Читать книгу Minerva - Duell der Herzen - Marion Chesney - Страница 4

Zweites Kapitel

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Es ist eine traurige Tatsache, daß viele Mädchen in die Rolle eines Aschenputtels schlüpfen, obwohl sie nicht dazu geboren sind, und das galt auch für Minerva Armitage. Hätte sie die Zügel des Haushalts schleifen lassen, wäre ihre Mama wahrscheinlich gezwungen gewesen, sich von ihrem Sofa zu erheben und sich selbst um den Haushalt zu kümmern. Hätte sie sich nicht bereit erklärt, die Predigten ihres Papas zu schreiben, dann hätte dieser sich vielleicht mehr mit seiner Bibel und weniger mit William Taplins ›Sportlexikon und Fundgrube für den Landmann‹ beschäftigt.

Minerva war zwar sehr intelligent, aber ihre Erziehung und Ausbildung ließen zu wünschen übrig. Sie war fleißig und tatkräftig, und daher unbefriedigt von der langweiligen ländlichen Routine einer Dame ihres Standes – und um diese Langeweile zu bekämpfen, widmete sie sich mit zunehmendem Alter immer mehr ihren fünf Schwestern und zwei Brüdern.

Sie war diejenige, die ihre brennende Stirn kühlte, wenn sie Fieber hatten; sie war es, die ihre Schnitt- und Schürfwunden verband; und sie war es auch, die die Pfarrkinder besuchte und den Haushalt führte. Jeder Monat eines jeden Jahres brachte ihr neue, selbst auferlegte Pflichten; so wurde sie nicht nur immer schöner, sondern auch immer geduldiger und langmütiger. Freilich war die schöne Minerva auch ein bißchen eingebildet und selbstgefällig.

Die Ankündigung ihres Vaters beim sonntäglichen Dinner, daß Minerva in London in die Gesellschaft eingeführt werden sollte, wurde zunächst mit bestürztem Schweigen aufgenommen.

Gleich bekam Mrs. Armitage einen ihrer Krämpfe und mußte mit Hirschhornsalz und einem Büschel Federn, das man unter ihrer Nase verbrannte, wieder zu sich gebracht werden. Annabelle, die zweitälteste, beneidete ihre Schwester ein wenig. Die Jungen blickten betrübt und stießen an die Tischbeine, und die kleineren Mädchen begannen zu schluchzen. Minerva hatte es fertiggebracht, die ganze Familie zu verwöhnen.

»Was sollen wir ohne Merva machen?« klagten die Jüngeren. Merva war Minervas Kosename.

»Das sind ja ziemlich überraschende Neuigkeiten«, sagte Minerva mit ruhiger Stimme, obwohl ihr Herz heftig klopfte. »Ich habe keinen Grund, nach London zu gehen. Wenn du vorhast, mich zu verheiraten, muß ich dir entgegnen, daß ich noch jung bin und es genug Männer in der Grafschaft gibt.«

»Keine, die reich genug sind«, antwortete der Pfarrer und nahm eine Prise Schnupftabak. »Die Sache ist die, meine Liebe, daß wir alle bald im Schuldturm sitzen, wenn du uns nicht rausholst. All diese schlechten Ernten. Die Gutshöfe liefern nicht genug. Sonst bleibt uns nur die Wahl, uns einzuschränken. Und das heißt: keine Schule für euch Jungen, keine hübschen Kleider und Kinkerlitzchen und«, fügte er mit einem Blick auf seine Frau hinzu, »keine Behandlung mit all deinen Allheilmittelchen da.«

»Oh, hat denn niemand Mitleid mit einer armen, kranken, alten Frau?« wimmerte die Frau des Pfarrers.

Die Mitglieder der Familie Armitage schauten ihre Schwester nachdenklich an. Und je mehr sie schauten, desto mehr verblaßte Minervas Bild auf ihrem Eßstuhl, um einem Sack goldener Guineen Platz zu machen.

»Das ist Unsinn«, sagte Minerva mit einem Seufzer der Erleichterung. »Papa ist nicht recht bei Trost! Papa macht Spaß. Wenn wir kein Geld haben, dann können wir auch unmöglich die enorme Geldsumme für eine Saison in London aufbringen.«

»Dafür zahle ich nichts«, sagte der Pfarrer, wobei er mit einem Gänsekiel in seinen Zahnlöchern herumstocherte. »Lady Godolphin wird für die Ausgaben aufkommen, und sie kriegt ihr Geld auf Heller und Pfennig zurück, wenn du erst einen reichen Mann geangelt hast.«

»Lady Godolphin?«

»Sie ist um dreizehn Ecken mit deiner Mama verwandt. Ich habe sie seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen, aber sie hatte schon immer eine Schwäche für mich.«

Minerva schob eine widerspenstige schwarze Locke zurück. »Annabelle«, wandte sie sich bittend an ihre Schwester, »du bist viel hübscher als ich. Willst du nicht statt meiner gehen?«

Annabelles große blaue Augen blitzten vor Begeisterung, aber bevor sie ihren Mund öffnen konnte, sagte der Pfarrer: »Kommt nicht in Frage. Sie hat blonde Haare, und blonde Haare sind nicht in Mode. Außerdem ist sie zu jung. Schwarze Schönheiten sind gefragt. Minerva wird die Männer erobern. Und schau her, Bella, wenn Minerva eine gute Partie macht, kauft sie dir schöne Kleider, und Mrs. Armitage kann zu allen berühmten Quacksalbern in London gehen, und ihr anderen jungen Damen könnt so viele Zuckerpflaumen essen wie ihr wollt. Perry und James können nach Eton gehen, was sie sich schon immer gewünscht haben und ...«

So redete er noch eine ganze Weile weiter. Der Pfarrer konnte bisweilen ganz schön ungeschickt sein. Aber wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, war ihm jedes Argument recht, um sein Ziel zu erreichen.

»Aber ich wollte noch lange nicht heiraten«, protestierte Minerva. »Wenn überhaupt! Ich würde gerne hier bleiben und dir und Mama eine Stütze sein, wenn ihr alt werdet.«

»Wenn du uns nicht zu Geld verhilfst«, argumentierte der Pfarrer, »werden wir schneller alt, als uns lieb ist.«

Minervas hübsches Gesicht drückte zugleich Wut und Frömmigkeit aus. »Hast du Ihn gefragt?« fragte sie, nach oben zeigend.

»Ja, natürlich«, sagte der Pfarrer heiter, »und er ist ganz meiner Meinung. So ist es!«

Wieder wurde es ganz still im Raum, und Minervas große graue Augen wanderten von einem zum anderen. Die Kinder malten sich mit schlechtem Gewissen ein Leben ohne Minerva aus: keine kargen Mahlzeiten mehr. Kein endloses Waschen und Schrubben von Händen und Gesicht. Keiner würde ihnen die moralischen Predigten von Porteous als Gutenachtgeschichten vorlesen. Peregrine und James wollten schon immer gerne jagen, aber Minerva hatte es ihnen nicht erlaubt, weil sie noch nicht alt genug seien. Aber jetzt …

Annabelle sonnte sich schon im Glanz, das hübscheste Mädchen der Grafschaft zu sein, wenn Minerva in London war. Vielleicht konnte sie beim Jägerball ein bißchen flirten, ohne Minervas kalten und mißbilligenden Blick auf sich zu fühlen.

Mrs. Armitage träumte einen rosaroten Traum von Londoner Ärzten und Apothekern, deren köstliche Medizinfläschchen im Kerzenschein der Schaufenster funkelten wie die Juwelen in Aladins Höhle.

Der Pfarrer trieb geschickt den letzten Nagel in Minervas Sarg.

»Ich weiß, es ist schwer für dich, Minerva«, sagte er, »aber du mußt für deine Familie ein Opfer bringen. Du mußt dich aufopfern. Ach, ich weiß, es ist wirklich zuviel verlangt.«

Minervas Augen bekamen einen sanften Glanz. Sie wurde von ihrer Familie gebraucht, so wie sie sie immer gebraucht hatte.

»Ich gehe, Papa«, sagte sie und warf dabei den Kopf zurück, als ob man sie unter die Guillotine und nicht auf eine unterhaltsame Vergnügungstour schicken wollte.

»Gutes Mädchen«, sagte der Pfarrer geistesabwesend. Da er erreicht hatte, was er wollte, verlor er das Interesse an Minerva. Er mußte natürlich diesen vertrackten Brief an Lady Godolphin schreiben, aber wenn sie zusagte, konnte er seine Älteste im Frühjahr aus der familiären Geborgenheit entlassen und ganz schnell nach London bringen.

Minerva zwang sich, an diesem Abend ihre Aufgaben zu erfüllen, als ob nichts Welterschütterndes passiert wäre.

Die Kinder wollten die Tatsache, daß Minerva in die Gesellschaft eingeführt werden sollte, als Vorwand benützen, um länger aufzubleiben. Aber Minerva bestimmte, daß sie zur üblichen Zeit ins Bett müßten. Um ihnen eine Freude zu machen, versprach sie ihnen aber, eine Geschichte vorzulesen.

Das Pfarrhaus war ein behagliches Gebäude mit einem Eßzimmer, einem Salon, einem Empfangszimmer und einem Arbeitszimmer im Erdgeschoß, sechs Schlafzimmern im ersten Stock und den Räumen für die Bediensteten im Dachgeschoß. Die Dienerschaft war nicht groß: eine Haushälterin, die in der Küche herrschte; ein Hausmädchen, das zugleich für den Empfang zuständig war, wenn Besuch kam; ein Diener für verschiedene Aufgaben, der bei großen Anlässen zugleich Butler war; John Summer, der als Stallknecht, Kutscher, Hundepfleger und Vorreiter bei der Fuchsjagd diente; ein Junge, der Bestecke und Stiefel putzte, aber auch Page war, wenn es die Gelegenheit erforderte; und eine Frau, die täglich aus dem Dorf kam, für die gröberen Arbeiten.

Die Jungen hatten ein Zimmer für sich, Mr. und Mrs. Armitage hatten getrennte Schlafzimmer, und die sechs Schwestern teilten sich in die verbleibenden drei Räume – zwei Schwestern schliefen jeweils zusammen.

Abgesehen von Annabelle, die sich mit ihren sechzehn Jahren für zu alt für Gutenachtgeschichten hielt, drängelten sich alle anderen Kinder in dem Jungenschlafzimmer um Minerva, in der Hoffnung, diesmal eine etwas lustigere Geschichte als sonst zu hören.

Ihre Hoffnungen wurden jedoch enttäuscht, als Minerva mit ihrer beruhigenden, angenehmen Stimme zu lesen begann.

Es war eine Geschichte von zwei Schuljungen: einem ruhigen und ernsten, der nie log, und einem großen und hübschen Sprößling aus einer vornehmen Familie, der sportlich und behende war.

Der ernste hieß Claud, und der lebhafte Guy. Das war zugegebenermaßen ein vielversprechender Anfang. Die Jungen prophezeiten Guy gleich kein gutes Ende, und die Mädchen waren begeistert und überrascht, daß in einer von Minervas Gutenachtgeschichten ein strahlender Held vorkam.

Aber schade um den hinreißenden Guy. Die Kinder hätten wissen können, daß er nicht zum Helden bestimmt war. Zwar gewann er alle Kricketspiele für seine Schule, zwar schmeichelte man ihm und bewunderte ihn, während man auf den ernsten und bescheidenen Claud herabsah. Aber nur zu bald sollte sich herausstellen, daß dieses hübsche Äußere nichts anderes war als ein ›übertünchtes Grab‹.

»Was für ein Grab, was hast du da gelesen?« fragte Perry.

»Ich weiß es«, sagte die rothaarige Deirdre schüchtern. »Es steht in der Bibel bei Matthäus und bedeutet, daß jemand außen hübsch scheint, aber innen verdorben und voller Unrat ist.«

Minerva nickte, und die anderen Mädchen schrien verängstigt auf.

»Guy nicht!« riefen sie, da sich ihre Phantasie bereits an diesem Bilderbuchhelden entzündet hatte.

»Hört zu!« ermahnte Minerva und las weiter.

Guy hatte Claud auf sein Zimmer geschickt, um seine Mütze zu holen, da er auch seinesgleichen wie Dienstboten zu behandeln pflegte. Auf der Suche nach Guys Mütze stieß der gute Claud auf eine unerlaubte Übersetzungshilfe für den Lateinunterricht.

Offenbar hatte Guy alle seine Lateinprüfungen bestanden, weil er mit Hilfe dieses Buches schon die englische Übersetzung aller Texte kannte.

»Ich finde das ganz schön schlau von ihm, alles auswendig zu lernen«, platzte Perry los. Die anderen murmelten zustimmend.

»Was sollte Claud jetzt tun?« fragte Minerva, die klug genug war, die Unterbrechung zu ignorieren.

Sie schauten sie alle verblüfft an, weil ihnen nie der Gedanke gekommen wäre, daß Claud etwas tun sollte.

Minerva schüttelte mit gespielter Abscheu den Kopf und las weiter. Claud, so stellte sich heraus, hatte seine Pflicht getan, indem er das Buch mit den Übersetzungshilfen sofort dem Direktor brachte und diesem berichtete, daß Guy ein Betrüger war.

Guy wurde von der Schule verwiesen, ein unzuverlässiger Mensch, der allen Glanz eingebüßt hatte, während Claud den ereignislosen Weg zu bescheidenem Ruhm beschritt.

»Und die Moral der Geschichte ist«, sagte Minerva, indem sie das Buch zuklappte, »ehrlich währt am längsten.«

James, schwarzhaarig und blauäugig wie sein Zwillingsbruder, starrte Minerva an, als ob er seinen Ohren nicht trauen könnte.

»Du schaust ja ganz entsetzt, James«, lächelte Minerva. »Was hättest du denn getan?«

»Ich hätte diesen fiesen Claud so verprügelt, daß er das nächste Mal die Schnauze hält.«

»Ich wünsche in diesem Hause keine solchen Ausdrücke«, sagte Minerva streng.

Aber ein Chor junger Stimmen verteidigte James.

»Claud ist eine Petze.«

»Guy war große Klasse ...«

»Ich hoffe, daß Guy Soldat geworden ist und dann General und ... und ... Napoleon besiegt.«

»Ins Bett mit euch«, sagte Minerva, ohne einen Widerspruch zu dulden. »Wie kann ich mit gutem Gewissen nach London gehen, wenn ich weiß, daß ihr moralisch nicht gefestigt seid?« Sie scheuchte die Mädchen aus dem Jungenzimmer, aber hörte vorher noch Perry flüstern: »Wahrscheinlich heiratet sie so einen langweiligen Kerl wie Claud – wenn sie überhaupt heiratet.«

Minerva kniff die Lippen zusammen und ließ sich nicht anmerken, daß sie die Bemerkung gehört hatte.

Als sie die kleineren Mädchen ins Bett gebracht hatte, ging sie zu Annabelle, mit der sie das Zimmer teilte.

Annabelle saß am Toilettentisch und bürstete versonnen ihre langen, goldenen Haare.

Als ihre Schwester eintrat, hielt sie inne und versuchte den beherrschten Gesichtsausdruck ihrer älteren Schwester zu deuten.

»Es ist so sinnlos«, seufzte Annabelle und bürstete ihre Haare weiter.

»Was ist sinnlos?« kam Minervas Stimme hinter einem chinesischen Wandschirm hervor. Sich vor ihrer Schwester auszuziehen, wäre ihr ebensowenig eingefallen, wie in der Kirche auszuspucken.

»Daß du nach London gehst«, erklärte Annabelle. »Ich weiß nicht, ob du überhaupt je an Männer denkst?«

»Wie meinst du das?« kam Minervas gedämpfte Stimme.

»Ich meine das so, daß man etwas in ihrer Gegenwart fühlt«, sagte Annabelle, legte ihre Bürste hin und drehte sich schwungvoll um.

»Du wirst doch nicht etwa solche Gefühle haben?« kam Minervas Stimme so amüsiert hinter dem Wandschirm hervor, daß Annabelle wütend wurde. »Du bist viel zu jung.«

»Ich bin sechzehn«, protestierte Annabelle. »Und ich kann dir sagen, daß ich kaum an etwas anderes denke.«

»Dann solltest du aber an dir arbeiten, damit du einmal eine gute und anständige Ehefrau abgibst.«

»Ich will aber nicht einen Mann heiraten, der Wert auf ›eine gute und anständige Ehefrau‹ legt«, sagte Annabelle trotzig. »Ich will einen richtigen Mann, der sein Leben genießt und gut aussieht, einen Dandy. Es ist ein Wunder, daß du nicht für den armen Mr. Pettifor schwärmst!« Mr. Pettifor war der Kooperator.

»Es ist in der Tat ein Wunder«, sagte Minerva und kam in ihrem Nachthemd hinter dem Wandschirm hervor. »Er ist ein anständiger junger Mann, der in der Gemeindearbeit aufgeht.«

»Er hat auch eine lange rote Nase und feuchte Lippen und ...«

»Hör sofort auf«, sagte Minerva. »Was ist denn in dich gefahren, Annabelle? Du hast doch früher nicht so geredet!«

»London«, sagte Annabelle versunken. »Die Spaziergänge, die Ausritte, die Feste, die Bälle, die Oper. Almack! Ich wäre begeistert davon! Ich hätte so gern ein paar Freier! Es ist so langweilig hier. Nichts geschieht hier, und es wird auch nie etwas geschehen. Weil du nicht heiraten wirst, Minerva. Dein ganzes Aussehen hilft dir nichts, weil du immer so fromm tust. Dein Getue macht dich regelrecht abstoßend!«

Minervas Augen füllten sich mit großen Tränen, die langsam und unaufhaltsam ihre Wangen hinabflössen.

»Annabelle«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich war immer überzeugt, daß wir uns mögen. Sollte ich mich irren?«

»Nein, nein, Merva«, seufzte Annabelle. »Ich bin nur so furchtbar neidisch, das ist alles. Bitte trockne deine Tränen. Wir wollen nicht mehr darüber reden. Ich bin ganz schön müde. Du verzeihst mir doch, oder?«

Und natürlich verzieh ihr Minerva. Es war undenkbar, daß sie es nicht getan hätte.

Aber sie lag noch lange wach, nachdem Annabelle eingeschlafen war, und starrte in die Dunkelheit.

Minerva mußte sich eingestehen, daß sie Angst hatte. Es war ihr klar, daß auf ihren Schultern eine schwere Verantwortung lastete. Sie mußte heiraten und zwar einen reichen Mann.

Sie war bedingungslos bereit, sich für das Glück ihrer Familie aufzuopfern, da das die einzige ihr bekannte Möglichkeit war, selbst glücklich zu sein. Irgendwo, tief in ihrem Inneren hielt Minerva nicht viel von sich, und deshalb bedeutete ihr das Gefühl, gebraucht zu werden, sehr viel. Aber sie war vernünftig genug, zu erkennen, daß ihr Aussehen allein nicht genügte, um auf einen geeigneten Partner anziehend zu wirken.

Ihre Cousinen, Josephine und Emily, hatten nichts anderes im Sinn als die Kunst, Männer anzulocken. Minerva hatte sie deswegen immer bemitleidet. Jetzt war sie selbst mit der harten Realität konfrontiert.

Jetzt mußte sie sich auch mit solchen Tricks beschäftigen. Minerva fragte sich, ob sie die Cousinen bitten sollte, sie zu unterweisen, aber kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, so schreckte sie auch schon davor zurück.

Wie viele Menschen betete auch sie zu einem Gott, der ihren eigenen Vorstellungen entsprach. Da sie sehr streng gegen sich war, stellte sie sich Gott auch als einen unerbittlichen Richter vor, der allzeit gegenwärtig war, um auch den kleinsten Fingerbreit, den man vom geraden und engen Pfad der Tugend abwich, zu bestrafen.

Er lehnte bestimmt die Raffinessen und Nichtigkeiten der feinen Gesellschaft ab.

Aber ganz bestimmt gab es irgendwo in ganz London – und das hieß London vom Kensington Palast bis St. James – einen zuverlässigen, wertvollen Mann mit hohem Niveau, der ihr bei der schwierigen Aufgabe, die jüngeren Armitages großzuziehen, behilflich war.

Dieser Mann war wahrscheinlich nicht besonders schön, aber er war ernsthaft und hatte einen guten Charakter.

Sie würden nicht viel tanzen, sondern lieber zusammen sitzen und über wichtige Themen reden. Vielleicht würde sie ihm erlauben, ihre Hand zu drücken! Aber bei dieser Andeutung von Zärtlichkeit lief Minerva eine Gänsehaut über den Rücken, und ihr Gewissen sagte ihr, daß ihre Gedanken eine entschieden sündige Wendung nahmen.

So kehrte sie zu dem ernsthaften Gespräch im Ballsaal zurück, und als sie einschlief, fühlte sie sich so wohl, wie den ganzen Abend nicht.

Am nächsten Morgen betrachtete sie die ganze Geschichte wieder nüchterner und ruhiger. Die Saison war noch lange nicht da. Es war November, und die Saison begann erst im April. Noch brauchte ihre Familie sie.

Vielleicht wollte Lady Godolphin sie gar nicht, dann müßte Papa vielleicht einen anderen Plan entwickeln, um Geld für die Armitages zu ergattern.

Die Jungen wurden von Mr. Pettifor, dem Hilfspfarrer, unterrichtet. Die Mädchen, mit Ausnahme von Annabelle, mußten für die Schule fertiggemacht werden. Sie besuchten ein Seminar für höhere Töchter in der nahe gelegenen Stadt Hopeminster und wurden täglich im alten und quietschenden Reisewagen des Pfarrers, der von zwei Ackergäulen gezogen wurde, hin und zurück gebracht.

Minerva eilte hin und her, suchte Handschuhe und flocht Zöpfe, überwachte das Servieren des Frühstücks, schaute nach, ob die Hühner nicht etwa wieder im Wagen übernachtet hatten. Da die Tür des Gebäudes, in dem die Wagen standen, oft aus Versehen offen blieb, benutzten die Hühner und Gänse ihn scharenweise als Unterschlupf.

Als endlich alle vier jüngeren Mädchen im Wagen verstaut waren, weckte Minerva ihre Schwester Annabelle. Dann schlich sie auf Zehenspitzen ins Zimmer ihrer Mutter, um sich zu versichern, daß ihre Morgenschokolade heraufgebracht und das Feuer angemacht war.

Sie wollte gerade ihre Mutter wecken, als zu ihrer Überraschung der Pfarrer hereinkam und sich im Schlafzimmer seiner Frau umsah, als ob er es nie vorher gesehen hätte.

Er hatte tatsächlich seit der letzten Schwangerschaft seiner Frau vor achteinhalb Jahren kaum je einen Fuß hineingesetzt. Als Mrs. Armitage von den Zwillingen entbunden war und damit dem Pfarrer gleich zwei Stammhalter statt eines weiteren Mädchens geschenkt hatte, beschloß er – wie er es insgeheim formulierte –, »die Zucht einzustellen«. Er war dankbar, wieder in einer Art Zölibat leben zu dürfen. Nur gelegentlich frönte er seinen Lüsten, gewöhnlich um die Erntezeit herum mit einem willigen und geeigneten Landmädchen.

Er legte den Finger an die Lippen und bedeutete Minerva, Mrs. Armitage nicht zu wecken, sondern ihm aus dem Zimmer zu folgen.

Er führte sie schweigend hinunter in den Salon. »Ich fahre heute nach Hopeminster. Da ist Pferdemarkt, und ich möchte, daß du mitkommst.«

»Ich kann leider nicht, Papa«, sagte Minerva freundlich und geduldig. »Ich muß meine Runde machen, und montags lese ich immer Lady Wentwater vor.« Lady Wentwater war eine ältere Witwe, die etwa zwei Meilen außerhalb des Dorfes wohnte.

»Ach was«, sagte der Pfarrer. »Du kommst mit mir. Annabelle kann ihr vorlesen.«

»Warum, Papa? Du kennst dich doch mit Pferden aus. Ich wüßte nicht, was ich dir zu diesem Thema noch sagen sollte. Außerdem ist ein Pferdemarkt kein geeigneter Aufenthaltsort für eine Da ...«

»Pscht, Mädchen! Wirst du tun, was ich dir sage! Du kannst einen Einkaufsbummel machen, bis ich alles erledigt habe, und dann essen wir zusammen im ›Goldenen Hahn‹, bevor wir heimfahren. Es ist Zeit, daß du dich mehr unter Männern bewegst. Damit du etwas in Übung kommst, weißt du. Was hast du auf dem letzten Jägerball gemacht? Anstandsdame von Annabelle, weil Mrs. Armitage krank war, und fast den ganzen Abend bist du bei den Matronen herumgesessen. Und jetzt Schluß damit! Sag Bella, sie soll vorlesen und die Besuche machen, und sag deiner Mutter ›Auf Wiedersehen‹. Und setz dir einen hübschen Hut auf!«

Minerva senkte den Kopf und ging kochend vor Wut nach oben in das Zimmer ihrer Mutter. Sie hatte es geschafft, mit der Langeweile des Landlebens fertig zu werden, indem sie sich nützlich machte, und sie hatte sich darauf gefreut, wieder ihren üblichen Pflichten nachzugehen – vor allem nach dem Schock am gestrigen Abend. Und jetzt das! Sie fürchtete sich vor dem bevorstehenden Ausflug nach Hopeminster, und ihre Furcht machte sie gereizt und nervös. Entsprechend wütend war sie auf ihren Vater.

Ihre Mutter war erwacht und nippte an ihrer Schokolade, als Minerva vorsichtig die Tür öffnete.

»Guten Morgen, Liebling«, sagte Mrs. Armitage mit schwacher Stimme und bot Minerva die eingefallene Wange zum Küssen dar. »Ich lese gerade ein faszinierendes Buch ... da ist es ... gib’s mir ... ich werde ...«

»Mama! Papa besteht darauf, daß ich mit ihm zum Pferdemarkt fahre. Das bedeutet, daß ich meine Besuche nicht machen kann. Er hat zwar gesagt, daß Annabelle sie machen soll. Aber ich will gar nicht weggehen und ...«

»Du mußt tun, was Papa für das Beste hält«, sagte Mrs. Armitage. »Außerdem brauche ich neue Bänder für meine Haube. Und jetzt gib acht! Denn du mußt lernen, etwas für deine Schönheit zu tun, weißt du.«

Mrs. Armitage öffnete das Buch und machte sich zwischen den Spitzen an ihrem Busen zu schaffen, um ihr Lorgnon zu finden. Sie begann zu lesen, indem sie mit einem Auge durch das Lorgnon spähte und das andere, in der Bemühung etwas zu sehen, ganz schrecklich zusammenzwickte.

»Es heißt ›Die Toilette der Flora‹ und ist aus dem Französischen übersetzt. Paß auf! Diese ungewöhnliche Gesichtsmaske könnte dich interessieren. Da steht, daß man sie herstellt, indem man eine Unze Harz vom Sandarakbaum und eineinhalb Unzen Benzoeharz in drei Achtelliter Brandy auflöst. Es soll der Haut den wunderbarsten Schimmer geben, den man sich denken kann! Und hier ...«

»Mama! Ich glaube nicht, daß es nötig ist, daß ...«

»Und meinst du, du kriegst eine grüne Ananas? Hier steht, daß der Saft von grünen Ananas gut gegen Falten ist und die Haut verjüngt. Man kann angeblich auch Zwiebelsaft nehmen, wenn man keine grüne Ananas auftreiben kann – aber ich meine, daß Zwiebelsaft nicht besonders verlockend riecht, und der Geruch geht überhaupt nicht mehr weg. Erinnerst du dich noch, als Annabelle Ohrenschmerzen hatte und wir ihr eine gebratene Zwiebel aufs Ohr gelegt haben, und wie sie mindestens noch eine Woche nach Zwiebeln roch. Ja wirklich, du mußt unbedingt nach Hopeminster fahren. Es ist von der Vorsehung so bestimmt. Abgesehen von den Bändern aus fliederfarbener Seide, meine Liebe, brauche ich Lavendelgeist und Pomade, und vergiß die Ananas nicht, obwohl ich nicht weiß, wo du so etwas Ausgefallenes bekommst. Ach, und bring mir etwas Alkannawurzel mit, denn ich habe vor, Rouge für dich zu machen.«

»Mama!«

»Lauf, Minerva, ich fühle mich recht schwach. Mein Krampf kündigt sich an, und ich muß ruhen und still sein.«

Mrs. Armitage sank in ihre Kissen zurück und schloß die Augen.

Minerva seufzte leise. Mamas Krämpfe waren immer ihr letzter Ausweg. Es war sinnlos, bei Mama Unterstützung zu suchen. Sie mußte sich schlicht und einfach dem Willen ihres Vaters beugen und zum Pferdemarkt fahren.

Annabelle war wütend und mußte mit Zuckerpflaumen und einem Roman aus der Leihbücherei bestochen werden. Normalerweise hätte Minerva einem Roman keine Unterkunft in ihrem Hause gewährt, aber Annabelles Temperamentsausbrüche waren gar zu schrecklich. Der Pfarrer drohte immer, sie mit der Rute zu verdreschen, und Minerva fürchtete, daß er dazu glatt imstande wäre; so verwöhnte sie Annabelle unnötig, weil sie dachte, daß sie dadurch das Mädchen vor Schlägen bewahrte.

Minerva wurde hinaufgeschickt, um sich umzuziehen, weil der Pfarrer gegen ihre Haube protestierte; er bezeichnete sie als altmodisch und sagte, daß er nicht zusammen mit so einer jämmerlichen Gestalt gesehen werden wollte, und wenn sie hundertmal seine Tochter sei.

Zu guter Letzt saßen sie in seiner schnellen Kutsche hinter den zwei dahingaloppierenden Braunen und rollten in angsterregender Geschwindigkeit nach Hopeminster.

Minerva - Duell der Herzen

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