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ZWEITES KAPITEL

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Yvonne hatte schon gefrühstückt und sich angezogen und wartete um sieben Uhr morgens vor dem Gasthof. Sie verspürte ein angenehmes Gefühl der Vorfreude. Vor ihr lag eine Fahrt durch die englische Landschaft mit dem Viscount an ihrer Seite.

Deshalb war sie sehr wütend, als der Lakai, der sie am Tag zuvor am Zollhaus abgeholt hatte, vor ihr auftauchte und ihr mitteilte, daß Seine Lordschaft in einer Postkutsche vorausgefahren sei, um die Ankunft von Miss de la Falaise vorzubereiten.

In Wirklichkeit war der Viscount zu dem Entschluß gekommen, daß er Yvonnes ärgerniserregendes und vorlautes Betragen auf dem langen Heimweg nicht ertragen konnte. Wenn sie ankam, würde Miss Cottingham schon da sein, und er würde kaum mehr viele Gedanken auf Yvonne verschwenden müssen.

Yvonne fühlte die Zurückweisung schmerzlich und übte Vergeltung, indem sie darauf bestand, daß Gustave im Inneren der Kutsche mit ihr reiste.

Der Lakai, der sein Mißfallen nicht verhehlte, schloß die Kutschentür hinter den beiden und lauschte dann mit noch größerem Mißfallen auf den Schwall von französischen Wörtern, die den beiden leicht von der Zunge gingen.

Schließlich hatte sich Yvonne bei Gustave genug über die ungalante Behandlung durch den Viscount beklagt und lehnte sich bequem zurück, um die Reise zu genießen. Im Gegensatz zu portugiesischen Kutschen war diese nicht durch Vorhänge vor Blicken geschützt, sondern hatte auf beiden Seiten Fenster, durch die man eine schöne Aussicht auf die Landschaft hatte.

Obwohl es schon Ende April war, lag auf den Bäumen nur ein zarter Hauch von Grün. Alles machte einen abweisenden Eindruck, und die Heckenpflanzen – Nesseln, Disteln und Dornen – mußten in den Augen von Leuten, die an Aloe, Akanthus, Laubengänge und Weingeranke gewöhnt waren, dürftig aussehen. Zu beiden Seiten der Straße breitete sich eine trostlose Landschaft aus, und darüber zogen schwarze Wolken, die Regenschauer mit sich brachten.

Es war sehr kalt. Yvonnes Stimmung sank ins Bodenlose.

Gustave schien ebenfalls in Trübsinn verfallen zu sein. »Was soll aus mir werden, Mylady?« fragte er schließlich. »Dieser Diener hat gesagt, daß in Mylords Haushalt kein Platz für mich sei.«

»Du hast deinen Posten als mein Diener«, entgegnete Yvonne gereizt. »Sei nicht dumm, Gustave. Wenn man dir nicht erlaubt zu bleiben, laufe ich mit dir weg, und wir leben wie die Zigeuner.«

Gustave schauderte und ließ seine Fingerknöchel knacken. »Ich würde keinen guten Zigeuner abgeben, Mylady. Ich bin alt und daran gewöhnt, in einem Haus zu schlafen.«

»Ist ja gut, mach dir keine Sorgen. Du bleibst bei mir.«

Langsam nickte Yvonne, vom gleichmäßigen Schaukeln der Kutsche und der Monotonie der Landschaft schläfrig geworden, ein.

Schließlich weckte Gustave sie. »Ich glaube«, sagte er in einem Ton, der nichts Gutes verhieß, »wir sind unserem Ziel nicht mehr fern.«

Yvonne blickte aus dem Fenster. »Ach, du meine Güte«, rief sie aus.

Schmutzig-gelb, häßlich und unheilschwanger ragte Schloß Trewent am Rande der Klippen hoch über der See auf. Sie fuhren unter einem Torbogen hindurch, der in die hohen, mit Eisenspitzen gekrönten Mauern gehauen war.

Yvonne klammerte sich an Gustave. »Er kann unmöglich hier leben«, rief sie. »Er steckt uns ins Gefängnis.«

»Auf dem Gelände halten sich livrierte Diener auf, keine Gefängniswärter«, sagte Gustave.

Die Kutsche hielt vor einer schweren, eisenbewehrten Tür an.

Das Trittbrett wurde heruntergeklappt, und Yvonne stieg aus. Dabei blickte sie ehrfürchtig schaudernd zu dem grimmigen Schloß auf. Nicht einmal Efeu, der die abweisenden Umrisse vielleicht etwas gemildert hätte, rankte die Wände hinauf.

Sie hörte, wie die Wellen an den Strand schlugen, und über ihr stieß eine Möwe einen melancholischen Schrei aus.

Der Lakai zog an einem Glockenstrang neben dem Portal. Es war eine riesige gußeiserne Glocke. Yvonne legte die Hände über die Ohren, um den kläglichen, scheppernden Ton nicht hören zu müssen.

Die großen Flügeltüren öffneten sich langsam und gaben den Blick auf eine schwarze Halle frei, die wie eine Höhle wirkte.

Der ältliche Butler verbeugte sich vor ihnen. »Mylord ist in der Bibliothek«, sagte er.

Yvonne faßte wieder Mut. Bald würde sie vor einem prasselnden Feuer sitzen und sich mit ihrem gutaussehenden Vormund unterhalten.

Der Viscount stand an einem Fenster der Bibliothek und sprach mit einer hochgewachsenen, eleganten Dame. »Miss Cottingham«, sagte er, »darf ich Ihnen mein Mündel Yvonne de la Falaise vorstellen? Yvonne, Miss Cottingham. Mach einen Knicks.«

Yvonne verzog den Mund voller Geringschätzung. »Wenn Miss Cottingham meine Gouvernante ist, dann muß sie einen Knicks vor mir machen. Außerdem lege ich Wert darauf, mit meinem Titel angesprochen und mit der Höflichkeit, die meinem Rang zukommt, behandelt zu werden.«

»Solange ich dein Vormund bin«, sagte der Viscount, »wirst du genauso behandelt, wie ich es für richtig halte. Wenn und falls wir Gäste haben sollten, wird deinem Rang Rechnung getragen. Ansonsten bist du für Miss Cottingham und mich Yvonne.«

Miss Cottingham kam mit einem herzlichen Begrüßungslächeln auf sie zu. »Da wir nicht an Formen festhalten wollen«, sagte sie, »kannst du mich Patricia nennen.« Sie streckte Yvonne die Hand entgegen.

Yvonne starrte ein paar Sekunden störrisch darauf und fand dann ihr Benehmen selbst ungehobelt. »Ich freue mich, deine Bekanntschaft zu machen, Patricia«, sagte sie zurückhaltend.

Man brachte den Tee herein und deckte einen kleinen Tisch. Die Lakaien schoben Stühle daran, und der Viscount, die Gouvernante und Yvonne nahmen um das Teetablett herum Platz. Der Großteil der Wärme des riesigen Feuers in dem wuchtigen Kamin stieg geradewegs nach oben, so daß der Raum kalt blieb.

Miss Cottingham und der Viscount plauderten über die Leute und Vorkommnisse in der Nachbarschaft. Man könnte meinen, dachte Yvonne, als mache es sich diese Patricia zur Aufgabe, möglichst viel über die Güter des Viscount herauszufinden. Doch sie schien eine angenehme Dame zu sein.

Yvonne kämpfte einen nicht ganz bewußten und nur halb verstandenen Wunsch nieder, den Viscount für sich allein zu haben, und versuchte mehrere Male, sich an dem Gespräch zu beteiligen. Aber die beiden hörten ihr nur höflich zu, um sich dann erneut voller Eifer dem Thema zuzuwenden, über das sie gesprochen hatten, bevor Yvonne sie unterbrochen hatte.

Yvonne wurde zunehmend unbehaglicher zumute. War der Viscount verheiratet? Er schien die Gouvernante mit allzu viel Herzlichkeit zu betrachten. Letzten Endes ist sie nur eine Bedienstete, dachte Yvonne anmaßend, während sie sich ein weiteres Stück Kuchen nahm und Patricia hinter ihren langen Wimpern beobachtete.

Patricia – so hatte es den Anschein – war nur eine halbe Stunde vor Yvonne angekommen.

Eine Haushälterin kam herein, um zu sagen, daß die Zimmer der Damen fertig seien. Patricia und Yvonne knicksten vor dem Viscount und folgten der Haushälterin nach draußen.

Zu Yvonnes Überraschung war Patricias Suite auf dem gleichen Stock wie die ihrige und auch von gleicher Größe. Jede Suite bestand aus einem Schlafzimmer, einem Salon und einem Ankleidezimmer.

Patricia kam herüber, um das Auspacken von Yvonnes zahlreichen Koffern zu überwachen.

»Ist Seine Lordschaft verheiratet?« fragte Yvonne.

»Nein«, antwortete Patricia. Sie wandte sich an die Zofe. »Sie müssen noch einen Schrank in das Zimmer von Miss Yvonne stellen. Sie hat so viele Kleider.«

»Bist du verheiratet?« fragte Yvonne voller Hoffnung.

»Nein, ich war nie verheiratet. Ich könnte nicht deine Gouvernante sein, wenn ich verheiratet wäre.«

»Und wie bist du zu diesem Posten gekommen?«

»Lord Anselm hat eine Anzeige in die hiesige Zeitung gesetzt, und ich habe mich darauf gemeldet.«

»Weißt du, wie es kommt, daß Lord Anselm mein Vormund ist?«

»Ja, er hat mir alles erzählt, bevor du angekommen bist.«

»Seine Lordschaft scheint sich in kürzester Zeit eine sehr hohe Meinung von dir gebildet zu haben. Hat er dir gesagt, daß er sich darüber freut, mein Vormund zu werden?«

»Er hat gesagt, er sei von Rechts wegen befugt, die Vormundschaft abzulehnen, und hätte es vielleicht auch in Betracht gezogen, wenn er nicht in mir jemanden gefunden hätte, der sich um dich kümmert.«

»Du kannst ohne Zweifel ausgezeichnete Referenzen vorweisen«, sagte Yvonne mit schwacher Stimme.

»Ja, ich habe wirklich ausgezeichnete Referenzen, aber Seine Lordschaft hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, sie zu lesen«, sagte Patricia in einem Ton, der Yvonne, da sie Patricia ohnehin nicht wohlgesinnt war, eine Spur von Überheblichkeit zu enthalten schien.

Yvonne wollte allein sein. »Kümmere dich um dein eigenes Gepäck, Patricia«, sagte sie. »Ich komme jetzt sehr gut allein zurecht. Vielen Dank«, fügte sie mit deutlicher Anstrengung hinzu.

Patricia verließ das Zimmer, und Yvonne trat ans Fenster und blickte auf das Meer hinaus. Das Schlafzimmer war sehr kalt. Obwohl es offensichtlich erst vor kurzem frisch gestrichen worden war, waren am Deckensims schon wieder Spuren von Feuchtigkeit sichtbar.

»Es ist sehr feucht«, sagte sie zu einem der Hausmädchen, das gerade mit einem Arm voller Kleider an ihr vorbeiging.

»Ja, Mylady«, stimmte ihr das Mädchen zu. »Es heißt, das Meer dringt bis unter das Schloß herein, dahin, wo früher die Verliese waren.«

Die Haushälterin, Mrs. Pardoe, tauchte im Türeingang auf. »Entschuldigen Sie, Mylady, aber Seine Lordschaft wünscht, Sie und Miss Cottingham noch einmal in der Bibliothek zu sprechen.«

»Vielen Dank«, sagte Yvonne und dachte dabei blitzschnell nach. »Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, Miss Cottingham Bescheid zu sagen. Ich sage es ihr selbst.«

Entzückt darüber, daß sie einen Weg gefunden hatte, den Viscount allein zu sehen, bürstete Yvonne ihre schwarzen Locken und rannte dann leichtfüßig die Treppe zur Bibliothek hinunter.

»Setz dich, Yvonne«, forderte der Viscount sie auf. »Wir wollen auf Miss Cottingham warten.«

»Aber in der Zwischenzeit«, sagte Yvonne, »können Sie mir ebenso gut sagen, warum Sie mich sehen wollten.«

»Es geht um deinen Diener, Gustave.«

»Gustave? Es ist einzig und allein meine Angelegenheit, was aus ihm wird. Es hat nichts mit Miss Cottingham zu tun.«

»Ich verlasse mich auf ihre ruhige, vernünftige Art«, unterdrückte der Viscount ihren Einwand. »Das Problem ist, daß ich keinen Bedarf an einem zusätzlichen Diener habe, und Gustave ist nicht dazu ausgebildet, in einem englischen Haushalt zu arbeiten.«

Der Viscount war schon häufig das Opfer von überaus gefühlvollen Erpressungen gewesen, aber nie zuvor hatte er einer solchen Könnerin wie Yvonne gegenübergestanden.

Sie sank vor ihm auf die Knie und faltete die Hände. Ihre großen Augen, die zu ihm aufblickten, schwammen in Tränen. »Mein Gustave«, sagte sie mit erstickter Stimme. »So tapfer und so treu, und alles nur, damit er hinausgeworfen wird und sich in einem fremden Land allein durchs Leben schlagen muß.«

»Bitte steh auf«, sagte der Viscount zutiefst betroffen.

Aber Yvonne blieb auf den Knien liegen, ein Bild des Jammers. »Es gibt vieles, was er tun könnte. Er könnte mein Reitknecht sein. Ich reite gerne.«

Die Miene des Viscount hellte sich auf. »Das wäre zu machen«, sagte er. »Kann er mit Pferden umgehen?«

»O ja, sehr gut«, log Yvonne. Sie wußte, daß sich Gustave vor Pferden fürchtete und kaum das eine Ende des Tieres vom anderen unterscheiden konnte.

Der Viscount beugte sich nach unten, nahm ihre Hände fest in die seinen und zog sie hoch. Sie schwankte leicht und fiel ihm so an die Brust, daß ihre schwarzen Locken ihn an der Nase kitzelten, als er auf sie hinunterblickte. Sie wandte ihm ihre schwarzen Augen zu. »Danke«, sagte sie. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und küßte ihn auf die Wange.

»Deine Dankbarkeit übersteigt jedes Maß«, bemerkte der Viscount und wich wie von der Tarantel gestochen zurück.

Die Tür ging auf, und Patricia Cottingham kam herein.

»Mrs. Pardoe, die Haushälterin, hat mir gesagt, daß Sie mich zu sehen wünschen, Mylord. Sie hatte schon mit Yvonne gesprochen, aber Yvonne versprach, mir selbst Bescheid zu sagen. Das hat sie nicht getan.«

»Ach!« Yvonne lachte. »Das habe ich ganz vergessen.«

»Wir wollen etwas unter vier Augen besprechen«, sagte der Viscount, und Yvonne sah Patricia hoffnungsvoll an. »Nein, dich meine ich, Yvonne. Es gibt etwas, was ich mit Miss Cottingham besprechen will.«

Yvonne ging, aber nur bis hinter die Tür, und preßte ihr Ohr an das Holz. Dabei stellten irgendwelche dummen englischen Verbote, die einen daran hinderten, die Unterhaltung anderer Leute zu belauschen, kein Hemmnis für sie dar.

Die Tür war sehr dick, und so konnte Yvonne nur ein undeutliches Stimmengemurmel unterscheiden. Sie beugte sich weiter hinunter und legte das Ohr ans Schlüsselloch.

Die Stimmen waren immer noch zu leise. Aber vielleicht würden sie bald lauter sprechen.

»Und was meine Schutzbefohlene betrifft«, sagte der Viscount gerade, »glauben Sie, daß es Ihnen gelingt, mit ihr zurechtzukommen?«

»Ich möchte nicht über Ihre Schutzbefohlene reden, wenn sie an der Tür lauscht«, sagte Patricia sanft. »Ich habe sie nicht nach oben gehen hören.«

»Das ist richtig.« Der Viscount ging mit schnellen Schritten zur Tür und riß sie auf.

Yvonne richtete sich mit flammendrotem Gesicht auf. »Ich habe die Bänder an meinen Sandalen geschnürt«, rief sie, bevor sie die Treppe hinauffloh.

»Unmögliches Kind«, sagte der Viscount, schloß die Tür und wandte sich Patricia wieder zu.

»Sie wird sich bald an unsere englische Art gewöhnt haben«, meinte Patricia gelassen. »Sie ist sicherlich noch ganz durcheinander von der Aufregung, die die lange Reise mit sich gebracht hat. Es muß auch sehr anstrengend für sie sein, ständig Englisch zu sprechen. Was wollten Sie mit mir besprechen, Mylord?«

»Es ging schlicht um die Frage, was wir mit Yvonnes Diener anfangen sollen. Aber das Problem ist schon gelöst.«

Patricia nickte, sagte aber nichts. Lord Anselm betrachtete sie voller Anerkennung. Sie redete nie unnötig weiter. Ihr Haar war zu einem hübschen Krönchen auf dem Kopf gekämmt. Ihr taubengraues Kleid war einfach geschnitten, schmeichelte aber den eleganten Linien ihres Körpers. Sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus.

»Was die Mahlzeiten betrifft«, sagte der Viscount, »so habe ich bereits ein Dinner in Yvonnes Gesellschaft durchgestanden, und es widerstrebt mir, ein weiteres zu durchleiden. Ich möchte, daß Sie beide Ihre Mahlzeiten im kleinen Eßzimmer einnehmen. Es befindet sich im zweiten Stock am Ende des Korridors, wenn Sie von Ihrem Zimmer weitergehen. Aber wenn ich nicht gerade auf meinen Gütern unterwegs bin, würde ich gerne jeden Nachmittag hier um vier Uhr mit Ihnen zusammentreffen, damit Sie mir Bericht erstatten.«

»Sehr wohl, Mylord.«

»Was Yvonnes Erziehung betrifft, so scheint sie der Meinung zu sein, daß sie schon alles weiß. Damit sie nicht auf dumme Gedanken kommt, könnte es nicht schaden, etwas zu finden, was sie nicht weiß, und sie damit zu beschäftigen.«

»Ja, Mylord.«

»Ich denke, das ist alles, Miss Cottingham. Sie können gehen.«

Sie machte einen dankbaren Knicks und ging lautlos hinaus.

Yvonne, die ihr bestes Seidenkleid angezogen hatte, war wütend, als sie erfuhr, daß sie mit der Gouvernante zu Abend essen sollte, während der Viscount in einem anderen Zimmer speiste. Aber sie nahm sich zusammen. Sie war fest entschlossen, den Viscount dazu zu bringen, sie zu mögen und zu achten, und ihre Wut an der Gouvernante auszulassen war bestimmt nicht die richtige Methode, dieses Ziel zu erreichen.

Nach dem Dinner sagte sie Patricia gute Nacht und gab vor, todmüde zu sein. Aber statt ins Bett zu gehen, zog sie sich einen warmen Mantel über und schlich nach unten. Sie sah den Butler durch die Halle gehen und fragte ihn, wo sie Gustave finden könne.

»Er ist im Stallgebäude untergebracht«, sagte Fairbairn. »Ich werde nach ihm schicken.«

»Nein, ich gehe selbst hinüber.«

Fairbairn blickte auf das große Portal, das schon für die Nacht verschlossen war. »Ich werde Seine Lordschaft um die Erlaubnis bitten, das Portal wieder aufsperren zu dürfen, Mylady.«

»Nein, tun Sie das nicht«, sagte Yvonne und wandte sich ab. »Ich kann Gustave auch morgen früh aufsuchen.«

Fairbairn verbeugte sich und ging.

Yvonne stand in der düsteren Halle und biß sich auf die Unterlippe. Der Viscount würde ihr schlicht verbieten, das Schloß zu verlassen. Aber der arme Gustave! Im Stall untergebracht. Auf Stroh schlafend! Es gab doch sicherlich noch einen anderen Weg aus dem Schloß. Schließlich entdeckte sie die Hintertreppe, die in die Wirtschaftsräume hinunterführte, am anderen Ende der Halle. Sie folgte der steinernen Wendeltreppe nach unten.

Leise stieß sie die mit Flanell überzogene Tür zur Küche auf. Sie war leer, und aus einem Raum auf der anderen Seite ertönte Stimmengewirr. Die Diener saßen offensichtlich gerade in der Gesindestube bei ihrem Abendessen.

Sie huschte unbemerkt durch die Küche und zu einer anderen Tür wieder hinaus, worauf sie durch eine Reihe kleinerer Zimmer – das Anrichtezimmer, die Speisekammer, die Spülküche – lief, bis sie vor sich wieder eine verschlossene Tür sah. Vorsichtig drehte sie den Schlüssel um und schlüpfte in die Nacht hinaus.

Ein heftiger, heulender Wind ergriff sie, zerrte an ihrem Rock und löste ihre mit Haarnadeln hochgesteckte Frisur auf.

Der Vollmond stand hoch oben am Himmel hinter Wolkenfetzen. Das Schloß sah schwarz und unheildrohend aus. Der Wind, der über die Mauer strich, klang wie die Schreie der Verdammten. Sie begann zu wünschen, sie hätte bis zum anderen Morgen gewartet.

Da sah sie undeutlich eine Gestalt in der Nähe der Nebengebäude und rief laut: »Sie da! Kommen Sie sofort her!«

Der Mann trat näher, und beim unbeständigen Licht des Mondes erkannte sie, daß er die Livree der außerhalb des Hauses beschäftigten Diener trug. »Ich suche meinen Diener, Gustave«, sagte sie.

Der Mann verbeugte sich. »Folgen Sie mir, Mylady.«

Erfreut, daß selbst die Diener, die nicht im Haus arbeiteten, von ihr gehört hatten und ihren Titel kannten, lief Yvonne hinter ihm her. Er führte sie bis dahin, wo die weiße Scheibe einer Stalltür im Mondlicht glänzte.

Statt in den Stall zu gehen, zeigte er ihr eine Treppe, die an einer Außenmauer hinaufführte. »Sein Zimmer ist da oben, Mylady«, sagte er. »Die zweite Tür. Wollen Sie, daß ich Sie anmelde?«

»Nein, danke. Ich finde den Weg allein.« Sie ging die Stufen hinauf und trat oben auf einen schmalen Gang. Sie klopfte an die zweite Tür, und Gustave öffnete.

»Kommen Sie herein, Mylady«, sagte er und trat zur Seite.

Yvonne betrat das Zimmer und blickte sich neugierig um.

Es war ein kleiner, gemütlicher Raum, der von einer Öllampe erleuchtet war. Darin befand sich ein schmales Bett mit einem buntgemusterten Überwurf, ein kleiner Kamin, ein Tisch und zwei Stühle. Am Fenster hingen Chintzvorhänge, und auf dem Boden lag sogar ein blauer bestickter Teppich.

»Es ist sehr gemütlich hier, Gustave«, stellte Yvonne fest. »Als ich hörte, daß man dich in den Stall geschickt hat, habe ich schon befürchtet, daß du auf Stroh schlafen mußt.«

»Ja, es ist sehr schön«, stimmte ihr Gustave bei. »Ich soll Ihr persönlicher Reitknecht werden. Sie werden ihm doch nicht etwa erzählt haben, daß ich Pferde verabscheue?«

»Nein, Gustave, natürlich nicht. Sind die anderen Diener nett zu dir?«

»Sie mögen Ausländer nicht; das ist klar. Aber ich glaube, man hat ihnen befohlen, sich um mich zu kümmern. Ich habe Tabak, Bier und Kohlen zum Feuermachen bekommen.«

»Er ist sehr freundlich, mein Vormund«, sagte Yvonne und setzte sich an den Tisch.

»Ja, Mylady.«

»Genau die Art von Mann, die Papa sich für mich zum Heiraten gewünscht hätte.«

»So ist es, Mylady. Ich kann sehr wenig Englisch, aber ich verstehe mehr, als ich sprechen kann. Einer der alten Stallknechte war im Krieg und spricht ein wenig Französisch, deshalb habe ich mir zusammengereimt, daß Seine Lordschaft nicht verheiratet ist. In den letzten Jahren sollen sich viele weibliche Verwandte in seiner Obhut befunden haben. Er soll die Frauen samt und sonders verabscheuen. Er hat nicht ein einziges Mal gelächelt« – Gustave sah Yvonne verstohlen an –, »bevor diese Gouvernante ins Haus gekommen ist.«

Ein Schatten flog über Yvonnes Gesicht. »Die ach so wunderbare Miss Cottingham. So vernünftig und so praktisch. Aber es ist undenkbar, daß ein Lord eine Bedienstete heiratet.«

»Diese Gouvernante ist nicht eigentlich eine Bedienstete. Man munkelt, daß sie in erster Linie als Ihre Gesellschafterin und weniger als Ihre Gouvernante eingestellt worden ist, und das zeichnet sie in den Augen der gesamten Dienerschaft aus. Alle haben sehr viel über sie gesprochen, seitdem sie heute angekommen ist. Die Diener meinen, es wäre gar nicht das Schlechteste, wenn Seine Lordschaft sie heiratete.«

Yvonne fühlte sich plötzlich bedrückt. »Sie reden eine ganze Menge Unsinn.« Sie blieb noch eine Weile bei Gustave und unterhielt sich mit ihm. Dabei genoß sie die Freiheit, in ihrer Muttersprache reden zu können.

Als sie sich verabschiedete, war der Himmel wolkenlos, und der Mond schien hell. Dadurch gelang es ihr, ohne Schwierigkeiten den Weg zurückzufinden.

Statt aber gleich zum Kücheneingang zu gehen, lief sie an dem Schloß entlang zum Rand der Klippen und blickte hinab.

Weit unter ihr hoben und senkten sich die Wellen, schlugen gegen die Klippen und zogen sich wieder zurück. Sie beugte sich nach vorn und hatte den Eindruck, daß sie ganz nahe bei den Klippen ein kleines Boot sah. Wenn es ein Boot war, dann würde es sicherlich von der Dünung gegen die Klippen gedrückt werden.

»Yvonne!«

Yvonne fuhr erschrocken zusammen und wäre beinahe vornübergestürzt. Sie fuhr herum und bekam einen Ärmel zu fassen.

»Was machst du hier draußen?« fragte Patricia Cottingham. »Was machst du hier draußen?« konterte Yvonne aufgebracht.

»Ich habe dich gesucht. Laß uns hineingehen. Du darfst nie wieder so nah an den Rand der Klippen gehen. Es ist höchst gefährlich.«

»Ich glaube, unter uns ist ein Boot«, sagte Yvonne und wandte sich zurück zum Meer. »Es wird an den Klippen zerschellen.«

»Unsinn«, sagte Patricia barsch. »Wenn du nicht augenblicklich mit mir zurückkommst, bin ich gezwungen, Lord Anselm von deinem unverantwortlichen Benehmen zu erzählen, und dann wird er deine Freiheit sehr beschneiden. Außerdem ist kein Boot da.«

»Woher möchtest du das wissen? Du hast ja nicht einmal hinuntergesehen.«

»Ich brauche nicht hinunterzusehen. Ich kenne die Küste. Kein Boot würde sich so nah an die Klippen wagen.«

»Dann zeige ich es dir«, sagte Yvonne und stieß sie mit einem leichten Schubser vorwärts. »Sieh! Da!«

Yvonne traute ihren Augen nicht. Das Meer hob und senkte sich, silbern und leer lag es im Mondschein da.

»Du siehst«, sagte Patricia ruhig, »du hast dir etwas eingebildet. Kommst du jetzt mit mir, oder muß ich Lord Anselm rufen?«

»Oh, ich komme«, sagte Yvonne und war schon auf dem Weg zurück. »Aber da war ein Boot. Ich habe es gesehen.«

Ein Mädchen aus Frankreich

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