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ZWEITES KAPITEL
ОглавлениеDie Ankunft des Hauslehrers wurde von allen, mit Ausnahme von Master Frederick, mit großer Erleichterung aufgenommen. Lady Rennenords Bruder, Harry Struthers-Benton, hatte »seine besten Trümpfe ausgespielt«, wie er sich ausdrückte, um eine geeignete Persönlichkeit zu finden.
Der Graf konnte nicht ahnen, daß Mr. Struthers-Benton selbst unter seinen Kumpanen als Taugenichts und Dummkopf verschrien war. Als Harry von der Bitte seiner Schwester gehört hatte, verschwitzte er erst die ganze Angelegenheit, bis er eines Tages in einem Kaffeehaus einem gewissen Captain Cramble in die Arme lief. Schwer zu sagen, ob der tapfere Captain seine Abzeichen auf See oder beim Militär erworben hatte, jedenfalls behauptete er, ein alter Hase zu sein, was die Unterrichtung vornehmer Adelssprößlinge in den männlichen Künsten anbelangte. Und der schwache, wankelmütige Mr. Struthers-Benton hatte ihn vom Fleck weg angeheuert.
Wenn dem Grafen nicht so sehr daran gelegen gewesen wäre, mehr Zeit in Gesellschaft der bezaubernden Lady Rennenord als in der des ständig anwesenden Frederick zu verbringen, hätte er sich Captain Cramble genauer angesehen. Aber seine Aufgabe als Vormund wurde ihm allmählich lästig, und so übergab er Freddie mit spürbarer Erleichterung der Obhut des Captains.
In den beiden Wochen vor der Ankunft Captain Crambles war Lady Rennenord ein ständiger Gast im Haus des Grafen. Das Wetter war ungewöhnlich mild, ideal für müßige Spaziergänge und Ausflüge. Doch wohin der Graf und Lady Rennenord auch gingen, Master Frederick war bei ihnen und wich dem Grafen nicht von der Seite. Er konnte den Jungen nicht fortschicken, ohne ein ernsthaftes Interesse an Lady Rennenord zu bekunden; und der Graf wollte sich noch nicht zu sehr binden.
Freddie verhielt sich stets höflich gegenüber Lady Rennenord; aber eine gewisse Animosität war immer spürbar, und die Stimmung der heiteren Tage und Abende litt darunter.
Zum Erstaunen des Grafen erwies sich der Knabe als geschickter und kräftiger als erwartet. Er war ein ausgezeichneter Reiter und erstklassiger Fechter; doch der Graf war froh, ihn bald Captain Cramble anvertrauen zu können. Er benötigte etwas Zeit für sich selber, um zu entscheiden, ob er Lady Rennenord nicht doch einen Heiratsantrag machen sollte. Mit ihrem ruhigen, beherrschten Wesen faszinierte sie ihn, wie ihn noch keine Frau fasziniert hatte. Ihre klaren braunen Augen sahen ihn mit mildem Wohlwollen an, aber er wünschte sich, sie voll Leidenschaft brennen zu sehen.
Er gab so viel auf ihren Geschmack, daß er ihrem Urteil über Captain Cramble vertraute. Wenn sie den Mann in Ordnung fand, wollte auch er nichts an ihm aussetzen.
Auf den ersten Blick schien der Captain ein umgänglicher Mensch zu sein, durchaus sympathisch, vielleicht eine Spur zu untersetzt für einen Mann mit seinen Referenzen als Sportsmann. Er hatte ein gerötetes Gesicht und blasse Augen, »zwei Austern in einer Schüssel rote Beete«, wie Freddie spöttisch bemerkte, und kräftige plumpe Hände; es gefiel ihm, Freddie bei jeder Gelegenheit auf die Schulter zu klopfen und ihn »mein Junge« zu nennen.
Die Unterweisungen des Captains bestanden jedoch, zu Freddies Erleichterung, mehr aus Plauderei als aus anstrengenden Übungen. Nachdem der Graf vollends von der Gesellschaft Lady Rennenords beansprucht war, ließ es Captain Cramble bald gemächlich angehen; es wurde ihm zur Gewohnheit, gegen Mittag aufzustehen und dem Wirtshaus im Dorf einen Besuch abzustatten, wobei ihn Master Frederick begleitete. Denn der Captain vertrat die Ansicht, daß »ein oder zwei Glas« nicht schaden könnten und ein junger Bursche es lernen müßte, trinkfest zu werden.
Es waren lange, ermüdende Stunden, und Freddie, der nicht viel trank, goß das meiste auf den mit Sägemehl bestreuten Fußboden, bis es an der Zeit war, seinem betrunkenen Lehrer nach Hause zu helfen.
Freddies größte Sorgen waren jedoch anderer Art. Er hatte seinen Vormund ins Herz geschlossen, war stolz auf ihn und bewunderte seine offene, herzliche Art und seine männliche Haltung. Es wäre ein schrecklicher Fehler, wenn der Graf sich an Lady Rennenord bände. Sie war in Freddies Augen eine berechnende, kalte Frau ohne Gefühl und Wärme, eine Schlange in diesem Garten Eden. Und er konnte nichts dagegen tun; es wäre ein leichtes für Lady Rennenord, alle seine Einwände zu entkräften.
An einem besonders schönen Tag, als sein Hauslehrer nach einer ausgedehnten Sitzung in der »Alten Glocke«, dem Dorfgasthaus, eingeschlummert war, machte sich Freddie auf die Suche nach seinem Vormund.
Er sah MacNab, den Gärtner, über ein Blumenbeet gebeugt. »Wo ist Mylord, MacNab?« fragte er.
Der alte Mann richtete sich auf. »Drüben beim Kräutergarten, mit Mylady«, antwortete er verbittert. »Sie zeigt Mylord zweifellos alles, was ich falsch gemacht habe.«
Freddie eilte weiter. Der Kräutergarten lag hinter dem Herrenhaus, eingefaßt von hohen uralten Steinmauern, die von der Sonne erwärmt wurden. Als er das Tor erreichte, blieb er erschrocken stehen.
Lady Rennenord trug einen zartgrünen taillierten Mantel mit dunklen Tupfen; auf ihrem seidenen Haar saß ein sportlicher Kiepenhut mit Straußenfedern; sie sah aus, als wäre sie einem der teuren Modemagazine wie La Belle Assemblée entsprungen.
Der Graf, in Reitkleidung und ohne Kopfbedeckung, stand dicht bei Lady Rennenord und hielt ihre Hand. Es war still im Garten, die Luft angenehm warm. Der Graf beugte sich über Lady Rennenords Hand und wollte sie an seine Lippen führen.
»Nein!« rief Freddie.
Die Köpfe der beiden fuhren hoch. Wütend schritt der Graf auf Freddie zu.
»Was nein? Ich verlange eine Erklärung!« befahl er.
»Ich habe eine Spinne gesehen, eine riesengroße, sie ist an Lady Rennenords Kleid emporgekrochen«, sagte Freddie und lief vor Verlegenheit puterrot an.
Lady Rennenord sah gar nicht nach. Sie warf Freddie einen unmißverständlichen Blick zu und lächelte gereizt.
»Haben Sie sich nicht getäuscht?« fragte der Graf und ging hinüber zu Lady Rennenord.
»Seien Sie unbesorgt, Mylord«, sagte Lady Rennenord. »Ich bin überzeugt, daß die Spinne das Weite gesucht hat. Glauben Sie nicht auch?« wandte sie sich an Freddie und fixierte den Jungen scharf.
»Aber sie war da! Ich habe sie gesehen!« beharrte Freddie empört.
»Wo ist Captain Cramble, junger Herr?« lenkte der Graf ein.
»Er schläft!« antwortete Freddie fröhlich. Er war plötzlich guter Dinge. »Ich habe also frei und darf mit Ihnen zusammensein.«
»Sprechen Sie Französisch?«
»Ja, Mylord.«
»Dann wissen Sie sicherlich, was de trop bedeutet?«
Freddie errötete. Lady Rennenord zeigte ein spöttisches, schadenfrohes Lächeln und besah sich mit größtem Interesse einige Kräuter.
»Ja, Mylord«, murmelte Freddie, während er fieberhaft überlegte. »Mylord«, fuhr er fort, »ich glaube, Sie sollten sich unbedingt um Captain Cramble kümmern. Sein Atem geht höchst unregelmäßig.«
«Wollen Sie mich für dumm verkaufen?« brauste der Graf auf. »Erst eine geheimnisvolle Spinne und jetzt die Geschichte mit Captain Cramble?!«
»Nein, nein!« verkündete Freddie mit treuherzigen blauen Augen. »Und er hat auch eine so sonderbare Gesichtsfarbe.«
»Entschuldigen Sie mich, Lady Rennenord«, preßte der Graf hervor. »Das werden wir gleich haben.«
»Sie sind zu bedauern, Lord Berham«, scherzte Lady Rennenord. »Vielbeschäftigt wie ein Ehemann und ohne Genuß der ehelichen Freuden.«
»Stimmt genau«, entgegnete der Graf und sah sie mit einem diabolischen Funkeln in den Augen an.
Mit raschen, ausgreifenden Schritten entfernte er sich, während Freddie ihm dicht auf den Fersen hinterhereilte. Der Graf ging geradewegs in das Schlafgemach des Captains; die Vorhänge waren zugezogen, und vom Bett drang ein ersticktes Schnarchen. Als der Graf die Vorhänge beiseite zog, fiel gedämpftes Sonnenlicht in das Zimmer. Er beugte sich über den Schlafenden. Sein Gesicht war blutunterlaufen, der Mund weit geöffnet. Dem Grafen schien etwas in die Nase zu steigen.
»Pah!« sagte er angewidert und wich einen Schritt zurück. »Der Kerl ist betrunken. Wie ist das passiert?«
»Der gute Captain unterweist mich in der männlichen Tugend des Trinkens«, erwiderte Freddie mit einem Tonfall, so unschuldig wie der Lady Rennenords.
Der Graf nahm eine Kanne voll Wasser vom Toilettentisch und goß den Inhalt mitten in das Gesicht des Captains. »Lassen Sie uns allein«, sagte er zu Freddie gewandt, während Captain Cramble hustend und spuckend zu sich kam.
Leichtfüßig sprang Freddie die Treppen hinab. Er pfiff vor sich hin, eilte in das selten benützte Musikzimmer und setzte sich ans Klavier. Voll Hingabe spielte er die triumphierenden Klänge eines Stücks von Händel.
Plötzlich näherten sich Stimmen von der Terrasse. Er hörte auf zu spielen und lauschte.
»Sie hätten nicht vorbeikommen müssen«, vernahm er die Stimme von Lady Rennenord. »Ich bin alt genug, um ohne Anstandsdame auszukommen, und Master Frederick folgt uns ohnehin auf Schritt und Tritt.«
»Vielleicht ist das gar nicht schlecht«, kam die barsche Stimme von Mrs. Bellisle. »Einige Hindernisse auf dem Pfad der Liebe spornen an. Mylord wußte einer Heirat lange aus dem Weg zu gehen, er wird es sich reiflich überlegen, ehe er Ihnen einen Antrag macht. Und je mehr Master Frederick ihm auf die Nerven fällt, desto lieber wird er sich für Sie entscheiden.«
Freddie grübelte. War das wirklich wahr? Trieb er seinen Grafen in die Arme dieser kalten, gefühllosen Frau? Er hörte, daß die Tür aufging, und sah sich um. Der Graf kam ins Zimmer.
»Das wäre erledigt«, stellte Freddies Beschützer fest. »Dieser kleine Fehltritt ist verzeihlich. Captain Cramble ist zutiefst zerknirscht, und er hat mir ausdrücklich versprochen, daß so etwas nicht wieder vorkommt. Ich habe ihm Weisung gegeben, mit Ihnen ein paar Ausflüge zu unternehmen, damit Sie mir nicht dauernd zwischen die Füße laufen.«
Freddie zuckte zusammen. Der Graf sah ihn irritiert an, das verletzliche Gemüt von Master Frederick machte ihn ärgerlich.
»Ich habe nicht gewußt, daß Sie Klavier spielen«, sagte er knapp. »Spielen Sie etwas für mich.«
Die Bitte klang schroff. Freddie nickte und begann eine Beethoven-Sonate; klar und kräftig fluteten die Töne durchs Zimmer.
Der Graf setzte sich, streckte seine muskulösen Beine und fühlte Ruhe in sich einströmen. Bei Gott, dieser Junge spielte wie ein Engel! Durch die hohen französischen Fenster, die auf die Terrasse hinausgingen, drang warmes Abendlicht.
Seit dem Tod seiner Mutter war das Musikzimmer kaum benützt worden. In den Vitrinen standen noch ihre kostbaren Sammlungen chinesischer Jade- und Kristallfiguren, emaillierte Puderdöschen aus Frankreich und England, russische Einlegearbeiten und silberne Vasen. Ein lebensgroßes Porträt seiner Mutter hing über dem Kamin; ihr Blick schien auf dem leuchtenden Haar des Jungen zu ruhen, der sich über die Tasten des Klaviers beugte.
Im Garten sangen Vögel ihr Abendlied, und eine sanfte Brise bauschte die langen Vorhänge aus Brüsseler Spitze. Als Freddie zu Ende gespielt hatte, blieb er mit leicht gesenktem Kopf sitzen, seine zarten Hände ruhten auf den Tasten; ergriffen von der Größe der Musik und zutiefst bewegt von der Zerbrechlichkeit des Knaben, der diese wundervollen Töne hervorzuzaubern verstand, blickte der Graf auf Freddie.
Er räusperte sich. Schroff sagte er: »Sehr gut, mein Junge. Sie werden jetzt etwas für Lady Rennenord spielen!«
»Niemals!« Freddie fuhr herum. »Nie, nie werde ich das tun!« Seine blauen Augen blitzten, sein Gesicht war weiß.
Der Graf sprang auf. Die einzige passende Antwort auf eine solch offenkundige Unverschämtheit wäre gewesen, die Reitgerte zu nehmen und Freddie durchzuprügeln. Sein Benehmen war unverzeihlich. Kein Mitglied des englischen Hochadels hätte gezögert, so an seiner Stelle zu handeln. Aber er spürte, daß er außerstande war, dem Jungen ein Haar zu krümmen.
»Sie wagen mir zu widersprechen?« donnerte er wütend und hilflos. »Lady Rennenord zu beleidigen! Sie wird vielleicht bald meine Frau, und Sie werden ihr jede Achtung erzeigen, solange Sie unter diesem Dach wohnen!«
Er sah furchterregend aus in seinem Zorn; seine schwarzen Augen glühten, seine Lippen waren zu einem Strich zusammengepreßt.
Freddie stürzte auf ihn zu und fiel auf die Knie.
»Verzeihen Sie mir, Mylord«, sagte er leise und eindringlich. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
Er hob seine blauen, flehenden Augen zu dem zornigen Blick des Grafen.
Dieser sah auf ihn hinunter, und etwas wie Neugier trat in seine Züge; sein Blick wurde suchend, nachdenklich.
»Was für ein glückliches Bild!« verkündete Lady Rennenord, während sie, gefolgt von Mrs. Bellisle, durch die Terrassentür hereinschwebte. »Seien Sie nicht zu streng mit Master Frederick. In diesem Alter lügen so viele Jungen.«
»Sein Lehrer war betrunken«, erwiderte der Graf barsch. »Er hat nicht gelogen. Gehen Sie auf Ihr Zimmer, Frederick, und warten Sie, bis ich Sie rufe.«
Freddie rannte aus dem Musikzimmer und warf die Tür geräuschvoll hinter sich ins Schloß.
»Wie hat Ihr Bruder Captain Cramble kennengelernt?« wollte der Graf wissen.
Lady Rennenord sah ihn mit übertriebener Bestürzung an. »Ich gestehe, ich habe davon keine Ahnung. Sind Sie mit ihm nicht zufrieden? In gewissem Sinne fühle ich mich für ihn verantwortlich; hoffentlich habe ich Ihnen keine schlechte Person ins Haus gebracht.«
»Vielleicht urteile ich zu hart«, erwiderte der Graf, aber sein Lächeln wirkte gezwungen, und eine Spur Mißtrauen und Sorge legte sich auf seine Stirn.
Und dieser Ausdruck wich den Abend über nicht. Sehr zur Besorgnis von Lady Rennenord, die darum bemüht war, ihren Ärger zu verbergen.
»Wohin fahren wir?« fragte Freddie. Es war am folgenden Tag; er saß neben seinem Lehrer in einem offenen Einspänner.
»Wir gönnen uns etwas Abwechslung«, antwortete Captain Cramble mit einer vagen Geste. »Fragen Sie nicht zuviel, lassen Sie sich überraschen.«
Freddie schwieg, und wirre Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Seit gestern abend grübelte er, was zu tun sei; man hatte ihn nicht zum Abendessen in den Salon gerufen, nur ein Tablett war ihm aufs Zimmer gebracht worden. Heute morgen war er unsicher die Treppen heruntergestiegen, vielleicht war es eine erneute Ungehörigkeit von ihm. Doch der Graf hatte das Haus bereits verlassen.
Dann war er dem Captain in die Arme gelaufen, der aufgeregt tat, was für eine Überraschung er für Master Frederick habe, er würde Augen machen!
Es war kalt und stürmisch, dicke graue Wolken bedeckten den Himmel, und die Gräser entlang der Straße glänzten von Rauhreif. Der Winter hatte sich zurückgemeldet.
Freddie fühlte sich hilflos und unerfahren. Wie konnte er einen so großartigen Mann wie den Grafen davon abhalten, eine Dame mit untadeligem Ruf zu heiraten? Hielt er schon um ihre Hand an? Kniete er vor ihr nieder? Nein, der Graf machte vor niemandem einen Kniefall, davon war Freddie überzeugt.
Dieser rätselhafte Ausflug vertrieb zumindest die Zeit, und mit ein wenig Glück, hoffentlich, war der Graf auch abends noch ein freier Mann.
Der eisige Wind trieb eine Schar Krähen übers Feld; Freddie fror, während sie über die holperige Straße dahinfuhren. Endlich ragte ein einsamer Kirchturm über das Land, und bald erspähte Freddie ein paar geduckte Giebel. Je näher sie kamen, desto mehr Häuser sah er. Eine richtige Stadt.
»Wo sind wir?« erkundigte sich Freddie.
»Hardcaster«, antwortete sein Begleiter. »Wir sind gleich da.«
Der Wagen holperte über das Steinpflaster der engen Straßen und bog schließlich in den Hof eines Gasthauses ein.
Der Captain warf einem Stallburschen ein Geldstück zu und schwang sich vom Kutschbock. Während man den Wagen in die Stallungen brachte, faßte der Captain Freddies Arm und führte ihn über den Hof. Sie bogen in eine winkelige Gasse ein. »Den Durst löschen wir hinterher«, meinte er heiser.
»Wohin bringen Sie mich?« fragte Freddie ängstlich. Schreckliche Bilder von schäbigen Bordellen tanzten vor seinen Augen...
»Da wären wir!« rief Captain Cramble händereibend und blieb vor einem eigenartigen runden Gebäude stehen.
Freddies Mut sank. »Weiß... weiß Mylord, wohin Sie mich bringen?« fragte er mit brüchiger Stimme.
»Selbstverständlich weiß er das«, lachte der Captain. »›Zeigen Sie ihm die Welt, bringen Sie ihm die Freuden des Lebens bei!‹ Das waren die Worte des Grafen.«
Stumm ließ sich Freddie in das Haus führen. Sie kamen in einen kreisrunden Saal, eine Art Arena; ringsum waren Sitzbänke angebracht, mehrere Ränge übereinander; unten, in der Mitte des Zirkus, stand ein runder Tisch. Hier fand der Kampf statt.
Sie waren in einer Hahnenkampf-Arena. Mit Schaudern erkannte Freddie, daß der Captain zwei der vordersten Plätze besorgt hatte. Die Stimmung in dem überfüllten Raum war gereizt; neben Bäckern und Fleischern saßen Lords; Männer, die aussahen, als hätten sie nicht genug zum Leben, hielten zerknüllte Geldscheine in der Hand und warteten ungeduldig, bis die ersten Wetten angenommen wurden.
»Was Sie hier erleben werden, stärkt Ihren Charakter. Eine sehr lehrreiche Erfahrung!« schrie der Captain Freddie ins Ohr. Der Lärm ringsum wurde immer lauter. »Man sagt, dieser Sport stammt aus den Zeiten des berühmten griechischen Feldherrn Themistokles. Er führte das Heer der Athener in eine Schlacht gegen die Perser, als er zwei Hähne miteinander kämpfen sah. Er ließ seine Truppen anhalten und erklärte seinen Soldaten: ›Diese Hähne kämpfen nicht für die Götter ihres Landes, nicht für die Ehre ihrer Vorfahren, sie kämpfen nicht um Ruhm, nicht um Freiheit oder für das Wohl ihrer Kinder; sie kämpfen einzig um den Sieg, bis zum Tod!‹ Das waren die Worte von Themistokles.« Der Captain hielt inne. »Ein edler Kampf!« sagte er bewundernd. »Haben Sie einmal einen Hahnenkampf erlebt?«
»Nein«, sagte Freddie.
Der Captain verbreitete sich über die Kunst, einen Hahn für den Kampf vorzubereiten. Seine Ausführungen erinnerten Freddie an mittelalterliche Hexenrezepte, es fehlte gerade die Beigabe eines gekochten Lurchenauges.
Es dauerte sechs Wochen, einen Hahn für den Kampf abzurichten. Während der ersten vier Tage fütterte man ihn mit alten Krumen vom besten Weizenbrot pünktlich bei Sonnenaufgang, wenn die Sonne im Zenit steht und bei Sonnenuntergang. Die Stücke mußten in exakte Würfel geschnitten sein, und zum Trinken gab man kältestes Quellwasser. Am fünften Tag ließ man ihn gegen einen anderen Hahn kämpfen, wobei die Sporen mit ledernen Kappen abgedeckt wurden.
Hierauf verabreichte man beiden Hähnen einen Brei aus zerlassener Butter, Zucker und gehäckseltem Rosmarin, steckte sie in Körbe und bedeckte sie mit mehreren Lagen Stroh. Diese »Schwitzkur« dauerte einen Tag lang. Dann befreite man sie aus ihrem »Ofen« und leckte ihnen abends Augen und Kopf.
Freddie war benommen von dem Gedränge, dem Lärm und der heiseren Stimme Captain Crambles, der ihm ins Ohr schrie.
Von der Decke herab hing ein großer Korb. Wenn am Ende der Veranstaltung jemand nicht genug Geld besaß, seine Wette zu begleichen, wurde er dort hineingesteckt und unter Johlen und Lachen über den Köpfen der Zuschauer durch die Luft geschwenkt.
Jetzt brachte man die Hähne. Jeder steckte in einem Sack; dort blieben sie, bis alle Wetten abgeschlossen waren. Mit lauten Rufen wurden die Einsätze gemacht, die Wetter überboten sich in fieberhafter Eile.
Schließlich zerrte man die Hähne aus ihren Säcken. Die Tiere waren für den Kampf beschnitten worden; ihre Kämme waren bis knapp über die Kopfhaut gestutzt, die Halsfedern halb geschoren; ihre Schwanzfedern hatte man zu einem kurzen Fächer drapiert.
Mit Entsetzen sah Freddie, wie den Vögeln die berüchtigten Sporen – tödliche Waffen – angelegt wurden; sie waren einige Zentimeter lang und sichelförmig gebogen, wie ein Skalpell. Freddie schloß die Augen, er sah im Geiste das Gemetzel, das spritzende Blut...
Einen Augenblick wurde ihm übel und schwindlig. Benommen kauerte er auf seinem Platz. Plötzlich sprang er auf, schwang sich auf den Kampftisch und rief mit ausgebreiteten Armen: »Hört auf! Bitte hört auf!«
Es trat völlige Stille ein.
»Bei allem, was euch heilig ist«, rief Freddie, während ihm Tränen in die Augen schossen, »hört auf mit diesem entsetzlichen, ekelhaften Schauspiel. Wie könnt ihr das zulassen?!«
Ein wütendes, spöttisches Johlen traf ihn.
Jemand überschrie den Lärm: »Steckt ihn in den Korb und an die Decke mit ihm!«
Der Vorschlag stieß auf grölende Zustimmung, und eine Reihe Hände versuchte, Freddie zu packen.
Freddie zog seinen leichten Degen und schwang ihn in behenden sicheren Streichen gegen seine Angreifer. Sein Gesicht war gerötet, doch entschlossen und gefaßt.
Ein junger Geck, vornehm gekleidet, sprang leichtfüßig zu ihm auf den Kampftisch, zog seinen Degen und parierte. »Jetzt werden wir sehen, was für ein Hahn du bist, junges Bürschchen«, höhnte er.
Freddies Augen blitzten, als er mutig in Kampfstellung ging. Wetten wurden ausgerufen, und sofort gab es die ersten Einsätze auf den Ausgang des Duells. Captain Cramble, schon im Begriff zu fliehen, um nicht mit Freddie in dem Korb zu enden, setzte sich wieder und verkündete seinen Einsatz. Er wußte, wie Freddie mit dem Degen umging; und obwohl der Gegner größer und stärker war, stand für ihn fest, daß Freddie gewinnen würde.
Freddie parierte geschickt, unterlief die Streiche seines Gegners mehrere Male und brachte selbst einige überraschende Ausfallschritte an; er kam, leichtfüßig, wie er war, mit dem engen Raum des Tisches gut zurecht.
Von den Rängen herab schrien die Zuschauer; ihre Gesichter waren verzerrt, angespannt warteten sie, wann das erste Blut fließen würde.
Da fiel ein Schuß. Wie ein Donnerschlag brachte er die Menge zum Schweigen.
»Jeder bleibt, wo er ist«, rief eine laute Stimme. »Wer sich rührt, bekommt eine Kugel durch den Kopf.«
Über die Sitzreihen herab sprang der Graf von Berham, in der einen Hand eine rauchende Duell-Pistole; behend schwang er sich auf den Tisch. Freddie starrte ihn an; das Gesicht des Knaben war aschfahl, seine Lippen wurden weiß, und Tränen traten ihm in die Augen.
»Sir«, stieß Freddie hervor, »ich wollte den Hahnenkampf verhindern.« Dann fiel er ohnmächtig zu Boden. Der Graf legte ihn über seine Schulter, setzte leichtfüßig zurück über die Bänke und verschwand, ehe die verdutzten Zuschauer begriffen, was geschah.
Draußen vor der Arena wartete der Stallknecht des Grafen; er hielt zwei Braune am Zügel, die vor eine offene Kutsche gespannt waren. Der Graf warf Freddie wie einen Sack Kartoffeln auf den Kutschbock, rief seinem Burschen zu, rasch aufzuspringen, und schon jagten sie in wilder Fahrt hinaus aus Hardcaster.
Etwa eine Meile außerhalb der Stadt zügelte der Graf die Pferde. Er sah Freddie, der sich von seiner Ohnmacht erholt hatte und ihn erschrocken anstarrte, durchdringend an.
»Sie sind mir eine Erklärung schuldig, Master Frederick«, sagte er barsch. »Oder sollte ich sagen – Miss Frederica?«