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I

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Amaryllis Duvane stand geduldig im lärmenden Trubel eines Londoner Kaufhauses. Sie wartete auf Miss Agatha Warburton und Miss Cissie Warburton, die mit ihren Einkäufen bald fertig sein mußten.

Eine Erinnerung ging ihr durch den Kopf. In glücklicheren Tagen war sie mit ihrem Vater nach London gekommen und hatte mit großen, verwunderten Augen die königliche Garde in ihren prunkvollen Uniformen bewundert und in der Spielwarenabteilung eines großen Kaufhauses die Bälle, Schläger, Drachen und Reifen bestaunt, hatte die Düfte von Puddings, Gelees, Törtchen und Sandkuchen geschnuppert. Noch einmal glaubte sie, das Brüllen und Kreischen der Löwen, Tiger, Affen und Vögel im Tiergarten zu hören.

Und dann war die Erinnerung wieder verflogen. Amaryllis Duvane, eine graue Gestalt inmitten des bunten Gewimmels, zwang ihre Gedanken zurück in die Gegenwart.

Nach dem Tod ihres Vaters vor acht Jahren hatten ihre bescheidenen Verhältnisse sie gezwungen, als arme Verwandte bei ihrer Tante, Lady Warburton, zu leben. Sie spielte die Rolle einer Dienstbotin, wenn die Geschwister Warburton einkaufen gingen. Die Warburtons hatten ein ganzes Heer von Bediensteten, doch kleine Aufgaben wie diese wurden Amaryllis auferlegt, um sie an ihre niedere Stellung zu erinnern. Einstmals war sie als schönstes Mädchen der Londoner Saison angeschwärmt worden, und der Marquis von Merechester hatte sich mit ihr verlobt. Nach dem Tod ihres Vaters hatte Amaryllis die Verlobung gelöst, weil sie sicher war, daß der gutaussehende und stolze Marquis keine bettelarme Braut haben wollte. Die Warburtons allerdings glaubten zu wissen, daß der Marquis ihrer einfach überdrüssig geworden war.

Agatha und Cissie waren neunzehn und zwanzig Jahre alt. Beide hatten blonde Locken, große blaue Augen und eine wohlgerundete Gestalt. Obwohl sie recht jung gewesen waren, als Amaryllis im Haus der Warburtons aufgenommen worden war, erinnerten sie sich noch sehr gut an ihre strahlende Erscheinung und die Sicherheit ihres Auftretens. Zwar sagten sie oft und laut, Amaryllis’ Aussehen habe mittlerweile betrüblich gelitten; dennoch mochten sie nicht zugeben, daß ihr immer noch große Anmut und ein schwer beschreibbarer Charme eigen war, und dieser unterdrückte und dennoch heftig empfundene Neid veranlaßte die beiden, Amaryllis zu demütigen, so oft sie nur konnten.

Indessen war ihnen klar, daß sie sich in der Öffentlichkeit, beispielsweise beim Einkauf, zurückhalten mußten.

James, der zweite Diener, wartete in angemessener Entfernung. Die beiden Schwestern wußten, daß er Lady Warburton über ihr Verhalten Bericht zu erstatten hatte. Daheim, in ihrem Stadthaus oder in ihrer Villa auf dem Land, machten sie sich gerne einen Spaß daraus, Amaryllis zu drangsalieren, vorausgesetzt, daß sie außer den Familienangehörigen und den Bediensteten niemand dabei beobachten konnte.

»Arme Amaryllis«, murmelte Lady Warburton gerne. »Niemand wollte sie. Und mein Bruder war ein solcher Verschwender. Aber von den Toten soll man ja nicht schlecht reden. Ich mußte sie einfach zu mir nehmen. Natürlich behandle ich sie wie meine eigenen Töchter…«

Amaryllis’ Vater, Sir James Duvane, war ein dicker, fröhlicher Mann gewesen, der in sein einziges Kind vernarrt war. Lady Duvane war gestorben, als Amaryllis zehn Jahre alt war. Sir James überschüttete Amaryllis mit Geschenken und Kleidern und schien unerschöpfliche Geldquellen zu haben. Allerdings hatte er bei seinem Tod einen Schuldenberg hinterlassen, und Amaryllis’ Schmuck und das Haus der Familie waren verkauft worden, damit wenigstens ein Teil der Verbindlichkeiten abgedeckt werden konnte.

Amaryllis hatte den Warburtons die demütigende Art, mit der sie bei ihnen behandelt wurde, übelgenommen. Schon bald, nachdem sie von ihnen aufgenommen worden war, hatte sie sich alle Mühe gegeben, auf ihren eigenen Beinen zu stehen.

Bei einer Mrs. Anstruther hatte sie einen Posten als Erzieherin angetreten. Mrs. Anstruther war eine strenge Frau mit fünf kleinen Kindern. Nach den ersten paar Wochen hatte Mr. Anstruther versucht, sie zu verführen.

Als Amaryllis seine Annäherungsversuche zurückwies, hatte er seiner Frau befohlen, sie ohne ein Zeugnis hinauszuwerfen. Diese Erfahrung hatte Amaryllis einen schweren Schock zugefügt, und sie war zu den Warburtons zurückgekehrt. Deren Benehmen konnte sie ertragen, wenn sie sich möglichst unauffällig, ja demütig gab. Ihr dichtes kastanienbraunes Haar trug sie straff nach hinten gebürstet; ihr einst strahlendes Gesicht war nun mager geworden. Ihre großen grauen Augen betrachteten die Welt ohne erkennbare Erregung – ein Blick, den sie sorgsam eingeübt hatte.

Plötzlich spürte Amaryllis, daß etwas das Interesse der Menge erregte, in deren Mitte sie sich befand. Cissie und Agatha hatten Spielsachen mit Uhrwerken in der Hand. Cissie hielt eine kleine, hölzerne, sich um die eigene Achse drehende Ballerina vor sich hin, wobei sie jemand anstarrte, der hinter Amaryllis zu stehen schien.

Amaryllis wandte den Kopf und zuckte zusammen, als eine vertraute, träge Stimme hinter ihr sagte: »Warum in aller Welt hast du mich hierhergebracht, Joseph? Ich komme mir wie ein Geizkragen vor, der billige Geschenke für seine Dienerschaft sucht.«

Obwohl Amaryllis diese Stimme schon seit acht Jahren nicht mehr gehört hatte, erkannte sie sie sofort wieder. Sie gehörte dem Marquis von Merechester.

Vor ihr stand ein großer Korb voller Fächer. Ohne es recht zu wollen, nahm sie einen davon und starrte ihn geistesabwesend an.

Sie fühlte, daß der Marquis ganz nahe an ihr vorbeiging. Sie öffnete den Fächer und hielt ihn sich vors Gesicht. Verwundert stellte sie fest, daß ihre Hand nicht zitterte. Wieder hörte sie seine Stimme, ohne aber die Worte verstehen zu können.

Vorsichtig senkte Amaryllis den Fächer und schaute ihm nach. Der Marquis überragte die anderen Kunden; sein Profil war ihr zugewandt.

Ihr Herz schlug schneller. Der Marquis sah noch besser aus, als sie ihn in Erinnerung hatte. Sein blauer Mantel spannte sich faltenlos über seine breiten Schultern. Sie erkannte die vertraute, arrogant wirkende Nase, sah seinen heiter geschwungenen Mund und das goldblonde Haar unter dem großen Hut. Er wandte sich seinem Begleiter zu und sagte etwas zu ihm. Seine ruhigen blauen Augen unter den schweren Lidern gaben seinem Gesicht jene sinnliche Wirkung, an die sie sich so gut erinnerte.

Und dann sah er sie geradewegs an. Errötend hielt sie sich den Fächer vors Gesicht. Ihr Herz pochte.

»Möchten Sie den Fächer?« fragte der Verkäufer. »Echt handbemalt.«

»Ja«, sagte Amaryllis und suchte in ihrem Täschchen. »Was kostet er?«

»Zwei Pfund, die Dame.«

Viel mehr Geld hatte Amaryllis ohnehin nicht. Sie bezahlte den Fächer. Cissie und Agatha kicherten backfischhaft und blickten zu dem Marquis und seinem Begleiter hin.

Amaryllis erkannte Joseph Chalmers, den besten Freund des Marquis. Wie seltsam, die beiden nach so langer Zeit wiederzusehen!

Und wie eigenartig, daß sie ihn nach all den Bällen und Gesellschaften in London zum ersten Mal wieder in einem Kaufhaus wiedersah!

Cissie lachte jetzt laut; ihre Stimme klang hoch und schrill. Der Marquis zuckte zusammen und sagte etwas zu Mr. Chalmers. Dann machten die beiden kehrt und schlenderten auf Amaryllis zu, die ihr Gesicht von neuem verbarg.

Als sie schließlich hinter dem Fächer hervorspähte, waren die beiden verschwunden.

Cissie und Agatha standen neben ihr und starrten sie mürrisch an.

»Wirklich urkomisch siehst du aus, Ammy«, meckerte Cissie, »wenn du dein Gesicht so versteckst. Dieser Fächer ist aber auch zu gewöhnlich. Hast du den vornehmen Herrn nicht gesehen? Wer das wohl war?«

»Was für einen Herrn?« fragte Amaryllis, die ihre eigene Stimme nur gedämpft vernahm, so laut pochte ihr Herz.

»Den großen Blonden mit dem blauen Mantel und der Pikeeweste.«

»Ich weiß nicht, wen du meinst«, sagte Amaryllis. »Können wir jetzt nach Hause gehen?«

»Schade, daß du so gar nicht zur Gesellschaft gehörst, Ammy«, klagte Agatha. James, der Diener, trug ihnen ihre Einkäufe hinterher, während sie zum Wagen gingen. »Sonst wüßtest du vielleicht den Namen des Herrn in dem Kaufhaus.«

»Mit Verlaub, Miss Agatha«, ließ James sich vernehmen, »sprechen Sie vielleicht vom Marquis von Merechester oder seinem Freund Mr. Chalmers?«

»Was?« entfuhr es den Schwestern unisono, und sie blieben plötzlich stehen. Zwei blaue Augenpaare starrten Amaryllis vorwurfsvoll an. »Du wußtest, wer das war, Ammy«, sagte Cissie. »Du hast dich ja nicht zu deinem Vorteil verändert, aber er muß noch immer wie früher sein. Mama sagte, er sei ein sehr gutaussehender Bursche gewesen, als er sich mit dir verlobte.«

»Er muß sich sehr verändert haben, wenn er es war«, erwiderte Amaryllis ruhig. »Ich habe im Kaufhaus niemand gesehen, der dem Marquis ähnelte.«

»Ich sage, du lügst«, erregte sich Agatha. »Na, Mama wird’s ja feststellen.«

Beklommen dachte Amaryllis daran, was ihr an Boshaftigkeiten bevorstand. Freilich, morgen würden die Warburtons sich aufs Land zurückziehen, und damit war die Gefahr, den Marquis wiederzusehen, ziemlich gering. Das war ein gewisser Trost.

Lange verdrängte Erinnerungen brachen urplötzlich über sie herein. Unvermittelt war sie wieder im Gelben Salon des väterlichen Hauses. Säuberlich zu Stapeln getürmt und mit braunen Leintüchern zugedeckt, wartete alles auf den Hammer des Versteigerers.

Auf ihre dringende Bitte war der Marquis gekommen. Mit seinen zweiundzwanzig Jahren hatte er sich noch viel von der Unbekümmertheit der Jugend bewahrt. Allerdings war er gerade dabei, sich den leicht gönnerhaften Ton des Städters anzueignen. Mit leicht spaßhafter Miene hatte er sie gefragt: »Na, Amaryllis? Heute ganz ohne Anstandswauwau?«

»Ich möchte nicht, daß jemand hört, was ich dir zu sagen habe.« Amaryllis konnte ihre Worte noch hören. Sie wußte, daß er kürzlich den Titel und die Ländereien geerbt hatte, die der Familie Merechester gehörten.

Sie liebte ihn innig und war gewiß, daß auch er sie mochte. Freilich wußte sie, daß er dringend die große Mitgift benötigte, die ihr verstorbener Vater ihr versprochen hatte. Diese Mitgift war dahin. Wie sollte sie also die Verlobung aufrechterhalten? »Ich möchte unsere Verlobung lösen«, sagte sie

Er machte Anstalten, ihre Hände in die seinen zu nehmen, doch Amaryllis wandte sich ab. »Darf ich erfahren, warum?« fragte er. Seine Stimme klang ungewohnt ernst.

»Ich liebe dich nicht.«

»Nein, das kann nicht sein, da bin ich sicher«, hörte sie ihn sagen. »Das Haus deines Vaters wird verkauft. Du fühlst dich verpflichtet, mich freizugeben. Doch dafür besteht kein Anlaß.«

»Das ist es nicht«, erwiderte Amaryllis. »Ganz und gar nicht. Solche von Eltern oder Verwandten arrangierten Heiraten sind einfach absurd. Ich möchte so etwas nicht.«

»Amaryllis! Sieh mich an!«

Sie drehte sich um und blickte ihn ausdruckslos an.

Seine blauen Augen erforschten die ihren. Übermächtig empfand Amaryllis den Wunsch, sich in seine Arme zu werfen. Aber er brauchte eine reiche Frau, und daß er sie liebte, hatte er nie behauptet.

Seit dem Tod ihres Vaters war ständig nur vom Geld die Rede gewesen. Ein Mädchen ohne Geld habe keinerlei Chancen, hatte es immer geheißen.

»Was willst du jetzt tun?« Er hatte sich abgewandt, als hätte ihn das, was er in ihren Augen gefunden hatte, enttäuscht.

Daß er ihre Ablehnung so leicht hinnahm, verletzte Amaryllis zutiefst. »Ich werde mir einen reichen Mann suchen, was sonst?« antwortete sie.

Er drehte sich auf dem Absatz um. Augenblicke später hörte sie die Haustür ins Schloß fallen.

»Hör auf, mir mit dem billigen Fächer im Gesicht herumzuwedeln.« Mit diesen Worten holte Cissie Amaryllis in die Gegenwart zurück.

Amaryllis errötete.

Cissies Augen verengten sich. »Aha, das war also nicht der Marquis von Merechester. Dann möchte ich bloß wissen, warum du so fürchterlich rot wirst.«

»Sieh mal, Cissie«, sagte Amaryllis, »die junge Dame dort drüben hat genau den gleichen Hut wie den, den du letzte Woche gekauft hast.«

Cissie ließ sich ablenken, und Amaryllis konnte sich wieder in ihre Gedanken versenken. Der Marquis war sehr sorgfältig gekleidet gewesen. War er verheiratet?

Nein, das konnte nicht sein. Lady Warburton hätte das in den Gesellschaftsspalten gelesen und ihr die Neuigkeit sicher brühwarm erzählt.

Der Wagen kam vor dem Stadthaus der Warburtons am Hanover Square zum Stehen. Der Herbstabend dunkelte. Ein Laternenanzünder steckte die Gaslampen an.

Ein kalter Wind seufzte.

Die Mädchen beluden Amaryllis mit ihren Fächern, Schals und Handtäschchen. Sie brauchten sich gegenüber Amaryllis keine Rücksicht mehr aufzuerlegen.

Amaryllis wäre in ihr Zimmer geflohen, doch Agatha packte sie am Handgelenk und sagte mit drohender Stimme: »Komm mit, Ammy. Wir sprechen mit Mama.«

Lady Warburton saß im Wohnzimmer. Sie hatte ein hartes Gesicht und war von erstaunlicher Vulgarität, was wieder einmal bewies, daß jemand, der seinen Stammbaum bis zur normannischen Eroberung Englands zurückverfolgen konnte, deswegen noch nicht unbedingt gute Manieren besaß.

Ihr Bruder, Sir James Duvane, Amaryllis’ Vater, war von gutmütig-derber, fröhlicher Art gewesen, hatte aber immer auf Standesbewußtsein gehalten. Mit seiner Schwester war er nie sehr gut ausgekommen. Streberisch wie eine Krämerin sei sie, hatte er gemeint. Sie war eine magere blonde Frau und so groß und eckig wie ihre Töchter kurz und rund. Ihre Augen, einstmals so blau wie die ihrer Kinder, waren jetzt von verwaschener Farbe.

»Kannst du dir vorstellen, was passiert ist?« begann Cissie und schubste Amaryllis nach vorne. »Da kommst du nicht drauf. Ammy leugnet, daß der Beau, den wir im Kaufhaus gesehen haben, der Marquis von Merechester war, aber James sagt, er war es, und ich glaube, sie lügt. Sieh nur, wie durcheinander sie ist.«

»Wäre es der Marquis gewesen«, entgegnete Amaryllis zu jeder Lüge entschlossen, »dann hätte er mich erkannt.«

»Kaum«, sagte Lady Warburton und maß Amaryllis mit einem abschätzigen Blick von oben bis unten. »Aber ich bin überzeugt, daß er es war. Es heißt, daß er seine finanziellen Verhältnisse wieder in Ordnung gebracht hat und ein Einkommen von fünfzigtausend Pfund im Jahr bezieht. Kürzlich soll er sich ein Stadthaus gekauft haben. Wir sind heute abend bei Lady Dunbar zum Dinner geladen, da werde ich mich über ihn erkundigen. Auch der Marquis wird dort erwartet. Er ist ein sehr gutaussehender Mann. Sollte es mir gelingen, ihn zu einem Besuch einzuladen, so nimm bitte zur Kenntnis, Amaryllis, daß ich keinerlei Bemühen von deiner Seite dulden würde, seine Zuneigung neu zu entfachen. Ich glaube zwar überhaupt nicht, daß du es könntest, aber solltest du auch nur den geringsten Versuch unternehmen, wäre das außerordentlich peinlich. Es gibt nichts Widerwärtigeres als den Anblick einer jungen Verwandten, die vergessen hat, wo ihr Platz ist. Zu den Dunbars wirst du nicht mitkommen. Da ist noch eine Näharbeit, die ich gerne fertiggestellt sehen möchte.«

»Mit ihm unter einem Dach zu sein wäre mir unerträglich«, murmelte Amaryllis.

»Deine Meinung ist in dieser Angelegenheit ohne Bedeutung.« Lady Warburtons Blick war betont amüsiert.

Amaryllis drehte sich auf dem Absatz um und eilte zur Tür hinaus.

Als sie sich ausgeweint hatte, war ihr etwas leichter ums Herz. Sie beschloß, sich ihre Lage erst einmal durch den Kopf gehen zu lassen.

Der Marquis würde sicher keine Einladung von Lady Warburton annehmen. Er hatte sie nicht gemocht, als Amaryllis mit ihm verlobt war. Morgen würden sie alle wieder auf dem Land sein; sie brauchte dann nicht mehr auf Schritt und Tritt zu befürchten, ihm in die Hände zu laufen. In Patterns, dem Landhaus der Warburtons, mußte sie Cissies und Agathas Gesellschaft nicht in gleichem Maße erdulden wie in der Stadt. Lady Warburton gab häufig Gesellschaften; bei solchen Anlässen wurde meistens erwartet, daß Amaryllis sich rar machte. Hatten die Gäste freilich ihren Vater gekannt, dann wurde ihnen Amaryllis als Beispiel für Lady Warburtons Großherzigkeit vorgeführt. Dies geschah indessen nicht allzu häufig, denn die meisten Freunde ihres verstorbenen Vaters mochten die Warburtons nicht.

Lord Warburton hatte sein Vermögen mit Eisen und Stahl gemacht. Seine Baronie hatte er gekauft, wie es hieß; der verschwenderische Prinz von Wales sei nur allzu glücklich gewesen, seine Finanzen auf diese Weise aufbessern zu können. Warburton übersah Amaryllis weitgehend und überließ es seiner Frau und den Töchtern, das Mädchen zu schikanieren.

Das Leben erstreckte sich vor Amaryllis wie eine lange, steinige Straße zum Grab. Doch es würde erträglich sein, glaubte sie, wenn sie nur den Marquis von Merechester nicht wiederzusehen brauchte. Eine solche Liebe würde sie nie wieder finden.

Während der drei Tage langen Reise nach Patterns lauschte Amaryllis nur, ob der Name des Marquis von Merechester fiel.

Sie wußte, daß er bei den Dunbars gewesen war; Lady Warburton hatte es ihr erzählt. Von dieser kurzen Bemerkung abgesehen, war aber von ihm nicht mehr die Rede gewesen. Erleichtert nahm Amaryllis an, daß er eingeladen worden sei, aber abgelehnt habe.

Obwohl sie dort nicht viele glückliche Stunden erlebt hatte, freute sich Amaryllis, über den Baumwipfeln die hohen, phantastisch wirkenden Tudor-Kamine von Patterns wiederzusehen. Manchmal hatte sie das Gefühl, als sei dieses Landhaus ihr einziges Zuhause. Lord Warburton hatte es mit allem Drum und Dran von einem verarmten Landadeligen gekauft. Knauserig, wie er war, hatte er nichts zu seiner Modernisierung getan. In den Räumen stand noch elegantes Mobiliar aus dem letzten Jahrhundert, das den guten Geschmack der Vorbesitzer widerspiegelte.

Es war ein langes, verschachteltes Gebäude aus efeuüberwuchertem Backstein. Seine Sprossenfenster spiegelten die untergehende Sonne, als der Wagen der Warburtons die Zufahrt hinaufrollte.

Amaryllis trug ihren Koffer selbst auf ihr Zimmer. Hätte sie ihn bei den anderen in der Halle gelassen, hätte ihn einer der Diener nach oben gebracht. Doch bei früheren Anlässen hatten Cissie und Agatha verlangt, daß man ihn dort ließ, »bis dieses faule Stück ihn selbst holt«. Amaryllis wollte ihnen also keine Möglichkeit bieten, ihrer Geringschätzung Ausdruck zu geben.

Die Diener nahmen gegen sie eine Haltung vorsichtiger Freundlichkeit ein. Unverhohlene Sympathiebeweise konnten Entlassung zur Folge haben wie im Falle von Lady Warburtons letzter Zofe, die schuldig befunden worden war, Amaryllis’ Haar geflochten zu haben, während sie ihrer Herrin hätte zu Diensten sein sollen.

Eigentlich hätte Amaryllis ihr Zimmer selbst säubern müssen, doch hatten während ihrer Abwesenheit fleißige Hände gewirkt. Die schäbigen Möbel waren glänzend poliert, und jemand hatte einen Krug mit wilden Blumen auf den Nachttisch gestellt.

Amaryllis nahm ihren Hut ab, knöpfte den Mantel auf und setzte sich auf einen Stuhl am Fenster. Wenn sie Glück hatte, durfte sie sich ihr Abendbrot auf einem Tablett ins Zimmer bringen und brauchte die Mahlzeit nicht am Familientisch einzunehmen.

So war es dann auch. Allem Anschein nach gehörte der Abend ihr ganz allein. Nach der ständigen Gegenwart von Agatha und Cissie, die sie in London hatte erdulden müssen, war Einsamkeit für Amaryllis geradezu etwas wie Erholung.

Ganz unten in ihrem Koffer versteckt lag ein neuer Roman, den sie von ihrem sorgfältig gesparten Nadelgeld gekauft hatte. Sie würde den Türspalt mit einem Leintuch verstopfen, damit kein verräterischer Lichtschein hinausdrang. Lady Warburton billigte keine Verschwendung von Kerzen nach neun Uhr abends.

Sorgsam verstaute Amaryllis ihre wenigen Kleidungsstücke. Im Schrank hingen noch einige Kleider ihrer früheren Garderobe. Eines davon war ein weißes, seidenes Ballkleid, das mit silberbestickter Spitze besetzt war. Vor langer Zeit, als der Marquis noch ihr Verlobter gewesen war, hatte sie es einmal bei einem Ball getragen. Seine Augen hatten aufgeleuchtet, als sie in diesem Kleid die Treppe herunterkam. Jetzt hatte der Stoff schon zu vergilben begonnen.

Schließlich ließ sie sich vor dem Kaminfeuer nieder, öffnete den neuen Roman und fing an, die Seiten eine nach der anderen aufzuschneiden. Manchmal schnitt sie ein Buch auf einmal auf; dann wieder machte sie sich ein Vergnügen daraus, neue Seiten erst dann zu öffnen, wenn sie die vorhergehenden gelesen hatte.

Von der Tür kam ein Kratzen.

Widerstrebend ließ Amaryllis das Buch sinken und rief: »Herein!«

James, der zweite Diener, stand da. Den Roman hatten seine bösen, kleinen Augen sofort erspäht. Er war einer der wenigen Bediensteten, die Amaryllis nicht mochte.

»Ja, James?« fragte sie.

»Mylady möchte Sie im Salon sehen«, sagte James und senkte die Lider in seiner gespielt untertänigen Art.

»Sehr wohl, James. Ich komme sofort.«

Der Blick des Dieners ging erneut zu dem Buch. Amaryllis unterdrückte einen Seufzer.

Er würde Lady Warburton berichten, sie, Amaryllis, habe ein Buch gelesen anstatt zu nähen, und das Buch habe wie ein Roman ausgesehen. Neun Uhr war es noch nicht; wegen des Kerzenlichts würde sie keinen Ärger bekommen.

Als James gegangen war, rückte Amaryllis die einfache weiße Musselinhaube zurecht, die sie im Haus gewöhnlich über ihrer strengen Frisur trug, und zupfte die Falten ihres grauen Wollkleids zurecht. Den Roman versteckte sie unter der Matratze und legte einen Band mit Predigten, der von ähnlichem Format war, offen hin.

Lady Warburton saß allein im Salon – Cissie und Agatha hatten sich schon zur Nachtruhe zurückgezogen. James stand über sie gebeugt, als Amaryllis eintrat.

»Sehr gut, James«, sagte Lady Warburton. »Sie taten recht daran, mir das zu sagen. Gehen Sie in Miss Duvanes Zimmer hinauf und holen Sie dieses Buch.«

James warf Amaryllis einen unverschämten Blick aus seinen blaßgrünen Augen zu und schlich unterwürfig davon.

»Nun, Amaryllis«, begann Lady Warburton, »ich habe etwas sehr Wichtiges mit dir zu besprechen. Der Marquis von Merechester war bei den Dunbars.«

»Ja?« murmelte Amaryllis, deren Herz heftig zu pochen begann.

»Ja – was noch?«

»Ja, Mylady.« Amaryllis war angewiesen worden, Lady Warburton immer beim Titel zu nennen, es sei denn, sie hatten Gäste; dann sollte sie »Tante« sagen.

»Ja, und er war ungemein eingenommen von Cissie. Es heißt, daß er sich jetzt, da er im Besitz eines Vermögens ist, nach einer Frau umsieht. Mr. Chalmers begleitete ihn. Beide haben Lord Warburtons Einladung angenommen. Nächste Woche werden sie kommen. So. Du tust aber nichts und sagst nicht ein Wort, das einen Schluß darauf zuließe, daß du einmal auf vertrauterem Fuß mit Merechester standest. Ich habe auch noch andere Gäste eingeladen. Daran, daß sich deine Situation sehr stark verändert hat, seit du Merechester zum letzten Mal gesehen hast, brauche ich dich wohl nicht zu erinnern. Wenn du hier bist, dann aufgrund meiner Nächstenliebe und Großzügigkeit. Wenn du dich in den Vordergrund spieltest, so mißfiele mir das aufs äußerste. Deine Existenz beruht darauf, daß du mir nicht mißfällst. Hast du verstanden?«

»Ja, Mylady.«

»Mit den Gästen wirst du nicht viel in Berührung kommen, dazu hast du zu viel Arbeit. Wenn Gäste kommen, die meinen Bruder kannten, dann erlaube ich dir, dabei zu sein, weichherzig, wie ich bin. Jetzt aber steht Cissies Glück auf dem Spiel, und ich werde nicht zulassen, daß etwas dazwischenkommt. In London habe ich Stoffe und mehrere Modemagazine erstanden. Ich sehe keinen Anlaß, Cissie für eine Menge Geld neue Kleider zu kaufen, wo du doch bestens imstande bist, sie zu schneidern. Erwarte mich morgen um elf Uhr im Speisezimmer; du bekommst dann genauere Anweisungen… Nun sagtest du ja des öfteren, du habest die Verlobung mit Merechester gelöst. Aber wenn du dir’s überlegst – sicher war er es, der die Verlobung auflöste.«

»Nein, Mylady«, sagte Amaryllis müde. »Aber das ist alles so lange her, und jetzt hat es keine Bedeutung mehr.«

»Sieh nur zu, daß es wirklich keine Bedeutung mehr hat«, sagte Lady Warburton heftig.

James trat mit mürrischer Miene ins Zimmer und brachte ein Buch.

»Nun wollen wir einmal sehen, wie du deine Zeit und dein Geld verschwendest«, sagte Lady Warburton und streckte gebieterisch die Hand aus. Sie schlug das Buch auf und las: »Predigten von Pfarrer Porteous… Gütiger Himmel«, rief sie. »An einem Wochentag solltest du deinen Verstand nicht mit Religion durcheinanderbringen. Der Sonntag ist die angemessene Zeit für diese Art von Lektüre.« In ihrem Innersten hielt sie Gott und seine Engel für eine höchst unbequeme Gattung von Wesen. Sie schlug das Buch zu und gab es Amaryllis zurück. »Vergiß nicht, was ich dir gesagt habe«, mahnte sie.

Amaryllis knickste und ging hinaus. Sie hörte noch, wie Lady Warburton den Diener zurechtwies: »Wenn Sie mir das nächste Mal etwas über sie melden, James, dann bitte etwas, das von Bedeutung ist.«

Amaryllis’ Zimmer sah noch genauso aus, wie sie es verlassen hatte – die Blumen leuchteten im Kerzenlicht, und das Feuer knisterte im Kamin. Und doch schien es, als sei es jetzt keine Zuflucht mehr.

In wenigen Tagen kam der Marquis von Merechester. Sie hatte ihn einmal geliebt. Sie fürchtete, daß sie ihn immer noch liebte.

Schönes, armes Mädchen

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