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ERSTES KAPITEL

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Der Schreibtisch stand unter einem der Erkerfenster der Bibliothek. An ihm saß Augustus, zehnter Graf von Berham.

An anderen Tagen bot das Fenster einen herrlichen Ausblick auf den Park, der sich in sanften Hügeln bis zu dem dunklen Saum eines angrenzenden Waldes erstreckte; doch heute regnete es. Es schien, als regnete es seit Wochen, Monaten, Jahren – ein unablässiger, monotoner Regen, der flache Seen auf dem Rasen bildete, die herrschaftlichen Räume von Berham Court feucht und klamm werden ließ und auf das Gemüt drückte.

Der Graf streute etwas Löschsand auf die frische Schrift eines Briefes; er verwandte große Sorgfalt darauf, faltete dann den Bogen, verschloß ihn mit einem Tropfen roten Siegelwachses und versah ihn mit dem Abdruck seines Siegelrings, den er am Mittelfinger der rechten Hand trug.

Dann lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und blickte trübsinnig auf die Regentropfen, die an den hohen Fensterscheiben herunterliefen.

Er empfand Langeweile. Wie so oft.

Es war ein vertrauter Zustand, und der Graf hatte begonnen, sich damit abzufinden, so wie sein verstorbener Vater seinen quälenden Rheumatismus und seine selige Mutter ihre chronischen Zahnschmerzen erduldet hatten.

Er beließ es dabei, den neuerlichen Anflug von Langeweile zu registrieren, und dachte, um sich abzulenken, an die vielen Vorzüge seines Lebens. Müßte er nicht ein seinem Schicksal dankbarer und mit sich zufriedener Mann sein?

Er war zweiunddreißig Jahre alt und in bester Verfassung. Jeder fand, daß er sehr gut aussah, doch er ignorierte zynisch die bewundernden Blicke seiner Verehrerinnen, überzeugt, daß sie nicht ihm selbst, sondern seinem Vermögen und seiner gesellschaftlichen Stellung galten. Zu seinen Besitzungen zählten der prächtige Stammsitz Berham Court, ein Jagdschloß in Leicester und ein kleineres altes Schloß in Schottland. Er besaß ein Stadthaus in London, in dem er während der Saison wohnte, um die alljährlichen Festlichkeiten zu »absolvieren« und die hoffnungsvollen Pläne zu zerstören, die Mütter für ihre heiratsfähigen Töchter schmiedeten.

Abgesehen von der Beaufsichtigung seines Besitzes war er weitgehend frei von Verpflichtungen. Bis jetzt! Denn der Graf erwartete die Ankunft seines Mündels Mr. Frederick Armstrong.

Er hatte die Nachricht mit einer gewissen Bestürzung aufgenommen, daß Colonel Armstrong, den er als jähzornigen, cholerischen Sonderling in Erinnerung hatte, ihn testamentarisch zum Vormund seines Enkels bestimmt hatte. Vergebens hatte er seine Anwälte losgeschickt, um Verwandte ausfindig zu machen, die den Jungen hätten aufnehmen können; doch der Colonel hatte sich längst mit allen von ihnen überworfen, und niemand wollte etwas mit seinem Enkelkind zu schaffen haben.

Frederick war achtzehn Jahre alt, ein ausgesprochen ungünstiges Alter, dachte der Graf, wie man es auch wenden mochte. Er war zu alt, um ihn auf irgendein Internat zu schicken, und dem Anschein nach besaß er keine Schulbildung, die es gestattet hätte, ihn an der Universität Oxford studieren zu lassen. Das Beste würde sein, sich den Jungen erst einmal anzusehen und ihm, falls er sich als gesunder, kräftiger Bursche erweisen sollte, eine Offiziersstelle bei einem Kavallerieregiment zu besorgen. Die Vormundschaft endete, wenn der Junge einundzwanzig wurde und die Güter seines Großvaters erbte.

Abgesehen von seinem jährlichen Besuch in London, führte der Graf ein eher zurückgezogenes Leben. Auf seinem Landsitz gab er kaum Empfänge oder Feste. Die Verwaltung der Güter und Ländereien nahm seine ganze Zeit in Anspruch. Viele ältere Damen versuchten des öfteren, ihn davon zu überzeugen, wie viele Annehmlichkeiten ihm die Anwesenheit einer fürsorgenden, liebevollen Frau im Hause bereiten würde, doch er hatte ihr Anerbieten stets erfolgreich abgewehrt. Er war mit seinem Leben zufrieden.

Jedenfalls bis vor wenigen Monaten. Als die Ernte eingebracht war und das Land in den Winterschlaf fiel, gab es kaum noch etwas für ihn zu tun. Die kleinen Aufgaben erledigten seine Bediensteten, es gab nichts, was ihn interessiert hätte; er fing an, sich zu langweilen.

Der Graf beobachtete die Regentropfen, die gegen die Scheiben schlugen und kleine Rinnsale bildeten. Im Kamin hinter ihm prasselte ein Feuer, und die Uhr auf dem Sims tickte einschläfernd. Er hatte eine Kutsche ausgeschickt, um Master Frederick nach Hause zu holen. Nach Hause? Gut. Berham Court würde dem Jungen ein Zuhause sein, bis er entschied, was mit ihm geschehen sollte.

Die trüben regennassen Scheiben zeigten ihm ein vages Spiegelbild: Er hatte kräftiges schwarzes Haar, seine Gesichtszüge waren von strenger Schönheit, die Nase groß und gerade, der Mund fest; seine Augen waren schwarz wie Kohle, südländische Augen, die kaum Gefühle verrieten, ein Erbe seiner italienischen Großmutter.

Mit einemmal hörte er das ferne Rumpeln von Kutschenrädern und das Getrappel von Pferdehufen. Master Frederick kam.

Aus der Halle drangen Geräusche, als der Butler die Diener zusammenrief, um die Gepäckstücke des neuen Gastes abzuladen. Der Graf blieb an seinem Fensterplatz sitzen und sah in den Regen hinaus; nachdenklich drehte er den Federkiel zwischen seinen Fingern.

Die Kutsche hielt auf dem Vorplatz, und der Graf spürte, daß seine Langeweile verflog. Vielleicht war es gar nicht so übel, einen jungen Menschen um sich zu haben, den man unterweisen und anleiten konnte. In diesem Augenblick wurden die Türflügel zur Bibliothek geöffnet, und Hickey, der Butler, meldete: »Master Frederick Armstrong.

Der Graf erhob sich und wandte sich um. Eine Weile musterten sich Frederick Armstrong und der Graf, ohne ein Wort zu wechseln, und versuchten, ihre Enttäuschung zu verbergen.

Vor dem Grafen stand ein schlanker, graziler Junge in einem graubraunen Umhang, altmodischen Kniehosen und Spangenschuhen. Sein Haar war leuchtend rot, seine Augen klar und von einem reinen Blau unter kräftigen geschwungenen Wimpern. Sein Gesicht war auffallend schön, vielleicht zu mädchenhaft, und sein Körper war von so zartem Wuchs, daß ein Windstoß ihn umblasen mochte.

Freddie Armstrong blickte zu einem sehr großen, stattlichen Mann auf, der ihn eindringlich musterte. Er hatte kräftige Schultern, schmale Hüften und muskulöse schlanke Beine; der in der Mitte der Stirn spitz zulaufende Haaransatz, die pechschwarzen Augen und die strenge Ebenmäßigkeit seiner Gesichtszüge verliehen ihm ein satanisches Aussehen. Der Graf von Berham war alles andere als der ältliche väterliche Herr, den Freddie sich erhofft hatte.

»Sie sind überhaupt nicht alt«, sagte er überrascht, während er auf die dekorativ geschlungene, blütenweiße Halsbinde des Grafen starrte und sich fragte, wer ein solches Wunderwerk vollbracht haben mochte.

»Hielten Sie mich für alt?«

»Ich hatte allen Grund anzunehmen, daß der Graf von Berham ein... sehr... alter Herr sei«, antwortete Freddie zögernd.

»Ich glaube, als Ihr Großvater sein Testament verfaßte, hatte er meinen Vater im Sinn«, erklärte der Graf freundlich. »Sie waren einmal sehr enge Freunde.«

»Aber ich wurde in die Obhut des zehnten Grafen gegeben«, wandte Freddie ein, als hoffte er, seinem Geschick zu entkommen.

»Ich bin der zehnte Graf, der neunte war mein Vater. Aber setzen Sie sich ans Feuer und wärmen Sie sich. Sie haben eine lange und beschwerliche Reise hinter sich.«

Freddie wartete höflich, bis der Graf an einer Seite des Kamins Platz genommen hatte; dann setzte er sich, ein wenig scheu, gegenüber von ihm auf einen Stuhl.

»O nein! Die Reise war ganz und gar nicht beschwerlich, Mylord«, sagte er; seine jugendliche Stimme klang leicht und melodiös. »Ich habe Hartley Manor – mein Zuhause – niemals zuvor verlassen. Großpapa ließ mich nie verreisen, und Gäste bekamen wir in den letzten Jahren kaum zu Gesicht. Es war unglaublich aufregend, die Städte und Dörfer zu sehen, so viele Menschen und...«

Freddies Stimme versagte, als er die kühle, fast abweisende Miene des Grafen bemerkte; sie verriet keinen seiner Gedanken, doch Freddie hatte das Gefühl, einen ungebührlichen Enthusiasmus an den Tag gelegt zu haben, und schämte sich.

»Unter diesen Umständen«, erklärte der Graf mit einem nachdenklichen Blick auf den Jungen, »wollen wir über Ihre Zukunft sprechen. Haben Sie Pläne für eine militärische Laufbahn?«

»Nein!« quiekste Freddie erschrocken. Dann wiederholte er um einiges tiefer: »Nein.«

»Haben Sie sonst bestimmte Vorstellungen, wie Sie Ihr Leben einrichten wollen?«

Freddie schlug die Augen nieder. »Ich habe mir keinerlei Gedanken darüber gemacht«, sagte er leise.

»Also schön«, sagte der Graf. »Vielleicht sollten wir Sie erst zu Kräften kommen lassen. Sie sind sehr schmächtig für Ihr Alter. Sie sind...«

»Achtzehn, Eure Lordschaft.«

»Jung, sehr jung! Aber es hat auch etwas Gutes für sich. Ihre Kleidung ist ausgesprochen schäbig, haben Sie nichts anderes?«

Freddie verneinte stumm.

»Ich reise erst bei Beginn der Saison nach London«, sagte der Graf. »In der Zwischenzeit wird unser ansässiger Schneider Ihnen bessere Kleidung anfertigen. Diese unförmigen Hosen können Sie nicht tragen.«

»Wenn Mylord erlauben«, wandte Freddie schüchtern ein, »ich würde meine eigene Kleidung gern behalten, zumindest ... zumindest fürs erste. Mein Großvater hat sie für mich ausgesucht, und ich habe seinen Tod noch nicht verwunden. Ich...«

»Gut, gut«, beschwichtigte der Graf ihn. »Hier in Berham gebe ich keine wichtigen Gesellschaften. Aber wenn Sie mit mir nach London kommen, müssen Sie sich standesgemäß kleiden. Immerhin sind Sie mein Mündel.« Nach einer Pause fuhr er fort: »Da Sie von der Reise nicht erschöpft sind, hätten Sie vielleicht die Liebenswürdigkeit, heute nachmittag mit mir auszureiten?«

»Mit dem größten Vergnügen!« Freddie freute sich. »Ich bin überhaupt nicht müde.«

»Ausgezeichnet! In Berham findet ein Preisboxen statt, und ich habe meinen Besuch angekündigt.« Er unterbrach sich. »Was haben Sie? Worüber sind Sie bestürzt?«

»Ich bin doch erschöpfter, als ich angenommen habe«, erwiderte Freddie und senkte die irritierend mädchenhaften Wimpern.

»Vielleicht tut es Ihnen gut, mich zu begleiten. Haben Sie schon einmal einen Boxkampf besucht?«

»Noch nie«, antwortete Freddie kleinlaut.

»Dann betrachten Sie es als Teil Ihrer Erziehung. Jetzt müssen Sie mich für eine Weile entschuldigen, ich habe verschiedene Dinge zu erledigen.«

Der Graf läutete einem Diener und ließ Wein und Gebäck auftragen. Als er sich erhob, sprang Freddie eilfertig auf.

»Bleiben Sie hier am Kamin und erholen Sie sich ein wenig, bis ich zurückkomme«, sagte der Graf, während seine schwarzen Augen Freddies schmächtigen Körper musterten; er murmelte etwas vor sich hin, als er den Raum verließ, und schüttelte mißbilligend den Kopf.

Der Butler brachte auf einem Tablett eine Karaffe Wein, ein Glas und etwas Gebäck, stellte es auf ein Beistelltischchen und rückte das Tischchen an den Kamin. Ein hünenhafter Diener in grüner silberbetreßter Livree kam mit einem Korb voll Holzscheiten und legte einige davon ins Feuer. Beide Bedienstete verbeugten sich vor Freddie und zogen sich dann zurück.

Verloren saß Freddie in seinem Stuhl und sah sich ängstlich im Zimmer um. Vom Boden bis zur Decke reichten Regale, vollgestellt mit schweren ledergebundenen Büchern. Hatte der Graf sie alle gelesen? Wahrscheinlich, dachte Freddie und kam sich noch unscheinbarer vor. Die Apfelholzscheite in dem marmornen Kamin knisterten; zu beiden Seiten standen zwei griechische Skulpturen, starr, wie erfroren in ihren Bewegungen, und von oberhalb des Kaminsimses blickte eine strenge Dame in der steifen Kleidung des vorigen Jahrhunderts auf den Jungen herab; sie musterte ihn mit einer herablassenden Neugierde.

Auf dem Sims stand eine vergoldete Barockuhr, in einer Ecke des Zimmers ragte eine dunkle Standuhr auf; dazu gesellte sich das helle Wispern und Ticken verschiedener kleiner Uhren rings im Raum. Es war, als flüsterten sie miteinander und unterhielten sich über den Neuankömmling in seinen schäbigen, altmodischen Kleidern.

In der Mitte des Zimmers stand auf einem Orientteppich ein schwerer Marmortisch. Ein mächtiger Adler aus vergoldetem Schnitzwerk schien die Tischplatte auf seinen ausgebreiteten Schwingen zu tragen.

Freddies Gedanken eilten voraus zu dem Boxkampf. Ihn schauderte. Aber vielleicht würde es nicht zu häßlich. Das Ereignis würde viele Zuschauer anlocken. Er sehnte sich nach Gesellschaft, nach Unterhaltung; er sehnte sich danach, unter Menschen zu kommen. Seine ganze Kindheit und Jugend hatte er in den menschenleeren, düsteren Räumen von Hartley Manor, dem Sitz seiner Familie, verbracht; allein, nur in Gesellschaft seines Großvaters.

Er erinnerte sich an dessen barsche Umgangsart und Verschrobenheiten. Vielleicht brachte der Nachmittag etwas Abwechslung.

»Am gestrigen Tage«, berichtete der Protestant Mercury vom 12. Januar 1681, »fand in Anwesenheit Seiner Gnaden, des Herzogs von Albemarle, ein Boxkampf statt zwischen dem Leibdiener des Herzogs und einem Fleischer aus der Umgebung. Letzterer errang den Sieg, wie so oft. Wenngleich von gedrungener Statur, ist er der fähigste Kämpfer in ganz England.«

Seit jenem ersten überlieferten öffentlichen Boxkampf in England hatte die Sportart viele Anhänger gewonnen. Im ersten Jahrzehnt des neunzehnten Jahrhunderts war sie mehr eine Religion als ein Wettkampf geworden, und ihre Anhänger reisten von weit her an, um ihre Idole zu bewundern.

Was damit begonnen hatte, daß zwei Männer einander unter den wohlwollenden Blicken ihres Herrn mit bloßen Fäusten zusetzten, war zu einem Sport mit Kniffen und Regeln geworden, die es zu beherrschen galt.

Das Boxen war so populär, daß es in Adelskreisen Mode wurde, sich einen eigenen Champion zu leisten und für sich kämpfen zu lassen; besonders der Herzog von Hamilton und Lord Barrymore waren dafür bekannt, daß sie dieser Leidenschaft frönten. Einige Mitglieder der Londoner Gesellschaft ließen sich auch selbst in der Kunst des Faustkampfs unterweisen.

Die angesehenste Boxschule war die des legendären John »Gentleman« Jackson in der Bond Street Nr. 13 in London. Man war ganz begeistert von Jackson, seiner maskulinen Schönheit, seiner kämpferischen Natur, und die Namensliste derjenigen, die ihn aufsuchten, las sich, wie eine Zeitung bemerkte, »wie ein Ausschnitt aus dem Adelskalender«. Selbst der Dichter Lord Byron nahm einige Stunden, trotz seines steifen Fußes, und war davon überzeugt, alle Voraussetzungen eines Faustkämpfers zu besitzen.

Der Boxkampf, dem Master Armstrong beiwohnen sollte, fand auf einem freien Feld vor den Toren des kleinen Städtchens Berham statt. Steif und aufrecht saß Freddie neben dem Grafen in dessen Kutsche. Die Attraktivität des Ereignisses hatte eine große Zuschauerschaft angelockt, darunter viele Vertreter der Bürgerschaft und des ansässigen Adels. Der Ring wurde mehr von den vorgefahrenen Kutschen markiert als von den Seilen, die man um einige Pfosten gespannt hatte.

Der Regen war in ein leichtes Nieseln übergegangen, und das Gras rings um die Kampfstätte war von Hunderten von Kutschenrädern niedergewalzt und bildete einen knöcheltiefen Morast. Freddie, eingehüllt in eine schwere graue Wolldecke, eine Biberfellmütze auf dem Kopf, von der ihm der Regen in den Schoß tropfte, blickte sich scheu um. Ihm war elend zumute.

Frauen waren nirgendwo zu sehen. Die Herren in ihren offenen sportlichen Kutschen waren, ungeachtet des Wetters, ausgesprochen elegant gekleidet, und Freddie schämte sich, in Anwesenheit seines Vormunds solch schäbige Sachen zu tragen.

Die beiden Herausforderer sahen sich erstaunlich ähnlich. Cully, der als Favorit galt, war klein und gedrungen, mit einem unglaublich starken Brustkorb und rundem massigen Kopf. Grigson, sein Gegner, war von ähnlicher Statur, hatte jedoch einen völlig kahlen Schädel. Die Stimmung war ausgelassen und fröhlich, und allmählich wich die Anspannung von Freddie. Es würde gewiß kein schlimmes Blutvergießen oder häßliche Szenen geben.

Der Kampf fing an. Schweigend verfolgten die Zuschauer die ersten zögerlichen Aktionen; eine Zeitlang tasteten sich die Gegner nur ab. Dann landete Cully blitzschnell zwei wuchtige Schläge gegen den Mund und die Kehle seines Gegners. Grigson fiel hintenüber und schlug blutüberströmt zu Boden. Freddie wandte seinen Blick ab und betrachtete eingehend seine Schuhspitzen.

»Was ist geschehen?« schrie ein Mann hinter Freddie.

»Cully versetzte ihm eins zwischen die Zähne!« rief ein schwarz gekleideter Herr aus der Kutsche, die neben der des Grafen stand.

In der dritten Runde erholte sich Grigson wieder und brachte einen Treffer gegen Cullys Körper an; doch obwohl er ihn heftig bedrängte, erzielte Cully die meisten Treffer, und Grigsons Kopf schwoll an und blutete heftig. Zwei zu eins für Cully.

Gegen Ende der sechsten Runde wuchtete Grigson einen ungeheuren Schlag gegen Cullys Schläfe, und beide stürzten aus dem Ring. Der Graf warf einen kurzen Blick auf Freddie; das Gesicht des Jungen war aschfahl, und er bewegte seine Lippen, als betete er.

In der siebzehnten Runde glaubte Freddie einem Gladiatorenkampf im alten Rom zuzusehen, nicht einem Boxkampf im England des neunzehnten Jahrhunderts. Benommen und entsetzt sah er, wie Grigson vor seinem Verfolger floh und sich in die Seile warf; aber Cully zog ihn empor, stützte ihn, daß er nicht fiel, und schlug ihn in einem Wirbel von Schlägen beinah bewußtlos.

Als die siebenundzwanzigste Runde eingeläutet wurde, war Freddie leichenblaß. Grigson ging zu Boden durch einen Treffer unterhalb des Ohrs, und die achtundzwanzigste Runde brachte die Entscheidung. Grigson kam nicht mehr auf die Beine. Nach einundeinviertel Stunden war der Kampf beendet.

Blutend lag Grigson bäuchlings in dem zerstampften Gras, und der leise Regen sickerte über seinen Körper und bildete blutige Schlieren.

Mit einem erstickten, kehligen Geräusch kippte Freddie vornüber und fiel in den Morast unter der Kutsche.

»Was fehlt dem Jungen?« riefen mehrere Stimmen.

»Erschöpft von der Reise«, sagte der Graf wirsch, während er hinuntersprang und Freddies leblosen Körper in die Arme nahm. »Ich hätte dem Kind Ruhe gönnen sollen.«

Er lockerte Freddies Halsbinde und richtete den Jungen auf, so daß sein Kopf zwischen seinen Knien zu liegen kam. Freddie hustete und schluckte; er sah elend aus. Er lief rot an, wohl mehr aus Scham, und wischte sich mit einem Tuch den Mund.

»Ich werde besser Mr. Campbell, den Arzt, verständigen. Er soll Sie gründlich untersuchen«, erklärte der Graf. »Fühlen Sie sich in der Lage aufzustehen?«

»Ja, danke, Sir«, sagte Freddie mit dünner Stimme. »Ich fühle mich wieder ganz wohl, danke. Und, bitte, Mylord, bemühen Sie meinetwegen keinen Arzt.«

»Ihre Ohnmacht ist ein klares Anzeichen einer Schwäche«, beharrte der Graf, als er die Zügel aufnahm. »Sie sind noch ein halbes Kind. Ich hoffe, es war nicht der Anblick von Blut, der Sie benommen machte?«

»Nein«, log Freddie; niemals würde er den Anblick vergessen, wie der Mann blutüberströmt im Regen lag. »Wird er es überleben?« fügte er hinzu.

»Grigson? O gewiß.« Der Graf schien etwas freundlicher zu werden, während er den Wagen geschickt durch das Gewirr der Kutschen auf die Straße zurücklenkte. »Ich muß gestehen, ich finde Boxkämpfe nicht besonders unterhaltsam, vor allem nicht die Art, wie wir sie gerade gesehen haben. – Die Sonne kommt hervor, sehen Sie!«

Eine verwaschene fahle Scheibe zeigte sich hinter einem Wolkenband. In dem Licht wirkte das Land an diesem Februartag trostloser als zuvor. Von den kahlen Ästen der Bäume tropfte das Wasser, und überall war Schlamm.

Eine Gans floh vor ihnen mit erschrockenem Gezeter und ausgebreiteten schlammigen Flügeln. Ein Bauer in schlammigen Lumpen grüßte mit einer Handbewegung und zeigte seinen zahnlosen Mund; ein besudelter Schäferhund trottete nach Hause, am schlammigen Straßengraben entlang.

Freddie fröstelte; er fühlte sich krank und verloren in einer Welt, die er nicht kannte. Zu Hause angekommen, wurde er in die Obhut einer stämmigen Wirtschafterin gegeben, die ihn die Treppen in den oberen Stock hinaufführte, wobei ihr mächtiger schwarzer Rock geräuschvoll raschelte.

Sie gingen durch endlose Korridore zu einem Schlafgemach. »Bettruhe!« verordnete die Frau. »Anweisung von Mylord.«

Das Zimmer wurde beherrscht von einem Baldachinbett mit blauen und weißen Vorhängen. Die Wände waren mit handbemalten chinesischen Tapeten versehen – ein buntes Gewirr von Vögeln, Blättern und Zweigen. Unter einem Erkerfenster standen zwei Chippendale-Stühle neben einem chinesischen Lacktischchen.

An das Schlafzimmer schloß sich ein kleiner Ankleideraum an, in dessen riesigem Mahagonischrank Freddies schlichte Kleidung verloren aussah. Auf einem Toilettentisch standen zwei messingbeschlagene Krüge voll heißem Wasser, daneben lagen einige flauschige Handtücher und zwei Stück Seife.

Freddie fand sein Nachthemd in einer der Schubladen einer Kommode und auch seine rote Kilmarnock-Nachtmütze. Nachdem er sich vergewissert hatte, daß die Türen zum Schlafzimmer und zum Ankleideraum verschlossen waren, zog er sich aus und wusch sich. Die entsetzlichen Bilder des Boxkampfes ließen ihn immer noch zittern; er schlüpfte hastig in sein Nachthemd, stülpte die Mütze über seine roten Haare und kroch unter die Bettdecke. Er preßte sein Gesicht ins Kissen und weinte bitterlich.

Als der Graf eine halbe Stunde später in Freddies Schlafzimmer eintreten wollte, fand er die Tür verschlossen. Besorgt ließ er einen Diener einen Ersatzschlüssel bringen und wartete ungeduldig, bis er ihm ausgehändigt war. Angenommen, der Junge war ernstlich erkrankt?

Schließlich war die Tür geöffnet, und der Graf eilte in den Raum. Freddie schlief fest, sein verweintes Gesicht gegen eine Handfläche gedrückt.

Der Graf spürte, daß Ärger in ihm aufstieg. Der Bursche war nichts weiter als ein Kind. Was in aller Welt sollte er mit so einem Weichling anstellen? Er hatte genug von dieser Verantwortung. Er hatte sich einen Sohn erhofft, mit dem er auf die Jagd gehen konnte. Und jetzt, ein zimperlicher, nutzloser Zögling, der beim Anblick von Blut in Ohnmacht fiel! Denn der Graf hatte Freddies Beteuerung keinen Augenblick lang Glauben geschenkt.

Er seufzte und beauftragte den Diener, Master Frederick rechtzeitig zum Dinner zu wecken. Dann stieg er nachdenklich die Treppen hinunter, als sein Butler ihm meldete, daß Lady Rennenord und Mrs. Bellisle zu Besuch gekommen seien und ihn im Gelben Salon erwarteten.

Der Graf fühlte sich von der Nachricht angenehm überrascht. Mrs. Bellisle war eine begüterte Dame aus der Umgebung von Berham; der Graf konnte sich jedoch nicht eines Mr. Bellisle entsinnen, womöglich hatte es ihn nie gegeben.

Lady Rennenord, eine entfernte Verwandte von Mrs. Bellisle, war vor knapp einem Monat, nach dem Tod ihres Mannes, zu ihr gezogen. Sie war einige Jahre jünger als der Graf und hatte bereits die Aufmerksamkeit vieler Verehrer auf sich gezogen, sowohl aufgrund ihrer Schönheit wie ihrer modischen Eleganz. Der Graf hatte sie einmal in der Öffentlichkeit gesehen, sie waren jedoch nicht miteinander bekannt gemacht worden.

Er beschloß, sich umzukleiden, suchte sein Schlafgemach auf und entledigte sich rasch der Reitkleidung, die er beim Besuch des Boxkampfs getragen hatte. Eine halbe Stunde später erschien er in der Halle in bester Aufmachung: blauer Frack aus feinstem Tuch, lederne Weste, die Halsbinde zu einer prächtigen Osbaldistone-Schleife gebunden, hautenge Beinkleider und glänzende Schaftstiefel.

Als er den Gelben Salon betrat, waren seine Gedanken noch halb bei Master Frederick und den Unannehmlichkeiten, die dieser ihm bereitete, doch bei dem Anblick von Lady Rennenord verflogen alle Sorgen und aller Ärger.

Lady Rennenord war eine Schönheit. Ohne Makel, ohne Fehler. Unter einem kessen Hut spitzten einige haselnußbraune Locken hervor. Ihre großen Augen, braun und klar, ruhten unter vollen, et- was fleischigen Lidern. Sie hatte eine ebenmäßige gerade Nase und einen kleinen Mund, der den höchsten Schönheitsansprüchen der Zeit genügte. Ihr Reitkostüm, aus feinem Wollstoff von tiefer Lavendelfarbe, betonte durch den raffinierten Schnitt die natürlichen Reize ihres Körpers. Es hatte einen hochgeschlossenen Kragen, eine knappgeschnittene Weste über einer Musselinbluse, deren Rüschen unter ihrem Busen gerafft waren, und einen Rock, der um die Taille mit zwei Silberspangen und einem straffen Gürtel zusammengehalten wurde. Ellbogenlange Handschuhe aus weichem braunen Leder und lilafarbene Stiefeletten ergänzten die betörende Ausstattung.

Mrs. Bellisle, ihre Begleiterin, trug einen grauen strengen Anzug und einen flachen Hut. Sie hatte harte männliche Gesichtszüge, und ihre Stimme klang tief und rauh; ja, sie glich so sehr einem Mann und war von so derbem, rüdem Wesen, daß nie ein Verehrer den Mut aufgebracht hatte, sie in seine Arme zu schließen. So gestand man ihr die Anrede »Mrs.« Bellisle mehr aus Höflichkeit zu, denn niemand in der Grafschaft konnte sich eines Mr. Bellisle entsinnen.

Mit einem ungelenken Knicks begrüßte Mrs. Bellisle den Grafen und stellte ihm Lady Rennenord vor. Nachdem sie alle Platz genommen hatten, wandte sich Mrs. Bellisle mit unverhohlener Neugier an den Grafen: »Ist etwas Wahres an dem Gerücht, daß Sie vom alten Amstrong zum Vormund seines Enkels bestimmt wurden?«

»Ich habe nichts dergleichen gesagt, zu niemandem«, erwiderte der Graf lächelnd, »es wurde wohl von meinen Bediensteten in die Welt gesetzt.«

»Ist er ein sehr junger Mann?« fragte Lady Rennenord mit angenehm ruhiger, wohlklingender Stimme.

»Er ist achtzehn Jahre alt«, antwortete der Graf, während sein Blick auf den bezaubernd geröteten Wangen von Lady Rennenord ruhte. »Bedauerlicherweise ist er nicht von kräftiger Statur. Offen gesagt, ich frage mich, was mit dem Jungen geschehen soll.«

»Zählt nicht zu Ihren Pflichten, Lord Berham«, warf Mrs. Bellisle barsch ein. »Schicken Sie ihn zum Militär, sie machen dort schnell einen Mann aus ihm.«

Dem Grafen fiel Freddies kindliches verweintes Gesicht ein, an ein Kissen geschmiegt, und er zögerte.

»Wenn ich einen Vorschlag machen darf, Mylord«, bemerkte Lady Rennenord rasch, »könnten Sie nicht einen Erzieher für den Jungen einstellen?«

»Er ist eigentlich kein Junge mehr, Lady Rennenord, wenn er auch sehr dünn und schmächtig aussieht.«

»Ich dachte an einen Erzieher, der sich seiner annimmt, mit ihm auf die Jagd geht und ihn in den anderen männlichen Tugenden unterweist«, erklärte Lady Rennenord und senkte die Lider, daß die Wimpern beinah die Wangen berührten.

»Ein vorzüglicher Vorschlag«, entgegnete der Graf. Lady Rennenord beeindruckte ihn mehr und mehr. Sie strahlte Ruhe und Gelassenheit aus, das Ergebnis einer guten Erziehung und eines klaren Verstandes. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich je gehen ließ oder einem Überschwang von Gefühl nachgab. Ihre klaren braunen Augen verrieten ein beherrschtes, sanftes Wesen.

»Es wäre mir eine Ehre«, fuhr der Graf fort, »wenn ich meine beiden bezaubernden Gäste zum Abendessen einladen dürfte.«

»Wie liebenswürdig von Ihnen, Lord Berham«, sagte Mrs. Bellisle, ohne sich nach der Meinung ihrer Begleiterin zu erkundigen. Sie glaubte, etwas von einer Romanze zwischen Lady Rennenord und dem Grafen zu verspüren. Clarissa loszuwerden käme ihr sehr gelegen.

Clarissa war eine entfernte Verwandte. Mrs. Bellisle, wie so viele reiche Leute habgierig wie ein Krämer, hatte sie mit offenen Armen aufgenommen. Die. junge Witwe brachte Geld ins Haus, sehr viel Geld. Doch aller Reichtum von Lady Rennenord konnte nicht die Unannehmlichkeiten und den Ärger aufwiegen, den ihr mustergültiges Benehmen Mrs. Bellisle bereitete, die es gewohnt war, anderen zu befehlen. Clarissa überging alle derartigen Versuche, als handelte es sich um die Ungezogenheiten eines Kindes. Mehr noch, sie hatte nicht die geringste Angst vor Mrs. Bellisle.

Der Graf lächelte und läutete seinem Butler. »Sagen Sie Master Frederick, er soll uns um sechs beim Essen Gesellschaft leisten«, ordnete er an. »Kommen Sie, meine Damen, ich möchte Ihnen meine Gewächshäuser zeigen. Mein Gärtner, MacNab, hat Wunder vollbracht.«

Als sie in den Gelben Salon zurückkamen, um ein Glas Wein vor dem Essen zu trinken, war der Graf in angenehmer Stimmung. Lady Rennenords Gesellschaft war ein Vergnügen. Sie verstand sehr viel von der Kunst der Gartenpflege und hatte den vorzüglichen MacNab auf einen unverzeihlichen Fehler hingewiesen. Die Zusammenstellung der Farben in dem großen Blumenbeet in der Mitte des Rasens sei eine Spur zu lebhaft. Aber da die Setzlinge bereits im Boden seien, hatte sie mit einem nachsichtigen Lächeln hinzugefügt, sei wohl nichts mehr zu ändern, wollte man nicht alles ausreißen und noch mal beginnen.

Sie bekundete deutliches Interesse, das Mündel des Grafen kennenzulernen. »Ein schüchterner, junger Mann«, meinte sie, »wird oft wie verwandelt unter der einfühlsamen Anleitung einer Frau. Mein Bruder wäre übrigens genau der Richtige, um einen Erzieher für den Jungen zu besorgen. Was ihm fehlt, ist weniger ein Lehrer als eine Persönlichkeit, die ihn in den männlichen Künsten unterweist.«

»Wir werden sehen, wie Master Frederick unter Ihrer Leitung gedeiht«, scherzte der Graf. »Ich glaube, hier ist er.«

Die große Flügeltür öffnete sich, und die schlanke Gestalt von Freddie Armstrong schlüpfte ins Zimmer. Einen Augenblick lang blinzelte er gegen das Licht, sein blasses hübsches Gesicht umrahmt von einem Kranz dichter roter Locken. Violette Ringe lagen unter seinen Augen. Der Graf stellte ihn den Damen vor. Freddie verbeugte sich vor ihnen, ging zu einem Stuhl in einer Ecke und setzte sich. Er war angemessen gekleidet, in einem altertümlich geschnittenen Anzug mit einer Halsbinde, die der Kammerdiener des Grafen persönlich gebunden hatte.

»Wir haben gerade über Ihre Zukunft gesprochen, mein Junge«, sagte der Graf herzlich. »Lady Rennenord meinte, ich sollte Ihnen einen Erzieher besorgen, der Ihnen beibringt, was ein Mann können muß.«

Waren es die Kerzen, oder wurde Freddie noch blasser?

»Dich muß man aber ordentlich hernehmen«, bemerkte Mrs. Bellisle. »So ein schwächliches kleines Kerlchen!«

»Mrs. Bellisle!« tadelte Lady Rennenord. »Sie machen den Jungen ganz verlegen. Nach einigen Wochen Unterweisung an der frischen Luft werden wir ihn sicher auf die Beine bekommen.«

Der Graf schenkte ihr ein kurzes Lächeln. Für einen Moment trafen sich die Blicke von Freddie und Lady Rennenord, und ein deutliches Mißfallen blitzte in Freddies blauen Augen auf.

Lady Rennenords Lippen wurden eine Spur schmaler. »Ja, Master Frederick«, sagte sie mit honigsüßer Stimme, »wenn Ihr Erzieher Ihnen den nötigen Schliff gegeben hat, werden Sie das Zeug zu einem eleganten jungen Mann haben.«

Freddie senkte den Blick.

Von diesem Augenblick an haßte er Lady Rennenord.

Süße Verwechslung

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