Читать книгу HUNDE JA-HR-BUCH EINS - Mariposa Verlag - Страница 6
A wie Adressbuch Shirley Michaela Seul
ОглавлениеMona hörte es vom Bett aus. Sie wusste nicht, seit wann das Geräusch andauerte. Trotzdem blieb sie noch einen Moment liegen. Und hoffte. Vielleicht war es ja nur die Zeitung. Die Zeitung, die neben den Schuhen lag. Zum Schuheausstopfen hatte sie die gebraucht. Das ganze Wochenende war ein Wetter, bei dem nicht mal Hunde raus wollten. Bis auf eine Ausnahme: Luna.
Seufzend, aber schwungvoll stand Mona auf. Genauso schnell tappte die Labradorin die Treppen hoch und erwartete Mona am Aufgang zur Galerie. Vor Freude außer sich. Bloß weil Mona aufstand. Über Nacht war Luna wieder ein paar Zentimeter gewachsen. Mona versuchte, am Gebaren der Hündin etwas abzulesen. Doch Luna benahm sich wie immer. Sprang hoch, jaulte und wedelte mit dem Schwanz, als müsste sie die ganze Stadt mit Strom versorgen.
Mona hielt das Morgenritual kurz, ging die Treppe runter und um die Ecke – und dann sah sie es. Sie hatte recht behalten. Neben dem Kamin stand ihre Aktenmappe. Wie befürchtet. Sie hatte vergessen, sie wegzuräumen. Und sie war offen. Auch das hatte Mona befürchtet. Eine Katastrophe schien allerdings nicht passiert zu sein: Die Präsentation war unversehrt. Keine Spur von Fetzen ihrer Wochenendarbeit. Mit einem schnellen Griff kontrollierte Mona den Inhalt der Aktenmappe, besonders die Klarsichtfolie mit den Notizen, die Max heute Vormittag abtippen und bis zwölf Uhr fertig haben sollte. Aber – das Adressbuch! Auf den ersten Blick konnte man sich täuschen, doch es lag seltsam verdreht und in sich zusammengesunken obenauf. Mona nahm es zur Hand. Es war fast dreieckig. Dreieckig gestutzt. Gebissen. Mona schlug es auf. Ein dünnes Rinnsal Blut lief aus einem Winkel. Luna hatte ordentliche Arbeit geleistet. Bei A begonnen. Auf den ersten Blick sah es tatsächlich aus, als fehlten nur die Seiten mit A. Mona packte die Hündin, schimpfte und setzte sie in ihren Korb, wo sie die Fetzen von A fand. Sie sammelte sie ein. Ein paar Zahlen ohne Zusammenhang. Sie legte sie auf den Küchentisch. Sie bereitete Kaffee zu. Sie zündete sich eine Zigarette an, obwohl sie normalerweise nie vor dem Frühstück rauchte. A fehlte. A wie Anatol, das war sehr bedauerlich, A wie Amanda, das war eine Katastrophe, A wie Arthur, ein Glücksfall, A wie Armadon, die konnten sich an sie wenden, A wie Annette, die war auch dran, sich zu melden, A wie Alex, den hatte sie ausfindig gemacht nach seinem letzten Umzug, A wie … Mona fiel nichts mehr ein. Sie schloss die Augen. Sah die Seiten vor sich. A wie Atlas, die hatten ihre Adresse, A wie Agnes, schade, weil sie Agnes, die Weltenbummlerin, höchstens über ihre Eltern … Wo wohnten die noch mal? A wie Armin. Armin zum Beispiel. Hatte sie fast vergessen. War ihr nicht auf Anhieb eingefallen. Dabei hätte sie Armin gestern noch als einen ihrer besten Freunde bezeichnet. Merkwürdig. Über Nacht vergessen. Lag das vielleicht daran, dass sie seine Telefonnummer gespeichert hatte? Wie lange war es eigentlich her, dass sie nach einem Treffen mit Armin das Gefühl gehabt hatte, es wäre ein rundum schöner, lohnenswerter Abend gewesen? Hatte sie das überhaupt schon mal gehabt? Bestimmt war A kein unersetzlicher Buchstabe. A sollte nicht als beispielhaft gelten. A war ein dummer Zufall. B hätte ein Desaster bedeutet. Wer stand noch mal unter B? Nein, B war ein schlechtes Beispiel. B war ja auch als Buchstabe nicht ernst zu nehmen. Ziemlich weit vorne, aber doch im Schatten des ewig Ersten. Nein, es gab viel zu viele Leute, die hießen Bauer oder Berger oder Beate. Mindestens fünf Frauen namens Beate kannte Mona bestimmt, da war sie sicher, auch wenn ihr im Moment keine einfiel. S wäre ein Unglück gewesen!
Nachdenklich ging Mona ins Bad. Sie wusste, dass sie fünf volle Seiten S im Adressbuch hatte. Sie bekam nicht mal eine zusammen. Am besten, sie legte ein neues Buch an. Vielleicht gleich elektronisch, so wie es jetzt alle hatten. Das ist nicht die Lösung, hörte sie ihre innere Stimme. Um diese Zeit wollte sie keine Sprechstunde abhalten. Man musste doch nicht immer aus allem ein Problem machen. Sie war über dreißig und da hatte sich im Lauf des Lebens allerhand angesammelt. Schrott und Verwertbares. Auf jeden Fall zu viel, viel zu viel. Hin und wieder geschah es, wenn auch seltener als früher, dass Mona eine Freundschaft angetragen wurde, sich ein Mensch um sie bemühte. Sie reagierte dann mit Panik. Bitte bloß keine neuen Freunde, sie kam ja nicht mal mit denen zurecht, die sie seit Jahren kannte, dauernd hatte sie Freundschaftsschulden, musste wo anrufen, sollte sich hier und da melden und mit der ins Kino, mit dem Skifahren und mit der Wasserskifahren ausprobieren, um Gottes Willen, bitte keine neuen Bekanntschaften! Manchmal, wenn Mona irgendwo warten musste, blätterte sie in ihrem Terminplaner ein halbes Jahr nach vorne, dorthin, wo außer den Geburtstagen fast nichts stand, höchstens mal ein Seminar oder ein Jubiläum. Viel Weiß. Darin weidete sie sich eine wohltuende Weile. Die meisten ihrer Freundschaften waren alte Gewohnheiten. Klar hatte sie Zeit für ihre Freundin Vroni, wenn die mal in der Stadt war, schließlich war sie mit Vroni zur Schule gegangen, und Vroni zu treffen bedeutete, sich zu vergewissern, dass die eigene Vergangenheit tatsächlich passiert war. Als Zeitzeugin reichte Vroni. Da musste nicht auch noch Bessi dazu. Obwohl – wenn Vroni sterben würde, hätte sie Bessi, aber Bessi konnte sie auch reanimieren, wenn sie sie brauchte. Brauchen. Wen aus diesem fetten Adressbuch brauchte Mona? Durfte sie im Rahmen ihrer ethischen Ideale ihr Adressbuch und brauchen überhaupt in einem Satz nennen? Sollte sie zwei Adressbücher führen? Eines fürs Business und eines privat? Und wo war die Grenze? Durfte man sich privat brauchen? Oder meinte sie mit brauchen gebrauchen können? War Monas Adressbuch eine Cholesterindeponie? Unsere Mona Hilgenberger ist nach langem Kampf tragisch und von uns allen unbemerkt innerlich und äußerlich an Freundschaft verschieden.
Es waren nicht nur die Vronis, die alte Garde sozusagen, die zum Glück nicht mehr in der Stadt wohnten. Hatten alle weggeheiratet, da konnte Mona sich nicht beschweren. Hatten auch alle Kinder bekommen und waren deshalb ziemlich beschäftigt, derzeit mit ihren Scheidungen. Es waren eher die von irgendwo aus der Welt und ihre sporadischen Besuche. Dazu jene, mit denen sie bekannt war, die sie gelegentlich traf. Dagegen war nichts einzuwenden, so lautete die Spielregel: sich gelegentlich melden, telefonieren, mal ein Kärtchen aus dem Urlaub und ab und an ein persönliches Treffen. Wenn nun aber ein solches Treffen in eine Woche fiel, wo schon eine Vroni und eine Durchreise angekündigt waren, und dann vielleicht noch einer der fixen Termine, die wirklich wichtig waren – waren sie das? Musste sie ihre beste Freundin Andrea tatsächlich einmal in der Woche sehen? Gut, sie hatten es manchmal ausfallen lassen, aber im Prinzip galt einmal die Woche, wenn auch nur auf zwei Stunden. War das nötig? Und wenn sie es bei Andrea schon bedachte, dann sollte sie es erst recht bei Melanie und den anderen bedenken. Die traf sie alle drei bis vier Wochen, war das nötig?
Außerdem brauchte sie Zeit zum Schwimmen und für das Fitnessstudio und donnerstags Yoga und einmal in der Woche wollte sie verdammt noch mal zu Hause sein. Ein bisschen rumputzen, ein bisschen fernsehen, vielleicht alte Briefe sortieren oder die Blätter der Palmen polieren. Wenn ich all diese Menschen nicht mehr treffen müsste, dachte Mona, … ich muss sie ja nicht treffen, dann könnte ich öfter zu Hause sein. Mit dem Hund spazieren gehen, dafür habe ich ihn mir doch angeschafft. Endlich mit dem Rauchen aufhören, weil ich nicht mehr in Kneipen rumhängen muss. Ich könnte lesen und mich bilden, Italienisch lernen. Ich könnte mehr Geld verdienen und zwar spielend. Ich könnte öfter in den Urlaub fahren, weil ich nicht dauernd Termine hätte, die meine Urlaubsplanung stören. Was würde mir fehlen? Mona seifte sich ein. Mit der Vanillelotion, ein Geschenk von Sonja. Die Vanillelotion könnte sie sich auch selbst kaufen, würde sie aber nicht, da sie Vanille nicht mochte.
Mona schlug auf den Hebel der Dusche, ging, ohne sich abzutrocknen, ins Wohnzimmer, nahm das Adressbuch zur Hand, warf es neben Lunas Fressnapf zu Boden und ließ sich ein Orangenblütenbad einlaufen.