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Borek Stania Jepsen

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Es kostete sehr viel Mühe, eine Bescheinigung von der Polizei zu bekommen, damit man sich in der Grenzsperrzone aufhalten durfte – damals, in den Jahren tiefster kommunistischer Diktatur in der Tschechoslowakei.

Ich bekam die Erlaubnis als unbescholtener Bürger und konnte meinen Onkel in den Ferien besuchen. Ich wohnte in der Stadt, in Prag, und brauchte Landluft. Er hatte seinen Bauernhof in der Grenzsperrzone. Unzählige Kontrollen musste ich passieren und mühsame Fahrverbindungen, auch zu Fuß, auf mich nehmen, bis ich endlich auf Onkels Bauernhof ankam.

Unser Wiedersehen war sehr herzlich. Abends ging ich wegen der Strapazen früh ins Bett.

Am nächsten Tag fuhr die ganze Familie früh morgens aufs Feld und ich blieb zurück auf dem Hof, zusammen mit einem ausgiebigen Frühstück und dem Hund meines Onkels. Es war ein herrlicher, warmer Sommer, wie geschaffen für meine Erholung. Meine einzigen Aufgaben bestanden darin, in der frischen Luft zu spazieren, gut zu essen und lange zu schlafen.

Schon beim ersten Frühstück schloss ich Freundschaft mit dem Hund. Er war ein liebes Schmusekerlchen, sah aus wie eine Münsterländer-Bernhardiner-Kreuzung und brachte fast fünfzig Kilo auf die Waage. Es stellte sich bald heraus, dass er sehr aufmerksam und klug war. Wir durchstreiften gemeinsam die Umgebung. Es waren sehr schöne Tage mit Borek, so hieß dieser große, starke Kerl. Ich war so mager, dass es leicht für mich war, auf ihm zu reiten. Dann tippelte er ins Feld und schmiss mich ins Korn.

Bald bekam ich den Auftrag, auf Borek aufzupassen, denn er war ein Streuner. Mein Onkel beklagte sich, dass der Hund tagelang verschwinden würde, dann käme er dreckig und ausgehungert zurück und kein Mensch wüsste, wo er sich rumgetrieben hatte. Er ginge wohl auf Brautschau. Ich wunderte mich nur, wo in dieser Gegend eine Hündin sein konnte. Weit und breit wohnte hier kein Mensch, nur die Grenzposten waren da. Die hatten zwar Hunde, aber an diese kam ein anderer Hund nicht heran. Irgendwann war Borek wieder einmal auf Tour. Mein Onkel drohte mit einem Stock: „Wenn der zurückkommt!!! Der kommt an die Kette!“ Borek kam nach zwei Tagen in einem schrecklichen Zustand nach Hause. Er war dreckig, hungrig und auf seinem Rücken hatte er blutende Wunden, die aussahen, als hätte er sich an einem Stacheldraht gerissen. Mein Onkel ließ Borek im Hof mit einem Wasserschlauch abspritzen, gab ihm Futter und Wasser und band ihn an die Kette.

Am nächsten Tage winselte Borek im Hof herzzerreißend. Mir tat er leid und ich ließ ihn laufen. Auf dem Dach des Hauses war ein kleiner Turm mit einer Glocke. Ich nahm Onkels Feldstecher, der noch aus dem Krieg stammte, und beobachtete Borek, wohin er ging. Seine Schwanzspitze ragte über den Weizen und ich konnte sehen, dass er in Richtung Wald pirschte und darin verschwand. Ich dachte, er würde wildern gehen. Mit dem Feldstecher konnte ich über den Grenzstreifen auf die ersten westdeutschen Dorfhäuser schauen. Auf einmal sah ich Borek auf der Straße. In voller Größe tippelte er an den Häusern vorbei. Der Hund ging auf Brautschau – hinter dem eisernen Vorhang!

Das kann nicht wahr sein!, dachte ich voller Entsetzen. Zwischen Westdeutschland und der Tschechoslowakei war nicht nur ein Drahtzaun, der elektrisch geladen war, sondern auch der Todesstreifen mit dem Minenfeld. Außerdem patrouillierten ständig Grenzwachposten mit scharfen Hunden. Borek wog fünfzig Kilo. Nicht einmal ein Hase konnte über die Minen gehen. Man hörte sie oft explodieren, wenn Wildwechsel war. Wie kam der Hund ungesehen zur anderen Seite? Ich konnte es nicht begreifen und bekam höllische Angst, dass er erschossen werden könnte. Mein Onkel hätte mich umgebracht, weil ich Borek trotz strikten Verbotes von der Kette befreit hatte!

Ich wartete mit zitternden Knien auf die Rückkehr der Familie vom Feld und betete zum lieben Gott, dass Borek ungeschoren zurückkehrte. Kurz vor dem Onkel kam er, mit wedelndem Schwanz, als wäre nichts geschehen. Ich band ihn sofort an die Kette und war heilfroh, dass niemand wusste, was sich am Tage abgespielt hatte.

Diese und die folgenden Nächte schlief ich sehr schlecht. Die Geschichte mit Borek ging mir nicht aus dem Kopf. Ich konnte an nichts anderes mehr denken. Tausende von Menschen riskierten ihr Leben, um zu flüchten, und unser Borek ging und kam, wann immer er wollte! Es gab also eine Möglichkeit, über die Grenze zu kommen, Borek war der Beweis. Ich hätte meinen Onkel fragen können, aber dann hätte er gewusst, dass ich Borek frei ließ. Ich hütete also dieses Geheimnis und behielt es für mich. Eines Tages fällte ich eine Entscheidung! Ich wollte Borek von der Kette lassen und mit ihm gehen. Der Gedanke ließ kalten Schweiß auf meinem ganzen Körper ausbrechen, aber ich fieberte dieser Chance entgegen. Ich durfte sie nicht verpassen. Das System in unserem Land war mir verhasst.

Die Nacht vor meiner Flucht schlief ich gar nicht mehr. Ich war die Erste am Frühstückstisch und lauerte auf die Abfahrt der Familie ins Feld. Ich versteckte meinen Ausweis und die Grenzgenehmigung unter meinem Hemd, nahm Proviant für mich und Borek mit, band ihn los und gab ihm den Befehl: „Geh zum Hundchen! Geh!“ Borek schaute mich an, als ob er mich verstehen würde, ging los und ich dicht hinter ihm.

Die Waldstrecke bis zum Grenzzaun war sehr mühsam. Über Stock und Stein und durch Sumpf und Sträucher kamen wir schließlich zu einem kleinen Felsen, an dem der Drahtzaun ungefähr einen halben Meter hoch über dem Boden hing. Borek und ich krochen nacheinander auf die andere Seite. Auf einem Matschfeld, mit Sträuchern bewachsen, ging ich dicht hinter dem Hund, genau in seinen Pfotenspuren. Ich ahnte, das musste vielleicht das Minenfeld sein, und achtete genau darauf, nirgendwo anders hinzutreten, als Borek es tat. Ich wog ja nicht mehr als er und wenn er nicht in die Luft ginge, überlebte ich es auch.

Endlich kamen wir auf eine kleine Wiese und ich setzte mich erschöpft hin. Borek legte sich neben mich und leckte meine blutenden, zerkratzten Beine. Ich wusste noch nicht, wo wir uns befanden, deswegen deutete ich meinem Begleiter unentwegt mit dem Zeigefinger an, er solle still sein. Nach einer Weile gingen wir weiter. Ein paar Meter vor uns tauchten die ersten Dorfhäuser auf, die ich durch das Fernglas beobachtet hatte. Ich ahnte zwar, dass wir uns schon im Westen befanden, aber Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste. In Gedanken bereitete ich eine Frage vor für den Fall, dass uns jemand begegnete. Auf der Straße, fast vor dem ersten Haus, kam uns eine Frau entgegen, der ich meine Frage auf Tschechisch stellte: „Können Sie mir bitte den Weg zu dem Bauernhof sagen?“ Ich zeigte mit dem Finger in Richtung des Hauses meines Onkels. „Ich habe mich bei der Suche nach dem Hund verirrt!“

Die Frau schaute mich an, als hätte sie ein Gespenst getroffen. Sie huschte an mir vorbei und verschwand ohne Antwort in dem Haus. So eine unfreundliche Person, dachte ich für mich und ging mit Borek weiter. Am nächsten Haus stand in großen Buchstaben „ZOLL“. Ich gab mir einen Ruck und klopfte an die Tür.

„Herein!“, donnerte es von innen.

Ich öffnete und trat ein. In einem spärlich eingerichteten Zimmer saß ein Herr in Uniform hinter dem Schreibtisch.

„Guten Tag, können Sie mir bitte sagen, wie ich zum Bauernhof meines Onkels komme? Ich habe mich bei der Suche nach dem Hund verirrt“, trug ich erneut meine vorbereitete Frage in tschechischer Sprache vor.

Der Mann sah mich genauso an wie die Frau vorher auf der Straße. Mit weit aufgerissenen Augen musterte er mich und auch Borek von Kopf bis Fuß.

„Tschechin?!“, fragte er mich, mit dem Finger in Richtung Tschechoslowakei zeigend. „Von dort??“

„Ja“, sagte ich und ging zur Wand, an der ein Waschbecken mit einem Spiegel angebracht war. Ich wollte sehen, warum jeder vor mir so erschrocken war.

Mein Gott!, dachte ich. Ein Gespenst hätte besser ausgesehen als das, was mich vom Spiegel aus anstarrte. Zerzauste Haare mit abgebrochenen Baumzweigen darin, überall blutende Kratzer und auf den Oberarmen hingen Blutegel. Ich ekelte mich vor mir selbst und begann zu schreien. Dann versagten meine Beine. Zitternd vor Angst fiel ich zu Boden. Der Mann telefonierte schnell irgendwohin und kam danach zu mir. Er hob mich hoch, setzte mich auf einen Stuhl und redete leise auf mich ein. Ich verstand zwar fast kein Wort, aber nach dem Klang seiner Stimme wusste ich, dass er mich zu trösten versuchte.

„Es ist ja schon gut. Sie sind in Sicherheit. Sie sind in Westdeutschland.“

Geschafft!, dachte ich und erst dann überfiel mich der Schock der ausgestandenen Angst und ich begann, am ganzen Körper zu zittern.

Zwei Grenzbeamte kamen nach einer Weile in das Zimmer. Einer von ihnen sprach einwandfreies Tschechisch, er tröstete mich und entfernte die Blutegel. Ich konnte nicht aufhören zu weinen – das aber war schon vor Freude. Der Mann fragte mich, wie um Gottes willen ich über die Grenze gekommen sei. „Der Hund“, sagte er, „ist uns bekannt. Man sieht ihn öfters hier streunen.“

Ich erzählte ganz genau Boreks und meine Geschichte, dabei lachte und weinte ich abwechselnd. Am Ende gingen wir alle zu dem Platz, an dem ich aus dem Wald herausgekommen war. Die Beamten machten sich kurze Notizen und dann kam der Abschied von Borek. Ich küsste und umarmte ihn und bedankte mich bestimmt hundertmal für seine Hilfe, dabei kullerten mir die Tränen über das Gesicht.

Borek wusste nicht, was los war; er winselte, leckte mir die Tränen aus dem Gesicht und wedelte mit dem Schwanz. Es war ein rührender Abschied. Dann schickte ich ihn zurück mit den Worten: „Lauf, Borek! Geh nach Haus!“ Nach mehrmaligem Umdrehen verschwand er im Wald. Ich erfuhr später, dass er heil nach Hause gekommen war und immer wieder ausgerissen ist.

Am selben Nachmittag fuhr ich mit den Beamten in die nächste Kreisstadt. Nach meiner Übergabe an die Kollegen, bei denen ich schon telefonisch angekündigt worden war, sagte einer meiner Begleiter: „Die ist wie aus dem Himmel gefallen!“

So war die Geschichte meiner Flucht aus der Tschechoslowakei damals. Und die größte Rolle in meinem Leben spielte das Tier. Ich danke dir, Borek!

HUNDE JA-HR-BUCH EINS

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