Читать книгу Die Winde von Darkover - Marion Zimmer Bradley - Страница 5
2
ОглавлениеDie Bresche im Außenwerk wurde repariert.
Brynat Narbengesicht war hinausgegangen, um nachzusehen, stand nun auf der inneren Brustwehr und überwachte die Arbeiten. Es war ein kalter Morgen; Nebel floß den Berg herauf. Die Männer bewegten sich träge in der Kälte. Kleine, dunkle Männer aus den Bergen, die meisten von ihnen zerlumpt und noch von der Schlacht gezeichnet, kämpften gegen den rauhen Boden und den kalten Stein. Angetrieben wurden sie durch Zurufe und einen gelegentlichen Hieb mit einer der Peitschen, die Brynats Männer in Händen hielten.
Brynat war ein hochgewachsener Mann. Über seine zerfetzten Prachtgewänder hatte er einen Pelzmantel geworfen, ein Beutestück aus der Burg. Eine große, wellige Narbe lief ihm vom Auge zum Kinn und gab seinem Gesicht, das nie anziehend gewesen war, das wölfische Aussehen eines wilden Tieres in menschlicher Kleidung. Auf den Fersen folgte ihm sein Schwertträger, ein Männchen mit Fledermausohren, niedergebeugt von dem Gewicht der Waffe. Als Brynat sich ihm zuwandte, zuckte er zusammen. Er erwartete einen Schlag oder Fluch, aber Brynat war an diesem Morgen in bester Laune.
„Dummköpfe sind wir, Mann – wir verbringen Tage damit, diese Mauer niederzureißen, und was tun wir dann als erstes? Wir bauen sie wieder auf!“
Das fledermausohrige Männchen gab ein nervöses, untertäniges Lachen von sich, doch Brynat hatte seine Existenz schon wieder vergessen. Den Pelz um sich ziehend, schritt er an den Rand der Brustwehr und blickte auf die zerstörte Mauer und die Burg nieder.
Burg Storn stand auf einer von Abgründen und Klippen verteidigten Höhe. Brynat wußte, er durfte sich gratulieren. Taktik und Ingenieurkunst hatten die Mauern niedergebrochen und Männer zum Sturm auf die inneren Befestigungen eingelassen. Burg Storn war in alter Zeit als uneinnehmbar gebaut worden, und uneinnehmbar war sie durch sieben Generationen von Aldarans, Aillards, Darriels und Storns geblieben.
Als sie noch stolze Lords der Comyn beherbergt hatte – die alten, mächtigen, über Psi-Gaben verfügenden Lords der Sieben Domänen von Darkover –, war sie bis ans Ende der Welt bekannt gewesen. Dann war die gerade Linie ausgestorben, Außenseiter hatten in die Überreste der Familien eingeheiratet, und schließlich waren die Storns von Storn hergekommen. Sie waren friedliche Herren gewesen, die nicht vorgaben, mehr zu sein, als sie waren – Adel der Wildnis, gerecht und ehrenhaft. Sie lebten in Frieden mit ihren Pächtern und Nachbarn und beschränkten sich auf den Handel mit den edlen Jagdfalken der Berge und schönen Metallgegenständen, geschmiedet von dem Stamm, der Erz aus den dunklen Klippen grub und an seinem Feuer bearbeitete. Die Storns waren reich und auf ihre eigene Weise auch mächtig gewesen, wenn mächtig bedeutete, daß die Menschen dem Wort eines Storn von Storn gehorchten, aber sie gehorchten lächelnd, statt zitternd. Mit den anderen Bergbewohnern hatten die Burgherren wenig Kontakt und noch weniger mit den Lords der weiter entfernten Berge. Sie lebten ruhig und glücklich.
Und jetzt waren sie gefallen.
Brynat lachte selbstzufrieden. In ihrer stolzen Isolierung war es den Storns nicht einmal möglich gewesen, um Hilfe zu ihren fernen adligen Nachbarn zu schicken. Mit einiger Klugheit konnte Brynat sich hier festgesetzt haben, lange bevor die Nachricht sich in den Hellers und den Hyaden verbreitete, Burg Storn habe einen neuen Lord. Und würde es sie kümmern, daß dort nicht länger ein Storn von Storn herrschte, sondern Brynat von den Höhen? Er glaubte es nicht.
Ein kalter Wind war aufgekommen, und die rote Sonne wurde von eilenden Wolken verdeckt. Die Männer, die sich mit den niedergestürzten Steinen abmühten, bewegten sich jetzt schneller, um sich in dem beißenden Wind warm zu halten. Ein paar Schneeflocken begannen zu fallen. Brynat gab Fledermausohr mit einem nachlässigen Schulterzucken ein Zeichen, und ohne sich umzusehen, ob das Männchen ihm folgte – aber wehe ihm, wenn er es nicht getan hätte! –, schritt er ins Innere der Burg.
Drinnen, fern von Zuschauern, ließ er das stolze Grinsen des Triumphes von seinem Gesicht gleiten. Es war kein Sieg auf der ganzen Linie gewesen, obwohl seine Gefolgsleute, die sich an der reichen Beute ergötzten, es dafür hielten. Brynat saß auf Storns Hochsitz, aber der Sieg entschlüpfte ihm.
Schnell stieg er eine Treppe hinunter, bis er an eine mit Samt gepolsterte und mit einem Vorhang gezierte Tür kam. Zwei seiner Söldner lümmelten sich hier auf bequemen Kissen. Ein leerer Weinschlauch zeigte, wie sie sich während ihrer Wache die Zeit vertrieben. Beim Klang von Brynats schweren Schritten sprangen sie auf. Der eine kicherte mit der Vertraulichkeit eines alten Gefolgsmannes.
„Ha, ha! Zwei Mädchen sind besser als eins – he, Lord?“
Bei Brynats finsterem Blick meldete der andere hurtig: „Heute morgen kein Weinen und Jammern von dem Mädchen mehr. Sie ist still, und wir sind nicht eingetreten.“
Es war unter Brynats Würde, eine Antwort zu geben. Er bewegte herrisch die Hand, und die Söldner rissen die Tür auf.
Als die Angeln quietschten, sprang eine kleine, blaugekleidete Gestalt auf und fuhr zu ihm herum, daß ihr die langen roten Zöpfe um die Schultern flogen. Das Gesicht war einmal von pikanter Schönheit gewesen; jetzt war es verschwollen und blaugeschlagen, ein Auge hatte sich unter einem Hieb halb geschlossen, aber das andere loderte in unstillbarem Zorn.
„Du Sohn einer Wölfin“, sagte sie leise, „keinen Schritt weiter – ich warne dich!“
Brynat schaukelte lässig auf seinen Fersen zurück, den Mund zu einem wölfischen Lächeln verzogen. Er stemmte die Hände in die Hüften und musterte das Mädchen in Blau, ohne zu sprechen. Er sah die weißen, bebenden Hände, bemerkte jedoch, daß die geschwollenen Lippen nicht zitterten und ihr Blick sich nicht senkte. Dem zollte er in seinem Inneren ein anerkennendes Lachen. Hier konnte er echten Triumph finden.
„Was, immer noch nicht versöhnt mit meiner Gastlichkeit, Lady? Habe ich Euch mit Wort oder Tat beleidigt, oder macht Ihr mir die Grobheit meiner Männer zum Vorwurf?“
Ihr Mund war fest. „Wo ist mein Bruder? Meine Schwester?“
„Nun“, antwortete er schleppend, „Eure Schwester nimmt Abend für Abend an meinen Festmählern teil. Ich bin gekommen, um Euch zu bitten, meiner Gemahlin heute vormittag aufzuwarten; wie ich glaube, sehnt sie sich nach einem vertrauten Gesicht. Aber, Lady Melitta, Ihr seid blaß. Ihr habt das gute Essen, das ich Euch schickte, nicht angerührt!“ Er machte eine tiefe, burleske Verbeugung, drehte sich um und ergriff ein Tablett, das mit Wein und feinen Speisen beladen war. Lächelnd bot er es ihr dar. „Seht, ich komme in eigener Person, um Euch zu dienen...“
Das Mädchen machte einen Schritt vorwärts, packte das Tablett, ergriff einen gebratenen Vogel bei einem Bein und schleuderte ihn Brynat ins Gesicht.
Brynat fluchte, trat zurück, wischte sich das Fett vom Kinn – und brach in schallendes Gelächter aus. „Zandrus Höllen! Damisela, ich hätte Euch nehmen sollen, nicht das wimmernde, winselnde Geschöpf, das ich gewählt habe!“
Sie atmete schwer und sah ihn trotzig an. „Ich hätte Euch vorher umgebracht.“
„Ich zweifle nicht daran, daß Ihr es versucht hättet! Wäret Ihr ein Mann, vielleicht wäre die Burg nie gefallen – aber Ihr tragt Röcke, statt Hosen, die Burg liegt in Trümmern, meine Männer und ich sind hier, und alle Schmiede in Zandrus Werkstätten können ein zerbrochenes Ei nicht wieder flicken. Deshalb rate ich Euch gut, kleine Herrin: Wascht Euer Gesicht, zieht Eure schönen Kleider an und wartet Eurer Schwester auf, die immer noch Lady von Storn ist. Wenn Ihr vernünftig seid, werdet Ihr ihr zureden, sich in ihr Schicksal zu fügen, und ihr beide sollt Kleider und Schmuck und alles haben, was Frauen schätzen.“
„Von Euch?“
„Von wem sonst?“ lachte er mit einem Zucken der Schultern und öffnete die Tür.
„Lady Melitta darf in der Burg kommen und gehen, wie sie will“, sagte er zu den Wachen. „Aber hört gut zu, Mistreß – die Außenwerke, die Brustwehren und die Verliese sind Euch verboten, und ich gebe meinen Männern die Erlaubnis – merkt Euch das! –, Euch mit Gewalt zurückzuhalten, solltet Ihr versuchen, Euch diesen Orten zu nähern.“
Sie wollte ihm eine Beschimpfung entgegenschleudern und hielt inne, sichtlich mit dem Gedanken spielend, was selbst begrenzte Freiheit bedeuten konnte. Endlich wandte sie sich wortlos ab. Brynat schloß die Tür und ging.
Vielleicht war dies der erste Schritt zu seinem zweiten Sieg. Im Gegensatz zu seinen Männern wußte er, daß die Einnahme von Burg Storn nur der erste Sieg war – und leer ohne die zweite Eroberung. Er schluckte einen neuen Fluch hinunter, kehrte dem Zimmer, in dem das Mädchen gefangensaß, den Rücken und schritt weiter. Höher und höher stieg er in den alten Turm hinauf. Hier gab es keine Fenster. Schmale Schlitze ließen nicht das rote Tageslicht ein, sondern ein gespenstisches blaues Flackern, das wie in Ketten gelegte Blitze war. Ein kalter Schauer überlief ihn.
Gegenüber alltäglichen Gefahren war er furchtlos. Aber dies war die alte darkovanische Magie. Allein schon die Sagen darüber schützten Orte wie Burg Storn noch lange, nachdem die anderen Verteidigungen gefallen waren. Brynat faßte das Amulett um seinen Hals mit plötzlich kraftlosen Fingern. Er hatte sich gesagt, bei der Zauberei handle es sich nur um Theater, hatte seine Söldner angefeuert, die Burg zu stürmen, und gesiegt. Er hatte auf Burg Storn gezecht und über die alten Geschichten gelacht. Ihre Magie hatte die Burg nicht gerettet, oder? Das war doch nur ein Schauspiel, mit dem man Kinder ängstigte, nicht gefährlicher als die Nordlichter.
Er ging durch das geisterhafte Flackern, durch einen bleichen Bogen aus durchscheinendem Stein. Zwei seiner verrohten, brutalen Männer, die härtesten, die er für diese Aufgabe hatte gewinnen können, saßen hier auf einem geschnitzten Sofa. Er stellte fest, daß sie weder spielten noch tranken und daß sie ihre Augen von dem zweiten Bogen abgewendet hielten, wo ein Vorhang aus blauem Licht wie eine Fontäne zwischen den Steinen spielte. In ihren Gesichtern zeigte sich beim Anblick ihres Hauptmanns nackte Erleichterung.
„Irgendeine Veränderung?“
„Keine, Lord. Der Mann ist tot – tot wie Durramans Esel.“
„Wenn ich das nur glauben könnte“, murmelte Brynat mit zusammengebissenen Zähnen und marschierte kühn durch den Vorhang aus blauen Flammen.
Er hatte ihn schon einmal durchschritten, und das war seine mutigste Tat gewesen – wenig erschien es dagegen, daß er den letzten Wachtturm ganz allein genommen hatte. Er wußte, seine Männer betrachteten ihn dafür mit ehrfürchtiger Scheu; er jedoch hatte nicht allein vor den Flammen Angst. So etwas hatte er jenseits der Berge schon gesehen; es war unheimlich, aber harmlos. Mit Widerwillen empfand und ertrug er das elektrische Prickeln, bei dem sich die Haare auf Kopf und Unterarmen sträubten. Den Rücken gegen die aufquellende animalische Angst straffend, ging er hindurch.
Das blaue Licht erstarb. Er stand in einer dunklen Kammer, die ein paar blasse Wachskerzen in feststehenden Kohlenpfannen beleuchteten. Weiche Vorhänge aus gewebtem Pelz umgaben ein einziges niedriges Ruhebett, auf dem ein Mann bewegungslos lag.
Die stille Gestalt schien in der Dunkelheit leicht zu glühen. Er war ein schlanker, zarter Mann. Helles Haar strömte um eine hohe Stirn und tief eingesunkene Augen. Obwohl er noch jung war, hatte er ein ernstes, strenges Gesicht. Er trug eine Jacke und eine einfache Hose aus gewebter Seide, keinen Pelz und keinen Schmuck, nur einen einzigen sternförmigen Stein, der ihm wie ein Amulett um den Hals hing. Seine Hände wirkten weiß, weich und nutzlos – die Hände eines Schreibers oder Priesters, Hände, die nie ein Schwert gehalten hatten. Die Füße waren bloß und weich; kein Atem hob die Brust. Brynat blickte auf den schwächlichen Mann nieder und empfand die alte frustrierte Wut. Storn von Storn lag hilflos da – und trotzdem außerhalb von Brynats Reichweite.
Brynats Gedanken stoben zurück zu der Stunde, als die Burg gefallen war. Die Diener und Soldaten hatte man ergriffen und überwältigt. Vertrauenswürdige Männer waren ausgeschickt worden, die Damen zu binden, ohne sie zu verletzen. Den jüngeren Storn, nicht mehr als ein Junge und aus vielen Wunden blutend, hatte Brynat mit widerwilliger Bewunderung verschont – ein Junge, um diese Burg allein zu verteidigen? Er wurde ins Verlies gesperrt, aber Brynats eigener Feldscher hatte seine Wunden versorgt. Storn von Storn war Brynats eigentliche Beute.
Seine Männer wußten es nicht. Sie hatten nur die Schätze eines reichen Hauses gesehen, die Vorteile, eine Festung zu besitzen, wo sie sicher sein würden. Aber Brynat jagte ein edleres Wild: die Talismane und Kräfte der alten Storns. Mit Storn von Storn in seinen Händen, einem Storn reinen Blutes, konnte er sie benutzen – und Storn, so hatte er gehört, war ein schwacher, kränklicher, unkriegerischer Mann – blind geboren. Deshalb hatte er in Zurückgezogenheit gelebt und die Verwaltung seines Besitzes den jüngeren Geschwistern überlassen. Die beiden Mädchen und den Jungen hatte Brynat; jetzt galt es dem schwachen Lord!
Er war durch unheimliche Lichter und magische Feuervorhänge in die Privaträume des Lords von Storn vorgedrungen – und fand ihn entflohen, nicht aus seiner Trance zu wecken.
Und so hatte Storn tagelang gelegen. Jetzt beugte sich Brynat krank vor Wut über das Ruhebett. Keine Muskelbewegung, kein Atemzug verriet, daß der Mann lebte.
„Storn!“ brüllte er. Seine Stimme hätte sogar Tote wecken müssen.
Kein Haar regte sich. Brynat hätte ebensogut in den Wind um die Brustwehr schreien können. Er knirschte mit den Zähnen und zog den Dolch aus seinem Gürtel. Wenn er den Mann nicht benutzen konnte, besaß er doch wenigstens die Macht, ihn vom verzauberten Schlaf in den Tod zu schicken. Er hob das Messer und stieß es nach unten.
Das Messer drehte sich in der Luft, es wand sich, glühte blau und ging vom Heft bis zur Spitze in weißlodernden Flammen auf. Brynat heulte auf vor Qual, tanzte umher und schüttelte die verbrannte Hand, an der das glühende Messer mit teuflischer Kraft festklebte. Die beiden Söldner stolperten zitternd, die Haare zu Berge stehend, durch den elektrischen Vorhang.
„Ihr ... Ihr habt uns gerufen, vai dom?“
Wild schleuderte Brynat das Messer auf sie. Es löste sich und flog. Einer der beiden wollte es auffangen, schrie und schüttelte es ab. Immer noch zischend und brutzelnd, blieb es auf dem Fußboden liegen. Mit leiser Stimme einen wilden Strom von Flüchen ausstoßend, verließ Brynat die Kammer. Die Söldner folgten ihm, die Augen aufgerissen vor Entsetzen, die Gesichter wie Tiermasken.
In marmornem Frieden, weit außerhalb ihrer Gewalt in unerforschlichen Reichen, schlief Storn weiter.
Tief unter ihm hatte Melitta Storn ihr verletztes Gesicht gebadet. Vor ihrem Toilettentisch sitzend, verbarg sie die schlimmsten Male mit Kosmetika. Sie kämmte und flocht ihr Haar, nahm ein sauberes Kleid aus dem Schrank und legte es an. Einen plötzlichen Anfall von Übelkeit niederringend, trank sie reichlich von dem Wein auf dem Tablett. Sie zögerte einen Augenblick, nahm dann den gebratenen Vogel vom Fußboden auf, wischte ihn ab, zerriß ihn geschickt mit den Händen und aß das meiste davon auf. Sie wünschte Brynats Gastfreundschaft nicht, aber halb ohnmächtig vor Hunger war sie sich selbst und ihren Leuten nicht von Nutzen. Nachdem sie Wein und Fleisch zu sich genommen hatte, kehrte nun wenigstens ein Teil ihrer körperlichen Kraft zurück. Ihr Spiegel sagte ihr, daß sie abgesehen von der geschwollenen Lippe und dem blauen Auge beinahe wie früher aussah.
Und doch konnte nichts mehr wie früher werden.
Erschauernd dachte sie daran, wie die Mauern mit einem Getöse, als nahe das Ende der Welt, zusammengebrochen waren. Männer drängten sich durch die Lücke. Ihr jüngster Bruder Edric, der blutende Wunden im Gesicht und am Bein hatte, war weiß wie ein Gespenst, nachdem man ihn von der letzten Verteidigung gerissen hatte. Ihre Schwester Allira floh vor Brynat, wie eine Wahnsinnige kreischend. Das Kreischen stieg auf zu einem Schmerzensschrei – und dann nichts mehr. Melitta war ihnen nachgelaufen, mit bloßen Händen hatte sie gekämpft und geschrien, geschrien, bis drei Männer sie ergriffen und sie, die wie eine gefesselte Henne zappelte, zu ihrem eigenen Zimmer trugen. Sie stießen sie grob hinein und verrammelten die Tür.
Melitta verbannte die sich aufdrängenden Gedanken. Sie hatte einige Freiheit, nun mußte sie sie benützen. Sie griff nach einem warmen Umhang und verließ das Zimmer. Die Söldner an der Tür standen auf und folgten ihr in einem achtungsvollen, vorsichtigen Abstand von zehn Schritten.
Böser Ahnungen voll, ging sie durch die verlassenen Flure wie ein Geist in einem Spukhaus, unablässig verfolgt von den Schritten der fremden Kerle. Überall waren die Zeichen der Belagerung, der Zerstörung und Plünderung. Wandbehänge waren abgerissen, Möbel zerhackt und beschmutzt. Die große Halle trug Spuren von Feuer und Rauch. Melitta hörte Stimmen und schlich sich vorbei. Dort zechten Brynats Männer, und wenn er auch Befehl gegeben hatte, sie in Frieden zu lassen, würden Betrunkene sich daran halten?
Und wo ist Allira?
Brynat hatte den boshaften Witz gemacht – war es ein Witz gewesen? –, Allira als seine Gemahlin zu bezeichnen. Melitta war in den Bergen aufgewachsen; auch in dieser friedlichen Zeit hatte sie Geschichten von derartigen Raubüberfällen gehört: Burg geplündert, Männer getötet, Dame mit Gewalt zur Heirat gezwungen – falls eine Vergewaltigung eine Heirat genannt werden konnte, weil irgendein Priester anwesend war –, Bekanntmachung, der Räuber habe in die Familie eingeheiratet, und alles war friedlich – auf der Oberfläche. Es war ein schönes Thema für Sagas und Geschichten, aber Melitta erstarrte das Blut in den Adern bei dem Gedanken daran, daß ihre zarte Schwester sich in den Händen dieses Mannes befand.
Wohin hatte Brynat sie gebracht? Zweifellos in die königliche Suite, die ihre Vorfahren für die Hastur-Lords eingerichtet hatten, sollten diese Burg Storn jemals mit ihrem Besuch beehren. Diese Mischung aus Blasphemie und Eroberung würde Brynat Zusagen. Mit rasendem Herzen rannte Melitta die Treppe hinauf. Sie wußte plötzlich, was sie dort finden würde.
Die königliche Suite war kaum vierhundert Jahre alt; der Teppichboden fühlte sich unter den Füßen neu an. Die Insignien der Hasturs waren über der Tür in Saphiren und Smaragden eingelegt, aber Hammer und Meißel hatten die Edelsteine aus der Wand gerissen und nur das beschädigte Mauerwerk zurückgelassen.
Melitta stürmte in den Raum wie ein Wirbelwind. Innere Überzeugung – das alte, selten benutzte, nur halb erinnerte Wissen in ihr, die Spur telepathischer Begabung, die sie von einem beinahe vergessenen Vorfahren geerbt hatte – zwang sie, hier nach ihrer Schwester zu suchen. Sie eilte durch die Räume. Die Verwüstungen sah sie kaum.
Im letzten Zimmer fand sie Allira. Das Mädchen kauerte auf einem Fenstersitz, den Kopf in den Armen, so verschüchtert und zitternd, daß sie nicht einmal den Blick hob, als Melitta hereinstürzte, sondern sich nur in ein noch kleineres Bündel aus zerrissenen Seidenstoffen zusammendrückte. Melitta legte ihr die Hand auf den Arm, und Allira fuhr mit einem schwachen Entsetzensschrei hoch.
„Hör auf damit, Allira. Ich bin es bloß.“
Allira Storns Gesicht war so verzerrt vom Weinen, daß es fast unkenntlich war. Sie warf sich ihrer Schwester in die Arme, umklammerte sie und brach in einen Sturm von Schluchzen und Schreien aus.
Melitta drehte sich das Herz um vor Mitleid, doch sie faßte Allira fest mit beiden Händen, schob sie von sich und schüttelte sie heftig, bis ihr Kopf auf und nieder flog. „Lira, in Aldones Namen, hör mit dem Gejammer auf! Das wird dir nicht helfen – und auch Edric und Storn und unsern Leuten nicht! Solange ich hier bin, wollen wir nachdenken. Benutze das an Gehirn, was dir übriggeblieben ist! “
Aber Allira konnte nur keuchen: „Er ... er ... huh ... buh.. Brynat ...“ Sie starrte ihre Schwester mit so benommenen, glasigen Augen an, daß Melitta sich entsetzt fragte, ob Allira durch Mißhandlungen den Verstand verloren habe, wenn es nicht noch schlimmer war. Wenn ja, war sie fürchterlich allein und konnte ebensogut gleich aufgeben.
Sie befreite sich, suchte und fand auf einer Anrichte eine halbleere Flasche mit Firi. Wasser oder sogar Wein wären ihr lieber gewesen, aber in dieser Notlage war alles recht. Sie schüttete Allira die Hälfte des Inhalts mitten ins Gesicht. Allira keuchte. Mit Augen, die von dem starken Alkohol brannten, blickte sie zu ihrer Schwester hoch. Zumindest für kurze Zeit war ihre Vernunft zurückgekehrt. Melitta faßte ihr Kinn, kippte die Flasche und zwang Allira ein halbes Glas des starken Schnapses in den Hals. Allira wehrte sich, schluckte, hustete, würgte, japste. Dann trat Zorn an die Stelle der Hysterie, und sie schlug Melittas Arm mit der Flasche zur Seite.
„Hast du den Verstand verloren, Meli?“
„Das wollte ich dich fragen, aber du warst nicht in der Verfassung, mir zu antworten“, entgegnete Melitta heftig. Dann wurde ihre Stimme sanfter. „Ich wollte dich nicht ängstigen oder dir weh tun, Liebes; ich weiß, davon hast du mehr als genug gehabt. Aber ich mußte dafür sorgen, daß du mir zuhörst.“
„Mir geht es wieder gut – so gut, wie es mir überhaupt jemals wieder gehen kann“, verbesserte Allira sich bitter.
„Du brauchst es mir nicht zu erzählen“, sagte Melitta schnell. Sie zuckte vor dem zurück, was sie im Geist ihrer Schwester lesen konnte; ihrer beider Gedanken lagen offen voreinander da. „Aber – er kam und verspottete mich, nannte dich seine Gemahlin ...“
„Es hat sogar irgendein Mummenschanz mit einem seiner rotgekleideten Priester stattgefunden, und er setzte mich auf den Hochsitz an seine Seite“, bestätigte Allira, „das Messer nahe genug an meinen Rippen, daß ich nicht zu sprechen wagte ...“
„Und sonst hat er dir nichts zuleide getan?“
„Er hat weder Messer noch Peitsche benutzt, falls es das ist, was du meinst.“ Allira senkte die Augen. Vor dem anklagenden Schweigen ihrer jüngeren Schwester brach es aus ihr heraus: „Was hätte ich tun können? Edric wahrscheinlich tot – Zandru allein wußte, wo du warst – er hätte mich getötet!“ Neues Schluchzen schüttelte sie. „Du hättest es ebenso gemacht!“
„Hattest du keinen Dolch?“ tobte Melitta.
„Er ... er hatte ihn mir weggenommen“, stammelte Allira weinend.
Melitta dachte: Ich hätte ihn gegen mich gerichtet, bevor er mich in der Großen Halle zu seiner Marionette machen konnte. Doch sie sprach die Worte nicht laut aus. Allira war immer ein zartes, sanftes Mädchen gewesen, das vor dem Schrei eines Falken erschrak, zu ängstlich, um ein anderes Pferd als den frömmsten Zelter zu reiten, so scheu und ihrer Heimat verbunden, daß sie weder an einen Liebhaber noch an einen Gatten dachte. Melitta meisterte ihren Zorn und zwang sich, freundlich zu sprechen. „Liebes, niemand macht dir einen Vorwurf. Unsere Leute wissen, wie es geschah, und sonst geht es niemanden etwas an. Und alle Schmiede Zandrus können ein zerbrochenes Ei oder die Jungfräulichkeit eines Mädchens nicht wieder flicken. Deshalb laß uns überlegen, was wir jetzt tun sollen.“
„Haben sie dir etwas getan, Meli?“
„Wenn du meinst, ob sie mich vergewaltigt haben, nein. Dies Narbengesicht, verflucht sei seine Mannheit, hatte keine Zeit für mich, und ich nehme an, er hielt mich für eine zu wertvolle Beute, als daß er mich gleich einem seiner Männer überlassen hätte – obwohl er das wahrscheinlich irgendwann tun wird, wenn wir es nicht verhindern.“ Mit Grausen dachte sie an Brynats Bande aus Renegaten, Räubern und halbmenschlichen Wesen aus den tiefsten Hellers. Sie nahm Alliras Gedanken wahr, sogar der brutale Schutz des Räuberhauptmanns sei besser, als in die Gewalt dieses Abschaums zu geraten. Nun, sie durfte Lira nicht tadeln – hätte sie vor dieser Wahl gestanden, was hätte sie dann wohl getan? Nicht jeder gekochte Brei wird gegessen, und nicht alle tapferen Worte werden zu Taten. Trotzdem veranlaßte sie ein Widerwille, den sie nicht ganz verbergen konnte, ihre Schwester loszulassen und trocken zu erklären: „Edric muß im Verlies sein, denn Brynat hat mir verboten, dorthin zu gehen. Aber ich glaube, ich würde es spüren, wenn er tot wäre. Du hast mehr Psi-Begabung als ich; nimm dich zusammen und versuche, seine Gedanken zu erreichen.“
„Und Storn!“ regte sich Allira von neuem auf. „Was hat er getan, um uns zu beschützen – da liegt er wie ein Stück Holz, in Sicherheit, von seiner eigenen Magie bewacht, und uns überläßt er ihrer Gnade!“
„Was hätte er sonst tun sollen?“ fragte Melitta vernünftig. „Er kann kein Schwert halten, er kann nicht sehen, um es zu führen. Wenigstens hat er dafür gesorgt, daß niemand imstande ist, ihn als Marionette zu benutzen – wie dich.“ Ihr Blick, heftig und zornig, bohrte sich in den ihrer Schwester. „Hat er dir schon ein Kind gemacht?“
„Ich weiß es nicht – es könnte sein.“
„Du Dummkopf!“ wütete Melitta. „Begreifst du immer noch nicht, was er will? Wenn es ihm nur um ein williges Mädchen ginge, warum dann nicht eine – oder ein Dutzend – von den Dienerinnen? Hör zu. Ich habe einen Plan, aber du mußt wenigstens ein paar Tage lang das bißchen Verstand anwenden, das dir die Götter gegeben haben. Wasch dein Gesicht, zieh dich ordentlich an, versuche, wie die Lady Storn auszusehen und nicht wie eine Troßdirne aus dem Hundezwinger! Brynat glaubt, er habe dich gezähmt und zu seiner Frau gemacht. Aber er ist ein Grobian, und du bist eine Lady. Du hast das Blut der Sieben Domänen; du kannst ihn überlisten, wenn du dir Mühe gibst. Versuche, Zeit zu gewinnen, Allira! Bekomme hysterische Anfälle, überlasse dich deiner Trauer, halte ihn mit Versprechungen hin – sag ihm schlimmstenfalls, daß du dich an dem Tag, an dem du dich schwanger weißt, von den Zinnen stürzen willst – und überzeuge ihn davon! Er wagt es nicht, dich zu töten, Allira; er braucht dich festlich gekleidet und geschmückt auf dem Hochsitz an seiner Seite, zumindest so lange, bis er sicher ist, daß kein Gefolgsmann oder Feind versuchen wird, ihn von seiner Höhe zu stürzen. Halte ihn ein paar Tage hin, nicht länger, und dann ...“
„Kannst du Storn aufwecken, damit er uns hilft?“ keuchte Allira.
„Bei allen Göttern, was bist du dumm! Nur Storns Trance macht uns sicher und gibt uns Zeit, Lira. Ist Storn wach und in Brynats Gewalt – dieser Teufelssohn würde Edric ein Messer in den Bauch stoßen, mich seinen Soldaten vorwerfen, damit sie ein paar Stunden Spaß haben, solange ich am Leben bleibe, und wer weiß, ob er dann überhaupt noch ein Kind von dir haben wollte! Nein, Lira, bete, daß Storn in Trance bleibt, bis ich mir einen Plan ausgedacht habe! Du tust dein Teil, indem du den Mut nicht verlierst, und ich tue meins.“
In Melittas Herz reifte ein kleiner, verzweifelter Plan. Sie wagte nicht, ihn Allira mitzuteilen. Sie konnten belauscht werden oder, wenn sie ihn in Worte faßte, mochte sich unter Brynats Bande irgendein halbmenschlicher Telepath befinden, der sich bei seinem Anführer in Gunst zu setzen suchte, indem er ihm Bericht erstattete. Aber ein Samenkorn der Hoffnung war in ihr aufgegangen.
„Komm, Allira, wir wollen dich anziehen, wie es sich für die Lady von Storn schickt, damit du diesem Rüpel Achtung einflößt“, sagte sie und bereitete sich darauf vor, Brynat gegenüberzutreten, ohne irgend etwas zu verraten.