Читать книгу Minerva - Duell der Herzen - Marion Chesney - Страница 5

Drittes Kapitel

Оглавление

»Osbadiston verkauft seinen Stall«, sagte der Pfarrer, während er seinen Wagen durch den Verkehr auf der Hauptstraße von Hopeminster lenkte.

»Aha«, antwortete Minerva und hielt ihren Hut fest. Das war sicher auch der Grund für die ungewöhnliche Geschäftigkeit mitten im Winter in dieser sonst so ruhigen Stadt.

Der Graf von Osbadiston war berühmt für seine Pferde. Er war allerdings auch berühmt für seine Spielschulden, und so kam es, daß er die einen verkaufen mußte, um die anderen zu bezahlen. Exzentrisch wie seit eh und je hatte sich der Graf entschlossen, seine Pferde in Hopeminster zu verkaufen, und nicht bei Tattersall in London. Der Pfarrer war der einzige, der ihn deswegen nicht für närrisch hielt. Die feinen Leute, die extra aus London hierherkamen, waren hier viel eher bereit, einen hohen Preis zu bieten, um die lange Reise zu rechtfertigen, als in der komfortablen Atmosphäre bei Tattersall.

Und so war der Markt auch die Erklärung dafür, daß man so viele elegante Angehörige der feinen Gesellschaft in der Stadt sah, männliche wie weibliche, und so exotisch wie Paradiesvögel. Minervas Augen wurden immer runder.

»Papa!« rief sie. »Hast du die Dame gesehen? Sie hat praktisch nichts als dünnen Musselin und Gaze angehabt. Und bei dem Wetter!«

»Du sollst nicht so gaffen«, gab ihr Vater, der sich in der Welt auskannte, zurück. »Sie werden dich für einen Bauerntrampel halten.«

»Aber jeder würde hinschauen«, protestierte Minerva. »Schau den kleinen Mann da drüben an. Er ist grün! Ich meine, jedes einzelne Stück, was er anhat, ist grün!«

»Das wird Cope sein«, sagte der Pfarrer, ohne sich die Mühe zu machen, sich umzudrehen. »Ich frag’ mich, was er hier macht. Er hat nicht nur grüne Sachen an, seine Zimmer sind grün, seine Möbel sind grün, alles ist grün. Weißt du, was die Leute über ihn sagen?

›Grüne Strumpfbänder, grüne Hose, und leugne, wer’s kann, das Hirn ist auch grün, von diesem grünen kleinen Mann!‹ Er ist ein Dandy.«

»Aha«, Minerva mußte das erst einmal verdauen. »Aber er macht sich lächerlich«, sagte sie schließlich. »Warum tut er das?«

»Er ist ein Dandy, darum«, sagte der Pfarrer und lenkte das Gefährt geschickt in den überfüllten Innenhof des ›Goldenen Hahn‹. »Sie sind alle so. Tun alles, um Aufmerksamkeit zu erregen. Einer von ihnen hat sich neulich erschossen und einen Brief hinterlassen, daß er ›des Auf- und Zuknöpfens müde war‹. Aber, glaub mir, er hat es nur getan, um sich wichtig zu machen. Möchtest du Tee trinken, während ich auf den Markt gehe?«

»Nein, Papa. Ich kaufe ein paar Sachen für Mama ein und treffe dich dann rechtzeitig zum Dinner hier.«

Minerva bahnte sich einen Weg durch die belebte Straße und war doch froh, daß sie ihre beste Kopfbedeckung trug: einen sogenannten Prinzregentenhut aus Samt mit einem Rand aus Seehundfell, der gerade in Mode war. An der rechten Seite des hohen Hutes war eine lange Straußenfeder befestigt, die über den Hut hinweg bis zum linken Ohr reichte.

In der letzten Ausgabe der Zeitschrift ›La Belle Assemblée‹ stand: »Alles trägt jetzt den Namen unseres geliebten Prinzregenten.« Und so hieß Minervas Tuchjacke auch Prinzregentenjacke. Typisch für die so benannten Kleidungsstücke waren die Epauletten an den Ärmeln.

Minerva zog recht viele Blicke von Männern auf sich, die offensichtlich der eleganten Welt angehörten und zum Pferdemarkt gingen. Sie wünschte, sie hätte eines der Hausmädchen mitgenommen. Manche Männer hatten Damen bei sich, die so engsitzende Kleider trugen, so viel Rouge aufgelegt hatten und sich so schamlos benahmen, daß Minerva vermutete, daß sie das erste Mal diese geheimnisumwitterte Sorte Frauen sah, die man flüsternd als Dirnen bezeichnete.

Annabelle stieß die großen Eisentore auf, die zu Lady Wentwaters Haus führten, und ging mit schleppenden Schritten die Auffahrt hinauf. Sie hatte fürchterlich schlechte Laune, die um so schlechter war, als sie niemanden hatte, an dem sie sie auslassen konnte.

Von ihrer nachgiebigen älteren Schwester und ihren Eltern verwöhnt, neigte Annabelle zu Wutanfällen, die ihren Grund einfach darin hatten, daß sie vor Langeweile überreizt war.

Lady Wentwater war bekannt dafür, daß sie kein Geld hatte und dafür, daß sie eine scharfe Zunge hatte. Ihr großes, zugiges, baufälliges Haus war so von Efeu überwuchert, daß es wie ein riesiges Baumhaus aussah.

Der Himmel war grau, und der Wind heulte traurig in den kahlen Bäumen entlang der Auffahrt.

Annabelle klingelte, erinnerte sich dann, daß die Klingel nicht ging, und stieß ungeduldig mit ihrer bräunlichen Stiefelette an die Tür.

Einer von Lady Wentwaters alten Dienern machte ihr auf und teilte dem Fräulein mit, daß die gnädige Frau im hinteren Salon sei.

Lady Wentwater war eine kleine Frau, unförmig wie ein Teigklumpen, in den man Korinthen als Augen und eine Zimtstange als Mund gesteckt hatte. Ihre Kleidung war alt und muffig und roch abscheulich.

»Wo ist Miß Armitage?« fragte sie asthmatisch pfeifend. Der Mops auf ihrem Schoß schnaufte ebenfalls pfeifend, die Uhr auf dem Kaminsims pfiff leise, bevor sie die volle Stunde schlug, und der Diener, der das Teetablett brachte, zog als Antwort die Luft pfeifend ein. Es war, als litte die ganze Welt an einem gewaltigen, alles umfassenden Asthmaanfall.

»Minerva ist mit Papa zum Pferdemarkt nach Hopeminster gefahren«, antwortete Annabelle und setzte sich mürrisch neben das Teetablett, nicht ohne die spärlichen, altbackenen Gebäckstücke auf der Kuchenplatte zu begutachten.

»Aha, um das eine Fohlen zu ersteigern und das andere zu versteigern«, keuchte ihre Ladyschaft.

»Das versteh’ ich nicht.«

»Sollst du auch nicht. Trink deinen Tee und lies. Was hast du mitgebracht?«

»Nichts«, sagte Annabelle. »Ich dachte, Sie haben die Bücher.«

»Sprich mich bitte mit ›Mylady‹ an, wenn du mit mir sprichst, Mädchen!«

»Mylady«, sagte Annabelle mit zusammengekniffenen Lippen.

»Das ist schon besser. Nun, nachdem deine Schwester nicht hier ist, kannst du das da lesen. Aber sag es ihr ja nicht! Sie mag Romane nicht und würde mir ewig Vorhaltungen machen!«

Etwas überrascht, daß diese furchterregende Dame ihrerseits Furcht vor ihrer Schwester hatte, trank Annabelle ihren Tee, der ihrer Überzeugung nach aus Teestaub gebrüht war, und gab dem Diener das Geschirr zurück. Sie bat um das Buch und ein paar zusätzliche Kerzen, denn der Raum wurde zunehmend dunkler.

Im Grunde wußte niemand viel über Lady Wentwater, dachte Annabelle, als die Kerzen angezündet wurden. Im Adelsverzeichnis tauchte kein Wentwater auf, und doch wäre niemand auf die Idee gekommen, Lady Wentwaters Titel anzuzweifeln oder sie der Hochstapelei zu bezichtigen. Sie bezeichnete sich als Witwe, aber auf den verstorbenen Lord Wentwater wies überhaupt nichts mehr hin, weder ein Porträt noch eine Miniatur.

Ein winziges Feuer knisterte im Kamin; es wärmte nur Lady Wentwaters muffige Röcke und verlor sich in der kalten Luft. Trotzig schob Annabelle ihren Stuhl näher zum Feuer und fragte, ob ›Mylady‹ wünsche, daß sie am Anfang des Buches zu lesen begänne. Es war Hugh Walpoles ›Das Schloß von Otranto‹.

»Nein, Mädchen, fang bei der eingemerkten Seite an. Seite 401.«

Mit düsterer Miene öffnete Annabelle das Buch. Es wäre so herrlich gewesen, von vorne anzufangen, statt ein Stückchen am Ende zu lesen, wo man nicht wußte, wer all diese Leute waren, oder was es mit ihnen auf sich hatte.

Sie begann mit klarer, lauter Stimme zu lesen, überzeugt davon, daß in Lady Wentwaters Alter jedermann taub sein mußte.

»›Was! Ist sie tot?‹ schrie er in wilder Bestürzung.

In diesem Augenblick erschütterte ein Donnerschlag die Burg bis in die Grundfesten; die Erde schwankte, und hinter ihnen erscholl das Geklirr einer Rüstung, die keinem Sterblichen zu gehören schien. Frederic und Jerome glaubten, der Jüngste Tag sei gekommen. Jerome, der Theodore mit sich zog, eilte auf den Hof. Sobald Theodore erschien, stürzten die Burgmauern hinter Manfred – von mächtiger Kraft zertrümmert – in sich zusammen, und aus den Ruinen tauchte in ungeheurer Größe die Gestalt Alfonsos auf.

›Seht in Theodore den wahren Erben Alfonsos!‹ sagte die Erscheinung.

Und als er diese Worte verkündet hatte, fuhr er unter Donnerschlägen gen Himmel, wo sich die Wolken teilten und die Gestalt des Heiligen Nikolaus sichtbar wurde, der den Schatten Alfonsos empfing, so daß beide bald den Blicken der Sterblichen in einem Glorienschein entschwanden.‹«*

Schnarchen!

Annabelle blickte auf und starrte Lady Wentwater fassungslos an.

Sie schlief.

Wie war es nur möglich, daß jemand bei einer so spannenden Geschichte einschlief!

Annabelle betrachtete gierig das Buch. Es schadete niemandem, wenn sie schnell die erste Seite überflog.

Ein früher Winterabend senkte sich auf das verwilderte Grundstück und die Felder draußen herab. Die Krähen flogen auf ihre Nistbäume, und die Schatten in dem muffigen Raum wurden dunkler. Der aufkommende Wind heulte unter dem Dach.

Plötzlich ließ ein Geräusch Annabelle von dem Buch aufblicken. Der Türgriff drehte sich ganz langsam.

Langsam und unter heftigem Knarzen der Angeln öffnete sich die schwere Mahagonitür zum Salon.

Eine große Gestalt in einem Cape stand auf der Schwelle.

Annabelle fuhr sich mit der Hand an den Mund und stieß einen leisen Schreckensschrei aus. Die Gestalt, die da bedrohlich im Halbdunkel aufragte, schien dem Schauerroman auf ihrem Schoß zu entstammen.

Und dann bewegte sie sich aufs Kerzenlicht zu, in dessen Glanz sie sich nicht als furchtbare Geistererscheinung offenbarte, sondern als großer junger Mann mit einem offenen, sympathischen Gesicht, dessen hellbraunes Haar kunstvoll zu einer Windstoßfrisur aufgetürmt war. Er war in einen sogenannten ›Garrick‹ gehüllt, ein Cape, das aus mehreren Stoffschichten übereinander bestand. Als er es schwungvoll abnahm, wurde ein untadelig geschnittener, flaschengrüner Rock über ledernen Kniehosen und weiche, glänzende Reitstiefel sichtbar. Sein Jabot war so weiß, daß Annabelle blinzeln mußte.

Er machte eine vollendete Verbeugung. »Ich bin Guy Wentwater, der Neffe Ihrer Ladyschaft. Gibt es Sie wirklich? Haben Sie einen Namen? Oder sind Sie eine Märchengestalt?«

Ein hübsches Grübchen erschien auf Annabelles Gesicht; sie stand auf und machte einen tiefen Knicks.

»Ich bin Miß Annabelle Armitage. Ich habe Ihrer Tante vorgelesen, aber sie ist eingeschlafen. Es ist sehr spät. Ich muß gehen.«

In seinen blaßblauen Augen war Spott zu lesen. »So schnell? Wir haben uns doch gerade erst kennengelernt? Aber Sie entkommen mir nicht. Ich bleibe nämlich längere Zeit bei meiner Tante. Da sie schläft, begleite ich Sie heim.«

Er hob das Buch auf und las amüsiert den Titel.

»Zumal Sie ohne Zweifel hinter jedem Busch Geister und Gespenster sehen werden.«

»Ich lese keine Romane«, sagte Annahelle geziert. »Ich habe lediglich Lady Wentwater die Zeit vertrieben.«

»Und dabei ist sie so fest eingeschlafen? Kommen Sie, Miß Annabelle ...«

Minerva wünschte, sie hätte sich bei der Besichtigung der Kirche von Hopeminster nicht so lange aufgehalten.

Die Straßen waren eng und wegen der überhängenden Tudorgebäude dunkel; und als sie sich auf den Weg zum Gasthaus machte, wurde es auch ohnehin bereits dunkel, obwohl es erst halb vier Uhr war. Auf den Straßen drängten sich lärmende, abenteuerlustige junge Männer.

So ruhig und ausgeglichen Minerva in ihrer vertrauten Umgebung in Hopeworth war, so nervös und unbesonnen machten sie die vollen Straßen der Grafschaftshauptstadt. Zweimal schlug sie die verkehrte Richtung ein, zweimal mußte sie auf die Seite gehen, weil eine Gruppe von grölenden Männern versuchte, ihr den Weg abzusperren.

Schließlich befand sie sich in der Hauptstraße und eilte auf den Gasthof zu.

Am Portal standen ein paar elegante Leute: drei Herren und zwei Damen.

Die Herren waren ebenso wie die Damen erstklassig angezogen. Sie wirkten allesamt so groß und so großartig, daß sich Minerva ganz klein und bieder vorkam.

Sie wollte gerade an der Gruppe vorbeischlüpfen, als einer der Männer sich umdrehte und ihr voll ins Gesicht schaute.

Aus irgendeinem Grund stockte ihr plötzlich der Atem. Sie verlor die Fassung, und ihre Hände begannen zu zittern – bevor sie recht wußte, wie ihr geschah, hatte sie sämtliche Päckchen fallen lassen.

Ohne abzuwarten, ob ihr jemand half, bückte sie sich, um ihre Besitztümer wieder einzusammeln.

Eine hohe, verdrießliche Frauenstimme drang an ihr Ohr. »Wenn ich so ein ungeschicktes Mädchen hätte, würde ich es auf der Stelle entlassen.«

Als Minerva bei dieser Demütigung errötete, hörte sie ganz nahe eine fröhliche Männerstimme: »Aber geh, Amaryllis. Ein Hausmädchen hätte doch nie so einen bezaubernden Hut. Erlauben Sie, gnädiges Fräulein.«

Halb über ihre Päckchen gebückt, merkte Minerva, daß sich der größte von den Männern ebenfalls bückte, um ihr zu helfen, während seine Begleiter zuschauten.

»Da«, sagte er in einem etwas schleppenden Tonfall. »Ich glaube, ich habe sie alle, gnädiges Fräulein, abgesehen von denen, die Sie selbst haben. Ganz schön anstrengende Beschäftigung, all die Päckchen zusammenzubringen, was!«

Minerva richtete sich gleichzeitig mit dem Herrn auf und schaute in zwei katzengrüne Augen, die unbewegt auf sie herabblickten. Während er mit der einen Hand ihre Päckchen an sich drückte, zog er mit der anderen seinen Biberhut und machte eine tiefe Verbeugung vor ihr. Sein Haar glänzte im Schein der Gasthoflaterne; es war gelockt und pomadisiert und es duftete. Er trug einen blauen ›Schwalbenschwanz‹ mit silbernen Knöpfen über Lederhosen und dazu glänzende schwarze Reitstiefel mit übermütigen kleinen Quasten. Sein Mund war schön geschnitten, zu schön für einen Mann. Seine ziemlich schweren Lider gaben ihm ein leicht zerstreutes Aussehen. Die Hände, die die Päckchen und den Hut hielten, waren lang und sehr weiß; die Fingernägel waren poliert.

Sein Leinenhemd war so fein, daß es fast durchsichtig war. Die Kanten waren gerüscht und zart bestickt.

Diese Mischung aus erstklassiger Schneider-, Barbier- und Manikürkunst strömte etwas Ehrfurchtgebietendes aus. Minerva empfand den Mann als dekadent, abstoßend und, jawohl, auch als fremdartig.

»Ich komme gleich wieder«, sagte dieser wie aus dem Ei gepellte Herr zu seinen Freunden, ohne Minervas Gesicht aus den Augen zu lassen. »Ich begleite diese Dame in den Gasthof und helfe ihr, ihre Einkäufe zu verstauen. Erlauben Sie, gnädiges Fräulein.«

»Wirklich, Sylvester«, erwiderte eine der Damen. »Hast du nichts Besseres zu tun als den Dienstburschen für Bauerntrampel zu spielen? Wir sollten so bald wie möglich zurückfahren. Ich jedenfalls habe keine Lust, die Nacht hier zu verbringen.«

»Lassen Sie mich in Ruhe, Sie alle«, fauchte Minerva, der es jetzt endgültig reichte, wutentbrannt.

»Ihr habt gehört, was die Dame gesagt hat«, sagte der große Herr mit dem schleppenden Tonfall. »Ihr sollt uns in Ruhe lassen. Nun, gnädiges Fräulein, wenn Sie erlauben ...«

Er ging auf den Gasthof zu, und Minerva hatte Mühe, ihm zu folgen. »Für diese Beleidigung werden Sie meinem Vater Rede und Antwort stehen«, schimpfte sie in scharfem Ton.

»Entzückt seine Bekanntschaft zu machen, gnädiges Fräulein«, kam die lässige Antwort. »Vielleicht bleibe ich doch noch hier.«

Minervas Gewissen regte sich. Sie war unfair. Dieser Mann hatte sie nicht beleidigt, nur seine Begleiter, aber das war etwas anderes.

Es war ihre Christenpflicht, sich zu entschuldigen.

Minerva scheute an der Eingangstür des Gasthofs kurz zurück. Er schien voll von wilder, betrunkener Männlichkeit zu sein. Ihr Begleiter hielt ihre Päckchen, während sie in die Kaffeestube, die Schenke und die Gaststube schaute. Vom Pfarrer keine Spur!

Ihre Augen brannten vom Tabakrauch, ihre Ohren waren taub vom Lärm, die niedrigen Balken des Gasthofs schienen sie zu erdrücken.

»Ich muß den Wirt suchen«, sagte sie aufgeregt zu ihrem hochgewachsenen Begleiter.

»Ich rufe ihn«, antwortete der geduldig.

»Man wird Sie bei all diesem Lärm nicht hören.«

»Doch. Ich denke schon.«

Sie standen in der kleinen Eingangshalle. Die Schenke war auf der einen Seite, die Kaffeestube, durch die man zur Gaststube gelangte, auf der anderen.

Der große Herr legte Minervas Päckchen auf ein Tischchen neben eine Messingkanne mit verwelkten Blumen. Dann faßte er mit der Hand in seine Rocktasche und zog eine Handvoll Geld heraus. Ein paar Münzen warf er in die Kaffeestube und ein paar in die Schenke.

Ganz plötzlich war es absolut still. Egal wie laut es ist, egal wie vertieft eine Gesellschaft in die Unterhaltung ist, es gibt nichts, was so schnell Ruhe schafft wie der Klang von Geld.

»Wirt!« schrie der Herr in die entstandene Stille hinein.

Ein kleiner, dünner, drahtiger Mann kam herbeigeeilt.

»Mr. Boyse!« sprach Minerva voller Dankbarkeit den Wirt an. »Haben Sie Mr. Armitage gesehen?«

»Ich habe ihn vor einer ganzen Weile gesehen, Miß Armitage. Er hat einen privaten Salon und zwei Zimmer für die Nacht gemietet. Er wird wohl ein Pferd verkaufen wollen.«

»Das verstehe ich nicht«, sagte Minerva verwirrt. »Er ist hergekommen, um eines zu kaufen ... Aber, na ja.«

»Wenn Sie sich zurechtfinden, Miß. Das Zimmer ist oben, zweite Tür rechts. Ich lass’ Ihnen Tee bringen. Dinner gibt’s, sobald der Pfarrer da ist.«

Minerva ging auf die schmale Gasthoftreppe zu und begann hinaufzusteigen. Auf der dritten Stufe fielen ihr ihre Päckchen und ihr Begleiter ein, und daß sie ihm Dank und eine Bitte um Verzeihung schuldig war.

Ihre Familie hätte an ihrem starren Blick und ihrer hochmütigen Haltung erkannt, daß sie im Begriff war, eine von ›Mervas noblen Entschuldigungen‹ vorzubringen.

»Sir«, sagte sie und warf den Kopf dabei zurück. »Ich habe mich bei Ihnen zu entschuldigen. Ich hätte nicht so schroff sein sollen, da nicht Sie mich draußen vor dem Gasthof beleidigt haben. Ich danke Ihnen auch für Ihre Freundlichkeit und Ihre Hilfe.« Um ihre Päckchen in Empfang zu nehmen, streckte sie ihre Arme wie ein Mädchen auf einer griechischen Urne aus.

Es war ihr nicht klar, daß die Gasthoftreppe viel zu steil war, um so plötzlich von einer abweisenden Haltung in die gebückte Haltung einer Ährengarben entgegennehmenden griechischen Göttin zu wechseln, und so purzelte sie kopfüber die Stufen hinab und direkt auf ihn.

Er mußte unter ihrem Gewicht nachgeben, so daß er in voller Länge auf dem Boden lag und Minerva auf ihm, während mehrere fröhliche Zecher vor Lachen brüllten und Bravo schrien. Manche gingen soweit, vorzuschlagen, die Stellung doch umzukehren.

»Lassen Sie mich sofort los, Sir«, sagte Minerva, vor Wut und Scham rot anlaufend.

»Alles, was recht ist«, beklagte sich der großgewachsene Herr, zu ihr emporblickend. »Wie kann ich Sie loslassen, wenn ich Sie gar nicht angefaßt habe? Sie, gnädiges Fräulein, sollten mich loslassen. Ich kann mich schließlich nicht bewegen mit Ihnen auf mir und lauter Päckchen in den Händen. Oder?«

Minerva rappelte sich auf und wünschte, sie wäre tot. Es war ein Alptraum. Sie, die sich immer so großartig im Griff hatte, an die sich die gesamte Familie Armitage um Rat und weise Lehren wandte, stand derart lächerlich da.

»Papa!« rief sie dankbar, als sie die vertraute gedrungene Gestalt im Eingang sah.

»Tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte ihr Vater fröhlich.

»‘n Abend, Comfrey«, fügte er, an Minervas Begleiter gewandt, hinzu, der ebenfalls aufgestanden war. »Ich bin ganz schön hungrig. Gehen wir rauf zum Dinner.«

Zu Minervas Erstaunen legte er dem eleganten Mann seinen kräftigen Arm um die Schultern und zog ihn zur Treppe.

Aber der große Herr befreite sich aus der Umarmung, murmelte, daß er sich erst bei seinen Freunden entschuldigen müsse, verbeugte sich vor Minerva, gab ihr ihre Päckchen und ging, nachdem er gesagt hatte, daß er in zehn Minuten wieder da sein werde.

Minerva konnte sich kaum beherrschen, bis sich die Tür zu dem Privatsalon hinter ihnen geschlossen hatte.

»Papa! Wer ist der Herr?«

»Oh, das ist Comfrey. Lord Sylvester Comfrey, der jüngste Sohn des Herzogs von Allsbury. Ganz große Klasse. Geld wie Dreck, und manche sagen, daß er gesellschaftlich einflußreicher als Brummell ist.«

»Wenn das die Sorte Mann ist, mit der ich zusammenkommen soll, wenn ich in London in die Gesellschaft eingeführt werde, dann gehe ich lieber nicht«, sagte Minerva und setzte ihren Hut ab.

»Ach, komm«, sagte der Pfarrer streng. »Ich zwinge dich ja nicht, ihn heute abend zu heiraten. Ich will ihm einen der Braunen verkaufen, auf die er ein Auge geworfen hat. Er sagt, daß auf dem ganzen Markt kein Pferd so gut war, und das stimmt. Er zahlt gut, ich möchte deshalb nicht, daß du dich zierst wie eine alte Jungfer. Wenn du ihn nicht magst, sag gar nichts. Er kann dir in London ganz gewaltig schaden, wenn er dich nicht leiden kann.«

»Ich mag Dandys nicht«, sagte Minerva langsam.

»Nun mal langsam. Er ist kein Dandy, und du sollst ihn auch nicht so nennen, ja? Er ist durch und durch in Ordnung. Abgesehen von Alvaney würde ich auch keinen von den Dandys zu mir einladen.«

»Mama macht sich sicher Sorgen, wenn wir nicht nach Hause kommen.«

»Nein, weil ich bereits einen Jungen ins Pfarrhaus geschickt habe, der unsere Kleidung holt. Wir bleiben über Nacht hier, und damit basta! Ich rieche Schneeluft, aber hoffentlich hält es noch bis morgen durch. Pscht! Ich höre Schritte auf der Treppe.«

Die Tür öffnete sich, und Lord Sylvester betrachtete den Pfarrer und dessen Tochter durch sein Monokel. Dann ließ er es fallen und kam langsam herein.

Minerva verstand nicht, warum sie diesen Mann so wenig mochte, aber jedenfalls mochte sie ihn nicht.

Trotzdem brachte sie es fertig, während des Essens einen hübschen Anblick zu bieten, während sich die beiden Männer über Pferde und Stammbäume unterhielten. Bevor sie sich hinsetzte, hatte sie einen Blick in den Spiegel geworfen und war sich deshalb ihres guten Aussehens sicher. Die Kälte am Nachmittag ließ ihre Wangen erblühen, und ihr schwarzes Haar glänzte vor Gesundheit. Aber kein einziges Mal schaute Lord Sylvester zu ihr, und Minerva konnte sich selbst nicht erklären, warum sie sich nach einiger Zeit darüber ärgerte.

Und doch spürte sie, wie seine Gedanken um sie kreisten. Sie spürte, daß er sie irgendwie beobachtete, auch wenn er nicht in ihre Richtung blickte. Vielleicht bildete sie es sich auch nur ein, weil der mit Brandy verstärkte Wein schwer und der Raum überhitzt war. Aber während des weiteren Verlaufs der Mahlzeit wurde sie zunehmend nervöser, so daß sie, als er sie schließlich doch ansprach, ihre Gabel mit lautem Geklappere auf den Teller fallen ließ.

»Ich höre, wir haben das Vergnügen, Sie in der nächsten Saison in London zu sehen, Miß Armitage?«

»Ja, Mylord.«

»Und freuen Sie sich schon auf all die Bälle und Gesellschaften?«

Ein kindischer Wunsch, anders zu sein und Eindruck zu machen, überkam Minerva.

»Nein, Mylord«, sagte sie. »Ich wollte, ich könnte zu Hause bleiben, mich um meine Brüder und Schwestern kümmern und mich für die Bedürfnisse der Gemeindemitglieder einsetzen. Indem wir anderen helfen, machen wir uns selbst am meisten Freude.«

»In der Tat! Warum sich dann in das genüßliche Londoner Leben stürzen, wenn Sie sich so gerne für andere aufopfern?«

»Ich muß«, antwortete Minerva und schlug die Augen nieder ... schon wieder eine unerfreuliche Begleiterscheinung ihrer Geziertheit. »Meine Familie verlangt es von mir.«

»Warum?«

Minerva begegnete den beschwörenden Blicken ihres Vaters und wurde rot. Sie konnte unmöglich erklären, daß sie sich einen reichen Mann angeln sollte, um die Finanzen der Armitages zu retten.

Sie biß sich auf die Lippen und sagte gar nichts.

»Ich meine«, beharrte diese aufreizende Stimme, »man könnte glatt denken, Sie werden gezwungen zu gehen. Ist das der Fall?«

»Es muß eine Möglichkeit geben, das Gebell wegzuzüchten, ohne dabei etwas anderes rauszuzüchten«, sagte der Pfarrer, rücksichtslos das Thema wechselnd. »Mostyns Hunde sind in dieser Hinsicht ganz was Besonderes. Aber Beauforts Meute würde Ihr Herz schneller schlagen lassen – die beste Meute in England nach Belvoir.«

Lord Sylvester nahm den Faden der Unterhaltung wieder auf und kehrte zum Jagen zurück. Bald blieb Minerva keine andere Wahl, als sich auf ihr Zimmer zurückzuziehen und die Herren ihrem Portwein zu überlassen.

»Deine Siebensachen sind in Zimmer sechs«, sagte ihr Vater. »Ich bin in Zimmer zwei, falls du etwas brauchst. Wir bleiben nicht mehr lange auf. Ich bin müde und seine Lordschaft sicherlich auch.«

Minerva küßte ihn auf die Wange und knickste vor Lord Sylvester, der sich verbeugte und ihr dann die Tür aufhielt.

»Gute Nacht, Miß Armitage«, sagte er sanft.

Minervas graue Augen glitten schnell über sein Gesicht. Seine grünen Augen betrachteten sie ganz ruhig, und gegen ihren Willen fiel ihr Blick auf seinen schön geschwungenen, wie gemeißelten Mund, bevor sie ein hastiges »Gute Nacht« in Erwiderung murmelte.

Sobald sie in ihrem Zimmer war, wurde ihr klar, daß sie nicht einschlafen konnte. Die Eleganz Lord Sylvesters und seiner Freunde machte London zu einem furchterregenden Ort für sie. Wer waren diese hochmütigen Damen in seiner Begleitung? Hatte er zu einer von ihnen eine nähere Beziehung? War er verheiratet? Ach, das war doch ganz egal! Um ihrer Geschwister willen mußte sie sich ständig darin üben, ihre Gedanken auf Höheres zu richten.

Sie zog ein in Leder gebundenes Büchlein heraus mit dem Titel ›Meditationen über das Schicksal der Seele‹ und begann zu lesen. Dabei saß sie in einem arg mitgenommenen Sessel vor dem erlöschenden Feuer.

Obwohl sie sich sehr bemühte, konnte sie sich nicht konzentrieren. Sie redete sich ein, daß das nicht an Lord Sylvester lag. Der fürchterliche Lärm, der von der Schenke unten heraufdrang, hätte ausgereicht, um Tote zu erwecken.

Als die Turmuhr zwei Uhr schlug, erwachte Minerva. Sie war eingeschlafen.

Sie war steif vor Kälte. Rasch warf sie eine Schaufel Kohlen auf die schwache Glut und öffnete den alten Koffer, um ihr Nachthemd auszupacken.

Ein zerknittertes graues Flanellhemd, eine wollene Nachtmütze und Herrenunterwäsche lagen vor ihren überraschten Augen.

Zu ihrer Verärgerung wurde ihr klar, daß der Hausdiener ihr den Koffer ihres Vaters gebracht hatte und ohne Zweifel ihrem Vater den ihren.

Sie fühlte sich zerschlagen und unwohl, weil sie in ihren Kleidern geschlafen hatte, und beschloß nach einigem Zögern, in das Zimmer ihres Vaters zu gehen und die Gepäckstücke auszutauschen. Trotzdem fragte sie sich, warum ihr Vater die Verwechslung nicht selbst entdeckt hatte.

Den Koffer in der einen Hand und die Bettkerze in der anderen, stieß sie die Tür auf und suchte den schmalen Korridor nach Zimmer zwei ab. Die Zimmernummern waren mit Bleistift auf die weißgetünchte Wand neben jede Tür geschrieben.

Nachdem sie den Koffer mehrere Stufen hinauf und mehrere Stufen hinabgetragen hatte, fand sie Zimmer zwei und öffnete die Tür.

»Papa!« flüsterte Minerva und ging mit hocherhobener Kerze auf das Bett zu. Es war leer.

Sie zündete ein paar Kerzen auf dem Kaminsims mit ihrer eigenen an und sah im hellen Kerzenschein ihren Koffer neben dem Bett stehen.

Wo mochte der Pfarrer sein?

Die Vorhänge waren nicht ganz zugezogen.

Minerva ging ans Fenster, öffnete es und schaute in den Hof des Gasthauses hinab, der hell im Mondschein lag.

Sie konnte zwei Gestalten unter der Lampe erkennen, die über dem Portal zum Hof hing.

Die eine war ihr Vater und die andere eine Frau. Ihr Vater sagte etwas, und das ordinäre Lachen der Frau schallte durch die Nachtluft. Dann bückte sich der Pfarrer zu seiner Begleiterin herab, gab ihr einen herzhaften Kuß und einen Klaps auf den Hintern.

Er rief »Gute Nacht« und kam auf das Haus zu.

Minerva machte ein paar Schritte weg vom Fenster.

Jetzt begriff sie, warum ihr Vater – scheinbar im letzten Moment – rätselhafterweise zwei Zimmer und einen privaten Salon nur wegen des Pferdemarktes gemietet hatte. In Wirklichkeit hatte er sie schon lange reserviert. Die ganze Sache war so geplant, daß sie wie ein plötzlicher Einfall wirkte. Seine älteste Tochter hatte er nur zur Tarnung mitgenommen. Er war mit einer Dame aus der Stadt verabredet.

Minerva wußte, daß ihr Vater ihrer Mutter manchmal untreu war. Männer waren nun einmal so. Aber nie vorher war sie wirklich Zeuge gewesen.

Sie fühlte sich verloren, aufgewühlt und verletzt. Sie wollte ihren Vater nicht sehen, wenn er heraufkam.

Schnell ergriff sie ihren eigenen Koffer, blies die Kerzen auf dem Sims aus, nahm ihre Bettkerze und eilte den Gang zurück, den sie gekommen war. Sie dachte schon, sie würde ihr Zimmer nie wieder finden, als sie endlich eine etwas wacklige Sechs an der Wand sah; und mit einem Seufzer der Erleichterung ging sie in das Zimmer.

Ihre Nerven waren jetzt aufs äußerste angespannt. Sie ließ es bei einer flüchtigen Wäsche bewenden, wobei sie feststellte, daß die Wasserkrüge nur halb voll waren und die Handtücher feucht. Am nächsten Morgen wollte sie sich wegen dieser Nachlässigkeit beim Wirt beschweren. Das Zimmer erschien ihr größer, als sie es in Erinnerung hatte, und roch leicht nach Brandy. Außerdem waren die Bettvorhänge zugezogen, und sie war ziemlich sicher, daß sie sie offengelassen hatte.

Sie zog ihr Nachthemd an, bürstete ihre Haare und setzte ihr hübsches Spitzenhäubchen auf.

Dann schaute sie sekundenlang die Bettstelle an.

Was für eine Stätte der Zuflucht!

Auf die Federmatratze sinken, die Decke über den Kopf ziehen und die Anfechtungen und Kümmernisse des Tages einfach wegschlafen!

Wie früher als kleines Mädchen, als sie Angst vor der Dunkelheit hatte, blies Minerva die Kerze aus, nahm Anlauf und stürzte sich kopfüber durch die Bettvorhänge.

»Uff!«

Ihr blieb die Luft weg, weil sie schon zum zweiten Mal, seit sie in Hopeminster war, in ihrer ganzen Länge auf einer männlichen Brust gelandet war.

»Manna vom Himmel«, murmelte eine amüsierte Stimme. Und bevor sie Zeit hatte, sich zu fassen, hielt eine starke Hand sie am Rücken fest, während die andere ihr Kinn so hob, daß ein energischer Mund den ihren mit einem Kuß verschließen konnte.

Sie drehte ihren Mund hastig weg und öffnete ihn, um zu schreien, aber da wurde sie blitzschnell auf den Rücken gedreht und von dem ganzen Gewicht eines männlichen Körpers in die Kissen gedrückt; und dieser suchende, fordernde Mund fand den ihren noch einmal.

Ganz weit hinten in Minervas Kehle bildete sich ein erstickter schwacher Laut. Minerva befiel panische Angst.

Auf der Stelle wurden ihre Lippen freigegeben, und der schwere Körper rollte zur Seite.

»Schreien Sie nicht«, kam es in dem schleppenden Tonfall, den Minerva jetzt als den von Lord Sylvester erkannte, »Lassen Sie mich die Kerze anzünden und sehen, wen ich im Bett habe.«

Eine kleine gelbe Flamme leuchtete auf, eine Hand zog den Bettvorhang zurück, und Lord Sylvesters schönes Gesicht blickte auf Minervas erschrecktes hinunter.

»Wie können Sie es wagen, Mylord«, sagte Minerva, die ihren Mut zurückgewann, zumal ihr klar wurde, daß sie nur zu schreien brauchte, um ihren Vater und sämtliche Gasthofbedienstete auf den Plan zu rufen. »Wie können Sie es wagen, mir in meinem Zimmer aufzulauern!«

Er lehnte sich in die Kissen zurück und verschränkte seine Hände hinter dem Kopf. »Ganz im Gegenteil, Miß Armitage, das ist mein Zimmer.«

Minerva schloß ihre Augen ganz fest und öffnete sie langsam in der Hoffnung, daß sich alles als Irrtum herausstellte. Aber seine Lordschaft hatte recht. Unzweifelhaft war das sein Zimmer. Jetzt, wo sie genauer hinschaute, war es wirklich größer und ein wenig anders möbliert.

Aufgeregt hüpfte sie aus dem Bett und blieb zitternd stehen. Mit stockender Stimme erklärte sie die Sache mit den Koffern und daß sie ganz sicher eine »Sechs« an der Wand gesehen hatte.

Er lag, gegen seine Kissen gelehnt, ganz entspannt da. Seine Nachtmütze saß ihm verwegen auf dem Kopf, und sein Gesicht wirkte über der weißen Spitze seines Nachthemds beinahe durchsichtig.

»Sie brauchen nicht dauernd krampfhaft zu versuchen, Ihre Blößen zu bedecken, gnädiges Fräulein«, sagte Seine Lordschaft. »Das Ding, das Sie da anhaben, verdeckt Ihre Figur vollkommen.« Er hob sein Monokel. Guter Gott, der Mann schlief damit! »In der Tat«, fuhr er fort, »es ist aus Flanell, würde ich sagen. Gut gegen Winterkälte.«

Er lächelte die zitternde Minerva an, so daß sie sich etwas beruhigte, und schloß seine Augen halb.

Auf eines konnte man sich bei Minerva verlassen. Sie wußte, was ihre Pflicht war, und sie würde sie um jeden Preis erfüllen.

Da sie nun wußte, daß er die Wahrheit sagte und daß ihr Nachthemd weniger preisgab als ein Ballkleid, ließ sie ihre Arme herabhängen, warf den Kopf zurück, schloß ihre Augen halb und sagte feierlich: »Ich bin bereit, Sie zu heiraten, Sir.«

Seine Lordschaft riß für einen Moment seine Augen auf, um sie dann wieder halb zu schließen. »Ich höre wohl allmählich schlecht«, murmelte er. »Ich könnte schwören, Sie haben gesagt, daß Sie mich heiraten.«

»Aber ja!«

»Warum? Ich meine nicht, warum Sie es gesagt haben, sondern warum Sie mich heiraten wollen?«

»Es ist meine Pflicht.«

»Wie meinen Sie das?« fragte Lord Sylvester und drückte seine breiten Schultern noch bequemer in die Kissen hinein.

»Weil ich Sie bloßgestellt habe.«

»Ach du meine Güte. Wissen Sie was, Miß Armitage, Sie würden nicht dauernd auf Sachen und Menschen fallen, wenn Sie Ihre Augen offenhalten und geradeaus schauen würden. Das ist das eine. Das andere ist, daß – wenn ich Sie erinnern darf – gewöhnlich der Herr derjenige ist, der die Dame kompromittiert, und zwar aus dem einfachen Grund, daß der Verlust der Jungfräulichkeit für den Mann eine Pflicht und keine Katastrophe ist. ›Schau, daß du sie los wirst‹, sagte mein Vater zu mir, als ich gerade erst sechzehn war und kaum wußte, daß ich sie besaß, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eigenartige Sache, wenn man mal darüber nachdenkt – die Erziehung.« Lord Sylvester gähnte diskret und reckte sich. Seine ruhigen grünen Augen waren jetzt weit geöffnet und auf Minervas Gesicht gerichtet. »Man muß lernen, gut zu schießen, gut zu jagen und auf den Zentimeter genau zu treffen, ganz zu schweigen von fechten und tanzen. Und wenn man dann das alles beherrscht, fangen sie an, einen damit zu piesacken, daß man seine Jungfräulichkeit loswerden soll. Sie haben ja keine Ahnung, was für ein Glück Sie haben, daß Sie eine Dame sind, Miß Armitage. Sie sehen, Sie können mich nicht gut kompromittiert haben.«

»Ich habe nur höflich sein wollen«, sagte Minerva zurückhaltend. »Tatsache ist, Sir, daß ich Ihnen recht gebe. Ich bin diejenige, die kompromittiert worden ist.«

»Nicht, wenn Sie niemand gesehen hat, als Sie mein Zimmer betraten. Hat Sie jemand gesehen?«

»Nein, Mylord.«

»Gut, da haben wir’s. Kein Grund zur Sorge.« Wieder reckte er sich, und seine schweren Augenlider schlossen sich.

Minerva beobachtete ihn wütend.

»Sie werden doch nicht etwa einschlafen?«

»Warum nicht?« murmelte er undeutlich. »Es ist mein Bett und mein Zimmer und meine Müdigkeit. Wenn Sie allerdings wollen, daß ich Sie noch einmal küsse, dann wache ich natürlich schlagartig auf.«

»Das will ich ganz bestimmt nicht!«

»Na also«, gähnte er. »Gute Nacht.«

»Sie könnten mir wenigstens mit dem Koffer helfen«, sagte Minerva, nahm den Koffer und ging zur Tür.

»Wenn ich Ihnen helfen würde, ihn zu tragen, könnten wir zusammen auf dem Gang des Gasthofs in unseren Nachthemden gesehen werden. Und wissen Sie, ich möchte wirklich nicht heiraten. Ich bin dreiunddreißig Jahre lang ganz gut so durchgekommen.«

»Es hat Sie niemand darum gebeten, Mylord«, fauchte Minerva.

»Ach du meine Güte! Und ich war der Meinung, daß mir soeben ein Heiratsantrag gemacht worden sei.«

»Oooooh!«

Minerva ging hinaus, und erst im letzten Moment beherrschte sie sich so weit, daß sie die Türe nicht hinter sich zuknallte.

Im flackernden, trügerischen Licht der Kerze zeigte sich jetzt, daß das Zimmer, das sie gerade verlassen hatte, tatsächlich Nummer neun war. Minerva fand nach vielem Suchen Zimmer sechs und konnte sich endlich schlafen legen.

Die Rückfahrt zum Pfarrhaus am nächsten Morgen verlief recht schweigsam. Ein feiner, pulvriger Schneefall hatte eingesetzt, und die Fahrt dauerte diesmal, da nur ein Pferd den Wagen des Pfarrers zog, natürlich länger.

So sehr Minerva es auch versuchte, sie konnte den unverfrorenen Lord Sylvester nicht ganz aus ihren Gedanken verbannen. Sie hatte gehofft, ihm am Morgen ihrer Abreise zu begegnen, um ihn mit all der Verachtung, die er verdiente, behandeln zu können, aber von seiner faulen Lordschaft war nichts zu sehen.

Schließlich fragte sie ihren Vater, ob er gut geschlafen habe.

»Ausgezeichnet«, sagte der Pfarrer, ohne auch nur ein bißchen zu erröten. »Wenn ich nicht zu Hause bin, schlafe ich immer besser.«

Minerva hatte nicht den Mut, ihm zu sagen, daß sie ihm auf die Schliche gekommen war. Ob ihr Mann auch so werden würde, wenn sie erst einmal verheiratet waren? Ob alle Männer so waren? Ob Lord Sylvester ...? Ach, sie wollte den Mann doch vergessen!

Zu Hause erwartete sie eine ganz aufgeregte, vor Neuigkeiten platzende Annabelle. Sie konnte es kaum erwarten, bis Minerva ihre Einkäufe Mrs. Armitage übergeben hatte und sie sie in ihr Zimmer ziehen konnte, um alles über Lady Wentwaters gutaussehenden Neffen herauszusprudeln.

»Und nächste Woche geht er weg, weil er in Geschäften nach Bristol muß«, stieß Annabelle atemlos hervor, vor Aufregung hüpfend. »Mama hat ihn kennengelernt und ist recht von ihm eingenommen. Erst hatte sie ihre Bedenken, weil es sich herausstellte, daß er irgendwie im Handel tätig ist. Aber es scheint, daß er irgend etwas sammelt und viele Schiffe hat. Schwarzes Elfenbein sammelt er. In Afrika! Ist das nicht aufregend?«

Minerva hörte sich geduldig diese Ergüsse an, runzelte leicht die Stirn, als sie erfuhr, daß Lady Wentwater ihrer Schwester einen Roman zum Vorlesen gegeben hatte, und versprach zu lächeln, wenn Mr. Wentwater zu Besuch kam. Dabei fragte sie sich die ganze Zeit im stillen, ob Annabelle schließlich diejenige sein würde, die die Familienfinanzen rettete und damit auch sie, Minerva, vor dem Gang nach London bewahrte.

Zu guter Letzt wollte Annabelle wissen, was es in Hopeminster gegeben hätte, und ihre Augen wurden ganz rund, als Minerva erzählte, daß sie mit Lord Sylvester Comfrey gegessen hatten und daß Papa ihm einen von den Braunen verkauft hatte.

»Sogar ich habe von ihm gehört«, sagte Annabelle. »Josephine und Emily haben ihn gesehen, als sie das letzte Mal in London waren, und haben von nichts anderem mehr geredet. Er soll sehr gut aussehen.«

»Er ist ein eitler Geck«, sagte Minerva kalt. »Er macht sich aus nichts und niemandem etwas. Er legt nur auf Kleidung und Äußerlichkeiten Wert.«

»Ach«, sagte Annabelle enttäuscht. »Und er hat sich überhaupt nicht um dich gekümmert?«

Minerva schlug die Augen nieder. Sie wollte nicht lügen. Dann wurde ihr bewußt, daß Lord Sylvester sich wohl oder übel um sie kümmern mußte, aus dem einfachen Grund, weil sie aus Versehen in sein Zimmer gekommen war.

»Nein«, sagte sie. »Und ich bin froh darum.«

Ihr Gewissen regte sich schmerzhaft, aber dieses eine Mal ignorierte es Minerva.

»Erzähl mir mehr von Mr. Wentwater.«

Annabelle mußte kein zweites Mal darum gebeten werden.

* Die Übers, stammt von Joachim Uhlmann. (Frankfurt a. Main, Insel 1965)

Minerva - Duell der Herzen

Подняться наверх