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ERSTES KAPITEL

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Viscount Anselm war dreiunddreißig Jahre alt, gutaussehend und reich. Er war nicht verheiratet. Und doch war niemand, der seine jüngste Vergangenheit kannte, auch nur im geringsten erstaunt, daß er noch nicht geheiratet hatte.

Vor zehn Jahren war er wegen seiner außerordentlichen Attraktivität das Gespräch von London gewesen und stand darin der Königin der Saison nicht nach. Sein goldenes Haar, sein reizendes Lächeln und sein Charme machten ihn zum Liebling der Damen, während ihm seine Körperkraft, seine Fechtkünste und sein Ruf als erstklassiger Wagenlenker die Bewunderung der sporttreibenden Männerwelt sicherten.

Dann starb sein Onkel Viscount Anselm und hinterließ ihm die Obhut über einen Haufen gackernder junger Mädchen, drei Töchter, zwei verwaiste Nichten und zwei uneheliche Töchter.

Der verstorbene Viscount war ein mürrischer Witwer gewesen. Er hatte sich die Zuneigung aller ehrbaren Frauen in der Verwandtschaft verscherzt, die dem neuen Viscount bei der Suche nach Ehemännern für diese Brut von jungen Damen, die er zusammen mit dem Titel und dem riesigen Vermögen seines Onkels geerbt hatte, hätten beistehen können.

Er hätte natürlich heiraten können, damit ihm die Frau an seiner Seite die Bürde, die auf seinen Schultern lag, etwas erleichterte. Aber die jungen Damen mit ihren haarsträubenden Eskapaden, ihrem Kokettieren mit den unpassendsten Männern und ihrem unentwegten Kichern hielten ihn derart in Atem, daß er ein anderer Mensch war, als er die letzte zum Altar geleitet hatte.

Er hatte gegen alle Frauen unter vierzig eine Abneigung gefaßt und traute keiner. Die Sorge um seine Güter zusammen mit den Aufgaben, die er als Vormund zu erfüllen hatte, hatten seinem Gesicht einen strengen Zug verliehen, und sein einst voller Mund bildete jetzt eine feste, unnachgiebige Linie.

Da er die überhitzten Salons von London und die Geistlosigkeiten einer langweiligen Saison nach der anderen gründlich satt hatte, vermietete er sein Stadthaus und zog sich auf seinen Landsitz Trewent in Cornwall zurück.

Schloß Trewent war in früheren Zeiten ein Quarantänehaus gewesen und später Staatsgefängnis. Der verstorbene Viscount hatte sich ein Vergnügen daraus gemacht, es zu seinem Landsitz zu machen und möglichst alles beim alten zu belassen. Es erhob sich hoch auf den Klippen über der See, ein karger, mit Zinnen versehener Bau aus gelben Ziegelsteinen, umgeben von hohen düsteren Mauern, die mit Eisenspitzen bewehrt waren, die ursprünglich dazu gedient hatten, die Gefangenen an der Flucht zu hindern.

Der neue Viscount hatte vorgehabt, ein ruhiges Junggesellendasein zu führen. Da hatte ihn – es war noch keine Woche her – ein neuer Schicksalsschlag getroffen. Er wußte, daß sein Onkel in seiner Jugend abenteuerlustig gewesen war und zusammen mit einer Gruppe anderer junger Engländer zahlreiche französische Aristokraten vor der Guillotine bewahrt hatte. Und nun stellte es sich heraus, daß der auf ewig dankbare Graf de la Falaise in Lissabon gestorben war und seine Tochter der Obhut von Viscount Anselm anvertraut hatte, ohne sich zu äußern, welchen Viscount Anselm er damit meinte. Das Mädchen, eine Siebzehnjährige namens Yvonne, hatte gerade ihre Schulzeit beendet.

Die portugiesischen Anwälte schrieben, daß diese Yvonne Ende des Monats in Falmouth eintreffen werde. Sie betrachteten es als selbstverständlich, daß der Viscount die Vormundschaft, ohne lange zu fragen, annahm.

Er reiste nach London, um seine eigenen Anwälte zu befragen. Der Chef der Kanzlei, Mr. Venables, schüttelte sein ehrwürdiges Haupt bedenklich. Es sei Lord Anselms gutes Recht, mit dem nächsten Postschiff einen Brief nach Portugal zu schicken und die Vormundschaft abzulehnen. Wenn er sich jedoch entschließe, sie anzunehmen, sagte Mr. Venables, dann sei der beste Rat, den er ihm geben könne, eine Gouvernante oder eine andere ehrbare Frau zu suchen, die ihm die ganze Angelegenheit abnehme.

»Schon wieder?« fragte der Viscount gereizt. Denn wie war das noch mit all den Gouvernanten und Gesellschafterinnen gewesen, die er eingestellt hatte, damit sie sich um die Brut des verstorbenen Viscount kümmerten? Zwei hatten sich so in ihn verliebt, daß es höchst peinlich wurde, eine war von einem Lakaien geschwängert worden, und die anderen waren so nachgiebig und dümmlich gewesen, daß sie zu nichts nütze waren.

»Sie haben sehr wenig Glück gehabt, Mylord«, stimmte ihm Mr. Venables zu. »Aber ich bitte Sie dringend, eine Anzeige in die Zeitung zu setzen, in der Sie eine Dame in reifem Alter und mit langjähriger Erfahrung suchen. Außerdem handelt es sich diesmal nur um eine junge Dame. Und sie ist in Portugal erzogen worden! Man ist dort sehr streng. Sie wird kein ungebärdiger Wildfang sein. – Inserieren Sie bei sich in der Gegend. Sie haben auf dem Land wahrscheinlich bessere Möglichkeiten, eine charakterfeste Persönlichkeit zu finden als in London«, fügte Mr. Venables hinzu, der eine sehr schlechte Meinung von der Stadt hatte, in der er seine Kanzlei betrieb.

Obwohl er sich keine großen Hoffnungen machte, in ganz England eine vernünftige Frau zu finden, gab der Viscount die Anzeige in der Form auf, wie sie ihm Mr. Venables vorgeschlagen hatte.

Zu seinem Erstaunen sagte ihm sein Butler noch am selben Tag, an dem die Anzeige erschienen war, daß sich eine Dame gemeldet habe und in der Halle warte.

»Führen Sie sie in die Bibliothek«, sagte der Viscount mit einem Seufzer. »Lassen Sie ihr Wein und Gebäck bringen. Ich komme in ein paar Minuten nach. Wie heißt sie?«

»Es handelt sich um eine Miss Patricia Cottingham aus Middle Dean.«

»Aus Middle Dean? Kennen Sie die Familie, Fairbairn?«

Fairbairn, der so alt und ehrwürdig war wie Mr. Venables, schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht sagen, daß ich mich im Moment an eine solche Familie erinnere, Mylord.«

Etwa zehn Minuten später ging der Viscount das eichengetäfelte Treppenhaus hinunter.

Normalerweise ließ er Besucher, gleichgültig welcher Sorte und welchen Ranges, nicht warten, aber in diesem Fall war er sicher, daß diese Miss Cottingham ihren Vorgängerinnen, die samt und sonders wohlerzogene, langnasige Geschöpfe gewesen waren, fatal ähneln werde.

Was für ein düsteres Gebäude das ist! dachte er nicht zum erstenmal, als ihm die Kühle und Ode seines Heims von neuem zu Bewußtsein kam. Es schien ihm, als habe er nie Zeit gehabt, es umzubauen, so beschäftigt war er damit gewesen, junge Damen während der Saison in London auf Bälle und außerhalb der Saison in Seebäder und Kurorte zu begleiten.

Er betrat die Bibliothek und blickte die Dame, die dort auf ihn wartete, überrascht an.

Sie stand sicherlich nicht mehr in der ersten Blüte ihrer Jugend; er schätzte, daß sie wahrscheinlich nur ein paar Jahre jünger war als er selbst. Sie war mit einem einfachen grauen Gewand bekleidet, über dem sie eine blaue Pelerine trug. Unter einem hübschen Strohhut waren blonde Haare sichtbar. Ihr Gesicht war ein ruhiges Oval, und sie hatte klare blaue Augen. Ihre Figur war wohlgeformt und ihr Auftreten gut.

Aber es war nicht ihr Aussehen, das den Viscount gleich überzeugte. Es war der ruhige Ausdruck in ihren Augen und die Art, wie sie still dastand und unaufgeregt auf ihn wartete.

Miss Cottingham sah ihrerseits einen hochgewachsenen Mann mit goldglänzendem Haar im Brutus-Schnitt vor sich. Er war nicht so modisch gekleidet, wie es in gewissen Kreisen üblich war. Seine Kleidung war dem Landleben angepaßt. Er trug rehfarbene, knielange Lederhosen und hohe Stiefel. Das schwarze, tadellos geschneiderte Reitjackett brachte seine kräftigen Schultern und seine breite Brust vorteilhaft zur Geltung. Seine Augen waren sehr blau und von dichten schwarzen Wimpern umrahmt. Er hatte eine feinrückige Nase und ein entschlossenes Kinn. Seine Augenlider waren ungewöhnlich schwer, was ihm ein seltsam sinnliches, zugleich nachdenkliches Aussehen verlieh, das im Gegensatz zu seinem im übrigen so strengen Gesichtsausdruck stand.

»Miss Cottingham?«

Sie machte einen Knicks. »Mylord.«

»Bitte setzen Sie sich. Sie haben sich sehr schnell auf meine Anzeige gemeldet. Stehen Sie im Augenblick in den Diensten einer Dame?«

»Nein, Mylord. Ich stand bei einer Mrs. Benham in Exeter in Diensten. Sie starb Anfang des Jahres und hat mir ein Zeugnis – ich habe es zusammen mit einem früheren bei mir – und eine kleine Geldsumme hinterlassen. Ich hatte lange keine freie Zeit mehr gehabt und war dankbar für die Frist, die mir ihre Hinterlassenschaft gewährte. Jetzt bin ich bereit, wieder zu arbeiten.«

Sie brachte all das mit ruhiger, fester Stimme vor.

»Dann wollen wir über die Stellung bei Mrs. Benham sprechen. Wie viele junge Damen befanden sich in Ihrer Obhut?«

»Fünf, Mylord. Ich habe das Zeugnis hier.«

»Ich sehe es mir später an. Im Augenblick wäre es mir lieber, wenn Sie mir die Art Ihrer Arbeit beschreiben würden.«

»Sehr wohl, Mylord. Ich war drei Jahre bei der Familie. Ich habe die jüngeren Mädchen in der Benutzung der Globen, in Italienisch, Handarbeiten und Klavierspielen unterrichtet sowie im Schreiben und Lesen. Die beiden älteren Mädchen – Zwillinge – habe ich auf ihr Debüt vorbereitet. Ich habe sie gelehrt, wie man einen Knicks macht, einen Fächer hält, sich nett unterhält und sich richtig anzieht.«

Der Butler kam mit Gebäck und Wein herein und stellte das Tablett auf einem niedrigen Tisch ab.

»Wir bedienen uns selbst«, sagte der Viscount und entließ ihn wieder.

Als er Miss Cottingham ein Glas Wein eingegossen und sie den Kuchen und die Biskuits abgelehnt hatte, lehnte er sich in seinem Sessel zurück und sagte: »Erzählen Sie mir etwas über Ihre Familie, Miss Cottingham. Stammt sie aus Middle Dean?«

»Nein, Mylord. Wir sind in Pendry in Norfolk zu Hause. Ich bin auf die Anzeige von Mrs. Benham hin nach Exeter gegangen. Nach ihrem Tod habe ich mir in Middle Dean eine Unterkunft gesucht.«

»Und Ihre Eltern?«

»Sie sind beide tot, Mylord. Mein Vater war der Pfarrer von St. Edmund in Pendry. Als er starb, mußten Mama und ich feststellen, daß er sehr wenig hinterlassen hatte. Wir schlugen uns mühsam durch. Als Mama ein Jahr später auch starb, beschloß ich, mich auf eigene Beine zu stellen.«

Durch die bleigefaßten Butzenscheiben sickerte düsteres grünliches Licht herein. In einer Ecke schlug eine riesige Großvateruhr, und das knisternde Feuer zischte, als der Regen den Kamin herunterplatschte.

Lord Anselm stellte fest, daß ihn Miss Cottinghams Geschichte rührte. Sie hatte alles in selbstverständlichem Ton erzählt, aber er war der Meinung, daß sie harte Zeiten hinter sich hatte.

Er kam zu einem Entschluß. »Die Situation ist folgende, Miss Cottingham. Mein Mündel, Yvonne de la Falaise, kommt Ende des Monats aus Portugal. Ich habe sie noch nie gesehen. Sie ist Französin und in Lissabon aufgewachsen. Ich weiß nicht einmal, ob sie überhaupt Englisch spricht. Ich möchte, daß eine einfühlsame Dame sie so gut erzieht, daß man sie – wenn sie meiner Rechnung nach neunzehn ist – während der Saison in London präsentieren kann. Ich habe keine Zeit, mich persönlich mit solchen Dingen abzugeben. Ihre Aufgabe wäre es praktisch, mir die Bürde der Vormundschaft abzunehmen.«

»Gewiß, Mylord.«

»Geben Sie mir bitte Ihre Referenzen – danke –, aber ich bezweifle, daß ich mir überhaupt die Mühe mache, sie zu lesen. Was zählt, ist der Charakter, nicht Referenzen. Es mag Ihnen merkwürdig vorkommen, daß ich mich so schnell entscheide, aber ich gestehe, daß ich der Angelegenheit schon überdrüssig bin; und dabei habe ich das Mädchen noch nicht einmal gesehen. Ich werde nach Falmouth reisen, um sie dort in Empfang zu nehmen, und wenn sie wohlbehalten hier angekommen ist, schicke ich Ihnen meine Kutsche. Es hat angefangen zu regnen. Sie fahren besser mit der Kutsche nach Hause. Vergewissern Sie sich, daß sich der Kutscher Ihre Adresse merkt. Und was Ihren Lohn betrifft, darf ich fünfzig Pfund im Jahr vorschlagen?«

»Sie sind sehr großzügig, Mylord.«

»Sie müssen mehr sein als nur eine Gouvernante. Sie müssen ihr auch Freundin, Gesellschafterin und Ersatzmutter sein. Drücke ich mich klar genug aus?«

»Ja, Mylord.«

Er zog an der Klingelschnur neben seinem Sessel und befahl, daß seine Kutsche am Eingang des Schlosses vorfahre. Während sie warteten, plauderte er über das, was sich in der Gegend so tat, und ließ dabei die ganze Zeit seine Blicke mit Wohlgefallen über ihr ruhiges Gesicht und ihre anmutige Gestalt streifen. So beeindruckt war er von Miss Cottingham, daß er sie selbst zum Schloßportal begleitete und wartete, bis sie abgefahren war.

Dann wandte er sich an seinen Butler. »Sie können allen Bewerberinnen, die sich noch melden, sagen, daß der Posten der Gouvernante bereits besetzt ist, Fairbairn.« Er lächelte befriedigt. Wenn es in England noch eine vernünftige Frau gab, dann hatte er sie gefunden. Er mußte jetzt nur noch das Mädchen in Falmouth abholen, wenn das Schiff aus Portugal ankam, und sie Miss Cottinghams fähigen Händen übergeben.

»Das, Mylady«, sagte Gustave Bouvet, der Diener von Yvonne de la Falaise, »sind die weißen Klippen von England.«

»Tiens!« rief die kleine, in Pelze gehüllte Gestalt neben ihm aus. »Dann sind sie aber in den Erzählungen gewaltig vergrößert worden. Ich finde sie überhaupt nicht beeindruckend. Ich weiß jetzt schon, daß ich dieses Land nicht mögen werde, Gustave. Was ist England? Ein Land ohne Sonne, habe ich gehört, mit großen dicken Engländern, die den ganzen Tag Roastbeef essen. Pah!«

Gustave schwieg, aber er war in niedergedrückter Stimmung. Der Tag war grau und kalt. Er vermißte die portugiesische Sonne jetzt schon. Während Yvonnes Vater langsam sein Vermögen verspielt hatte, war ein Diener nach dem anderen gegangen, bis nur noch Gustave da war, der alte Gustave, der ohne Bezahlung geblieben war und der jetzt die ganze Ergebenheit, die sich hinter seiner rauhen Schale verbarg, vom Grafen auf diese kleine Kindfrau übertragen hatte, die die Tochter seines verstorbenen Herrn war.

Yvonne sprach sehr gut Englisch, da sie immer eine englische Gouvernante gehabt hatte. Doch zwei Jahre vor dem Tod ihres Vaters hatte selbst diese ehrenwerte Dame um ihre Entlassung gebeten mit der Begründung, sie wolle nicht umsonst arbeiten. Gustave sprach nur ein paar Worte Englisch.

Deshalb war es Yvonne, die sich nach ihrer Landung mit den lästigen Formalitäten im Zollhaus herumschlagen mußte, wo mürrische Männer versuchten, die doppelten Gebühren für ihr Gepäck einzutreiben.

»Und wo ist dieser Mylord, der mein Vormund sein soll?« fragte Yvonne, als sie mit vor Erregung geröteten Wangen, aber triumphierend wieder auftauchte, nachdem sie sich erfolgreich mit einem habgierigen Zollbeamten auseinandergesetzt hatte.

Ein Lakai in Livree tauchte neben ihr auf, und es fiel ihm nicht leicht, ihren Namen auszusprechen, als er fragte: »Spreche ich mit Lady de la False?«

»Ja«, antwortete Yvonne unwirsch, »wenn Sie mit False Falaise meinen.«

»Ich soll Sie zu den ›Drei Fässern‹ bringen, einem Gasthof, wo Mylord Sie erwartet.«

Er ging vor ihr her zu einer Kutsche, die vor dem Zollhaus wartete. Yvonnes Koffer wurden hinten festgezurrt, und die Kutsche fuhr ab.

Sie blickte neugierig aus dem Fenster. Sie hatte viel über den Reichtum und die Sauberkeit der englischen Städte gehört. Aber Falmouth schien aus einer langen, schmalen, ziemlich schmutzigen Straße mit ärmlich aussehenden Häusern, die sich auf beiden Straßenseiten duckten, zu bestehen.

Der von Schloß Pendennis, das jetzt als schwarze Silhouette vor dem dunkel werdenden Himmel stand, beherrschte Hafen war jedoch sehr schön.

Nach kurzer Fahrt hielten sie vor dem Gasthof an. Der Lakai sagte, sein Herr habe mit dem Dinner auf sie gewartet und befinde sich einen Stock höher in einem privaten Salon. Sie folgte dem Diener eine schmale Stiege hinauf und einen gewundenen Korridor entlang. Er stieß eine Tür auf und kündigte sie an.

Yvonne betrat leichtfüßig das Zimmer, während Gustave in der Tür stehen blieb und die Befehle seiner Herrin erwartete.

Viscount Anselm erhob sich bei Yvonnes Eintritt. Seine Stimmung sank, als er sie sah. Sie war der Inbegriff alles dessen, was er beim zarten Geschlecht verabscheute. Ihre bloße Erscheinung und ihr Auftreten bedeuteten Unheil.

Er hatte sich eingeredet, daß dieser neue Schützling eine brave, im Kloster erzogene Ausländerin sein werde, und gehofft, eine strenge Erziehung habe ihr die Flügel beschnitten und ihren Charakter entsprechend geformt. Das leichtfertige kleine Geschöpf, das da vor ihm stand, sah so aus, als sei es nicht formbar.

Ihre Haut war goldfarben, und sie hatte große schwarze Augen, die von geradezu lachhaft langen seidigen Wimpern umrahmt waren.

Bei ihrem Eintritt hatte sie den schweren Pelzmantel von den Schultern gleiten lassen und stand in einem eleganten Kleid aus indischem Jakonettmusselin da, das ziemlich tief ausgeschnitten war und am Saum in drei üppigen Volants endete. Ihr Hut aus goldenen Strohfasern hatte eine breite Krempe und saß verwegen auf dem linken Ohr, so daß ihre dicken schwarzglänzenden Locken sichtbar waren.

Sie war ziemlich klein und setzte sich auf einen Stuhl am Kopfende des Tisches, von wo aus sie den Viscount mit unverhohlener Bewunderung musterte.

»Mylord«, waren die ersten Worte, die er aus Yvonnes Mund hörte, »ich bin angenehm überrascht. Ich habe einen dicken alten Engländer erwartet.«

»Ist das Ihr Diener?« fragte Lord Anselm und sah über ihren Kopf hinweg zu Gustave hin, der bleich und hohlwangig an der Tür stand.

»Mein Gustave. Ja.«

»Ich bin erstaunt. Ich hatte angenommen, daß Sie in Begleitung einer Zofe kommen.«

»Das wäre ich auch, wenn mir eine geblieben wäre. Papa hat alles verspielt, so daß er kein Geld mehr hatte, seine Bediensteten zu bezahlen, und nur der liebe Gustave ist geblieben.« Sie warf Gustave mit den Fingerspitzen einen Kuß zu, und sein Nußknackergesicht entspannte sich ein wenig. Mehr als diese Andeutung eines Lächelns brachte er nicht zustande.

Der Viscount bedeutete seinem Lakaien: »Bring Gustave nach unten und zeige ihm, wo er schläft. Und sag dem Wirt, daß er das Dinner auf der Stelle servieren soll.«

Als sich die Tür hinter den beiden geschlossen hatte, setzte er sich neben Yvonne an den Tisch. »Sie müssen sehr müde von der Reise sein, Mylady.«

»Sie dürfen mich Yvonne nennen.«

»Vielen Dank, Yvonne.«

»Nein, ich bin nicht müde«, sagte das leichtfertige Geschöpf, während sie die Hutbänder aufknüpfte und den Hut abnahm. »Aber ich bin ja so hungrig. Ma foi! Das Essen auf dem Schiff war abscheulich.«

»Hast du unter Seekrankheit gelitten?«

»Wie bitte?«

»Mal de mer.«

»Nicht doch. Wann fahren wir nach Hause?«

»Morgen früh. Warum trägst du keine Trauerkleidung, Yvonne?«

»Papa mochte nicht, daß ich Trauer trage. In Portugal sieht man so viele schwarzgekleidete Frauen, daß er gesagt hat, er wolle nicht, daß auch ich wie eine Krähe herumlaufe, nicht einmal nach seinem Tod. Er hat es sogar in seinem Testament festgelegt. Ich habe hübsche Kleider, finden Sie nicht? Ich habe sie bei der besten Schneiderin von Lissabon machen lassen, und als Papa sie nicht bezahlen konnte, habe ich meine Perlen verkauft, um die Rechnung zu begleichen. Man muß seine Schneiderin immer bezahlen, nicht wahr?«

»Ich halte auch viel davon, meine Schulden prompt zu bezahlen«, sagte der Viscount förmlich. »Ich schlage vor, du sprichst erst nach dem Essen wieder. Ich habe Kopfschmerzen.«

Yvonne gluckste vor Lachen. »Ah, ich verstehe, in England sind es die Herren, die Kopfschmerzen haben. Sagen Sie, leiden Sie auch unter hysterischen Anfällen?«

»Jetzt reicht es aber.«

Yvonne begann zu essen, zunächst mit herzhaftem Appetit, aber dann schien sie das Interesse an der Mahlzeit zu verlieren.

»Ich hätte gedacht, du bist hungriger«, bemerkte der Viscount.

»Ich war hungrig«, sagte Yvonne und stieß den Teller weg. »Aber dieses abscheuliche Essen verdirbt mir den Appetit. Ich kann keinen Geschmack daran finden. Das Fleisch ist halbroh, und das Gemüse ist nicht lange genug gekocht und noch nicht weich. Der Wein ist miserabel. Was kostet eine Flasche?«

»Viereinhalb Shilling.«

»Eine Flasche

»Ja.«

»Das grenzt an Raub!« sagte Yvonne zutiefst schockiert.

»Hat dir nie jemand gesagt, daß es von sehr schlechten Manieren zeugt, als Gast am Essen herumzumäkeln?«

»Natürlich. Ich käme nie auf die Idee, so etwas bei Ihnen zu Hause zu tun. Aber das ist ein sehr gewöhnliches Gasthaus.«

Der Viscount musterte sie höchst ungehalten. Sie hatte bis jetzt nicht ein Wort der Dankbarkeit geäußert. Statt dessen benahm sie sich sehr anmaßend. Er stieß einen Seufzer aus. Bloß gut, daß er Miss Cottingham hatte.

Yvonne warf ihm einen kurzen Blick zu. »Ah, ich benehme mich wirklich schlecht, und Sie fragen sich, warum das Schicksal Sie mit einem solchen Mündel gestraft hat. Ich bin überreizt und empfindlich. Ich fühle mich sehr fremd. Aber ich bin Ihnen dankbar, Mylord. Sehr sogar.«

»Ich erwarte keine Dankbarkeit, das kann ich dir versichern«, sagte er steif.

»O doch! Der Käse hier ist gut und die Butter ausgezeichnet. Das schauderhafte Essen scheint Ihrem Appetit nichts anhaben zu können. Sie waren ohne Zweifel beim Militär.«

»In der Tat. Aber ich bin nie übermäßig anspruchsvoll, wenn ich mich, wie du es zu nennen beliebst, in einem gewöhnlichen Gasthof aufhalte.«

»Sie sollten es aber sein«, sagte Yvonne und zog die zarten, gewölbten Augenbrauen hoch. »Wie soll denn die Küche je besser werden, wenn alle Gäste so zufrieden sind wie Sie?«

»Yvonne, du zwingst mich, dich darauf hinzuweisen, daß ich dein Vormund bin. Ich bin erheblich älter als du, und es würde dir sehr gut anstehen, wenn du ein wenig Respekt zeigen würdest.«

Yvonne spreizte die Finger. »Ich bin voll tiefen Respekts, Mylord. Sie sagen, Sie sind erheblich älter als ich. Sie haben sich gut gehalten.«

»Vielen Dank.«

Ihre schwarzen Augen waren auf sein Gesicht gerichtet, und der Viscount spürte, daß ihm sehr warm wurde. »Ich habe eine Dame als Gouvernante und Gesellschafterin für dich eingestellt«, sagte er.

»Eine Gesellschafterin wäre nett«, sagte Yvonne, »aber eine Gouvernante brauche ich nicht.«

»Da du so wohlerzogen bist«, spottete der Viscount.

»Da ich so wohlerzogen bin«, stimmte ihm Yvonne scheinbar artig bei. »Ich spreche sehr gut Englisch, Französisch ist meine Muttersprache, und ich spreche auch Spanisch und Portugiesisch wie meine Muttersprache.«

»Sprachkenntnisse sind bewundernswert, aber eine Dame muß auch in edleren Künsten bewandert sein, wie zum Beispiel im Nähen, Aquarellieren, Klavierspielen, Knicksen ...«

»Meine Knickse sind perfekt.« Yvonne sprang leichtfüßig auf und versank in einen tiefen Hofknicks. Dabei blickte sie herausfordernd zu ihm auf.

»Setz dich!« blaffte er sie an.

Yvonne zuckte fast unmerklich mit den Achseln und nahm ihren Platz am Tisch wieder ein.

Der Viscount bemühte sich um seinen strengsten Tonfall. »Während des Rests der Mahlzeit schweigen wir.«

Yvonne senkte den Kopf sanftmütig über den Teller. Da sie gelegentlich mit den Schultern zuckte, merkte der Viscount, daß sie sich bemühte, einen Lachanfall zu unterdrücken.

Als der Wirt hereinkam, um den Tisch abzuräumen, war der Viscount sehr erleichtert. Er befahl Yvonne, zu Bett zu gehen, und sagte ihr, daß sie am nächsten Morgen um sieben Uhr nach Trewent aufbrechen wollten.

Fast erwartete er, daß sie bleibe und mit ihm über die frühe Abfahrtsstunde streite, aber zu seiner Erleichterung machte sie einen Knicks und ging.

Yvonne lag noch lange wach und lauschte auf den fürchterlich lärmenden Betrieb, der in dem Gasthof herrschte. Unentwegt wurden Türen aufgerissen und zugeknallt und klingelten Glocken. Von allen Ecken und Enden rief man nach dem Kellner, während dieser zurückrief: »Ich komme!«, dabei aber fortfuhr, andere Gäste zu bedienen. Jedermann war in Eile und bereitete sich auf die Einschiffung vor oder kam gerade an und konnte es kaum erwarten, die Weiterreise anzutreten. Alle Augenblicke fuhr eine Kutsche mit beträchtlicher Geschwindigkeit vor. Der Stiefelputzer rannte den Korridor in der einen Richtung dahin und der Barbier mit seinem Puderbeutel in der anderen, während der Lärm der Lastenträger und Matrosen, die Gepäckstücke herein- oder hinausschleppten, von der Eingangshalle heraufdrang. Ein Horn blies und kündigte das Nahen der Postkutsche an, und später gab ein weiterer Stoß ins Horn das Zeichen zum Aufbruch.

»Ich bin angenehm überrascht«, sagte sich Yvonne, während sie, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, im Bett lag. Das Gesicht des Viscount tauchte vor ihrem geistigen Auge auf. »Sehr angenehm!«

Ein Mädchen aus Frankreich

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