmittelbar, nachdem die Hohmanns die Kanzlei verlassen hatten, drückt er die Karte seiner Rechtsanwaltsgehilfin in die Hand: „Sei bitte so nett und vereinbare mit diesem Herrn einen Termin. Ich will ihn schnell treffen. Wenn möglich, gleich morgen Vormittag. Sag ihm, es geht um den Fall Sonja Hohmann.“ Alisha greift wortlos die Karte und hebt den Hörer ab.

Koch macht sich auf den Weg zu Dr. Winfried Sandow. Dieser führt ihn in die Berliner Kantstraße. Unweit des Kurfürstendamms betreibt der Kollege in diesem, vom Volksmund als Nobelgegend titulierten westlichen Teil der ehemals getrennten Frontstadt, seine Kanzlei. Ein goldfarbenes Schild an der Haustür weist den Weg über die Stufen, die in die erste Etage führen. Schon der Empfangsbereich zeugt davon, dass hier vorwiegend Klienten Rechtsbeistand suchen, deren üppige Einkünfte das Einholen gut bezahlter juristischer Ratschläge erst möglich machten. Hier waren kaum sogenannte „Normalbürger“ in der Kartei zu erwarten. Die nette Empfangsdame erkundigt sich nach seinem Anliegen und dirigiert ihn mit den Worten „Herr Dr. Sandow ist gleich für Sie da“ in das Wartezimmer. Im Gehen fragt sie noch: „Darf ich Ihnen noch einen Kaffee anbieten?“ Der „Kaffeejunkie“ verneint dankend und nimmt auf einem der edlen Ledersessel Platz. Koch sieht sich um. Ein größerer runder Tisch, vermutlich aus hochglanzpoliertem deutschem Eichenholz, sicherlich handgeschnitzt, steht im Zentrum des Zimmers, eingerahmt von den vier Ledersesseln. An den Wänden befindet sich eine schlichte, aber sicherlich hochwertige Tapete, die durch fünf Gemälde aufgewertet wird. Die aufwendig verschnörkelten Bilderrahmen lassen an einen barocken Stil erinnern. Das Blattgold hat allerdings seine besten Tage hinter sich. Die dunkelroten Samtvorhänge an der Fensterfront runden den ambivalenten Eindruck zwischen Seriosität und Pomp ab. Hier sind Prunk und Lifestyle gleichermaßen anzutreffen. Wer hier in diesem Raum sitzt, musste einfach das Gefühl haben richtig zu sein. Trotz aller edlen Ausstattung – man fühlte sich gut aufgehoben und kam wahrscheinlich erst auf andere Gedanken, wenn man die Schlussrechnung aus dem Briefkasten gefischt hatte. Das Ensemble, das Koch hier erlebte, war nicht zu vergleichen mit der spartanischen Einrichtung seiner eigenen Kanzlei. War diese vornehme Adresse der Grund, dass er nicht so viele Aufträge zu verzeichnen hatte, oder lag es doch eher daran, dass Sandow mehrere Jahre Berufserfahrung besaß? Jahre, in denen er kaum einen seiner Prozesse verlor, sich als Staranwalt profilieren konnte. Umso mehr stellt sich Koch die Frage, weshalb ein Gericht gerade solch einen Anwalt als Pflichtverteidiger einsetzte und schließlich auch, warum sich Sandow auf einen wenig lukrativen Prozess einließ, anstatt sich mit Zeitmangel herauszureden. „Herr Koch. Kommen Sie bitte!“ Die nette Empfangsdame führte ihn in einen großzügigen Raum, wo ihm der prominente Rechtsbeistand freundschaftlich die Hand entgegenstreckte: „Guten Tag, Kollege. Bitte nehmen Sie doch Platz.“ Koch mustert sein Gegenüber. Irgendwie hatte dieser Sandow eine gewisse Ähnlichkeit mit Hunscha. Er war womöglich im gleichen Alter, hatte ebenfalls eine Halbglatze und die Nickelbrille im Gesicht gab ihm den Touch eines Intellektuellen. Gehen allen erfolgreichen Anwälte im fortgeschrittenen Alter die Haare aus? Eine Anwaltskrankheit, hervorgerufen vom Stress der Prozesse? Dann bräuchte er sich im Moment ja keine Gedanken machen.

„Nun…“, begann der Hausherr. „Wenn Sie mich fragen, ist das ganze Unterfangen eher sinnlos. Ich habe dem Mandat auch nur zugestimmt, weil mich das Ehepaar Hohmann sehr eindringlich darum gebeten hat. Die Sache ist eigentlich klar. Fräulein Hohmann hat unter Drogeneinfluss ihren Lebensgefährten umgebracht. Die Beweise der Staatsanwaltschaft sind mehr als eindeutig, Zeugen sind vorhanden. Was fehlt, ist ein Geständnis und der reale Tathergang. Speziell aus dem letzteren Umstand könnte man, mit ein wenig Glück, vielleicht noch etwas Potenzial für verminderte Schuldfähigkeit sehen. Glaube ich aber selbst nicht so recht daran. Der Drogenkonsum ist das einzige Argument, das ich anführen kann. Sie wissen selbst, dass das weniger als wenig ist. Ein Gutachten im Auftrag der Staatsanwaltschaft bestätigt die volle Schuldfähigkeit, und wegen der äußerst brutalen Ausführung des Tötungsdeliktes ist die besondere Schwere der Tat quasi unausweichlich. Und meine Mandantin schweigt beharrlich. Ich gehe auch davon aus, dass sie diese Haltung während des Prozesses nicht ändern wird. Aber wie schon erwähnt, ist das im Grunde genommen unerheblich. Aber fahren Sie ruhig zu ihr. Mit ein wenig Glück entlocken Sie ihr ja vielleicht ein Hallo.“ Koch sieht ihn fragend an: „Nehmen wir mal an, sie redet wirklich mit mir. Welche Strategie schlagen Sie vor?“ „Wie schon gesagt, es gibt keinen wirklichen Anhaltspunkt.“ Sandow greift hinter sich, holt eine Akte aus dem Beistellschrank und reicht sie über den Tisch: „Hier, nehmen Sie die Akte mit, bringen Sie diese aber mindestens drei Tage vor Prozessbeginn zurück. Das ist zwar nicht ausdrücklich erlaubt, aber auch nicht unbedingt illegal. Blättern Sie das Ding durch, dann wissen Sie, wovon ich rede! Ich habe für Sie einen Termin in der Untersuchungshaftanstalt organisiert. Für übermorgen zehn Uhr. Eine entsprechende E-Mail sende ich Ihnen heute noch zu.“ „Für einen Mordprozess ist der Ordner aber ziemlich schmal.“ Sandow zuckt mit den Schultern: „Steht aber alles detailgetreu drin. Mehr ist halt nicht.“ „Und es gibt nicht das geringste Anzeichen, dass Fräulein Hohmann doch nicht für die Tat verantwortlich ist?“ Der Kanzleichef schüttelt mit unterschwelligem Lächeln den Kopf: „Lesen Sie alle Dokumente! Wenn Sie dann noch immer der Meinung sein sollten, dass es Zweifel gibt, bin ich sehr gerne dazu bereit, Ihnen den Fall abzutreten. Wer verliert schon gerne freiwillig. Ich habe mich ohnehin nicht darum gerissen, die Sache zu übernehmen, war aber noch jemandem einen Gefallen schuldig. Also lesen Sie und urteilen dann selbst.“

Koch packt die Akte unter seine Jacke, um sie vor dem erneut einsetzenden Schneefall zu schützen, und macht sich auf den Rückweg in seine schmucklose aber vertraute Kanzlei. Ja, Sandow müsste man sein, dann könnte man sich seine Klienten aussuchen. Es sei denn, man müsste jemand einen Gefallen tun.

Der Inhalt des Ordners ist wirklich erschreckend. Gleich auf den ersten Seiten sind Kopien der Tatortfotos. Man sieht einen unbekleideten Mann in einer Badewanne. Der linke Arm baumelt schlaff über den Wannenrand, die Kehle ist anscheinend durchschnitten. Neben dem Kopf steht das kleine dreieckige Schild mit der Nummer eins. Damit zeigt die Kriminaltechnik, dass dies das erste Foto vom vermuteten Tatort ist und weitere Fotos folgen. Foto zwei zeigt den Oberkörper des Opfers, ebenfalls blutverschmiert. Foto drei und vier stellen das Badezimmer in der Totalen da, Blutspritzer sind an den Kacheln und auf dem Fußboden erkennbar. Nummer sechs, sieben und acht, bilden den kleinen Flur ab. Man sieht einen Garderobenschrank mit aufgezogenen Fächern, auf dem Boden liegen beschriebene Papierseiten. Es folgen vier Bilder aus unterschiedlicher Perspektive, die die vermutliche Tatwaffe, ein großes Fleischermesser zeigen, das in einer dunklen Ecke des Flurs liegt. Schließlich befinden sich noch Fotos vom Wohnungseingang, dem Treppenhaus und eine Außenansicht des Gebäudes in der Mappe. Als nächstes Blatt ist das Untersuchungsprotokoll einer DNA Probe abgeheftet. Sie bestätigt, dass die Blutspritzer auf der Kleidung der Beschuldigten mit absoluter Sicherheit dem Blut des Opfers entsprechen. Wieder sind Fotos mit Nummern beigefügt. Sie zeigen eine blutbefleckte Jacke, einen Pulli sowie eine Hose der Beschuldigten. Allesamt Textilien, die diese bei ihrer Festnahme trug. Koch legt die Akte auf seinen Wohnzimmertisch und zündet sich nachdenklich eine Zigarette an. Sonja! Warum, Sonja? Kräftig zieht er an dem weißen Stäbchen, lässt die Glut tiefrot aufleuchten, stößt den Rauch aus. Im Gegensatz zu dem Nebel des Rauchs, der sich im Zimmer verflüchtigt, vergehen die Erinnerungen nicht. Nostalgische Bilder einer unbeschwerten Zeit bauen sich vor ihm auf, sind einfach da, wollen sich nicht vertreiben lassen.

Das erste Aufeinandertreffen war damals in der Uni. Er ackerte im Jurastudium, sie war im Fach BWL eingeschrieben - und erst im zweiten Semester. Eigentlich wäre man sich nie begegnet, wenn da nicht die Mensa gewesen wäre. Er wartete mit einem Tablett in der Schlange, das er in Richtung Kasse schob. Nichtsahnend, dass sie hinter ihm steht. Warum sollte er auch hinter sich schauen? Nach zehn Minuten gab die Kassiererin die fälligen neunzig Cent für seinen Pudding ein. Er wühlte seine Taschen durch, stellte fest, dass er sein Portemonnaie oben im Hörsaal vergessen hatte. Eine Hand von hinten legte einen Euro auf sein Tablett und eine zarte Stimme forderte ihn ungeduldig auf: „Nun mach schon! Ich würde gerne auch noch was essen, bevor die Vorlesung wieder anfängt.“ Er erinnert sich an seinen roten Kopf. Da stand sie vor ihm – er sah sie zum ersten Mal. Er blickte in ihre blauen Augen, bewundert ihre bis zum Busen reichenden, gewellten, hellbraunen Haare, die einem Werbefilm hätten entsprungen sein können. Und ihr bezauberndes Lächeln. Sie lächelte fast immer, wie er später feststellen sollte. Ihm, dem ansonsten so sprachgewandten Falk Koch, fehlten die Worte, so begeistert war er von dem Anblick seiner Mittagsbekanntschaft. Nur mühevoll brachte er wenigstens ein bemühtes Danke zustande. „Bitte. Nun mach schon, ich habe Hunger!“, forderte sie leicht genervt. Und zahlte. Sie schob sich mit ihrem Essen an ihm vorbei und verschwindet langsam aus seinem Blickwinkel. Fasziniert hatte er ihr hinterher gesehen. Von diesem Zeitpunkt an rannte er fast zwei Monate lang, immer zur gleichen Zeit, in die Mensa, hoffnungsvoll und dennoch vergeblich, um sie wiederzusehen. Schließlich traf er sie, kurz vor den Semesterferien, an der Bushaltestelle. „Hallo. Ich schulde dir noch einen Euro“, sprach er sie von hinten an und hielt ihr das Geldstück entgegen. Irritiert schaute sie sich um, dann fiel es ihr wieder ein: „Jetzt weiß ich endlich, warum ich mir die ganze Zeit nichts zu essen leisten konnte ...“ Und wieder beschlich ihn dieses blöde peinliche Gefühl. Wie nun weiter? „Habe die ganze Zeit nach dir Ausschau gehalten.“ Das war alles, was er mit erneuter Schamesröte hervorbrachte. Sie lächelte. Oh Gott, dieses Lächeln! „Nun hast du mich ja gefunden. Gibst du mir den Euro nun wieder?“ Scheiße, er bemerkte, dass er, geblendet von ihrer Schönheit, das Geldstück immer noch krampfhaft in seiner Hand verbarg. „Sich davon zu trennen fällt schwer“, hatte er damals lachend erwidert und das „Corpus Delicti“ in ihre Hand gedrückt. Dann kam der Bus und stellte fest, dass man ein großes Stück gemeinsamen Weges hatte. Schließlich musste er sich verabschieden, aussteigen, nicht ohne ihr das Versprechen abgetrotzt zu haben, dass man sich morgen in der Mensa wiedersehen würde. Im Gehen schaute er noch einmal zurück. Sie lächelte ihm nach. Oh Gott, dieses einmalige, unvergessliche Lächeln …

Falk Koch drückt seine Zigarette im Aschenbecher aus, greift erneut zur Akte und liest die einzelnen Zeugenaussagen. Alles ist klar, nachvollziehbar und verständlich notiert. Kann eine Frau wie seine Sonja, dieser lebensbejahende Mensch, solch ein abscheuliches Verbrechen begangen haben? Für ihn unvorstellbar. Doch die Akte spricht eine andere Sprache.

Der Junge aus der Vorstadt

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