Читать книгу Fürstenkrone Staffel 10 – Adelsroman - Marisa Frank - Страница 6
Оглавление»Das also ist es, das Schloß deiner Ahnen!« Der Mann auf dem Beifahrersitz des schnittigen amerikanischen Sportwagens schob die lustig karierte Schirmmütze in den Nacken. »Sieht nicht schlecht aus, der Kasten, muß ich schon sagen. Warst du eigentlich schon einmal hier?«
Der andere junge Mann hatte beide Hände über das Steuerrad gelegt und das Kinn darauf gestützt. Er sah ernst und nachdenklich aus. »Nein, Archie, ich war noch nie hier. Eigentlich ist mir das unbegreiflich. Ich besitze zwar einige Fotografien, es existiert in unserem Haus drüben sogar ein uralter Holzschnitt, aber ich habe diese Dinge bisher noch kaum beachtet. Jetzt wundere ich mich, daß mich das alles so wenig berührt hat.«
»Empfindest du denn nun anders?«
»Ja, und darüber staune ich am meisten. Wenn ich so diesen gewaltigen Bau dort auf der kleinen Insel sehe und mir ins Bewußtsein rufe, daß diese dicken, festgefügten Mauern sozusagen die Wiege unseres Geschlechtes sind – also, ich muß schon sagen, dann wird mir doch ganz eigenartig zumute.«
»Dieses Gefühl kenne ich, Allan, und ich nehme es dir durchaus nicht übel, daß du manchmal ein wenig spöttisch die Lippen verzogen hast, wenn ich ähnliche Gedanken äußerte. Ihr Amerikaner seid eben ausgesprochene Gegenwartsmenschen, ihr seid nicht mit so vielen Traditionen behaftet wie wir Europäer, Traditionen, die übrigens oft auch wie Ballast wirken können.«
»Na, darüber wollen wir uns jetzt nicht unterhalten, das würde zu weit führen. Sag mir lieber, ob du immer noch an deinen wahnwitzigen Plan festhalten willst.«
»Ich finde unser Vorhaben durchaus nicht wahnwitzig, sondern höchstens amüsant. Schließlich sind wir ja zu diesem Zweck hierhergefahren.
»Was aber in keiner Weise verpflichtend für dich ist, Archie. Ehrlich gesagt, mir wäre es fast lieber, du würdest…«
»Nun, rede kein dummes Zeug, Allan! Reich mir die Reisetasche vom Rücksitz, damit der ehrwürdige Archibald Arthur Lord of Duncaster sich in einen dienstbeflissenen Butler verwandeln kann.«
»Je mehr ich darüber nachdenke, um so weniger gefällt mir die Geschichte«, sagte Allan Noraway. »Es hätte doch auch eine andere Möglichkeit geben müssen.«
Er war ein großer, stattlicher junger Mann, bei dem sich die kühnen Züge seiner südlichen Vorfahren in vorteilhafter Weise mit dem typischen Aussehen des modernen Amerikaners vermischt hatten. Das pechschwarze Haar war sportlich kurz geschnitten.
Die breiten Schultern und der elastische Gang verrieten den aktiven Sportler, obwohl der Sport für Allan Noraway nur Freizeitbeschäftigung war. In der Hauptsache befaßte er sich mit der Wahrnehmung der Geschäfte, die er von seinem früh verstorbenen Vater übernommen hatte, und er bewies eine äußerst glückliche Hand dabei.
Zwar war die Familie schon sehr wohlhabend gewesen, als Mirko Noraway starb, doch der Sohn hatte das Millionenvermögen trotz seiner Jugend bereits mehr als verdoppelt, und in amerikanischen Wirtschaftskreisen sah man in ihm den kommenden Mann.
»Eine andere Möglichkeit?« nahm Lord Archibald den Gesprächsfaden auf. »Ich wüßte wirklich nicht, welche. Immerhin haben wir, und nicht zuletzt auch deine Mutter, doch alle nur denkbaren Schritte erwogen. Es steht fest, daß die in Amerika lebende Familie Noraway in direkter Linie von den Königen von Norawa abstammt, aber ihr könnt es nicht beweisen.«
»Das stimmt. Im Grunde genommen ist es mir auch ziemlich gleichgültig«, brummte Allan.
»Das glaube ich dir sogar, mein lieber Freund, aber deine von mir hochverehrte Frau Mama denkt anders darüber, und da gebe ich ihr recht. Außerdem gibt es da auch noch eine junge Dame, die…«
»Laß bitte Jennifer aus dem Spiel, Archie!«
»Wie du willst, Allan, das ist in diesem Zusammenhang auch unwichtig. Jedenfalls geht es darum, die Wahrheit über die Herkunft eurer Familie zu ergründen und dir gegebenenfalls zu dem Titel zu verhelfen, der dir zusteht.«
»Der Titel interessiert mich wenig. Ich möchte nur Klarheit haben.«
»Nun gut. Aber ich weiß, daß deine Mutter da ein bißchen anders denkt. Ihr habt euch an Maximilian Peter, den derzeitigen König von Norawa, gewandt und um Einsicht in die Familienchronik gebeten, und ihr habt einen abschlägigen, in seiner schroffen Kürze schon fast beleidigenden Bescheid erhalten. Ihr habt Detektive und sogar Wissenschaftler mit der Wahrnehmung eurer Interessen beauftragt, es war gar nichts zu machen. Der Versuch, den König mit Geld zu locken, wäre von vornherein zum Scheitern verurteilt, denn der Reichtum der Norawas ist beinahe sagenhaft. »Also…«
»Also ist mein bester Studienfreund, der edle Lord of Duncaster, auf die Idee gekommen, sich als Butler in das Schloß meiner Vorfahren einzuschleichen, um dort in Ruhe nach den entscheidenden Dokumenten suchen zu können«, vollendete Noraway lächelnd.
»Jawohl, und ich werde finden, was ich suche«, behauptete Lord Archibald mit Nachdruck. »Niemand wird mich von meinem Vorhaben abhalten können, auch du nicht, lieber Freund. Also wollen wir auch keine Zeit mehr mit unnötigen Redereien verschwenden. Ist ja auch nicht nötig, daß man uns hier zusammen sieht, obwohl das in dieser menschenarmen Gegend ohnehin ziemlich unwahrscheinlich ist. Aber man braucht nichts herauszufordern. Na, wie gefalle ich dir in meiner Rolle als Butler Archibald?«
Allan Noraway, der während des Gesprächs die herrliche, ihm bisher noch unbekannt gewesene Landschaft an der Küste der Adria bewundert hatte, wandte dem Freund sein Gesicht zu – und brach augenblicklich in schallendes Gelächter aus.
Es war auch zu komisch, wie der flotte junge Lord sich durch ein paar Manipulationen verändert hatte.
Nicht nur, daß er sein fesches Tweedjackett gegen einen steifen schwarzen Cutaway vertauscht hatte, er hatte auch das rotblonde lockige Haar mit reichlich Frisiercreme gebändigt und durch einen schnurgeraden Mittelscheitel in Fasson gezwängt.
Die lustigen Sommersprossen standen in einem ulkigen Gegensatz zu dieser strengen Frisur und der würdevoll hochnäsigen Miene, die der Lord aufgesetzt hatte.
»Umwerfend«, Allan lachte, »einfach umwerfend! Du wirst einen großartigen Erfolg haben, Archie!
»Das will ich meinen«, näselte Lord Archie. »Die Leute auf Schloß Norawa sollen sich vorsehen vor dem Butler Archibald.«
*
»Ich kann es gar nicht erwarten, wieder nach Schloß Norawa zu kommen.«
Prinzessin Edina Mandaljena von Norawa rutschte nervös und aufgeregt auf ihrem Platz hin und her. Sie saß in der schweren Limousine vorn neben dem Fahrer, während ihre Eltern, der König und die Königin von Norawa, im Fond des Wagens Platz genommen hatten.
»So wie in diesem Jahr habe ich mich noch nie gefreut, wenn wir in unser Sommerschloß fuhren«, sagte die Prinzessin eifrig und wandte sich zu ihren Eltern um. »Was glaubt ihr wohl, werden auch alle schon wissen, daß wir kommen?«
Königin Ilara Theresia lächelte.
»Aber selbstverständlich! Was du dir nur denkst, Kind. Es bedarf doch keiner Frage, daß das gesamte Schloßpersonal alles für unsere Ankunft vorbereitet hat.«
Prinzessin Edina verzog ihren hübschen roten Mund zu einem niedlich schmollenden Schnütchen.
»Personal!« entgegnete sie wegwerfend. »Ich denke doch nicht an das Personal, Mutti. Ich meinte doch nur… ich wollte gern wissen… Ihr findet doch auch, daß ich mich im letzten Jahr zu einer richtigen jungen Dame entwickelt habe, nicht wahr?«
»König Maximilian schüttelte unwillig den Kopf.
»Was sind das denn schon wieder für Gedankensprünge, Edina. Ich habe dir oft gesagt, daß du einen Satz erst zu Ende sprechen sollst, ehe du einen neuen beginnst. Und jetzt wirfst du sogar zwei ganz verschiedene Themen durcheinander.«
Prinzessin Edina senkte den Kopf. Es sah aus, als fühlte sie sich getadelt und schuldbewußt, in Wahrheit jedoch wollte sie wohl das heiße Erröten verbergen, das sie in ihren Wangen spürte.
Königin Ilara Theresia hatte die Verlegenheit ihrer Tochter aber sehr wohl bemerkt. Sie lächelte, denn sie ahnte den Grund.
»Es ist wahr, Edina«, sagte sie freundlich, »du hast dich zu einer jungen Dame entwickelt. Zu einer sehr hübschen sogar, vorausgesetzt natürlich, du benimmst dich auch wie eine gesittete junge Dame, und das ist leider nicht immer der Fall.«
»Stimmt, Mutti«, gab Edina kleinlaut zu, »aber manchmal ist es auch sehr schwer.«
»Nun, wenn man siebzehn ist, sollte man sich schon zu beherrschen wissen und nicht mehr umhertollen wie ein junges Füllen.«
»Das tue ich auch nicht mehr Mutti. Ganz bestimmt nicht. Ich will nur noch eine junge Dame sein, an der du… an der ihr eure helle Freude haben sollt.«
»Das hören wir gern, Edina, und nun soll auch deine Frage von vorhin beantwortet werden. Selbstverständlich sind alle unsere Freunde und Nachbarn von unserer Ankunft benachrichtigt worden, und ich habe sogar eine Überraschung für dich, die dich gewiß sehr freuen wird, mein Kind. Wir sind bereits zum nächsten Wochenende zu einem Sommerfest nach Schloß Lukorin geladen.«
»Nach Schloß Lukorin!«
Prinzessin Edina schrie es beinahe, und wenn Königin Ilara Theresia bisher nichts geahnt hätte, so wäre sie nun ganz gewiß stutzig geworden. Aber sie wußte es ja längst. Edina hatte ihr Herz an den Fürsten Drago von Lukorin verloren.
Die Königin sah es nicht ungern, und insgeheim hoffte sie, daß die bisher wohl noch recht unklaren Sehnsüchte ihrer Tochter in Erfüllung gehen möchten.
Der Fürst von Lukorin würde ihr als Schwiegersohn hoch willkommen sein.
»Ja, mein Liebling«, sagte die Königin weich, »auf Schloß Lukorin ist Sommerfest. Sicher wird es, wie immer, ein glänzendes gesellschaftliches Ereignis werden, und ich bin überzeugt, daß du viel Freude haben wirst.«
*
Die Fähre, die den königlichen Wagen übersetzen sollte, lag schon bereit.
Der Fährmann riß die Mütze vom Kopf, und der König nickte leutselig.
»Na, Karel, wie geht es?«
»Danke, Majestät, danke der gütigsten Nachfrage! Es geht gut, und wir allen freuen uns, die gnädigen Herrschaften wieder bei uns zu haben.«
»Na, das hört man gern.« Der König schmunzelte. »Jetzt wird es wieder rundgehen im Schloß, mit eurer beschaulichen Ruhe ist es fürs erste vorbei.«
Die Überfahrt zur Insel dauerte nur knapp eine Viertelstunde.
Es war eine Mole ins Wasser hinaus gebaut worden. Sie bildete einen kleinen Hafen. Dort legte die Fähre an.
Sanft setzte sich der Wagen in Bewegung, rollte ein kurzes Stück über den Kai, bis hinter einer hohen, mächtigen Mauer, die früher ein wirksamer Schutz gegen etwa andringende Feinde gewesen war, das Schloßportal sichtbar wurde.
Die breite Freitreppe reichte fast bis ans Wasser hin.
Dort hatte sich das gesamte Schloßpersonal aufgebaut, um die Herrschaften zu begrüßen. Schnurgerade ausrichtet wie auf dem Kasernenhof standen Lakaien und Zofen, Küchenchef und Köchinnen, Zimmermädchen, Gärtner, Hausknechte und was sonst noch alles zum Schloßpersonal gehörte.
Gemessenen Schrittes trat Archibald, der neue Butler, vor, nachdem der Wagen des Königs ausgerollt war und der Chauffeur heraussprang, um seinem Herrn und dessen Damen beim Aussteigen behilflich zu sein.
»Willkommen daheim, Majestät!« sagte Archibald und machte eine ungemein vornehme Verbeugung.
Der König blickte wohlwollend auf seinen neuen Angestellten. Er hatte ihn persönlich engagiert und war stolz über seine Wahl.
Trotz intensiven Suchens hatte sich längere Zeit keine geeignete Person für diesen Posten finden wollen, und der König hatte schon mit dem Gedanken gespielt, seinen langjährigen Kammerdiener Jean mit der Aufgabe zu betrauen.
Das Angebot des Butlers Archibald kam dann wir gerufen, nur zu gern hatte der König zugegriffen, denn schon beim ersten persönlichen Gespräch hatte ihm die Haltung des jungen Mannes imponiert. Das war, so dachte er, doch etwas ganz anderes als der Diener Jean, der zwar eine treue Seele und durchaus tüchtig, aber doch eben nur ein Diener war.
Dieser Archibald hingegen war der geborene Butler.
Daß aber sein Diener Jean den ersten Auftritt des neuen Butlers mit brennenden Augen beobachtete, daß er den »Neuen« mit unversöhnlichem Haß verfolgte, davon ahnte der König natürlich nichts.
»Wie ich sehe, haben Sie Ihren Posten schon angetreten«, sagte der König jovial. »Freut mich, daß Sie es möglich machen konnten.«
»Das war für mich Ehrensache, Majestät. Wenn man sich einmal verpflichtet hat, darf es keine Schwierigkeiten mehr geben. Das ist mein oberster Grundsatz.«
»Bravo! Solche Grundsätze lobe ich mir.« Der König nickte anerkennend und wandte sich dann seiner Gattin zu. »Das also ist unser neuer Butler, meine Liebe. Ich hoffe, daß auch du mit meiner Wahl zufrieden sein wirst.«
Königin Ilara Theresia nickte hoheitsvoll, wenn auch nicht unfreundlich.
»Ich bin sicher, daß unser Butler seine Pflichten zu unserer Zufriedenheit erledigen wird. Wie wünschen Sie angesprochen zu werden?«
In Archies Augen stand ein kleines Lächeln, aber das sah man nicht, denn er machte erneut eine leichte Verbeugung.
»Von den Herrschaften pflegte ich bisher mit Archibald angeredet zu werden, während mir vom Personal die Anrede Herr Archibald zukam.«
»Gut, so wollen wir es denn auch hier halten. Edina, du kannst Archibald auch begrüßen.«
Prinzessin Edina war ziemlich uninteressiert. Für den neuen Butler hatte sie zunächst nur einen flüchtigen Blick gehabt. Mit ihren Gedanken weilte sie noch immer in Schloß Lukorin.
Aber als sie von ihrer Mutter ausdrücklich aufgefordert wurde, widmete sie dem neuen Butler doch ihre Aufmerksamkeit.
Sie spürte instinktiv, daß dieser Mann anders war als alle Dienstboten, mit denen sie bisher zu tun gehabt hatte.
Von Archibald strahlte eine natürlich Überlegenheit aus, obwohl er sich durchaus bescheiden gab. Aber er war eben doch um eine Spur anders, und was ihm beim königlichen Paar deutliches Wohlwollen eintrug, ärgerte die kleine Prinzessin eher. Edina wußte nicht, warum es so war.
Und so klang es fast ein wenig schnippisch, als sie knapp »Guten Tag« sagte.
Der Butler sollte sich nur nichts einbilden. Er war immerhin nur Angestellter, und er würde ihr, der Prinzessin, ganz bestimmt nichts zu sagen haben. Da mochte er noch so… Ach, die kleine Prinzessin konnte sich ihre Gefühle selbst nicht erklären. Sie war irgendwie unruhig geworden.
Das war einfach zu dumm, und es war nur gut, daß es niemand merkte. Vielleicht könnte es aber auch nicht schaden, wenn man zeigt, daß…
Edina überlegte nicht lange. Während sie an der Seite ihrer Eltern durch die weite Eingangshalle ging, sagte sie leise, aber doch laut genug, daß es der zwei Schritte hinter ihnen gehende Butler verstehen mußte: »Ich wußte gar nicht, daß Butler so viele Sommersprossen haben können.«
Archibald war keineswegs gekränkt, aber er ging auch nicht schweigend über die kleine Bosheit hinweg.
»Die Sommersprossen sind sozusagen mein Markenzeichen, Hoheit«, entgegnete er gelassen.
»Na, da hätte ich mir aber doch lieber ein anderes Markenzeichen ausgesucht. Ich finde Sommersprossen einfach scheußlich!«
»Edina, ich muß doch sehr bitten!« schaltete sich König Maximilian Peter ein. Er war verärgert, doch Edina versuchte ihn zu beschwichtigen.
»Laß nur, Vati, ich weiß schon, daß mein Mundwerk wieder einmal ausgerutscht ist. Wenn ich unter Leuten bin, passiert mir das nicht, ganz bestimmt nicht.«
Der König furchte die Stirn.
»Was verstehst du unter Leuten, Edina?«
»Na, eben… Ach, du weißt schon, Vati.«
»Ja, ich weiß, was du meinst, und das gefällt mir ganz und gar nicht. Du hast dich immer und in jeder Situation richtig zu benehmen, ob du dich nun in der sogenannten Gesellschaft oder unter Dienstboten befindest.«
Edina errötete vor Verlegenheit und Ärger über diese Zurechtweisung in Gegenwart des Butlers, doch der sagte mit unbewegter Miene: »Wenn ich mir eine Bemerkung erlauben darf, Majestät, auch ich finde Sommersprossen scheußlich. Ihre Hoheit hat mir aus der Seele gesprochen, und ich fühle mich keineswegs gekränkt.«
»Na, dann ist es ja gut.«
Der König nickte zufrieden, aber er nahm sich vor, seine Tochter noch einmal ins Gebet zu nehmen. Er konnte es nicht dulden, daß die Siebzehnjährige sich derart vorbeibenahm.
*
Schnell, fast zu schnell rückte der Tag des Balles auf Schloß Lukorin heran.
Edina flatterte wie ein aufgeregtes Vögelchen durch das Schloß.
Wie mochte Fürst Drago sich wohl verhalten, wenn sie ihm entgegentrat? Würden seine Augen aufleuchten bei ihrem Anblick, würde er die Arme ausbreiten, sie an die Brust ziehen?
Edina schloß beseligt die Augen, wenn sie daran dachte. Aber dann stellten sich doch ein wenig nüchterne Überlegungen ein.
Es war unmöglich, daß der Fürst sie gleich in die Arme nehmen würde. Immerhin dürften sie kaum allein sein bei der ersten Begrüßung.
Außerdem war bisher noch gar nicht von Liebe gesprochen worden. Fürst Drago hatte sie im vorigen Jahr zwar einige Male sehr nett angelacht, und er hatte gesagt, sie wäre süß und zauberhaft und verspräche eine kleine Schönheit zu werden. Wenn das kein Liebesgeständnis war…
Aber im vorigen Jahr war sie auch erst sechzehn gewesen, noch ein halbes Kind also. Doch in diesem Jahr…
Nein, in diesem Jahr würde Fürst Drago ihr nicht nur schöne Worte sagen, in diesem Jahre würde er…
War nicht dieser Ball das sicherste Zeichen dafür?
Gewiß wurde er nur ganz allein ihretwegen veranstaltet. Fürst Drago wollte einen glänzenden Rahmen schaffen, um so die Gelegenheit zu finden, ihr seine Liebe zu gestehen.
Ach, er war schon wirklich sehr aufmerksam und liebenswürdig, der Fürst.
»Wie bitte? Haben Hoheit einen Wunsch?«
Edina zuckte ein wenig zusammen. Sie hatte gar nicht gemerkt, daß sie zuletzt laut gedacht hatte.
Oder hatte sie es vielleicht gar die ganze Zeit getan?
Wie ertappt blickte sie hoch und geradewegs in die lustigen hellen Augen des Butlers.
Merkwürdig, er war der Prinzessin gar nicht mehr unsympathisch, sie mochte ihn eigentlich sogar ganz gut leiden, denn daß er ihr die vorlaute Bemerkung über seine Sommersprossen nicht nachtrug, rechnete sie ihm hoch an.
Sicher war er ein ganz patenter Kerl, sofern ein Butler überhaupt patent sein konnte.
So war Edina auch nicht böse, als Archibald so plötzlich in der Bibliothek auftauchte, wohin sie sich in ihrer Unruhe verzogen hatte. Angeblich hatte sie dort lesen wollen, aber in Wahrheit konnte man hier vom Turmfenster aus am besten nach Schloß Lukorin schauen, und Prinzessin Edina wurde nicht müde, das zu tun.
»Ich habe keinen Wunsch, Archibald«, sagte sie, »oder doch, vielleicht wissen Sie mehr als ich. Haben Sie vielleicht schon eine Gästeliste für den heutigen Ball auf Schloß Lukorin gesehen?«
Archibald schüttelte den Kopf.
»Leider, nein, Hoheit! Da der Ball nicht hier auf Norawa stattfindet, fällt er natürlich auch nicht in meinen Aufgabenbereich und daher…«
»Ach, ja, Archibald, schon gut. Ich dachte auch nur… weil ich doch so gern bereits vorher wissen wollte, wer alles zu unserem Fest erscheinen wird.«
»Zu ›unserem‹ Fest, Prinzessin? Das verstehe ich nicht recht.«
Prinzessin Edina errötete leicht. Sie hatte sich richtig verplappert. Aber dann kam es auch nicht mehr darauf an. Ihr war das Herzchen so voll, so richtig zum Zerspringen, und sie mußte einfach über das sprechen, was sie so sehr bewegte.
Eine mädchenhafte Scheu hielt sie davon ab, mit ihren Eltern zu reden, nicht einmal ihre Mutter mochte Edina noch ins Vertrauen ziehen.
Aber Archibald, der Butler, war ungefährlich. Bei ihm brauchte sie nicht zu befürchten, zurechtgewiesen zu werden. Und vielleicht konnte er sie sogar verstehen.
»Nun ja, zu unserem Fest, ich meine, das ist so…«
Warum stotterte sie denn bloß? Butler Archibald sollte nur nicht denken, daß sie ihrer Sache nicht ganz sicher wäre.
»Fürst Drago von Lukorin veranstaltet den Sommerball nur meinetwegen«, sagte Prinzessin Edina kühn. »Wußten Sie das nicht?«
Archibald, der eigentlich Lord of Duncaster hieß, staunte. Das hatte er tatsächlich nicht gewußt.
»Nein, Hoheit«, entgegnete er ehrlich, »davon hatte ich keine Ahnung.«
»Ja, ja, diese Tatsache ist wohl auch nicht an die große Glocke gehängt worden. Wissen Sie, Archibald, der Fürst hat einen solch glänzenden Rahmen gewählt, weil er um meine Hand anhalten will.«
Die großen dunklen Augen der jungen Prinzessin schauten den jungen Mann ernsthaft an, und Archie wunderte sich, warum er in seinem Herzen plötzlich einen kleinen Stich verspürte.
Sollte er sich etwa verliebt haben? Schon möglich, sein Herz war leicht entflammbar und gerade einmal frei, und die Prinzessin war auch wirklich süß.
Aber das schien bereits ein anderer gemerkt zu haben. Schade!
»So, der Fürst von Lukorin will um Ihre Hand anhalten, Hoheit«, sagte er, und seine Stimme klang ein wenig belegt. »Darf man da etwa schon gratulieren?«
»Ich weiß nicht, dazu ist es wohl noch zu früh«, erwiderte Edina zögernd. »Obwohl es schon möglich ist, daß wir uns heute abend bereits verloben werden. Aber«, sprach Edina kindlich weiter und merkte gar nicht, daß sie immer weiter ins Träumen geriet und ihre Träume schon für die Wirklichkeit ansah, »aber das muß ich mir erst noch überlegen. Man darf bei den Männern doch nicht so schnell ja sagen, nicht wahr?«
Nur mit Mühe unterdrückte Archibald ein Schmunzeln. Er fand diese Mischung aus naiver Kindlichkeit und erwachendem Frauentum bezaubernd.
»Woher haben Sie denn solche Weisheit, Hoheit?« fragte er sanft.
»Ach, das weiß man als Dame einfach«, stellte Edina großspurig fest und machte möglichst ein hoheitsvolles Gesicht. »Und außerdem habe ich es erst kürzlich in einem Roman gelesen.«
»Aha!«
»Ja, und es war ein guter Roman. Ein bißchen traurig, und man konnte daraus auch etwas lernen.«
»Davon bin ich überzeugt, Hoheit. Aber genauso überzeugt bin ich auch, daß Sie sich, wenn es darauf ankommt, in jeder Situation richtig verhalten werden, auch ohne es vorher in Romanen gelesen zu haben.«
Edina seufzte. »Wenn meine Eltern doch auch eine so gute Meinung von mir hätten. Ich glaube, vor allem Mutti schwebt immer in tausend Ängsten, wenn ich bloß den Mund aufmache.«
So hatte Edina den Butler mehr oder weniger unbewußt zu ihrem Vertrauen gemacht, und unwillkürlich wurde dem jungen Mann warm ums Herz. Er nickte der Prinzessin tröstend und aufmunternd zu.
»Das ist halb so wild, Prinzessin. Das bilden Sie sich nur ein. In Wahrheit sind Ihre Eltern ungemein stolz auf Sie.«
Edina seufzte erleichtert. Ihre Sorgen waren schon wieder verflogen.
»Das haben Sie nett gesagt, Archibald. Eigentlich sind Sie überhaupt sehr nett. Ich bin froh, daß Sie zu uns gekommen sind. Jetzt habe ich wenigstens jemanden, mit dem ich reden kann.«
Butler Archibald machte eine leichte Verbeugung.
»Ich werde bemüht sein, mich stets dieser Ehre würdig zu erweisen, Hoheit.«
*
»Ein Telefongespräch für Sie, Herr Archibald!«
Der Diener Jean meldete es mit unbewegtem Gesicht. Seine Antipathie gegen den neuen Butler hatte sich eher noch verstärkt. Er mochte gehofft haben, der Butler erfülle die Erwartungen nicht, die der König in ihn gesetzt hatte, so daß Aussicht bestände, daß er – Jean – doch noch den begehrten Posten erhielt.
Aber in dieser Beziehung wurde der Kammerdiener des Königs schwer enttäuscht. Er mußte anerkennen, daß unter Archibalds Leitung alles vorzüglich klappte. Der königliche Haushalt funktionierte reibungslos, und das gesamte Personal begegnete dem neuen Butler mit gehörigem Respekt.
Keine Chance also für den Diener Jean. Kein Wunder daher, daß es mit dessen Laune nicht gerade zum besten stand.
Doch davon ahnte Archibald nichts, und wenn, dann hätte es ihm sicher leid getan, den Mann um den begehrten Posten gebracht zu haben.
»Von wem kommt das Gespräch?« fragte er arglos.
»Der Herr nannte sich Miller und sprach mit amerikanischem Akzent. Er sagte, es handelte sich um eine Privatangelegenheit.«
Jean berichtete es so, als wäre diese Privatangelegenheit zumindest sehr anrüchig, doch Archibald achtete nicht darauf. Er wußte sofort, daß es zweifellos sein Freund Allan war, der da anrief.
Allan hatte seinen richtigen Namen nicht genannt, weil Noraway, die amerikanisierte Form von Norawa, hier sicherlich aufgefallen wäre.
Archibald nickte unbefangen. »Lassen Sie das Gespräch auf mein Zimmer legen, Jean. Ich komme sofort.«
»Sehr wohl, Herr Archibald.«
Das Zimmer des Butler war komfortabel eingerichtet, aber trotzdem fühlte sich der junge Lord hier noch nicht recht heimisch. Es fehlte eben doch manches, was er in seinem schönen Schloß in England und auch in seinen verschiedenen Junggesellenwohnungen gewohnt gewesen war, mehr oder weniger Luxusdinge, die für ihn unentbehrlich geworden waren.
»Hallo!« meldete er sich.
»Spreche ich mit dem Butler von Schloß Norawa?«
»So ist es.«
»Mit dem Butler Archibald?«
»Herr Archibald, wenn ich bitten darf!«
»Sehr wohl, Herr Archibald, altes Haus«, tönte nun die fröhliche Stimme von Allan Noraway aus dem Apparat. »Wie ich merke, hast du dich schon sehr gut in deine neue Rolle als Butler eingelebt.«
»Das ist doch selbstverständlich, mein Herr«, näselte Archie. »Hatten Höchstderognaden etwas anderes erwartet?«
»Aber nein, ganz und gar nicht, ich war von Anfang an auf das Schlimmste gefaßt. Aber nun laß den Quatsch, Archie. Sprich endlich wieder wie ein vernünftiger Mensch und laß mit dir reden!«
»Mit wem zu reden habe ich denn die Ehre?«
»Archie, willst du mich denn unbedingt auf die Palme bringen? Nun tue doch bloß nicht so, als hättest du nicht von Anfang an gewußt, daß ich mit dir sprechen will.
»Wer ist ich, mein Herr?«
»Allan Noraway, du Schaf! Und wenn du nicht augenblicklich diese Komödie aufgibst, bin ich in zwei Stunden dort und erzähle den Leuten, wer du wirklich bist. Aber vielleicht wäre dir das sogar recht angenehm. Ich könnte mir vorstellen, daß du es schon leid geworden bist, den Butler zu spielen.«
»Aber nein, ganz und gar nicht. Und komme nur nicht auf den Gedanken, hier aufzukreuzen. Ich würde mich fürchterlich rächen.«
Die beiden jungen Männer lachten herzlich, und Allan Noraway meinte: »Na, endlich mal wieder ein vernünftiges Wort von dir. Darf ich das so deuten, daß du schon eine Spur aufgenommen hast?«
Archie druckste etwas herum, denn genaugenommen hatte er sich um den eigentlichen Zweck seines Hierseins bisher überhaupt noch nicht gekümmert.
»Ach, weißt du«, meinte er zögernd, »das ist etwas schwierig, wenn man…«
»Nun ja, ich kann es mir schon denken«, entgegnete Allan unbefangen. »Du bist ja erst ein paar Tage dort und kannst nichts über Knie brechen. Außerdem mußt du dich erst einleben, die Aufgaben eines Butlers…«
»Schaffe ich spielend«, unterbrach da Archie und es klang fast ein wenig Entrüstung in seiner Stimme mit, denn er nahm an, daß der Freund gelinde Zweifel in seine Fähigkeiten als Butler setzen wollte. »Ich bin sicher, daß das Hauswesen auf Schloß Norawa noch nie so gut geklappt hat wie jetzt.«
»Na, davon bin ich überzeugt.« Allan Noraway lachte. »Immerhin
ist als sicher anzunehmen, daß sich die Könige von Norawa noch nie einen leibhaftigen Lord und künftigen Herzog als Butler geleistet haben.«
»Nun ja, wenn man es so sieht«, meinte Archie. »Aber du, es ist tatsächlich so, daß mir die Sache hier Spaß zu machen beginnt. Das Personal pariert aufs Wort, und die königliche Familie – nun ja, mit der ist auch ganz gut auszukommen.«
»Sag mal, Archie, gibt es da nicht auch eine Prinzessin?«
»Du meinst die kleine Edina? Ja, ja, die ist hier. Ein ganz bezauberndes Geschöpf.«
»Kleine Edina, sagst du? Meine Informationen gehen dahin, daß es sich um eine junge Dame handeln muß.«
»Nun ja, Edina ist siebzehn. Aber sie ist so süß, so zauberhaft, daß ich sie für mich immer nur kleine Edina nenne.«
»Aha!«
»Was heißt hier aha?«
»Nun, eben aha.«
»Sei nicht albern, Allan!«
»Bin ich auch nicht, Archie. Ich versuche nur, zwischen deinen Worten zu horchen. Und was ich da vernehme, ist höchst aufschlußreich.«
»Was sollte das denn sein?«
»Welche Haarfarbe hat deine Prinzessin?«
»Aber, erlaube mal!«
»Welche Haarfarbe?«
»Prinzessin Edina hat schwarzes Haar. Schulterlang und glänzend wie Seide.«
»Augen?«
»Wie meinst du das?«
»Wie sind sie?«
»Wunderschön! Ganz dunkelbraun, manchmal erscheinen sie fast schwarz und sind unergründlich.«
»Siehst du, ich habe es ja gleich gewußt. Die Prinzessin scheint genau dein Typ zu sein.«
»Du irrst dich. Ich schwärme für blonde Frauen mit blauen Augen.«
»Das glaubst du nur, mein Freund. Alle deine Freundinnen bisher waren blond und blauäugig, und war vielleicht die richtige Frau dabei?«
»Nein, aber…«
»Weil du dich für die falschen Frauen begeistert hast, mein Lieber! Du hast dich im Typ geirrt. Wenn du jetzt…«
»Schluß jetzt, Allan«, sagte Archie ungewohnt heftig. »Man sollte mit solchen Dingen keinen Scherz treiben. Zugegeben, ich habe mich ziemlich oft und schnell verliebt, aber da wußte ich immer gleich, daß es nur ein flüchtiges Gefühl sein würde.«
»Ist es diesmal etwa anders?«
»Es gibt kein diesmal. Ich weiß gar nicht, wie du darauf kommst. Und außerdem steht Prinzessin Edina unmittelbar vor ihrer Verlobung mit Fürst Drago von Lukorin.«
»Ist das wahr?«
»Sie hat es mir heute selbst gesagt.«
»Schade. Ich hatte es mir so schön vorgestellt, dich in meiner weiteren Familie begrüßen zu können. Aber nimm es nicht tragisch.«
»Wie sollte ich. Ich habe dir doch gesagt…«
»… daß dir Prinzessin Edina ganz und gar gleichgültig ist. Ich weiß, ich habe es auch aus dem Klang deiner Stimme herausgehört. Dann ist ja alles in Ordnung. Liebeskummer deinerseits war schließlich nicht eingeplant, als wir die Pläne für deinen Aufenthalt auf Schloß Norawa machten.«
»Man sollte dir dein ironisches Mundwerk stopfen, Allan«, entgegnete Archie Duncaster, ohne aber böse zu sein. »Doch warte, es wird auch noch mal eine Situation geben, in der ich mich revanchieren kann!«
»Das walte Gott.«
»Sag mal, Allan, hast du eigentlich nur darum hier angerufen, um einem armen Butler eine unerfüllte Liebe einzureden?«
»Aber nein, altes Haus. Das ergab sich. Der eigentliche Grund meines Anrufs ist viel ernster. Meine Mutter kommt nach Europa.«
»Da war sie doch, soviel ich weiß, schon öfter.«
»Natürlich. Aber diesmal hat sie ein bestimmtes Ziel, nämlich Schloß Norawa.«
»Wie bitte?«
»Du hast richtig gehört, Archie. Meine Mutter hat es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, die Herkunft unserer Familie restlos aufzuklären.«
»Aber sie weiß doch, daß ich…«
»Natürlich weiß sie das. Sie hat mir auch hoch und heilig versprochen, dich nicht bei deinen Nachforschungen zu stören. Sie will dich, wenn sie dir begegnet, nicht einmal kennen. Aber du weißt, daß meine alte Dame etwas eigenwillig und manchmal auch recht unberechenbar ist. Darum hielt ich es für richtig, dich zu warnen.«
»Danke.«
»Ja, und selbstverständlich werde ich auch in der Nähe bleiben. Wenn Mama es auch nicht gern hat, in diesem Fall werde ich sie ein bißchen überwachen müssen, denn ich möchte nicht, daß sie in ihrem Übereifer und in ihrer Hartnäckigkeit Dinge tut, die dann schließlich unangenehm und peinlich werden könnten.«
»Noch besser wäre es, wenn du ihr diese Europareise ausreden könntest, Allan.«
»Das ist unmöglich. Du kennst doch meine Mutter. Und außerdem ist sie, glaube ich, bereits unterwegs.«
Archie seufzte. »Na, da können wir wohl nichts mehr machen. Wäre nur schade, wenn deine alte Dame uns das ganze Konzept verderben würde.«
»Wir werden schon aufpassen, Archie. Aber es könnte nicht schaden, wenn du dich mit deinen Untersuchungen ein wenig beeilen würdest. Dann wären wir vielleicht schon am Ziel, ehe Mama hier einträfe.«
»Na ja, ich will mein möglichstes tun. Danke für deinen Anruf und die Warnung. Wir werden es schon schaffen. Du weißt, wenn ich einmal etwas in die Hand genommen habe, dann lasse ich so leicht nicht locker.«
»Das weiß ich, Archie. Alles Gute dann – und meine Empfehlung an die dunkeläugige Prinzessin!«
Noch ehe Archie etwas antworten konnte, hatte Allan bereits eingehängt, und Archie glaubte nur noch das leise Lachen des Freundes zu hören.
So ein Unfug! Als wenn er in die Prinzessin wirklich ernsthaft…
Ach, es hatte ja gar keinen Zweck, den Gedanken überhaupt zu Ende zu führen.
*
Ball auf Schloß Lukorin.
Es war ein gesellschaftliches Ereignis allerersten Ranges.
Die Säle waren durch den herrlichsten Blumenschmuck in wahre Gärten verwandelt worden, durch Hunderte von durftenden Wachskerzen feenhaft erleuchtet, und auf den dem Schloß vorgebauten Terrassen konnte man die laue Luft des wundervollen Sommerabends genießen.
In der riesigen marmorgetäfelten Eingangshalle empfing Fürst Drago von Lukorin an der Seite seiner Mutter die Gäste.
Er trug eine weiße Galauniform und sah fabelhaft aus mit seinem schwarzen Haar, dem dunklen Teint und den dunklen Augen mit den buschigen schwarzen Brauen.
Der Haushofmeister meldete die Ankunft des Königs von Norawa und seiner Familie.
Fürst Drago löste sich aus dem Kreis, in dem er gerade charmant plaudernd gestanden hatte, und ging den Neuankömmlingen entgegen.
Nicht allen Gästen war diese Auszeichnung widerfahren, aber dem König von Norawa war der junge Fürst besonders freundschaftlich verbunden. Außerdem spielten wohl auch die nahe Nachbarschaft und die hohe Stellung des Gastes eine Rolle.
Prinzessin Edina aber war überzeugt, der Fürst käme ihnen nur ihretwegen entgegen, und ihr junges Herz klopfte vor Freude und Glück.
Der Fürst sah noch viel besser aus, als sie ihn in Erinnerung gehabt hatte. Zuletzt hatte sie ihn beim Reiten gesehen, er trug damals eine schwarze Reithose und ein schlichtes weißes Hemd, und er war ihr da schon als die Verkörperung all ihrer Träume und Sehnsüchte erschienen.
Doch heute, in der herrlichen weißen, über und über mit Gold bestickten Uniform, mit den blitzenden Orden an der Brust – da glaubte Edina, so viel Glück gar nicht fassen zu können, daß es einen solch wunderbaren Mann überhaupt gab und der sie, davon war sie fest überzeugt, auch noch liebte.
Ihre Augen leuchteten wie schwarze Diamanten, und am liebsten wäre Edina dem Fürsten entgegengeeilt, hätte sich ihm in die Arme geworfen und sich überhaupt nicht um die vielen Anwesenden hier gekümmert.
Doch ein letztes Restchen Verstand hielt Edina noch zurück. Hatte sie sich nicht vorgenommen, sich immer wie eine Dame zu benehmen? Und war es nicht besonders wichtig, gerade hier einen guten, einen blendenden Eindruck zu machen? Fürst Drago sollte sich ihrer nie zu schämen brauchen, er sollte immer stolz auf sie sein können.
Also mußte sie ihr Temperament und ihre Sehnsucht bezähmen, sie mußte warten, bis sie vom Fürsten begrüßt wurde.
Zunächst verbeugte der Fürst sich vor der Königin, er küßte ihr die Hand und sagte ein paar freundliche Willkommensworte, von denen Prinzessin Edina aber in ihrer Aufregung nicht eines verstand.
Und dann endlich stand Fürst Drago von ihr.
»Donnerwetter«, sagte er ehrlich erstaunt, »ist das unser kleines Prinzeßchen? Sieh mal an, das Entlein hat sich zum Schwan gemausert. Ist ja eine richtige, bildhübsche Dame geworden. Willkommen auf Schloß Lukorin, Prinzessin Edina! Ich freue mich, Sie unter meinen Gästen zu wissen.«
Edina errötete vor Freude. Sie gefiel dem Fürsten also, gefiel ihm immer noch, sogar noch viel besser als vor einem Jahr. Nun ja, kein Wunder, sie trug ja auch das zauberhafte weiße Kleid mit dem mit Pailletten bestickten Oberteil, und sie hatte sich das Haar zurückfrisieren lassen, damit der aparte Schnitt ihres Gesichts voll zur Geltung kam.
Edina war sehr glücklich, sie sagte artig: »Ich habe mich sehr auf dieses Fest gefreut, Durchlaucht.«
Aber ganz tief in ihrem Herzen spürte sie eine winzige Enttäuschung. Hätte Fürst Drago sie nicht noch ein bißchen anders begrüßen können, ein bißchen herzlicher, inniger, nicht so onkelhaft?
Ja, onkelhaft, das war das richtige Wort. So war Fürst Drago gewesen, aber einen verliebten, einen liebenden Mann stellte die kleine Prinzessin sich ganz anders vor.
Doch, so tröstete sie sich, sie hatte ja noch gar keine Erfahrung. Sie wußte nicht, wie ein Mann sich in einer solchen Situation verhielt, vielleicht konnte Fürst Drago gar nicht anders. So würde es wohl sein.
Edina war schon wieder obenauf. Sie hatte für alles eine Erklärung, eine Entschuldigung, durch nichts wollte sie sich ihre Träume zerstören lassen, ihre wunderschönen Träume, die sie so unendlich glücklich machten.
»Kommen Sie, Prinzessin, ich führe Sie Ihrem Tischherrn zu.«
»Was war das? Edina hatte Mühe, die Worte zu begreifen, die die Fürstenmutter Edwiga zu ihr sprach.
»Ich hoffe, daß Sie sich mit dem Grafen Brosz gut unterhalten werden. Er hat mir versprochen, sich Ihnen ganz besonders aufmerksam zu widmen.«
Wie war das? Man hatte ihr einen anderen Tischherrn gegeben? Einen Grafen Brosz? Sie sollte nicht neben dem Fürsten sitzen, neben Drago, nach dem sie sich doch so sehr sehnte, von dem sie sich, das hatte sie sich schon vorgenommen, nie wieder trennen wollte.
Was hatte das zu bedeuten?
Wie in Trance folgte Prinzessin Edina der Fürstin, die mütterlich ihren Arm genommen hatte.
Edina bemerkte nichts von den bewundernden Blicken, die ihr von allen Seiten folgten, sie hörte keines der vielen Worte, mit denen die Ballbesucher sich gegenseitig den Namen dieser bezaubernden Prinzessin zuraunten, die bisher gesellschaftlich erst sehr wenig in Erscheinung getreten war.
Edina hörte nichts und sah nichts. Sie glaubte wieder einmal zu träumen. Aber diesmal war es ein Alptraum.
Graf Brosz war ein sehr netter junger Mann. Er war ein guter Freund des Fürsten, sah wie dieser blendend aus und war ebenfalls, was vor allem die Damen interessierte, die gern seine Schwiegermutter werden wollten, eine ausgezeichnete Partie.
Aber was kümmerte das schon die kleine Prinzessin Edina. Für sie gab es, davon war sie jedenfalls überzeugt, nur einen einzigen Mann auf der Welt, und das war der Fürst von Lukorin.
»Gefällt Ihnen das Fest, Prinzessin?« fragte Graf Brosz.
»Wie bitte?«
Edina war mit ihren Gedanken weit fort gewesen, und jetzt zuckte sie fast ein bißchen zusammen, als sie angesprochen wurde.
»Ich meine, ob Sie Gefallen an diesem Fest finden?« wiederholte Graf Brosz geduldig.
»O ja, es ist wunderschön!«
»Das finde ich auch. Nicht umsonst sind die Bälle von Schloß Lukorin berühmt. Aber Sie habe ich noch nie hier gesehen, Prinzessin.«
»Ich bin auch erst in diesem Jahr in die Gesellschaft eingeführt worden.«
»Ach ja, natürlich, das hätte ich mir denken können. Um so mehr freue ich mich, heute Ihr Tischherr sein zu dürfen.«
»Wer ist die Dame dort?« fragte Edina unverblümt, »die Fürst Drago am Arm führt und mit der er wohl den Ball eröffnen will?«
»Ach, Sie meinen Gräfin Valeska?« Graf Brosz lächelte. »Es wundert mich, daß Sie die Gräfin nicht kennen, sie ist ziemlich oft auf Schloß Lukorin.«
»Oft?«
»Aber ja, wenigstens in letzter Zeit. Gräfin Valeska hat sich lange im Ausland aufgehalten, doch nun ist sie wieder heimgekehrt. Fürstinmutter Edwiga hat früher wohl so etwas wie Mutterstelle bei ihr vertreten und…«
»Dann handelt es sich um eine Verwandte?« unterbrach Edina aufgeregt.
»Ja, es besteht eine entfernte Verwandtschaft, gewissermaßen um mehrere Ecken.«
»Also sind der Fürst und Gräfin Valeska Vetter und Base?«
»Nun ja, man könnte es so nennen, wenn auch…«
»Ach, es ist wunderschön auf diesem Fest!« Edina strahlte plötzlich. »Ich bin so vergnügt und so froh, ich könnte die ganze Welt umarmen.«
»Dann machen Sie doch bei mir den Anfang«, sagte der Graf, der sich wohl über die Sprunghaftigkeit der kleinen Prinzessin wundern mochte, sie aber trotzdem reizend fand.
Edina errötete leicht, denn sie merkte, daß ihr Temperament schon wieder mal mit ihr durchgegangen war. Aber sie hatte sich nicht beherrschen können, nachdem sich für sie mit einmal wieder alle Himmel geöffnet hatten, als sie hörte, daß der Fürst und diese Gräfin verwandt seien.
»Sie ist hübsch, diese Gräfin Valeska, nicht wahr?« bemerkte sie unbefangen.
Graf Brosz nickte.
»Ja, die Gräfin ist eine große Schönheit. Man findet diesen etwas herben Typ nicht oft.«
»Aber sie ist sicher älter als der Fürst.«
»Nein, nein, das nicht. Ihre königliche Haltung, das vollendet Damenhafte kann aber leicht dazu führen, daß man vergißt, eine junge Dame vor sich zu haben.«
Edina schaute ihren Partner verständnislos an. Sie begriff nicht, daß ein Mann in dieser Form von einer Frau schwärmen konnte.
Auch sie fand die Gräfin zwar schön, aber eben doch alt. Sie konnte sich, so meinte die Siebzehnjährige, in keiner Weise mit ihr selbst messen.
Aber trotzdem fand sie die Gräfin sympathisch, schon allein darum, weil ihr von dieser Seite keine Gefahr zu drohen schien.
Edina lächelte den Grafen Brosz so strahlend an, als dieser sie zum ersten Tanz führte, daß dem jungen Mann ganz warm ums Herz wurde.
Sollte er Chancen bei der kleinen Prinzessin haben? So übel wäre das nicht, sie war wirklich zauberhaft, und die Aussicht, Schwiegersohn des Königs von Norawa zu werden, war auch nicht schlecht.
»Hat Ihnen schon einmal jemand gesagt, daß Sie ein ganz bezauberndes Geschöpf sind, Prinzessin?« raunte er ihr beim Tanz keck ins Ohr.
»Ja«, antwortete Edina ernsthaft. »Und außerdem weiß ich es auch selbst.«
Das verschlug dem jungen Mann fast die Sprache. War das junge Ding nun schnippisch oder bloß naiv? Es war nicht klug aus ihr zu werden.
Schon bei einem der nächsten Tänze erschien Fürst Drago und holte die junge Prinzessin von Norawa. Man registrierte es, aber niemand maß dem eine besondere Bedeutung bei, denn die Prinzessin zählte zu den höchstgestellten Gästen, und es war ganz selbstverständlich, daß ihr gleich zu Beginn des Festes ein Tanz mit dem Gastgeber gebührte.
Doch für Prinzessin Edina war das anders. Jetzt, jubelte es in ihr, wird er kommen, jetzt wird es geschehen, jetzt wird er sage, daß er mich liebt…
Und vor lauter Glück fürchtete sie ohnmächtig zu werden.
Aber Edina wurde nicht ohnmächtig. Sie brachte es sogar fertig, damenhaft zurückhaltend zu lächeln, obwohl sie am liebsten gejauchzt und gejubelt hätte vor lauter Glück. Was würde der Fürst sagen? Wie würde er es sagen? Und was sollte sie antworten?
Die ersten Tanzschritte machten sie schweigend.
Edina hatte die Augen geschlossen. Sie tanzte wie auf Wolken, sie schien zu schweben, ein glückliches kleines Vögelchen.
Fürst Drago blickte sie an, und es überkam ihn eine leise Rührung. Er hatte Edina noch als Kind gekannt, und nun war sie unversehens zu einem so süßen Geschöpf herangewachsen.
»Wie lange haben wir uns nicht mehr gesehen, Prinzessin?« fragte er leise.
Edina öffnete die Augen, und der Mann erschrak fast über den schwärmerischen Ausdruck in dem Jungmädchengesicht.
»Es ist fast ein Jahr her«, hauchte Edina.
»Ein Jahr schon? Soso. Merkwürdig, ich hatte gedacht… Dieses Jahr hat Sie sehr verändert, Prinzessin. Ich sagte es Ihnen wohl schon bei der Begrüßung.«
»Ja.« Edina nickte.
»Hübsch sind Sie geworden. Eine reizende junge Dame.«
Edina schwieg und wartete weiter. Jetzt mußte es kommen. Jetzt mußte er sagen, daß er…
»Sind Sie gern zurückgekehrt nach Schloß Norawa, Prinzessin?«
»O ja, sehr gern! Ich konnte es kaum erwarten.«
»Das freut mich. Auch ich finde das Land hier wunderschön und komme immer wieder gern zurück. Man spürt es schon, wo man verwurzelt ist, nicht wahr?«
»O ja.«
»Na, ich denke, darüber werden wir uns noch öfter unterhalten können. Jetzt ist dieser Tanz leider vorbei, und ich muß mich um meine anderen Gäste kümmern. Darf ich Sie zu Ihrem Herrn zurückbringen, Prinzessin?«
Mechanisch legte Edina eine Hand auf den Arm des Fürsten, der sie quer durch den Saal zu ihrem Platz zurückführte.
Viele Blicke folgten ihnen, und manch einer der Anwesenden mochte denken, daß die beiden ein schönes Paar abgeben würden.
Aber das hatte man auch vorhin gedacht, als der Fürst mit Gräfin Valeska tanzte. Und außerdem war die Prinzessin von Norawa noch reichlich jung.
Edina konnte es nicht fassen, daß sie plötzlich wieder an ihrem Platz saß, daß Graf Brosz sich um sie bemühte, ihr Artigkeiten sagte. Sie konnte es nicht fassen, daß Fürst Drago mit ihr getanzt hatte, ohne ihr seine Liebe zu gestehen.
Sie war doch so sicher gewesen. Und nun? War nun alles vorbei?
Edinas Blicke folgten dem Fürsten, der gerade mit einer anderen Dame sprach, einer älteren Dame mit silberweißem Haar und in violetten Samt gehüllt trotz der sommerlichen Temperatur.
Da lächelte Edina wieder. Natürlich, der Fürst war ja der Hausherr. Er mußte sich um alle seine Gäste kümmern, ganz besonders zu Beginn des Festes. Er konnte sich nicht ausschließlich ihr widmen, wenn das wohl auch sein eigentlicher Wunsch war. Aber er hatte Rücksichten zu nehmen, und dafür hatte sie natürlich Verständnis.
Sie wollte nicht mehr ungeduldig sein. Sie wollte warten.
Und einmal, das glaubte sie ganz genau zu wissen, würde der Fürst zu ihr kommen, und dann mußte das geschehen, wonach sie sich so unbeschreiblich sehnte.
Prinzessin Edinas Optimismus war unverwüstlich, und für den Rest des Festes war sie sogar blendend gelaunt.
Wie jedes junge Mädchen freute sie sich darüber, daß sich die Tänzer förmlich um sie rissen, daß sie so viele Komplimente zu hören bekam wie in ihrem ganzen Leben noch nicht.
Trotzdem war sie in Gedanken immer bei Fürst Drago. Und alles Schöne, was man ihr sagte, so empfand sie in ihrem jugendlichen Überschwang, war eigentlich nur ein Kompliment für den Fürsten, dessen Gattin sie bald werden würde.
*
Der Butler Archibald nutzte die Abwesenheit der Königsfamilie, um sich nun endlich seinem ursprünglichen Ziel zu widmen. Er wollte nach den Dokumenten suchen, die bewiesen, daß die amerikanische Industriellenfamilie Noraway in direkter Linie von den Königen von Norawa abstammte.
Da der König davon nichts wissen wollte und jede Unterstützung verweigerte – nun, da würde es wohl auch auf diesem etwas ungewöhnlichen Weg gehen.
Im Grunde genommen war Archie darüber sogar ganz froh.
Was er ursprünglich als eine Art Ulk angesehen hatte, daß er sich in der Verkleidung als Butler auf Schloß Norawa einschleichen wollte, machte ihm jetzt Freude.
Vor allem war es die Prinzessin, die dem jungen Lord den Aufenthalt auf Schloß Norawa so versüßte.
Dabei war sich Archie durchaus noch nicht über seine eigentlichen Gefühle sicher. Es sah ganz so aus, als wäre die Prinzessin mit dem Fürsten von Lukorin so gut wie verlobt. Dieser Gedanke schmerzte, denn dadurch gab es ja keine Hoffnung mehr für ihn.
Doch Archie erlaubte es sich einfach nicht, sich darüber Gedanken zu machen. Er genoß die Gegenwart der Prinzessin. Jedesmal, wenn er Edina sah, ging für ihn die Sonne auf. Er freute sich an ihrem Anblick, er hörte sie gern plaudern und lachen, das allein schon stimmte ihn froh.
Archie wunderte sich über sich selbst. Bisher hatte er nichts von plantonischer Liebe gehalten. Wenn er eine Frau kennenlernte und sich für sie interessierte, dann setzte er auch alles daran, sie für sich zu gewinnen.
Merkwürdig, daß er bei der Prinzessin so ganz anders fühlte. Er konnte es sich nicht erklären. Aber es war schön, wirklich schön.
Archie war inzwischen zum Turmzimmer hinaufgestiegen, wo die Bibliothek untergebracht war.
Auf einem Regal, ziemlich hoch unter der Decke, stand eine ganze Reihe dicker, in Leder gebundener Folianten. Ob das die Chronik von Schloß Norawa und seinen Bewohnern war?
Archie zog die auf Schienen laufende Leiter heran und kletterte nach oben. Um sich die Mühe des ständigen Auf- und Absteigens zu ersparen, setzte er sich gleich auf die oberste Sprosse, nahm den ersten der schweren, recht staubigen Bände auf den Schoß und begann zu blättern.
Er hatte recht gehabt mit seiner Vermutung. Das hier war die Chronik, und hier müßte sich auch der Hinweis darüber finden lassen, ob und wann ein Sohn oder Bruder eines der Könige von Norawa nach Amerika ausgewandert war.
Archie vertiefte sich in das Studium der Blätter. Mit der Hand hatten die Chronisten vergangener Jahrhunderte auf feinstes Pergament geschrieben, und das, was sie für die Nachwelt festgehalten hatte, war gar nicht so leicht zu entziffern.
Manchmal war die Tinte schon verblaßt, manche Bücher waren eingerissen und dann war es für Archie auch recht schwer, die alte Sprache zu verstehen.
Aber er fand sich zurecht, er las sich ein. Und dann kam eine Stelle, wo es interessant wurde. Im 17. Jahrhundert war es, als von einem erbitterten Streit zwischen zwei Brüdern die Rede war, einem Streit, der in Feindschaft überging.
Archie witterte eine Spur, gespannt blätterte er um – um dann enttäuscht auszuatmen.
Es ging nicht weiter in der Schilderung dessen, was ihn so interessierte. Eine belanglose Aufzählung von Lehensangaben folgte. Wieso war das möglich?
Archie verglich die Seitenzahlen und pfiff dann leise durch die Zähne. Aha, so war das also! Es fehlte eine ganze Reihe von Blättern.
Gespannt beugte Archie sich tiefer über das dicke Buch, nun wollte er es genau wissen. Und tatsächlich, wenn ihn nicht alles täuschte, waren diese fehlenden Seiten erst in neuerer Zeit aus dem Folianten getrennt worden.
Dafür konnte es nur eine Erklärung geben: König Maximilian Peter mußte es getan haben.
Durch die Bemühungen der amerikanischen Familiensache aufmerksam gemacht worden, vielleicht war sie ihm auch so nicht unbekannt gewesen. Er wollte aber nicht, daß die Geschichte bekannt würde, und so hatte er die alten Aufzeichnungen einfach aus der Chronik entfernt.
Lord Archibald klappte das Buch zu und schmunzelte.
»So einfach geht das nun doch nicht, lieber König«, murmelte er, während er mit einiger Mühe das schwere Buch wieder an seinen erhöhten Platz hob. »Es gibt nämlich einen Butler im Schloß, der nun erst recht neugierig geworden ist. Mal schauen, wo sich die hier fehlenden Seiten befinden. Ich wette, das wird eine höchst interessante Lektüre.«
Archie fühlte sie wie ein Detektiv, der eine heiße Spur aufgenommen hat. Er vergaß seine Rolle als Butler, vergaß die steife Würden, die er sich für diese Rolle selbst auferlegt hatte, und ging vergnügt pfeifend aus dem Turmzimmer.
So bemerkte er auch nicht, daß sich jemand schnell in eine Mauernische preßte, während er über die Marmortreppe nach unten stieg. Ohne sich weiter umzublicken, ging Archie zum Arbeitszimmer des Königs.
Zwar meldeten sich bei ihm leise Skrupel, denn selbstverständlich hatte auch ein Butler nicht das Recht, das Arbeitszimmer des Hausherrn zu durchsuchen. Aber was sollte er schon anderes tun? Er hatte es sich nun einmal in den Kopf gesetzt, diese Sache aufzuklären, und da durfte er nicht zu zimperlich sein.
Außerdem war er ganz sicher, daß er nicht vom König überrascht werden konnte, denn die königliche Familie befand sich auf Schloß Lukorin. Und vom Personal würde ihm ganz sicher niemand Fragen zu stellen wagen, falls er wirklich gesehen werden sollte.
Aber er hatte nicht mit der Hartnäckigkeit und dem eifersüchtigen Haß des Kammerdieners Jean gerechnet.
Jean nämlich war es gewesen, der ihm rasch ausgewichen war, als er die Turmbibliothek verließ. Und Jean beobachtete ihn auch aus angemessener Entfernung, als er das Arbeitszimmer des Königs betrat.
Jean war von Natur aus mißtrauisch, und dieses Mißtrauen wurde noch genährt von der Hoffnung, dem verhaßten Nebenbuhler endlich eines auszuwischen.
Wenn er ihn hier bei einer Unkorrektheit, vielleicht sogar bei einem größeren Diebstahl überraschte… Jean sonnte sich schon in der Vorstellung, wie ihm der König zu Dank verpflichtet sein würde und wie leid es diesem dann sicherlich tun würde, daß er ihn, seinen treuen Diener, so verkannt hatte.
Jean folgte dem Butler nicht sofort in das Arbeitszimmer, das am Ende eines langen Ganges im Südflügel des Schlosses lag, sondern er ließ erst eine Weile verstreichen. Schlau überlegte der Diener nämlich, daß die Chance, den anderen auf frischer Tat zu ertappen, um so größer sein müsse, wenn dieser erst Zeit für die Vorbereitungen hätte. Zeit nämlich, um zum Beispiel den Schreibtisch aufzubrechen.
Dem Diener klopfte das Herz. Ob es nicht vielleicht sogar gefährlich war, wenn er so einfach, und dazu auch noch unbewaffnet, den anderen überrumpelte? Es konnte immerhin sein, daß man es mit einem wirklichen Verbrecher zu tun hatte.
Aber Jean verdrängte diese Furcht. Sein Jagdeifer war stärker. Und auch sein Ehrgeiz, den Butler zu überführen.
Jetzt wäre wohl der richtige Augenblick.
Forsch drückte er die Türklinke herunter, nachdem er vorher noch ein großes Staubtuch aus der Tasche seiner Dienerjacke hervorgezogen hatte.
Archie stand am Schreibtisch. Er hatte gerade die schwere Ledermappe zugeklappt, in der der König seine Korrespondenz aufzubewahren pflegte. Nur für einen Moment war er erschrocken, und dann auch nur ganz unmerklich.
Langsam wandte er den Kopf, sah das lauernde Gesicht des Dieners und ahnte sofort die Zusammenhänge.
So war das also. Und jetzt war ihm auch so, als wäre im Turm jemand gewesen, den er nur nicht beachtet hatte. Der Diener spionierte ihm also nach.
»Was gibt es?« fragte Butler Archibald, und seine Stimme klang noch hoheitsvoller, noch näselnder als sonst.
»Ich wollte – ich dachte…«
Der Diener Jean war ganz aus dem Konzept gebracht. Er hatte erwartet, einen überraschten, schuldbewußten Mann anzutreffen, über den er triumphieren wollte. Aber daß nun sofort die Angelegenheit umgedreht wurde, daß er selbst sich rechtfertigen sollte, das verwirrte ihn.
Da fiel ihm das Staubtuch ein, und fast erleichtert sagte er: »Ich wollte Staub wischen.«
»Jetzt?« fragte Archibald und zog eine Augenbraue hoch.
»Ja, natürlich«, erwiderte Jean trotzig. »Wenn Seine Majestät zurückkommt, muß alles in Ordnung sein, nicht wahr?«
»Gut, dann kommen Sie in einer halben Stunde wieder«, erklärte Archie. »Sie sehen, daß ich hier zu tun habe.«
Dann wandte er sich wieder der großen Mappe zu und kümmerte sich nicht mehr um den Diener.
Diesem blieb nichts anderes übrig, als den Raum zu verlassen. Er tat es in großer Verwirrung, denn er wußte nicht, was er von der Angelegenheit halten sollte.
Einen schuldbewußten Eindruck hatte der Butler ganz gewiß nicht gemacht. Bewegte er sich also gar nicht auf unrechten Wegen? War es nichts Unerlaubtes, was er da tat, handelte er womöglich auf Befehl des Königs?
Fast neigte Jean schon dazu, es anzunehmen. Und wenn er nun käme und den Butler anzuschwärzen versuchte, dann würde er sich wahrscheinlich nur ins eigene Fleisch schneiden, würde sich beim König eine böse Abfuhr und vielleicht sogar noch mehr holen.
Nein, ihm war der Wind aus den Segeln genommen, er konnte nichts tun, denn er wußte nichts.
Jean stopfte das Staubtuch wieder in die Tasche und ballte die Hand zur Faust.
Ich werde aufpassen, schwor er sich. So ganz war er nämlich noch nicht von der Harmlosigkeit des Butlers überzeugt, und nun wollte er erst achtgeben. Sollte der Butler etwas im Schilde führen, dann würde er, der Diener Jean, ihn entlarven.
Im Arbeitszimmer atmete Archie auf. Er mußte künftig vorsichtiger sein. Wenn er auch kein schlechtes Gewissen hatte, so wäre es doch unangenehm, wenn man ihn in die Enge trieb. Er konnte dann nicht länger auf Schloß Norawa bleiben. Und das bedeutete, daß der Freund die Gewißheit nicht erhielte, die ihn doch so sehr interessieren mußte. Und außerdem…
Ja, außerdem bedeutete das für Archie auch eine Trennung von der kleinen Prinzessin, in deren Nähe er sich so wohl fühlte.
Nein, nein, darauf wollte er es nicht ankommen lassen.
Er wollte seinen Aufenthalt auf Norawa so lange wie möglich ausdehnen. Und es würde ihm nicht schwerfallen.
Ein wenig klüger als der Diener Jean war er ja schließlich allemal.
*
Am nächsten Morgen frühstückte die kleine Prinzessin Edina allein.
Sie hatte nach dieser langen Ballnacht richtig ausschlafen dürfen, während das Königspaar bereits seinen täglichen Pflichten nachging.
Archie richtete es so ein, daß er die Prinzessin im Frühstückszimmer bediente. Das war an sich nicht ungewöhnlich, denn auf einer Kredenz war bereits alles angerichtet, und oft bedienten sich die Mitglieder der Königsfamilie von dort aus sogar selbst.
Damit hatte wohl auch Edina gerechnet, denn als sie den Butler sah, leuchtete es in ihrem Gesicht auf.
»Fein, daß Sie hier sind, Archibald«, sagte sie herzlich. »Ich dachte schon, weil ich doch so spät bin, müßte ich ganz allein hier sitzen.«
»Sehen Sie, und weil ich genau das gleiche dachte, Hoheit, habe ich es so gerichtet, daß ich jetzt hiersein kann.«
Fast ein wenig zu schwungvoll goß Archie der Prinzessin aus der silbernen Kanne Kakao ein, um ein Haar hätte er gespritzt, und dann wäre das reizende Kleid aus mohnrotem Leinen verdorben gewesen.
Aufpassen, Archie, mahnte er sich selbst. Nicht zu übermütig werden, alter Junge! Ein Butler ist immer perfekt, auch wenn er am liebsten etwas ganz anderes machte.
Edina nahm bereits einen großen Schluck.
»Hm, herrlich!« meinte sie seufzend. »Ich habe Hunger wie ein Wolf. Ich glaube, ich werde heute furchtbar viel essen.«
»Dann wünsche ich Ihnen, daß es Ihnen schmeckt, Hoheit.« Archie lächelte. »Haben Sie sich gestern gut amüsiert?«
»Sie meinen auf dem Ball, Archibald? Ach ja, es war ganz toll. Ich habe getanzt und getanzt, fast ohne Pause die ganze Nacht, ich wurde überhaupt nicht müde. Aber das kam sicher, weil meine Tänzer alle so besonders nett zu mir waren.«
»Sicher, Hoheit. Wenn man vergnügt und glücklich ist, spürt man keine Müdigkeit.«
»Glücklich? War ich denn glücklich? Eigentlich hatte ich ja gedacht…«
»Wie bitte, Hoheit?«
»Ach, es ist vielleicht dumm, darüber zu reden, und Mutti würde möglicherweise auch schimpfen. Aber bei Ihnen macht es doch nichts, Archibald, nicht wahr? Sie sind doch so etwas wie mein Vertrauter.«
»Ich fühle mich sehr geschmeichelt, Hoheit.«
»Ich will nicht schmeicheln, ich will nur reden, ohne immer Angst haben zu müssen, daß ich etwas falsch mache. Und Sie wissen doch ohnehin, daß der Fürst von Lukorin und ich…«
»Es gab keine Verlobung, Hoheit?« fragte Archie rasch.
»Nein, nicht direkt«, antwortete Edina zögernd und rührte wie selbstvergessen in ihrer Kakaotasse. »Aber das heißt nichts, gar nichts heißt das. Wir werden uns verloben, ganz bestimmt. Aber so plötzlich geht das nicht. Dazu braucht man eine gewissen Vorbereitungszeit, und die Eltern müssen sich auch gegenseitig besprechen und so. Gestern war dafür die Zeit zu kurz.« Edina legte den Löffel entschlossen neben die Tasse. »Aber lange wollen wir trotzdem nicht mehr warten.«
Archie hatte die Prinzessin heimlich beobachtet. Die Tatsache, daß es noch keine Verlobung gegeben hatte, erleichterte ihn ungemein und machte ihn sehr froh, aber so recht klug wurde er nicht aus den Reden des jungen Mädchens.
Manchmal hatte er den Verdacht, daß Edina nur ein bißchen phantasierte, daß sie sich die Liebesgeschichte nur einbildete, wie es junge Mädchen oft tun.
»Ich wünsche Ihnen, daß Sie recht glücklich werden, kleine Hoheit!« sagte Archie innig, und verwirrt blickte Edina auf.
Da war etwas in der Stimme gewesen, was sie irritierte, etwas, was sie noch nicht kannte, was aber sehr angenehm war.
Sie fühlte, wie sie ganz leicht errötete. Seltsamerweise störte es sie diesmal nicht, während sie sich sonst immer sehr darüber ärgerte.
»Sie sind nett, Archibald«, bemerkte Edina. »Ich mag Sie sehr.«
Hoppla! Jetzt hätte der Butler Archibald doch beinahe mit dem Ärmel die Kanne umgeworfen.
Edina war es, die mit beiden Händen zugriff und buchstäblich in letzter Sekunde das Unglück verhinderte.
»Oh, das hätte leicht schiefgehen können!« sagte sie aufatmend und ein bißchen triumphierend.
Sie schaute Archie an, dieser blickte sie an – und dann lachten sie beide wie zwei vergnügte, glückliche Kinder.
*
»Edina, ich habe gerade die Post durchgesehen«, erklärte Königin Ilara Theresia, »es gibt eine Überraschung für dich.«
»Eine Überraschung, Mutti?«
Edinas Herz klopfte wie rasend, denn natürlich, wie könnte es anders sein, dachte sie gleich an den Fürsten von Lukorin.
Doch nicht er hatte geschrieben, die Überraschung kam von anderer Seite, und wenn es bei Edina eine ganz kleine Enttäuschung gab, so war dieses doch fast sofort vergessen.
»Besuch hat sich angesagt für dich, Edina. Was glaubst du wohl, wer nach Norawa kommen will?«
»Ich habe keine Ahnung.«
»Dabei hast du selbst deine Freundin doch immer wieder bestürmt, daß ihr eure Ferien zusammen verleben wolltet.«
»Ernestine kommt?«
»Ganz recht, Edina.« Die Königin lachte. »Baronesse Ernestine von Wallenberg kündigt ihr Kommen an. Sie wird morgen schon hiersein.«
»Mutti, das ist ja herrlich. Ach, wie ich mich freue! Wir werden es uns wunderschön machen. Ich werde Ernestine alles zeigen, sie war ja noch nie hier. Darf sie die Räume neben meinen beziehen, Mutti?«
»Natürlich, warum nicht. Du kannst gleich bei den Vorbereitungen mithelfen.«
Edina war sofort Feuer und Flamme.
Gerade in diesem Moment, wo ihr das Herz so voll war, brauchte sie jemanden, mit dem sie reden konnte. Ernestine würde für alles Verständnis haben, sie war ja selbst jung und, wie Edina wußte, in einen Grafen verliebt.
Baronesse Ernestine von Wallenberg reiste am nächsten Tag an. Sie war eine große, schlanke Blondine und wirkte etwas älter als Edina, obwohl sie es nicht war.
Ihre Ankunft hatte sich etwas verfrüht, so daß Edina nicht, wie sie es eigentlich wollte, bereits an der Mole auf die Freundin wartete. Baronesse von Wallenberg wurde in der Halle des großen Schlosses vom Butler begrüßt.
»Darf ich Sie im Namen Seiner Hoheit des Königs von Norawa und dessen Familie auf Schloß Norawa willkommen heißen, Baronesse«, sagte Archie gewandt und machte eine tadellose Verbeugung.
»Danke!« erwiderte Ernestine ein wenig von oben herab. Dienstboten jeder Art waren für sie uninteressant, und außerdem war sie ein bißchen enttäuscht, Edina nicht gleich hier zu sehen. »Ich möchte…«, sagte Ernestine und stutzte. Jetzt erst sah sie den Butler richtig an, und die Verblüffung, die sich auf ihrem hübschen Gesicht zeigte, war echt. »Wer sind Sie?« fragte sie ohne Umschweife.
Auch das sonst immer so unbewegte Gesicht des Butlers Archibald hatte sich ein wenig verändert, es wirkte überrascht, um nicht zu sagen, bestürzt.
Verflixt, daß er auch an eine solche Möglichkeit nicht gedacht hatte!
Natürlich war er informiert darüber, daß der Besuch einer Freundin der Prinzessin erwartet wurde, er hatte ja selbst die Vorbereitungen dazu überwacht. Und selbstverständlich war ihm auch der Name des Besuches genannt worden. Archie hatte sich nichts dabei gedacht.
Doch nun wußte er, daß er unaufmerksam gewesen war.
Der Name hätte ihm nämlich etwas sagen müssen. Er hätte ihm vertraut sein müssen, denn ein Baron von Wallenberg war sein Studienfreund gewesen. Diesen Freund hatte er einmal in dessen Stammschloß besucht, und dort hatte er neben der weiteren Familie auch die Schwester des Freundes kennengelernt.
Damals war sie zwar noch ein Schuldmädchen gewesen – aber sie hieß Ernestine. Ja, daran hatte er denken müssen, denn diese Ernestine – sie stand nun vor ihm, und sie hatte ihn erkannt.
Was tun? Archie war sonst nicht so schnell aus dem Konzept zu bringen, aber diesmal verschlug es ihm doch für einen Augenblick die Sprache. Hier half nur noch die Flucht nach vorn. Es würde keinen Sinn haben zu leugnen.
Er konnte nicht einfach behaupten, die Baronesse müsse sich irren, er sei nicht derjenige, für den sie ihn hielt. Diese Ernestine von Wallenberg sah nämlich ganz so aus, als wäre sie recht intelligent und keineswegs leicht hinters Licht zu führen.
Nein, so ärgerlich er auch war, er mußte die junge Dame einweihen, wenigstens zum Teil. Und er mußte sie bitten, den Mund zu halten.
Oder er konnte gleich die Koffer packen, ohne sein Ziel erreicht zu haben. Und das wollte Archie auf keinen Fall.
»Baronesse Ernestine…«, begann er, doch weiter kam er nicht.
Edina hatte nämlich inzwischen erfahren, daß die so sehnlichst erwartete Freundin bereits eingetroffen war, und wie ein Wirbelwind kam sie die in einem weiten Bogen geschwungene Treppe heruntergerannt.
»Ernestine!« rief sie schon von oben. »Liebste, da bist du ja! Ach, wie ich mich freue! Ich konnte deine Ankunft kaum erwarten, und nun habe ich sie beinahe doch verpaßt! Du, ich freue mich ja so.«
Edina fiel der Freundin um den Hals, ohne sich um das Personal zu kümmern. Sie küßte Baronesse Ernestine auf beide Wangen und war ganz außer sich vor Freude.
Das war natürlich nicht der richtige Zeitpunkt, an dem Archie zu weitschweifigen Erklärungen hätte ansetzen können.
Doch über Edinas Schulter hinweg blickte Ernestine ihn an. Da legte Archie schnell einen Finger an die Lippen und warf dem jungen Mädchen einen beschwörenden Blick zu.
Ernestine nickte unmerklich. Sie hatte also verstanden.
Archie atmete heimlich auf. Das war gerade noch einmal gutgegangen.
*
»Komm, Ernestine, ich zeige dir deine Zimmer«, sagte Edina und hakte die Freundin unter. »Hoffentlich gefallen sie dir. Sie liegen direkt neben den meinen, und man hat von den Fenstern aus einen wunderschönen Blick auf das Meer. Oder möchtest du lieber aufs Land schauen? Dann mußt du zu mir kommen, von meinem Eckfenster aus sieht man das Land und sogar Schloß Lukorin, wenn die Sicht klar ist, aber ich…«
Ernestine von Wallenberg hörte nur ganz nebenbei auf das, was Edina plapperte. Diese Begegnung mit dem Lord of Duncaster hatte sie nachdenklich gestimmt, und zu gern hätte sie gewußt, was dahintersteckte.
»Ist dieser Butler schon lange bei euch?« fragte sie aus diesen Gedanken heraus.
»Ach, du meinst Archibald? Nein, Vati hat ihn erst kürzlich verpflichtet. Wir sind alle froh, daß er da ist. Er ist sehr nett, ich mag ihn. Und tüchtig ist er, glaube ich, auch.«
»Aha!«
»Warum fragst du überhaupt danach?«
»Ach, fiel mir nur so ein. Du, wie ist es schön hier. Das ist ja wie eine Filmkulisse.«
Die beiden Mädchen hatten inzwischen die obere Etage erreicht, wo ihre Wohn- und Schlafräume lagen.
Edina hatte die Tür zu Ernestines Appartement geöffnet, und der Bewunderungsruf der jungen Dame war schon berechtigt, denn die Räume waren auf eine ganz zauberhafte Art eingerichtet.
Das Wohnzimmer war im Biedermeierstil gehalten, mit kostbaren Möbeln und behaglichen Sesseln ausgestattet. Aber noch mehr begeisterte Ernestine sich für das Schlafzimmer. Der Boden war ganz mit langhaarigen, seidigen Angorafellen ausgelegt, die Wände waren mit meergrüner Seide bespannt, und von der Decke her umhüllte ein kunstvoll geraffter Himmel aus der gleichen meergrünen Seide das freistehende Bett.
»Das ist wunderschön!« sagte Ernestine beinahe andächtig. »Hier könnte eine Königin schlafen.«
»Nicht wahr?« Edina nickte stolz. »Ja, mein Bett ist genauso, aber ich habe rosa Seide. Wenn ich morgens erwache, ist die Welt immer gleich ganz rosig für mich.«
Die beiden Freundinnen lachten.
»Na, das hier ist ja auch ein Paradies«, meinte Ernestine. »Ich glaube, hier kann man gar keine Sorgen haben.«
»Na, ich weiß nicht.« Edina seufzte ein bißchen. Immerhin wartete sie schon ein paar Tage auf Nachricht von Schloß Lukorin. Ob das wohl Sorgen waren?
»Komm, Ernestine, packen wir deine Kleider aus. Es ist dir doch recht, daß ich die Zofen weggeschickt habe? Ich finde, so etwas bereitet viel mehr Spaß, wenn man es selbst macht.«
»Du bist ja nur neugierig auf meine neuen Kleider«, spöttelte Ernestine.
Edina gab es unumwunden zu.
»Klar bin ich gespannt. Du hast immer so schicke Sachen. Nicht wahr, du zeigst mir doch alles?«
»Aber gewiß, Liebes. Vor allem mein Lieblingskleid wird dir gefallen. Ich habe es mir kürzlich aus London mitgebracht.«
London war wie ein Stichwort für Ernestine. Sofort fiel ihr wieder der junge Lord ein, der hier im Schloß als Butler arbeitete, und sie brannte förmlich darauf, die Gründe für diese Maskerade zu erfahren.
»Weißt du, ob euer Butler früher in England gearbeitet hat?« fragte sie unvermittelt.
»In England? Weiß ich nicht. Aber er ist, glaube ich, Engländer. Komisch, aber ich habe mir darüber noch nie Gedanken gemacht. Dabei ist er so nett.«
»Das sagst du jetzt schon zum zweitenmal, Edina.«
»Wirklich? Nun ja, er ist anders als unsere früheren Butler. Man kann richtig gut mit ihm reden, weißt du, wie mit einem echten Freund.«
»Das klingt gerade so, als seiest du verliebt in euren Butler.«
»Ach, Unsinn! Wie kannst du nur auf einen solch dummen Gedanken kommen, Ernestine. In einen Butler kann man sich doch nicht verlieben, und ich…«
»Aber wenn er kein Butler wäre, sondern vielleicht, na, sagen wir mal, ein Adliger, könntest du dich dann in Herrn Archibald verlieben?«
»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht, und ich tue es auch nicht, weil es doch Unsinn ist. Archibald ist kein Adliger. Das gibt es doch gar nicht. Vati hat gerade gestern noch gesagt, Archibald wäre der geborene Butler.«
»Aber wenn er nicht…«
»Ach, Ernestine, es ist dumm, was du da denkst. Archibald ist sehr nett, und ich bin froh, daß er hier ist, aber verliebt bin ich in einen ganz anderen Mann.«
»Du bist verliebt, Edina?«
Ernestine ergriff die Freundin bei den Schultern und zog sie zu sich heran.
»Richtig verliebt?« fragte sie eifrig. »Oder ist es nur eine Schwärmerei?«
»Nein, es ist eine ernste Liebe«, erklärte Edina mit Grabesstimme und war selbst von dem überzeugt, was sie sagte. »Schon darum, weil es sich nicht um einen Jungen in unserem Alter handelt, in die wir während unserer Schulzeit verliebt waren, sondern es ist ein richtiger Mann.«
»Das ist ja himmlisch, Edina! Wirst du ihn heiraten?«
»Aber selbstverständlich! Jede richtige Liebe führt doch zur Heirat, nicht wahr?«
»Na, ich weiß nicht. Nur wenn man Glück hat. Es gibt doch auch viele unglückliche Lieben.«
»Stimmt, aber meistens doch nur im Roman. Im Leben ist das anders. Und außerdem haben sich bisher immer alle meine Wünsche erfüllt, und dabei habe ich mir noch nie etwas so sehr gewünscht wie jetzt, wo ich nichts anderes will, als mich so schnell wie möglich mit dem Fürsten zu verloben.«
»Mit einem Fürsten?«
»Du hast schon richtig gehört, Ernestine«, Edina straffte sich unwillkürlich etwas. »Ich liebe einen Fürsten und werde bald seine Fürstin sein.«
»Erzähl, Edina! Meine Güte, ich platze vor Neugierde.«
So gab es während der nächsten Stunden genug Gesprächsstoff für die beiden Freundinnen, und Ernestine vergaß für eine Weile den geheimnisvollen Butler.
*
Aber Baronesse Ernestine war hartnäckig. Wenn sie sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann ließ sie nicht locker. Und sie wollte nun einmal unbedingt wissen, warum der junge Lord hier war.
Am nächsten Morgen behauptete sie, Kopfschmerzen zu haben, als Edina kam, um sie zu wecken.
»Bist du mir böse, Edina, wenn ich noch ein bißchen liegenbleibe? Die Reise hat mich doch wohl angestrengt, ich möchte mich noch ein wenig ausruhen. Warte aber bitte nicht auf mich mit dem Frühstück, ich werde ohnehin nichts essen können.«
»Ich würde aber gern auf dich warten.«
»Es ist wirklich nicht nötig, Schatz, und außerdem würde es mich nur belasten. Dann müßte ich doch bald aufstehen, weil ich dich nicht so lange warten lassen möchte, während ich sonst ganz unbesorgt liegenbleiben kann.«
»Na gut, wenn du es so siehst. Werde ich also zum Frühstück hinuntergehen, ich habe nämlich gewaltigen Hunger. Ruh dich aus, Ernestine, und gute Besserung!«
»Danke, Edina! Es wird sicher bald wieder in Ordnung sein.
Ernestines Plan war einfach. Sie erschien erst im Frühstückszimmer, als sie sicher sein konnte, niemanden von der Familie noch dort anzutreffen. Aber da sie Gast war, rechnete sie damit, daß der Butler persönlich sich um sie kümmern würde.
Zunächst sah es so aus, als hätte sie sich verrechnet, denn ein Diener servierte ihr das Frühstück. Ernestine ließ es sich gut schmecken, und dabei überlegte sie, was sie unternehmen konnte, um zu ihrem Ziel zu kommen.
Sie schlenderte in die Halle und betrachtete angelegentlich die Bilder, die dort hingen, obwohl diese sie im Grunde gar nicht interessierten. Eine Ahnengalerie gab es schließlich auch auf Schloß Wallenberg.
Trotzdem heuchelte sie Interesse, und sie hatte auch Glück, denn der Butler kam in die Halle, ohne daß sie erst lange hätte warten müssen.
»Ach, Archibald, gut, daß ich Sie sehe«, sagte Ernestine wie beiläufig. Sie tat sehr hochmütig, aber in ihren Augen blitzte der Schalk. »Die Blumen in meinem Zimmer gefallen mir nicht. Ich hätte gern andere.«
Archibald verneigte sich leicht. Es waren zwei Lakaien in der Nähe, und er mußte auf das Spiel eingehen.
»Wie Sie wünschen, Baronesse. Ich werde den Gärtner informieren.«
Ernestine krauste unmutig die Stirn.
»Mir wäre es lieber, wenn Sie die Angelegenheit selbst in die Hand nähmen.«
»Aber…«
»Bei mir zu Hause ist es üblich, daß unser Butler sich um alles kümmert, Archibald. Wir haben nämlich einen ausgezeichneten Butler. Doch natürlich sind solche Fähigkeiten nicht jedem gegeben. Ich werde…«
Archie lächelte sarkastisch.
»Schon gut, Baronesse. Sie wünschen also, daß ich Sie in den Garten begleite?«
Ernestine lächelte.
»Sehen Sie, Archibald, wie gut wir uns verstehen. Gerade das war es, worum ich Sie bitten wollte.«
Im Garten kam Ernestine dann gleich zur Sache.
»Sie haben mir sicher einiges zu erklären, Lord Archibald.«
Archie zuckte regelrecht zusammen, die Anrede war ihm ungewohnt geworden.
»Bitte lassen Sie den Lord weg«, sagte er rasch. »Es wäre mir unangenehm, wenn es jemand hören würde.«
»Hier sind wir allein.«
»Natürlich, aber trotzdem…«
»Warum spielen Sie diese unwürdige Rolle als Butler?«
Archie hatte seine gute Laune schon wiedergefunden.
»So unwürdig ist die Rolle gar nicht. Sie macht mir sogar Spaß. Und Sie müssen doch zugeben, daß ich ein ausgezeichneter Butler bin.«
»Das kann ich noch nicht beurteilen, ich bin erst seit gestern hier. Aber man scheint hier auf Norawa recht zufrieden mit Ihnen zu sein. Edina hat direkt von Ihnen geschwärmt.«
»Ist das wahr?« fragte Archie, viel zu spontan; denn Ernestine blickte ihn erstaunt an.
Sollte er vielleicht auch Feuer gefangen haben? Spielte sich doch etwas ab zwischen der Prinzessin Edina und dem Butler, der in Wahrheit ein Lord war?
Aber nein, beruhigte Ernestine sich gleich wieder. Sie dachte an die begeisterte, schwärmerische Erzählung ihrer Freundin, die nur den Fürsten von Lukorin im Kopf hatte. Der Butler paßte da gar nicht ins Bild.
»Natürlich, warum sollte ich es sonst sagen«, antwortete Ernestine also gleichmütig.
Archie hätte sich ohrfeigen können. Er benahm sich wie ein Pennäler. Was sollte das bloß, zumal er sich gar nicht klar darüber war, wie er eigentlich zu der Prinzessin stand.
»Na, was ist?« fragte Baronesse Ernestine.
Archie setzte sein charmantestes Lächeln auf.
»Sie können sich denken, Baronesse, daß meine Anwesenheit einen besonderen Grund hat. Ich möchte Sie nur bitten, zu schweigen und mich nicht zu verraten.«
»Dazu möchte ich aber wissen, was gespielt wird.«
»Sind Sie immer so neugierig?«
»Alle Frauen sind neugierig. Warum sollte ich eine Ausnahme machen. Und außerdem, es könnte ja sein, daß hier etwas gespielt wird, das – nun ja, was der König erfahren müßte, und ich will mich nicht mitschuldig machen.
Archie lachte laut und herzlich.
»Zügeln Sie Ihre Phantasie, Baronesse! Sie könnte leicht mit Ihnen durchgehen. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, vermuten Sie doch irgendeine krumme Sache, nicht wahr, meine Liebe?«
Ernestine errötete vor Ärger.
»Es ist ganz egal, was ich vermute. Jedenfalls denke ich nicht daran, etwas zu decken, von dem ich nicht weiß, was es sein könnte.«
»Ich bin aufgrund einer Wette hier«, lenkte Archie ein.
»Das glaube ich nicht. Wegen einer dummen Wette würden Sie nicht so viel Zeit opfern.«
»So dumm ist die Wette gar nicht. Es geht um ziemlich viel Geld.«
Geld! Das war ein Stichwort, das Ernestine sofort alarmierte. In ihrem hübschen Kopf begann es fieberhaft zu arbeiten. Was wußte sie von Lord of Duncaster?
Nicht sehr viel, wie sie zugeben mußte. Ihr Bruder war mit ihm befreundet gewesen, aber er hatte ihn, soviel sie wußte, nicht in England besucht.
Ob Archibald ein verarmter Adliger war? Ob er zum Broterwerb arbeiten mußte? Oder – viel schlimmer, wollte er auf unrechtmäßige Weise zu Geld kommen? War er ein Betrüger, der eine große Sache plante, vielleicht sogar mit Komplizen?
Aber warum war er dann nach Schloß Norawa gekommen? Das konnte viele Gründe haben, und gewiß war die Sache gut überlegt und eingefädelt.
Immerhin war der König von Norawa berühmt wegen seines Reichtums. Und über den Schmuck der Königin war erst kürzlich in einer international bekannten Zeitschrift eine große Reportage erschienen. Es gab auch viele wertvolle Kunstgegenstände in dem Schloß, und vielleicht gab es hier auch einen verborgenen Schatz, nach dem gesucht wurde.
Ganz große Augen bekam Baronesse Ernestine vor Erregung, und Archie beobachtete sie schmunzelnd.
»Na, wo sind Sie denn jetzt bei Ihren Überlegungen angelangt?« fragte er mit nicht zu überhörender Ironie. Er schien zu ahnen, was im Kopf des jungen Mädchens vorging.
Ernestine kehrte wieder in die Wirklichkeit zurück, und damit wurde ihr das Verrückte ihrer Gedanken auch bewußt. Sie mußte lächeln.
»Ich habe Sie gerade für einen großen Schatzgräber gehalten«, gestand sie schelmisch, »aber dann dachte ich mir, in einem solchen Fall hätten Sie doch sicher eine andere Verkleidung gewählt. Als Heizer vielleicht oder als Gärtner, dabei fällt es nicht so auf, wenn man sich schmutzig macht.«
Archie lachte.
»Gut, daß Sie noch logisch denken können, Baronesse. Doch darf ich Sie nun darauf aufmerksam machen, daß im Haus viele Pflichten auf mich warten? Ich möchte…«
»Die Flucht ergreifen möchten Sie, Archibald, das kann ich mir denken. Aber daraus wird nichts. Erst müssen Sie mir sagen, warum Sie hier sind!«
»Es ist wegen einer Wette, Baronesse, ich sagte es doch schon.«
»Aber ich glaube Ihnen nicht.«
»Das ist Ihre Sache.
»Nein, nein, so billig kommen Sie mir nicht davon! Ich will es ganz genau wissen. Sonst erzähle ich meiner Freundin, daß ich Sie kenne, und zwar nicht als Butler.«
Archie seufzte innerlich. Dieses Mädchen entwickelte sich zur wahren Nervensäge. Was sollte er nur tun, um sie wieder loszuwerden? Durch ihr Auftauchen gefährdete Ernestine von Wallenberg den schönen Plan, den er und Allan Noraway ausgearbeitet hatten.
»Wenn ich Ihnen verspreche, Ihnen später alles zu erzählen, geben Sie sich dann jetzt damit zufrieden?«
»Sie werden es mir wirklich sagen?«
»Bestimmt.«
»Ihr Ehrenwort darauf?«
»Sie haben es.«
»Na gut.« Ernestine zögerte noch ein bißchen. »Aber etwas müssen Sie mir jetzt schon sagen. Sie müssen mir den Namen dessen nennen, mit dem Sie die angebliche Wette abgeschlossen haben. Darauf bestehe ich.«
»Aber ich kann…«
»Damit begehen Sie doch keinen Verrat. Und ich weiß, daß Sie mich nicht angeschwindelt haben.«
Archie überlegte. Schließlich war mit dem Namen des Freundes tatsächlich nichts verraten. Und selbst wenn Ernestine ihn aufspüren und sich mit ihm in Verbindung setzen sollte, so war auch das nicht gefährlich, denn Allan würde schon die rechte Antwort zu finden wissen.
»Also gut, damit Sie endlich Ruhe geben. Mein Freund ist Amerikaner und heißt Allan Noraway.«
»Noraway? Komisch, das klingt ja so ähnlich wie Norawa.«
Verdammt, daran hatte Archie gar nicht gedacht. Dieses Mädchen verdarb ihm wirklich noch alles.
»Es gibt schon mal solche Namensgleichheiten«, sagte er barsch. »Ich kann es nicht ändern. Aber nun müssen Sie mich entschuldigen, Baronesse, die Pflichten warten auf mich.«
Ernestine setzte ihr süßestes Lächeln auf. Es machte ihr Spaß, diesen Mann ein wenig zu foppen und ihn herauszufordern, denn er konnte sich ja nicht wehren, wenn er sich hier nicht verraten wollte.
Mit einer nach außen hin sehr vertraulich wirkenden Geste legte sie dem Butler eine Hand auf den Arm.
»Sie hatten mir Blumen versprochen, Archie.«
»Ich habe Ihnen keine Blumen versprochen.«
»O doch, darum sind wir in den Garten gegangen, nicht wahr? Weil mir die Nelken, die man mir ins Zimmer gestellt hat, nicht gefallen. Ich möchte Rosen.«
»Ich werde den Gärtner benachrichtigen.«
»Nein, ich möchte die Rosen von Ihnen haben. Oder noch besser, nur eine einzige Rose möchte ich. Diesen einen Wunsch können Sie mir doch nicht abschlagen. Als Butler…«
»Als Butler muß ich höflich sein, ich weiß«, seufzte Archie, »auch wenn mir gar nicht danach zumute ist. Glauben Sie, ich hätte noch nicht gemerkt, daß Sie mich nur herausfordern wollen? Also gut, Sie sollen Ihre Rose haben.«
Er wandte sich einem Busch mit herrlichen gelben Rosen zu.
Ernestine schüttelte den Kopf und setzte ihr verführerischstes Lächeln auf.
»O nein, Archibald«, säuselte sie, »eine rote Rose möchte ich, eine blutrote Rose.«
Und sie trat noch näher an ihn heran. Von weitem mußte es so aussehen, als schmiegte sie sich an ihn, in Wirklichkeit lachte sie ihm nur übermütig und auch ein bißchen herausfordernd keß zu.
»Nervensäge!« knurrte Archie deutlich vernehmbar, aber er schnitt ihr doch eine lange rote Rose ab, die Ernestine dann demonstrativ an die Lippen führte.
»Die erste Rose, die mir ein Butler geschenkt hat!« sagte sie triumphierend.
Archie blieb ihr die Antwort schuldig. Er machte eine knappe Verbeugung und wollte zum Haus zurückgehen. Ernestine hielt sich aber dicht an seiner Seite.
»Es bleibt also dabei«, erklärte sie gönnerhaft. »Ich verrate Sie nicht, Archibald. Wenigstens vorläufig nicht.«
*
König Maximilian Peter saß in seinem Arbeitszimmer und war mit dem Studium einer Akte beschäftigt, deren Inhalt ihn über alle Maßen ärgerte.
»Das ist doch nicht zu fassen!« sagte er schimpfend. »Geht man denn ganz und gar über meine Anordnungen hinweg? Das hier ist genau das Gegenteil von dem, was ich verfügt habe. Ist man denn nicht mehr Herr im eigenen Haus? Aber die Herren sollen mich kennenlernen.«
Der König wollte schon zur Glocke greifen und seinen Sekretär herbeirufen. Aber dann besann er sich. Vielleicht war es besser, die ganze Angelegenheit noch einmal zu überdenken.
Ein wenig schwerfällig erhob er sich aus seinem lederbespannten Sessel und trat ans Fenster.
Fast immer beruhigte ihn ein Blick von hier hinaus; denn diese Aussicht liebte der König ganz besonders.
Der Rosengarten war den etwas düsteren Schloßmauern vorgelagert wie ein herrliches Schmuckband, und es war nicht nur der Stolz des Gärtners, sondern auch der Königin, daß es im Rosengarten von Norawa die herrlichsten und seltensten Blüten gab.
Dem Rosengarten schloß sich ein hübsches parkähnliches Gelände an, das sich bis zur Küste hinzog. Wie ein breites, brillantbesetztes Geschmeide funkelte dahinter die Meerstraße zwischen der Insel und dem Festland in der Morgensonne, und die Berge in der Ferne wirkten wie Wächter, die dieses paradiesisch schöne Land zu beschützen hatten.
Der König liebte dieses Fleckchen Erde, es war seine eigentliche Heimat, hier war er verwurzelt, wenn ihn auch die Umstände zwangen, den größten Teil des Jahres anderswo zu leben.
Auch diesmal glätteten sich die Unmutsfalten auf seiner Stirn. Es war doch zu dumm, sich über Nichtigkeiten zu ärgern, wenn die Welt ringsumher so schön war.
Schon wollte der König sich vom Fenster abwenden, die Akte noch einmal durchlesen, da stutzte er. Er hatte im Garten etwas gesehen, was ihm ungewöhnlich vorkam.
Der König trat noch einen Schritt näher an das Fenster heran, er beugte sich etwas vor, und dann war es schon wieder vorbei mit der Ruhe, zu der er sich gerade durchgerungen hatte, denn was er dort sah, ließ ihm die Zornesader auf der Stirn anschwellen. Nun griff er doch zu der goldenen Glocke auf seinem Schreibtisch, er läutete so heftig, daß der Sekretär ganz seine sonstige Würde vergaß und hereinstürmte, als würde es irgendwo brennen.
»Hoheit haben geläutet?« fragte er, was nicht sehr intelligent klang.
»Natürlich habe ich geläutet!« knurrte der König denn auch aufgebracht. »Meine Tochter soll zu mir kommen, und zwar sofort.«
»Sehr wohl, Hoheit! Ich werde Ihre Hoheit benachrichtigen.«
Es dauerte dann auch nicht lange, bis Prinzessin Edina bei ihrem Vater anklopfte. Sie war wieder einmal in der Bibliothek gewesen, um nach Schloß Lukorin Ausschau zu halten, und dort hatte man sie bald gefunden.
»Stimmt es, daß ich zu dir kommen soll, Vati?« fragte Edina, und ihre Stimme zitterte ein bißchen. Es geschah doch selten, daß der König seine Tochter rufen ließ, und dann auch noch zu so ungewöhnlicher Stunde, wo er im allgemeinen seinen geschäftlichen Angelegenheiten nachging.
»Ja, es stimmt, denn ich muß mit dir reden, Edina.«
Der König war wieder ans Fenster getreten und blickte hinaus, aber das, wonach er suchte, erspähte er offenbar nicht mehr. So wandte er sich wieder dem Zimmer zu und
sagte ungehalten: »Ich wünsche, daß du mit deiner Freundin redest, Edina.«
»Ich soll… Ich verstehe dich nicht, Vati.«
»Natürlich nicht, laß mich doch erst zu Ende reden. Wenn ich mit Baronesse von Wallenberg spreche, so werde ich vielleicht zu hart und zu deutlich, und immerhin ist die junge Dame unser Gast. Andererseits kann und will ich aber nicht dulden, daß sie sich… Also, um es kurz zu machen, erkläre deiner Freundin, daß es nicht angeht, sich in unserem Haus mit einem Dienstboten anzubiedern.«
»Vati, das kann doch nicht dein Ernst sein!«
»Es ist mein voller Ernst, Edina. Gerade wurde ich Zeuge einer recht beschämenden Szene. Baronesse von Wallenberg und unser Butler – jawohl, unser Butler! – ergingen sich im Rosengarten, und ich sah mit meinen eigenen Augen, wie die junge Dame sich an unseren Angestellten schmiegte, wie sie ihn offenbar bedrängte, obwohl er anscheinend lieber Zurückhaltung gewahrt hätte.
Das ist auch der Grund, warum ich Herrn Archibald nicht selbst zur Rede stelle. Er kann sich ja schlecht wehren, wenn ein Gast unseres Hauses sich dermaßen über die Etikette hinwegsetzt. Als Angestellter muß er höflich bleiben, obwohl – und das mache ich Archibald zum Vorwurf – er klug und geschickt genug hätte sein müssen, um es erst gar nicht zu solch einer beschämenden Szene kommen zu lassen.«
»Eigentlich begreife ich das nicht, Vati. Ernestine ist doch sonst gar nicht so.«
»Das kannst du als junges Mädchen nicht beurteilen, Edina. Ich weiß jedenfalls, was ich mit meinen eigenen Augen gesehen habe, und ich bin nicht gewillt, so etwas auf Schloß Norawa zu dulden. Die junge Dame brachte unseren Butler sogar dazu, ihr eine einzelne rote Rose zu schneiden. Eine einzelne Rose! Ein Strauß wäre unverbindlicher gewesen, obwohl es natürlich Aufgabe des Gärtners und nicht des Butlers gewesen wäre, unseren Gast mit Blumen zu versorgen. Aber immerhin, ich hätte nichts dagegen gehabt. So aber… Nein, Edina, ich bin empört. Mach deiner Freundin bitte in aller Deutlichkeit klar, daß ich derartige Scherze – zu ihren Gunsten will ich annehmen, daß sie es als Scherz aufgefaßt hat – nicht dulden kann!«
»Aber Vati, das ist mir ziemlich peinlich.«
»Natürlich, auch mir ist es peinlich, aber immerhin hat die junge Dame es sich selbst zuzuschreiben. Um dem Ganzen die Spitze zu nehmen, magst du von mir aus sagen, du hättest die Szene beobachtet und wolltest die gute Freundin warnen, dann bleibe ich aus dem Spiel.«
»Ach ja, Vati, das ist besser. Weißt du, wenn Ernestine erfährt, daß du böse auf sie bist, dann muß sie sich doch sehr schämen und reist vielleicht sogar ab. Und ich habe mich so sehr gefreut, daß sie gekommen ist.
»Na gut, deine Freude soll nicht geschmälert werden. Aber ich bitte mir aus, daß du nicht die Gewohnheiten der jungen Dame übernimmst! Du weißt, ich achte alle Menschen gleich, dazu gehören auch unsere Dienstboten, die mir alle lieb und wert sind, solange sie ihre Pflicht zu unserer Zufriedenheit tun. Aber diese Achtung bedeutete keineswegs, daß ich eine sogenannte Verbrüderung schätze. Es sind verschiedene Welten, in denen sie und wir leben, und es hat keinen Sinn, da Brücken schlagen zu wollen. In den meisten Fällen bringt das für beide Seiten kein Glück. Merk dir das auch für die Zukunft, meine Tochter! Und jetzt geh und sprich mit Baronesse Wallenberg, ehe sie noch weitere Dummheiten anstellt.«
*
Baronesse Ernestine von Wallenberg war gerade dabei, die Rose ins Wasser zu stellen, als Edina nach kurzem Anklopfen das Zimmer betrat.
»Ach, Edina, du kommst zu mir«, sagte Ernestine unbefangen. »Das ist nett. Schau mal, ist die Rose nicht herrlich? Ich habe mir mit Hilfe deiner Zofe eine passende Vase dazu ausgesucht. Diesen Kristallkelch finde ich besonders schön. Schau nur, wie stolz die Rose sich darin emporreckt. Sie ist wahrlich die Königin der Blumen. Du, ich liebe rote Rosen über alles, und wenn sie gar noch das Geschenk eines Mannes sind, dann könnte ich sie stundenlang anschauen.«
»Ich weiß, wer dir diese Rose gegeben hat, Ernestine«, bemerkte Edina, und in ihrer Stimme lag schon ein kleiner Vorwurf.
»So, du weißt?«
»Ja, zufällig habe ich nämlich am Fenster gestanden.«
Baronesse Ernestine lachte silberhell.
»Aha! Und nun vermutest du irgendeine dramatische Liebesgeschichte. Habe ich recht?«
»Ich vermute gar nichts, denn ich habe mir noch gar keine Gedanken darüber gemacht.«
»Und warum machst du dann ein Gesicht, als wenn du zu einer Beerdigung müßtest?«
»Mache ich doch gar nicht.«
»Doch, mein Schatz, du solltest in den Spiegel schauen. Sag mal, Herzchen, du bist doch wohl nicht eifersüchtig auf euren charmanten Butler?«
»Unsinn! Ich begreife gar nicht, wie du nur so etwas Dummes sagen kannst.«
»Na, ich weiß nicht, so dumm ist das gar nicht. Herr Archibald ist ein äußerst charmanter und liebenswürdiger Mensch, ich kann mir schon vorstellen, daß ihm die Mädchenherzen nur so zufliegen.«
»Archibald ist unser Butler!«
»Natürlich, weiß ich. Aber auch Butler sind Männer. Oder solltest du daran zweifeln?«
»Ich mag es nicht, wenn du so ironisch sprichst, Ernestine. Ich mag Archibald aber gut leiden, denn er ist wirklich nett. Aber darum würde ich doch nie vergessen, daß er unser Butler ist.«
»Mit anderen Worte, für die Liebe ist er tabu, nicht wahr?«
»Hach, wie das klingt.«
»Das ist eine deutliche Sprache, daran mußt du dich gewöhnen, Edina. Ich sage immer, was ich denke.«
»Das sollte man aber nicht. Als junge Dame…«
»Nun komme mir bloß nicht damit. Das höre ich von meinen Eltern oft genug.«
»Ich auch«, gestand Edina. »Aber ob unsere Eltern nicht doch recht haben?«
»Manchmal schon, mag sein. Aber zwischen uns beiden braucht es doch keine Höflichkeitsfloskeln zu geben, nicht wahr?«
»Das stimmt«, sagte Edina erleichtert. »Darum bin ich ja auch zu dir gekommen.«
»Weil du mich mit eurem Butler gesehen hast?«
»Ja, eben! Und ich habe gesehen, daß… daß diese Rose hier…«
»Ist vom Butler Archibald.« Ernestine nickte vergnügt. »Darf er
das etwa nicht tun? Ist er nicht befugt, im Garten eine Rose zu schneiden?«
»Ach, Ernestine, darum geht es doch nicht. Und das weißt du auch ganz genau. Du willst mich nur verlegen machen.«
»Aber keineswegs, mein Herz. Ich stelle nur mit einigem Erstaunen fest, daß du auf einmal stotterst. Hat das einen besonderen Grund?«
Edina ärgerte sich wirklich.
»Ich stottere nicht, und darum hat es auch keinen besonderen Grund!« erwiderte sie heftig. »Unser Butler Archibald kann im Garten Rosen schneiden, soviel er will. Aber daß er sie dir dann schenkt, das ist nicht richtig.«
»Ach, und warum nicht? Du möchtest sie wohl lieber selbst haben, oder täusche ich mich da?«
»Du täuschst dich, und zwar ganz gewaltig! Als wenn unser Butler mich interessierte. Kein bißchen tut er das, damit du es nur weißt.«
»Aha.«
»Was soll das heißen?«
»Nichts. Ich habe nur aha gesagt.«
»Aber du machst dabei ein Gesicht, daß ich dir am liebsten die Augen auskratzen möchte.«
»Da würde ich nicht stillhalten, mein Herzchen. Ich ahne aber immer noch nicht, warum du eigentlich so wütend bist.«
»Weil – Weil… also, weil ich gesehen habe, wie du unseren Butler umgarnt hast. Der Arme wußte sich gar nicht mehr zu helfen und – und…«
Die Baronesse lachte schallend.
»Und nun willst du ihm Schützenhilfe geben, verstehe ich das richtig? Nein, das ist doch zu komisch! Archie braucht Schützenhilfe.«
»Archie? Du nennst ihn schon Archie?«
Das war ein regelrechter Schrei der Empörung.
Ernestine lenkte schnell ein. Sie hätte sich beinahe verraten.
»Nicht ich nenne ihn Archie, sondern… Aber er ist doch wirklich ein netter Kerl, nicht wahr? Wenn er nicht Butler wäre, könnte man sich direkt in ihn verlieben.«
»Aber er ist Butler!« rief Edina heftig. »Das darf man nicht vergessen. Oh, mein Vater könnte sehr böse werden, wenn er erführe, daß du und der Butler…«
»Dein Vater? Hat er uns etwa gesehen?«
»Nein, nein«, entgegnete Edina vielleicht ein bißchen zu schnell. »Das heißt, ich weiß es natürlich nicht. Aber ich weiß, wie er über solche Dinge denkt. Und darum bin ich gekommen, um dir zu sagen, daß das nicht geht.«
»So, darum bist du gekommen. Nur darum?«
»Was meinst du denn nun schon wieder?«
»Ich meine, ob es dich nicht auch ein bißchen interessiert, ob den Butler und mich etwas verbindet. Immerhin ist er sehr nett, was du ja mehrfach zugegeben hast.«
»Ich habe dabei nur an seine Eigenschaften als Butler gedacht, an sonst nichts.«
»Nun ja. Aber stell dir mal vor, wie Herr Archibald zum Beispiel in einem Smoking aussehen würde. Oder wenn er in einem schnittigen Sportwagen hier vorfahren würde, schick angezogen, vielleicht ein bißchen modern verrückt im englischen Stil zum Beispiel. Oder wie er sich hoch zu Pferd ausmachen würde. Bei seiner Figur müßte er doch ein ausgezeichneter Reiter sein.«
»Ach, hör schon auf! Auch dann hätte Archibald noch seine Sommersprossen, und Sommersprossen mag ich nun einmal nicht leiden.«
»Ist das das einzige, was du an eurem Butler nicht leiden magst?«
»Ich – ich…«
Edina ärgerte sich fürchterlich, weil ein tiefes Rot in ihre Wangen zog, und sie rief: »Es geht hier gar nicht um mich, sondern allein um dich! Du hast dich schlecht benommen, das gehört sich nicht, wenn man irgendwo zu Gast ist, und ich wollte dir sagen, daß du das nicht wieder tun sollst, Ernestine.«
Die lachte schon wieder. Sie war kein bißchen gekränkt, denn die Szene im Rosengarten mit dem Butler war für sie nur ein Spiel gewesen. Sie hatte ihn ein bißchen erpreßt mit der Drohung, ihn zu verraten, und Archie, der Freund ihres Bruders, hatte mitmachen müssen. Als Mann interessierte Archie sie nicht, außerdem war sie in einen anderen verliebt und schon so gut wie verlobt.
Es machte ihr direkt Spaß, daß sie dieses Geheimnis der Freundin gegenüber bisher für sich behalten hatte, denn nun konnte sie so tun, als ob an der Sache mit dem Butler wirklich etwas sei.
Süß, wie Edina sich darüber aufregte. Ihr schien der sogenannte Butler gar nicht so gleichgültig zu sein, wie Edina offenbar glaubte.
Ernestine machte ein ernstes Gesicht, aber sie hatte Mühe, das Lachen dahinter zu verstecken.
»Ich verspreche dir, mein Schatz, euren Butler nun nicht weiter zu bedrängen. Ich überlasse ihn dafür dir, denn als Tochter des Hauses hast du natürlich größere Anrechte.«
»Ach, du spinnst! Heute ist ja überhaupt nicht mit dir zu reden.«
Edina war wütend. Sie lief zur Tür und schlug sie hinter sich zu.
Da hatte sie sich so auf das Kommen der Freundin gefreut, und jetzt…
Vielleicht wäre es besser gewesen, Ernestine wäre nicht gekommen. Aber wer konnte das denn auch ahnen. Bisher hatten sie sich doch immer so gut verstanden.
Edina wußte noch nicht, daß die meisten Mädchenfreundschaften einen Riß bekommen, wenn ein Mann im Spiel ist. Und Edina wußte vor allem noch nicht, was Eifersucht ist.
Sie wäre auch nie auf den Gedanken gekommen, daß sie eifersüchtig war. Wieso denn auch? Sie liebte den Fürsten von Lukorin, ihm ganz allein gehört ihr Herz. Was kümmerte es sie da, wenn Ernestine den Butler Archibald umgarnte?
Er war nett, natürlich, sehr nett sogar, und Edina mochte ihn so sehr, wie sie noch nie jemanden vom Personal gemocht hatte, von ihrem Kinderfräulein vielleicht abgesehen, das sie früher, als sie noch klein war, so heiß und innig geliebt hatte. Aber das war natürlich etwas ganz anderes.
Immerhin mochte sie den Butler Archibald auch, sie sprach gern mit ihm und fühlte sich in seiner Nähe so sicher und geborgen, sie hatte unbegrenztes Vertrauen zu ihm.
Aber das war alles Unsinn. Warum sie bloß darüber nachdachte? Das war nur, weil Ernestine gekommen war.
Sie sollte den Butler in Ruhe lassen. Es gehörte sich einfach nicht, ihm nachzustellen. Nein, das durfte Ernestine nicht tun.
Aber nur darum, weil es sich nicht gehörte, nur darum. Warum denn sonst nur?
*
Mit Edinas guter Laune war es vorbei. Sie konnte sich nicht erklären, warum das so war. Ihr war es plötzlich so eng ums Herz, sie glaubte nicht mehr frei atmen zu können.
Langsam schritt die Prinzessin die Treppe hinunter. Sie durchquerte die Halle, die ihr riesig und düster erschien. Die hohen Mauern machten ihr fast Angst.
Nein, sie mußte hinaus, sie mußte an die frische Luft, ans Meer, um ihre Ruhe wiederzufinden.
Die Prinzessin vergrub die Hände in den Taschen ihres Kleiderrockes. Sie hätte viel lieber Hosen getragen, Blue jeans am allerliebsten, aber in dieser Beziehung war die Königin hart und unnachgiebig. Solche Kleidung schickte sich nicht für eine junge Dame, und für eine Prinzessin schon gar nicht, pflegte sie zu sagen, und dagegen gab es nun einmal kein Aufbegehren.
Dafür trug sie aber gern Kleider mit weiten Röcken, die sportlich waren und in denen sie sich bewegen konnte, denn manchmal mußte sie einfach noch ein bißchen umhertollen. Sie war ja noch so jung.
Aber diesmal tollte Prinzessin Edina nicht. Ernst und nachdenklich schritt sie die Stufen des Schloßportals hinunter.
Sie durchquerte den Rosengarten, ohne etwas von der Pracht der herrlichen Blumen zu bemerken. Nicht einmal den Duft spürte sie, obwohl gerade dieser sie sonst doch immer so sehr entzückte.
Auch im Park schaute sie nicht auf. Fast mechanisch setzte sie einen Fuß vor den anderen, sie ging wie eine Marionette.
Es war doch noch gar nicht lange her, eine Stunde erst, daß sie sich so über den herrlichen Tag gefreut hatte, und nun sah es in ihrem Innern aus, als würde es immerzu regnen. Und dafür hatte Edina keine Erklärung.
Vielleicht war es gerade das, was die kleine Prinzessin so sehr erschreckte.
So kam Edina zur Küste. Die war ziemlich steinig hier, und Edina verließ den schmalen Pfad und kletterte über die von den Fluten in langer Zeit übereinandergetürmten Felsbrocken bis unmittelbar ans Wasser.
Edina saß gern so, als Kind war das hier schon ihr Lieblingsplätzchen gewesen. Wenn sie allein sein und über irgend etwas nachdenken wollte, war sie hierhergegangen.
Wollte sie auch diesmal nachdenken?
Edina wußte nicht, worüber.
Ihr Ärger über den Butler war im Grunde genommen unwichtig. Es war ganz bedeutungslos, ob ihre Freundin Ernestine diesen Butler gut leiden mochte oder nicht.
Komisch war nur, daß Edina diese Gedanken nicht aus dem Kopf gingen, daß sie hinter ihrer Stirn kreisten wie ein Karussell und sich einfach nicht verdrängen ließen.
Die Prinzessin stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus.
Bisher hatten ihre Zehen im Wasser gespielt, sie hatte kleine Strudel verursacht, und Edina hatte dem Spiel der kleinen Wellen ganz selbstvergessen zugeschaut.
Doch jetzt richtete sie sich auf, sie reckte sich und schaute aufs Meer hinaus.
Sofort wurde ihre Aufmerksamkeit gefesselt.
Das war doch das Postboot, das gerade mit dem Anlegemanöver an der Mole begann.
Natürlich, wie sie das nur hatte vergessen können.
Sonst interessierte das Postboot sie doch immer so sehr, denn Edina wartete so sehnlich auf eine Nachricht aus Schloß Lukorin. Diesmal waren ihre Gedanken so mit anderen Problemen beschäftigt gewesen, daß sie es beinahe vergessen hätte.
Rasch schlüpfte Edina wieder in ihre Sandalen und machte mit fliegenden Fingern die Schnallen zu. Dann erhob sie sich flink, strich mit beiden Händen über den Rock und kletterte über die Felsen zum Weg zurück.
Ein Blick überzeugte sie, daß sie noch Zeit hatte, bis das Boot vertäut war, und so schlenderte sie zur Anlegestelle.
Es sollte so aussehen, als käme sie ganz zufällig vorbei und habe im übrigen kein großes Interesse an den Sendungen, die das Postboot mitbrachte.
Der Postbote riß die Kappe vom Kopf und grüßte ehrerbietig. Edina lächelte nickend.
»Haben Sie viel Post heute?« fragte sie und bemühte sich, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen.
»Ach, wie man es nimmt, Hoheit«, antwortete der Mann beflissen. »Es kommt halt immer viel an in einem so großen Schloß und bei so hohen Herrschaften.«
Edina hatte schon das Bündel erspäht, das die Privatpost der königlichen Familie darstellte. Sie wurde dem König täglich in sein Privatbüro gebracht, während alles andere zunächst in die Kanzlei geleitet und von dort verteilt wurde.
»Ich könnte Ihnen einen Weg abnehmen und meinem Vater die Post bringen«, erklärte die Prinzessin.
Der Bote wehrte fast erschrocken ab.
»Aber nein, Hoheit, das geht doch nicht! Das kann ich nicht annehmen.«
»Warum denn nicht?« fragte Edina. »Ich wollte sowieso zum Schloß gehen, das Päckchen ist nicht schwer, da kann ich es doch mitnehmen, nicht wahr?«
»Sie sind sehr freundlich, Hoheit, aber ich möchte nicht…«
»Ach was, wir wollen gar nicht erst lange darüber reden. Geben Sie mir die Post, und ich sorge dafür, daß mein Vater sie sofort bekommt.«
Das war ein anderer Ton. Etwas Herrisches und Befehlendes lag darin, und nun wagte der Mann nicht länger, sich zu sträuben.
Wenn die Prinzessin ihm die Post abnahm – nun gut, was war denn schon dabei? Ihm würde niemand einen Vorwurf machen können, und die Tatsache, daß ihm ein Weg erspart wurde, war schließlich auch nicht zu verachten.
»Das ist die Privatpost der königlichen Familie, Hoheit«, sagte der Mann und machte eine kleine Verbeugung. »Werden Hoheit auch nicht zu schwer daran zu tragen haben?«
»Aber nein, woher denn!« Edina lachte. Sie freute sich, daß sie ihr Ziel erreicht hatte. »Ich bin doch noch keine alte Frau.«
Freundlich nickte sie dem Mann zu und machte sich auf den Weg zum Arbeitszimmer des Königs.
Sie wollte die Post sofort abliefern, nur vorher durchblättern, weil sie neugierig war. Jetzt müßte doch endlich die ersehnte Nachricht von Schloß Lukorin kommen.
Noch länger konnte der Fürst sie nicht warten lassen.
Die Prinzessin hatte ihren Kummer und Ärger von vorhin bereits wieder vergessen. Jetzt war ihr nur noch der Fürst von Lukorin wichtig.
Sie schlenderte über die Mole und bog hinter der Mauer ab, die den kleinen Hafen abschirmte.
Rasch blickte Edina sich um. Es war niemand da, der sie beobachten konnte, und nun gab es für sie kein Zögern mehr.
Mit der Geschicklichkeit eines geübten Postsortierers blätterte sie den Packen durch. Wer hatte alles geschrieben? Es waren fast alles Absender, die Edina nicht sonderlich interessierten. Eine Tante, die sicher wieder über ihre Migräneanfälle klagte, eine Base, die in Amerika studierte, und sehr viel amtlich aussehende Post für den König.
Edina zog schon ein etwas enttäuschtes Mündchen, als sie plötzlich wie elektrisiert auffuhr.
Dieser Umschlag, der letzte in dem Packen, er war es, nach dem sie gesucht hatte, auf den sie schon so lange wartete.
Der große weiße Umschlag trug das eingehämmerte Wappen des Fürsten von Lukorin.
Endlich! Nun war es soweit. Edinas Herz klopfte zum Zerspringen. Bleischwer wurde der Brief. Hier hielt sie ihr künftiges Schicksal in der Hand.
Das war das Glück, das wundervolle Glück, wie es vor ihr bestimmt noch niemand so intensiv empfunden haben konnte.
Ganz leicht und frei war ihr auf einmal.
Wie hatte sie sich einbilden können, der Fürst würde ihr auf dem Fest seine Liebe gestehen, sie vielleicht sogar um eine sofortige Verlobung bitten.
Ach nein, da war sie recht dumm gewesen. Es mußte doch alles seine Ordnung haben. Das war in Bürgerhäusern so, und in Fürstenschlössern mußte man erst recht auf die Formen achten.
Wenn der Fürst um ihre Hand anhalten wollte – und daran zweifelte Edina keine Sekunde –, mußte er zunächst mit ihrem Vater, dem König von Norawa, sprechen.
Und nun war es soweit!
Hier war der Brief, Edina hielt ihn in der Hand, mit dem der Fürst seine Absicht ankündigte.
Es war so schön, so wunderschön, Edina hätte am liebsten laut gesungen. So weit war ihr das Herz.
Aber dann besann sie sich, daß das hier nicht gut ginge. Was sollten denn die Leute von ihr denken.
Unwillkürlich richtete Edina sich etwas auf und hielt den Kopf gerade, wie man es ihr schon hundertmal gesagt hatte, was sie sonst aber immer wieder vergaß. Doch jetzt würde das anders werden.
Sie war nun nicht mehr nur die kleine Prinzessin von Norawa, sondern die künftige Fürstin von Lukorin, und als solche hatte sie natürlich Verpflichtungen. Sie mußte sich immer und in jeder Situation tadellos und wie eine Dame benehmen.
Edina legte den Brief wieder zu den anderen, nahm das Bündel unter den Arm und setzte sich in Bewegung. Sie ging ganz langsam, ganz würdevoll, so wie sie glaubte, daß eine künftige Fürstin schreiten müsse.
Doch der gute Wille reichte nur für ein paar Schritte. Die innere Spannung war einfach zu stark. Edina konnte es nicht erwarten, bis ihr Vater das Schreiben öffnen würde.
Zwar glaubte sie genau zu wissen, was in dem Brief stand, aber sie wollte nun auch unbedingt den genauen Wortlaut erfahren, wollte wissen, wie der Fürst es erklärte, daß er sich für sie entschieden habe, ob auch ein paar liebe Worte für sie bestimmt waren.
Gar nicht mehr damenhaft rannte Edina durch den Park. Sie machte so lange Sätze wie ein Junge, übersprang im Rosengarten sogar ein schmales Beet. Das ging um ein Haar schief, denn der weite Rock verfing sich in den Dornen, und es fehlte nicht viel, dann wäre Edina gestürzt. Aber sie konnte sich gerade noch fangen, blickte ein wenig schuldbewußt an sich hinunter. Ein klaffender Riß war in dem Stoff zurückgeblieben.
So durfte sie der Königin auf keinen Fall unter die Augen treten, das würde wieder einen saftigen Tadel geben und die Feststellung, daß aus ihr eben nie eine richtige Dame würde.
Gerade an diesem Tag aber wollte Edina so etwas nicht hören; denn eine künftige Fürstin von Lukorin…
Die Prinzessin hatte sich schon wieder in Bewegung gesetzt. Ein wenig vorsichtiger ging sie zwar, denn hier konnte man sie schon vom Schloß aus beobachten, und noch ein Sturz wäre sehr peinlich gewesen.
Endlich hatte sie die Halle erreicht. Es war niemand hier, und so riskierte Edina noch einmal ein paar Laufschritte.
Blitzschnell bog sie dann um die Ecke, lief den langen Gang hinunter, der zu den Arbeitsräumen des Schloßherrn führte.
Die Prinzessin nahm sich nicht erst Zeit, an der Tür zum Zimmer des persönlichen Sekretärs des Königs anzuklopfen. Sie stürmte hinein und sagte atemlos: »Ich muß zu meinem Vater, ich bringe ihm die Post.«
»Das ist sehr liebenswürdig, Hoheit«, antwortete der Sekretär geschmeidig. »Darf ich Ihnen die Post abnehmen?«
»Sie? Nein, natürlich nicht! Ich will sie doch meinem Vater bringen.«
»Seine Hoheit hat eine Besprechung. Er darf auf keinen Fall gestört werden.«
»Ach, eine Besprechung?«
Edinas Enttäuschung war grenzenlos. Daß der König nicht zu sprechen sein könnte, hatte sie nicht bedacht. Diese Möglichkeit wäre ihr gar nicht in den Sinn gekommen.
Sie war so sicher gewesen, daß ihr Vater den Brief gleich öffnen und sie dann, nachdem er ihn gelesen, gerührt in die Arme schließen würde.
Und nun sollte sie noch länger warten, unverrichteterdinge wieder abziehen?
Der Sekretär stand erwartungsvoll vor ihr, bereit, die Post in Empfang zu nehmen. Aber Edina umschloß das Päckchen mit beiden Händen, als wollte sie sich nie davon trennen.
»Könnte man meinen Vater nicht doch mal für fünf Minuten herausrufen?« fragte sie drängend.
»Das ist leider ganz und gar ausgeschlossen, Hoheit. Ich würde es natürlich gern für Sie tun, aber Seine Hoheit hat strengste Anweisung gegeben, ihn nicht zu stören.«
»Ja, dann kann man wohl nichts machen.«
»Leider nein, Hoheit.«
»Das ist schade.«
»Ich bedaure, Ihnen nicht helfen zu können.«
»Nett von Ihnen.«
»Wünschen Sie, daß ich Sie sofort benachrichtige, wenn Seine Hoheit wieder zu sprechen ist?«
»Ja, das könnten Sie tun.«
Edina sprach ganz mechanisch. Ihre Gedanken arbeiteten fieberhaft, aber sie drehten sich immer im Kreis, sie kamen zu keinem Ergebnis.
»Geben Sie mir dann bitte die Post?«
»Wie bitte?«
»Ich bat Sie, mir die Post zu geben, damit ich Sie ins Arbeitszimmer Seiner Hoheit legen kann.«
»Ach so, ja! Aber nein, das mache ich lieber selbst.«
»Ich verstehe nicht recht, Hoheit.«
»Ich will Sie nicht länger von Ihrer Arbeit abhalten und lege meinem Vater die Post auf den Schreibtisch.«
»Aber…«
»Sie haben doch nichts dagegen?« fragte Edina mit zuckersüßem Lächeln.
Da konnte der Mann nur hilflos den Kopf schütteln. Er wußte, daß der König niemanden in seinem Arbeitszimmer duldete, wenn er nicht zugegen war.
Aber wie hätte er es der Prinzessin verwehren können?
So kam Edina ins Allerheiligste ihres Vaters, aber ruhiger war sie dadurch noch lange nicht, denn wie sollte sie nun erfahren, was in dem Brief aus Lukorin stand?
Wie ein kleines, erwartungsvolles Kind hüpfte Edina aufgeregt von einem Bein aufs andere.
Da war der Brief, er lag mitten auf der blanken Schreibtischplatte, er entschied über ihr Lebensglück – und sie konnte ihn nicht lesen. Das war zum Verrücktwerden!
Nicht lesen – aber warum eigentlich nicht? Der Brief betraf ja sie. Und wenn es sich auch nicht gehörte, so würde Vati ihr die kleine Eigenmächtigkeit sicher verzeihen.
Prinzessin Edina zögerte nicht mehr. Sie konnte es kaum erwarten. Mit fliegenden Händen griff sie nach dem goldenen, feinziselierten Brieföffner und machte einen entschlossenen Schnitt.
Ein glückliches Lächeln lag dabei auf ihrem hübschen Gesicht, das Glück der Erwartung ließ ihr Herz heftig klopfen.
Nun endlich würde sie mit eigenen Augen lesen können, was ihr Herz so lange schon zu wissen glaubte, nun würde sie schwarz auf weiß von der Liebe des Fürsten von Lukorin lesen.
Edina faltete den weißen Bogen auseinander, begann zu lesen – und erblaßte jäh.
Die Buchstaben flimmerten vor ihren Augen, ihre Knie schienen plötzlich nachzugeben, so daß Edina sich schnell an den Schreibtisch anlehnen mußte, und die Hände zitterten so, daß sie den Bogen kaum noch halten konnte.
Das gab es doch nicht. Das konnte nicht wahr sein! Die Phantasie mußte ihr einen bösen Streich spielen.
Edina kniff sich in die Wange, wie sie es als Kind gemacht hatte, wenn sie etwas nicht glauben wollte.
Aber sie träumte nicht.
Und so lange sie auch auf das weiße Papier starrte, die Zeilen behielten immer die gleiche, unfaßbare Bedeutung, die für Edina eine ganze Welt zusammenstürzen ließ.
Noch einmal las Edina, sie sprach die Worte leise vor sich hin und wehrte sich dagegen, den Sinn zu begreifen. Aber in ihrem Innersten wußte sie doch schon, daß es wahr war, was sie dort laut las:
»Fürst Drago von Lukorin beehrt sich, den König von Norawa nebst Gemahlin und Tochter zu dem Empfang einzuladen, den er anläßlich seiner Verlobung mit Valeska Gräfin zu Lilienwerth gibt.«
Verlobung! Der Fürst von Lukorin wollte sich verloben. Er hatte sich für eine Frau entschieden, wollte bald heiraten, so wie Prinzessin Edina es sich in ihren Träumen immer ausgemalt hatte. Aber nicht sie war die Erwählte. Eine andere Frau wollte Fürst Drago heiraten.
Edina war noch wie betäubt.
Zu unverhofft war der Schlag gekommen, zu jäh war sie aus ihren süßen Träumen gerissen worden, die sie immer für bare Münze genommen hatte. Und nun sollte alles vorbei sein?
Edina wehrte sich dagegen.
Sie lehnte sich gegen die bloße Vorstellung auf, wollte es nicht wahrhaben, wollte es einfach nicht akzeptieren.
Sie war so sicher gewesen. Viel zu sicher. Und nun sollte sie, praktisch von einer Minute auf die andere, davon überzeugt werden, daß sie während des ganzen letzten Jahres in einem Luftschloß gelebt hatte?
Nein, das war zuviel verlangt! Das konnte die kleine Prinzessin nicht einsehen, das konnte sie nicht glauben. Und sie wollte es auch nicht.
Der Fürst von Lukorin liebte sie doch sehr. Er hatte es ihr zwar nicht gesagt, nicht direkt, aber er war so lieb und nett gewesen, so freundlich, daß Edina ganz sicher war, so und nur so müsse die Liebe sein.
Sie war ja noch so unerfahren, die kleine Prinzessin. Und sie war es von Kindheit her gewohnt, daß sich ihr jeder Wunsch erfüllte.
Da sollte es ausgerechnet jetzt, wo ihr ganzes Herz hinter ihrem Wunsch stand, anders sein? Da sollte sie verzichten lernen?
Edina starrte auf das weiße Blatt in ihrer Hand.
Valeska Gräfin zu Lilienwerth!
Das Bild jener Frau stieg vor ihr auf, mit der Fürst Drago den Ball eröffnet hatte. Eine schöne, eine wunderschöne Frau. Edina hatte es neidlos zugegeben. Aber sie war doch mit dem Fürsten verwandt. Hatte Graf Brosz es ihr nicht erzählt?
Nun ja, von einer weitläufigen Verwandtschaft war die Rede gewesen, und Edina wußte sehr wohl, daß das im Grunde kein Ehehindernis war.
Aber sie hatte sich hinter dieser Verwandtschaft versteckt wie hinter einem Schild, sie hatte ihre Träume durch gar nichts und durch niemanden in Gefahr bringen wollen, und dabei hatte Edina überhaupt nicht gemerkt, daß sie den Kopf in den Sand steckte. Daß sie sich selbst etwas vormachte.
Auch jetzt wollte sie es noch nicht merken, wollte es nicht einsehen.
Gräfin Valeska war zwar schön, aber ihrer Ansicht nach sah sie doch aus, als ob sie älter wäre als der Fürst.
Wie konnte Drago nur so etwas tun. Wie konnte er die Gräfin heiraten wollen, wo doch sie, die Prinzessin von Norawa, ihn liebte.
Hatte da nicht sie, schon dem Rang nach, das Vorrecht?
Ach, Edina wußte kaum wohin sich ihre Gedanken verstiegen.
Sie steigerte sich nur immer mehr in die Überzeugung hinein, daß noch nicht alles verloren war, daß sie ihr Glück noch mit dem Fürsten von Lukorin finden würde. Sie liebte ihn doch.
Oder ob der Fürst das vielleicht gar nicht wußte?
Ja, natürlich! Das mußte es sein.
Er ahnte nichts davon daß die Prinzessin von Norawa ihn liebte.
Edina hatte sich wie eine vollendete Dame benommen und nichts von ihren Gefühlen verraten.
Wie stolz war die Prinzessin gewesen, daß sie sich beim letzten Ball so tapfer gehalten hatte, daß sie nichts von dem erzählt hatte, was ihr Herz so sehr bewegte.
War das vielleicht doch ein Fehler gewesen? Hätte sie lieber…
Aber noch war es nicht zu spät. Noch war der Fürst nicht offiziell verlobt, geschweige denn vermählt. Noch konnte er die Sache rückgängig machen.
Edina zweifelte keine Sekunde daran, daß er es auch tun würde, wenn er erführe, daß er von ihr geliebt wurde.
Welch ein bezaubernder Kindskopf Edina doch noch war.
Sie stand unmittelbar an der Schwelle des Erwachsenseins, sie würde diese Schwelle sogar noch überschreiten, was sie allerdings noch nicht wußte. Aber Edina wehrte sich dagegen, sie wollte ihre kindlichen Wünsche und Vorstellungen nicht aufgeben. Sie glaubte, das, was sie wollte, unbedingt ertrotzen zu können, ganz einfach, weil es nichts geben durfte, was sich ihren Wünschen in den Weg stellte.
Verlobung auf Schloß Lukorin!
O ja, es würde eine Verlobung geben, sehr bald schon. Aber die Braut würde nicht Valeska Gräfin zu Lilienwerth heißen, sondern Prinzessin Edina Mandaljena von Norawa.
Jawohl, genau so würde es sein. Denn nur sie, die Prinzessin, konnte Fürst Drago glücklich machen, weil sie ihn liebte.
Der Fürst wußte es nur nicht. Darum mußte sie es ihm sagen.
Keine Minute durfte sie verlieren.
*
Wie von Sinnen rannte Edina aus dem Zimmer, an dem verdutzten Sekretär vorbei, der kopfschüttelnd hinter ihr hersah.
»Ich verstehe den König und seine Frau nicht«, murmelte er. »Die Prinzessin müßte härter angefaßt werden, viel härter. Meine Tochter dürfte jedenfalls nicht so sein.«
Davon hörte Edina natürlich nichts, und wenn sie es gehört hätte, wäre es ihr wohl auch höchst gleichgültig gewesen. Was kümmerte sie schon der Sekretär ihres Vaters, wo sie doch jetzt eine lebenswichtige Aufgabe zu erfüllen hatte.
Es ging um ihr Lebensglück. Und um das des Fürsten. Um nichts mehr und nichts weniger.
Mit weiten Sätzen durchquerte Edina die Halle, nicht darauf achtend, ob sich jemand über das ungewöhnliche Verhalten der Prinzessin wunderte. Sie stürmte hinaus, rannte quer durch den Park geradewegs zur Anlegestelle.
Dort, an der kleineren Mole, lagen die Motorboote. Fieberhaft machte Edina sich daran, die Vertäuung zu lösen.
Normalerweise konnte sie gut mit Motorbooten umgehen. Hier auf dem Inselschloß ersetzen sie mehr oder weniger das Auto, denn nur mit Booten konnte man das Festland oder die benachbarten Inseln erreichen, wenn man nicht auf die langsameren Fährschiffe warten und angewiesen sein wollte.
Schon früh hatte Edina mit ihrem Vater oder mit zuverlässigen Angestellten fahren dürfen, man hatte sie auch oft ans Steuer gelassen, aber natürlich hatte Edina noch nie allein eine Tour aufs Meer hinaus machen dürfen.
Doch danach fragte Edina nicht. Viel zu langsam löste sich der Knoten, mit dem die Ankerleine an dem eisernen Haken befestigt war.
Kein Wunder, das war ein fachgerechter Seemannsknoten, und damit hatte Edina sich noch nie aufgehalten, für solche Arbeiten waren immer andere dagewesen.
Doch Edina wollte niemanden rufen, sie dachte nicht einmal daran.
Nur fort wollte sie, zum Festland hinüber, nach Schloß Lukorin. So schnell wie möglich.
Juray, der alte Gärtner, hatte die Prinzessin beobachtet. Mit offenem Mund hatte er hinter ihr hergesehen, nachdem sie ihn im Rosengarten beinahe umgerannt hätte, ohne ihn überhaupt zu sehen. Neugierig war er ihr gefolgt, und nun sah der alte Mann zu seinem Schrecken, daß sich die Prinzessin an den Booten zu schaffen machte.
Da faßte er sich ein Herz, obwohl es ihm nicht zustand, den hohen Herrschaften Ratschläge zu geben.
Edina hatte ihn auch nicht bemerkt, als er näher trat.
Der alte Mann räusperte sich und fragte: »Wollen Hoheit jetzt aufs Meer hinaus?«
Edina schaute gar nicht auf.
»Das siehst du doch, Juray«, erwiderte sie gar nicht freundlich.
»Da möchte ich Ihnen ganz entschieden abraten, Hoheit, ich…«
»Niemand hat dich nach deiner Meinung gefragt, Juray.«
»Ich bitte vielmals um Vergebung, Hoheit, daß ich mich trotzdem einmische, aber Sie dürfen jetzt nicht hinaus.«
»Wer soll mir das verbieten? Du etwa?«
»Wie könnte ich Ihnen etwas verbieten, Hoheit. Aber die Bora kommt, da darf man sich nicht hinauswagen aufs Meer.«
»Ach was, du willst mir nur Angst machen. Die Sonne scheint, und das Meer ist ruhig. Was willst du also?«
Edina nestelte noch immer an dem Knoten, sie kümmerte sich nicht um das aufgeregte Gehabe des Gärtners.
Die Stimme des alten Mannes wurde beschwörend.
»Sie wissen doch, wie plötzlich die Bora einfallen kann, Hoheit. Sie haben lange genug hier gelebt.«
»Auch die Bora kündigt sich vorher an, das weiß ich.«
»Selbstverständlich, und diese Anzeichen sind jetzt da, Hoheit. Bitte, so glauben Sie mir! Der Luftdruck ist gefallen, und über dem Festland haben sich die verräterischen kleinen Wölkchen gebildet.«
Edina wandte den Kopf dem Festland zu.
Tatsächlich, da standen sie, die typischen weißen Wölkchen, die wie Wattebäuschchen aussahen. So hübsch sahen sie aus, so friedlich, und sie sollten die Bora, den gefährlichen Fallwind, ankündigen?
»Du willst mir nur Angst machen, Juray. Kümmere dich lieber um die Rosen und laß mich in Ruhe, verstanden.«
»Ich bitte um Vergebung Hoheit, aber Sie dürfen nicht hinausfahren! Nicht mit diesem Boot. Selbst für die schweren Fischerboote ist die Bora gefährlich, und dann sitzen dort kräftige Männer am Ruder, Sie aber…«
»Ich kann gut mit dem Boot umgehen, Juray, viel besser, als du glaubst. Und ich lasse mich nicht bange machen. Hör endlich auf mit deinem Geschwätz, du störst mich nur.«
»Hoheit, ich…«
»Hast du nicht gehört, was ich dir gesagt habe? Du meinst wohl, weil du schon so alt bist und so lange zu unserem Schloß gehörst, könntest du dir alles erlauben, nicht wahr? Aber du hast mir keine Vorschriften zu machen, merk dir das endlich!«
Der Prinzessin war es inzwischen gelungen, das Boot freizubekommen.
Mit beachtlicher Geschicklichkeit stieß sie es von der Mauer ab und hüpfte hinein. Der Zündschlüssel steckte, sie drehte daran, und sofort sprang der Motor an.
Mit festen, energischen Händen packte Edina das Steuerrad, sie stellte den Gashebel auf volle Kraft, und wie eine Rakete schoß das Sportboot aus dem kleinen Hafen, sich vorn steil aufrichtend; denn bei der geringen Belastung war das Tempo viel zu groß.
Es sah richtig gefährlich aus.
»Mein Gott, mein Gott«, murmelte der alte Gärtner, »wenn das nur gutgeht! Sie hätte auf mich hören müssen, die kleine Hoheit, ich habe es doch nur gut gemeint. Aber sie lassen sich nichts sagen, die hohen Herrschaften. Glauben, alles besser zu wissen, bloß weil sie länger zur Schule gegangen sind. Dabei ist die Natur die beste Schule, die allerbeste. Und wenn der alte Gärtner Juray sagt, die Bora kommt, dann kommt sie auch.«
Aber Juray hatte keine Lust, sich ein zweites Mal abkanzeln zu lassen, sich vielleicht noch eine Rüge vom König persönlich zu holen.
Nein, er wollte sich nicht mehr um Dinge kümmern, die ihn nichts angingen.
Und so zog der Gärtner Juray sich brummelnd zu seinen Rosen zurück.
Er schaute zwar immer wieder besorgt zum Himmel, aber er sagte nichts mehr. Man hatte es ihm ja verboten.
*
Edina hatte es sofort leid getan, so unfreundlich zu dem alten Gärtner gewesen zu sein. Das war sonst gar nicht ihre Art.
Aber sie war so verstört, sie konnte es nicht erwarten, mit dem Fürsten von Lukorin zu sprechen, damit dieser furchtbare Irrtum seiner Verlobung rasch aus der Welt geschafft würde – wie sollte sie da Geduld haben für die übertriebenen Warnungen des alten Mannes.
Sie war kein Wickelkind mehr. Und mit ein bißchen Wind würde sie auch noch fertig werden. Da sie sich doch vorgenommen hatte, das Steuer ihres Lebensschiffes selbst in die Hand zu nehmen und dem Mann, der nichts von ihrer Liebe wußte, die Wahrheit zu sagen.
Nein, Prinzessin Edina hatte keine Furcht in diesem Augenblick. Nicht vor dem Meer und nicht vor der bevorstehenden Aussprache.
Sie hatte alle Gedanken ausgeschaltet, hatte einzig und allein ihr Ziel im Sinn, und darauf war all ihr Tun ausgerichtet.
Und das konnte recht gefährlich werden.
Sie merkte schon, daß die See sehr unruhig war, als das Boot aus dem Windschatten der Insel auf die freie Meeresstraße hinaus kam.
Die Wellen, eben kaum sichtbar, hatten schon kleine Schaumkrönchen, und Edina mußte das Steuer recht fest in ihren kleinen Händen halten, um den Kurs zum Festland einhalten zu können.
Der Wind hatte aufgefrischt, aus Nordost, und war empfindlich kühl.
Doch das alles hinderte Prinzessin Edina nicht daran, ihren Kurs unbeirrt weiterzusteuern. Sie hatte nur ein Ziel im Sinn, und nichts und niemand sollte sie aufhalten.
Es ging um ihr Lebensglück.
Wie ein Automat sagte Edina es sich immer wieder vor – und bedachte gar nicht, daß sie dabei ihr Leben aufs Spiel setzte.
Doch zunächst ging noch alles gut. Edina erreichte das andere Ufer. Geschickt steuerte sie die Kaimauer an, die eigens für die Boote vom Schloß auch hier auf dem Festland gebaut worden war.
Ein wenig ungeduldig blickte die junge Prinzessin sich um. Sie wartete auf einen Helfer, der sonst selbstverständlich immer dort war wenn vorher Besuch vom Schloß angekündigt wurde.
Von Prinzessin Edinas Kommen ahnte niemand etwas, also mußte sie sich allein helfen und das Boot auch allein festmachen.
Nicht die ungewohnte und darum so schwierige Arbeit, sondern vielmehr der Zeitverlust ärgerte Edina.
Aber da sie das Boot nicht abtreiben lassen konnte, machte sie sich ans Werk und schaffte es schließlich auch mit einigem Ächzen und Stöhnen.
Wie aber nun nach Schloß Lukorin kommen?
Edina merkte, daß sie überhaupt an nichts gedacht hatte, als sie sich so impulsiv auf den Weg machte. Sie war es gewohnt, daß ihr alle Steine aus dem Weg geräumt wurden, und nun war niemand da.
Aber was machte das schon. War sie nicht die Prinzessin von Norawa? Kannte sie hier in der Gegend nicht jeder? Würde man es sich nicht als Ehre anrechnen, ihr behilflich zu sein?
Ganz in der Nähe der Anlegestelle war eine kleine Gastwirtschaft. Guter Wein wurde dort ausgeschenkt, und Spezialitäten waren Käse und Schinken.
Die Wirtsleute besaßen einen kleinen Wagen. Edina wußte es, und ohne zu zögern machte sie sich auf den Weg.
Die junge Frau, die gerade hinter der Theke stand und Gläser spülte, glaubte zu träumen, als die Prinzessin ihr bescheidenes Lokal betrat. Doch Edina ließ ihr keine Zeit zu langen Überlegungen und weitschweifigen Begrüßungen.
»Ich muß sofort nach Schloß Lukorin«, sagte sie. »Kann Ihr Mann mich hinbringen?«
»Aber selbstverständlich, nur unser Wagen, wissen Sie, Hoheit… Und mein Mann hat gerade in der Küche gearbeitet.«
»Es macht mir nichts aus, wenn der Wagen nicht gewaschen ist, und die Kleidung Ihres Mannes interessiert mich nicht. Es muß nur rasch gehen.«
Tatsächlich saß Edina schon wenige Minuten später neben dem Wort in einem alten, recht klapprigen Wagen.
Sie bemerkte kaum, daß der Mann sie immer wieder scheu von der Seite ansah, daß er wohl hoffte, von ihr angesprochen und mit einer Erklärung bedacht zu werden.
Doch sie war nicht gesonnen, irgend etwas zu erklären. Ihr Blick war nur nach vorn gerichtet.
»Danke«, sagte Prinzessin Edina und sprang aus dem Wagen, kaum daß dieser vor dem hohen schmiedeeisernen Tor zu Stehen gekommen war.
»Ich darf nicht hineinfahren bis direkt vors Schloß, Hoheit«, bemerkte der Wirt bedauernd, »soll ich…«
»Nein, nein, lassen Sie nur, das kleine Stück durch den Park laufe ich zu Fuß.«
»Wünschen Sie, daß ich auf Sie warte, Hoheit?«
»Sie meinen, wegen des Rückweges? Nein, da machen Sie sich keine Gedanken. Der Fürst wird für meine Rückkehr sorgen.«
»Selbstverständlich, Hoheit, das war auch eine dumme Frage von mir. Es war mir eine hohe Ehre.«
»Und ich bedanke mich und werde mich demnächst erkenntlich zeigen.«
Edina hatte sich schon abgewandt. Neben dem großen schmiedeeisernen Tor gab es eine kleine Tür in der Mauer, und die war zum Glück unverschlossen.
Edina öffnete sie ohne zu zögern und schlüpfte hindurch.
Es war ein herrlicher, wunderbar gepflegter Park mit uralten Bäumen, der Schloß Lukorin umgab wie ein grüner Rahmen.
Die Platanen, die vom Tor her bis zum etwa fünfhundert Meter entfernten Schloßportal eine mächtige Allee bildeten, waren sicher einige hundert Jahre alt.
Scheu und ein wenig ehrfürchtig sah Edina nach oben. Das war wie ein gewaltiger grüner Dom, und der Wind spielte mit den Blättern und Zweigen und ließ sie rauschen.
Ungeduldig lief Edina weiter. Sie hätte den Wirt doch auffordern sollen, ruhig durch das Tor zu fahren. Sie, Prinzessin von Norawa, wäre bei ihm gewesen, und ihr hätte ganz gewiß niemand die Einfahrt verwehrt. Nun mußte sie das ganze Stück laufen.
Die Prinzessin hatte etwa Dreiviertel des Weges zurückgelegt, als ihr aus einem Seitenpfad ein junger Mann entgegentrat. Er trug die Uniform eines Aufsehers.
»He, Kleine«, sagte er, »weißt du nicht, daß es verboten ist, im Park des Fürsten herumzuspazieren?«
Edina war so verblüfft über die Anrede, daß es ihr für einen Augenblick die Sprache verschlug. Was erlaubte dieser Mann sich? Wußte er denn nicht, daß…
Nein, er schien sie nicht erkannt zu haben, und voller Schrecken entsann sich Edina erst jetzt ihres Aufzuges.
Sie war so fortgelaufen, wie sie gewesen war. Rasch versuchte sie mit der Hand den klaffenden Riß in ihrem Kleid zu verdecken, der noch von ihrem Sprung über das Rosenbeet herrührte. Und mit der anderen Hand strich sie über das zerzauste schwarze Haar.
Herrje, sie mußte wirklich aussehen wie eine Zigeunerin. Und so wollte sie zum Fürsten gehen? Was sollte er nur von ihr denken?
Ach was, im Grunde genommen waren das doch nur Bagatellen.
Der Fürst wußte schließlich, wie sie sonst aussah, er hatte ihr mehrmals gesagt, wie hübsch und bezaubernd er sie fände. Und im übrigen – es ging ja um Lebensfragen. Wer kümmerte sich da schon um solche Kleinigkeiten wie ein zerrissenes Kleid?
Der Wächter hatte das Erschrecken des jungen Mädchens wohl bemerkt, aber er deutete es falsch.
»Nun, keine Bange, mein Kind!« sagte er gutmütig. »Ich habe dich zwar hier im Park erwischt, aber den Kopf reiße ich dir deshalb nicht ab. Seine Durchlaucht ist ohnehin nicht da, da ist es nicht gar so schlimm, wenn sich mal ein Unbefugter hierher verirrt. Aber weiter bis zum Schloß darfst du nicht, Kleine. Du mußt brav wieder umkehren.«
Edina hatte nur eins verstanden.
»Der Fürst ist nicht da?« fragte sie bestürzt.
»Nein, ist er nicht. Zusammen mit seiner Braut ist er nach Paris gereist, ich glaube, das Hochzeitskleid soll gekauft werden und auch sonst alles, was eine so schöne Dame für die beginnenden Festlichkeiten anläßlich der bevorstehenden Hochzeit so braucht.«
»Der Fürst ist mit seiner Braut verreist?«
»Freilich! Die beiden sind schon lange unzertrennlich. Ganz große Liebe auf beiden Seiten, das weiß jeder hier im Schloß, und die beiden machen auch gar keinen Hehl daraus, wie glücklich sie sind. Man könnte richtig neidisch werden. Aber sie haben es ja auch verdient und passen großartig zueinander. Jedenfalls hätte Drago von Lukorin uns keine bessere Fürstin bringen können. Gräfin Valeska hat uns alle im Sturm erobert, und dem Fürsten sieht man es an, wie stolz er auf seine schöne und kluge Braut ist. Übrigens sind die Hochzeitsvorbereitungen auch schon im Gange. Es soll ein sehr prachtvolles Fest werden, an das man sich noch lange erinnern soll. Ich selbst werde bei den uniformierten Jägern sein, die der Brautkutsche vorausreiten.«
Der junge Mann warf sich stolz in die Brust, als wäre der Hochzeitstag eines Fürsten auch sein persönlicher Ehrentag.
Doch Edina bemerkte es nicht. Sie hatte nur eins begriffen: Fürst Drago war mit seiner Braut verreist, er liebte sie, er war glücklich mit ihr, und alle freuten sich auf die Hochzeit.
Und keiner dachte an sie, an die Prinzessin von Norawa, die so sicher gewesen war, die künftige Fürstin von Lukorin zu werden.
Edina senkte den Kopf und wandte sich um.
»Dann werde ich wieder gehen«, sagte sie.
»He, Mädchen, warum denn auf einmal so schüchtern?« fragte der Aufseher überrascht. »So schnell brauchst du dich doch nicht vergraulen zu lassen. Keine Angst, es geschieht dir hier im fürstlichen Park schon nichts, wenn ich bei dir bin. Immerhin bin ich ja der Aufseher, und ich habe zu bestimmen, wer im Park sein darf und wer nicht.«
»Sehr freundlich«, entgegnete Edina mit müdem Lächeln. »Aber ich bin hier doch wohl fehl am Platz. Vielen Dank auch!«
Edina neigte grüßend den Kopf. Ganz hoheitsvoll, ohne daß es ihr bewußt geworden wäre. Sie ging mitten auf der Allee davon, in einer königlichen Haltung, als nähme sie irgendwo eine Parade ab.
»He!« rief der Aufseher und blickte überrascht hinter dem jungen Mädchen her.
Die »Kleine« war zwar immer noch zerzaust und ihr Rock war zerrissen, aber sie hatte irgend etwas an sich, was der junge Mann sich nicht erklären konnte.
Jedenfalls würde er sie nun nicht mehr mit »Kleine« und »Du« anreden.
Und überhaupt – kam sie ihm auf einmal nicht irgendwie bekannt vor?
Der Aufseher schob die Mütze zurück und kratzte sich am Kopf.
Sollte einer klug werden aus der Geschichte.
*
Allan Noraway war unterwegs nach Schloß Norawa. Er saß nicht allein im Wagen, sondern hinter ihm im Fond thronte eine recht auffällig gekleidete, etwas füllige und nicht mehr ganz junge Dame.
»Wie gesagt, Mutter«, meinte Allan, »ich weiß nicht, ob es unserer Sache sehr dienlich ist, wenn du persönlich auf Schloß Norawa auftauchst.«
Gwendolyn Noraway fuhr mit beiden Händen zu ihrem Kopf empor, um den Sitz ihres reich mit Blumen geschmückten Hutes zu überprüfen.
»Das laß nur meine Sorge sein, mein Junge«, sagte sie mit leichter Herablassung. »Ich habe in meinem Leben immer genau gewußt, was ich tat.«
»Das hast du, Mutter.« Allan schmunzelte.
»Da brauchst du gar nicht so ironisch zu grinsen, mein Sohn! Was ich getan habe, war immer richtig. Oder hast du das je bezweifelt?«
»Ich würde es nie gewagt haben, Mutter.«
Frau Noraway wußte nicht, ob ihr Sohn es ernst meinte oder nur gutmütig spöttelte. Das konnte sie, seit er erwachsen war, sehr oft nicht klar unterscheiden, und wenn sie sich anfangs auch manchmal darüber geärgert hatte, so war sie jetzt nur noch stolz auf ihren intelligenten Sohn, der allen anderen – auch ihr selbst – so überlegen war.
Kein Wunder! Stammte er doch aus einem uralten Fürstengeschlecht.
Und sie, die Amerikanerin Gwendolyn geborene Johnson, war seine Mutter.
Und sie war mit einem Mann verheiratet gewesen, der sich eigentlich Prinz hätte nennen dürfen, wenn man ihn nicht schon vor ein paar Generationen schmählich darum betrogen hätte.
Aber sie, Gwendolyn Noraway, war nun fest entschlossen, endlich für sich das zu beanspruchen, was ihr längst zustand.
Prinzessin Gwendolyn – ja, das würde gut klingen.
Und wie ihre Freundinnen in Amerika staunen würden. Wie man sie beneiden würde.
Heimlich, ohne Wissen ihres Sohnes, hatte sie in Paris schon einige Toiletten in Auftrag gegeben, die sie als Prinzessin tragen wollte.
Und bei demselben Juwelier, der das Diadem zur Krönung von Kaiserin Farah Diba angefertigt hatte, hatte sie sich eine Krone bestellt, die mit Brillanten besetzt sein würde und mit Saphiren in der gleichen Farbe ihrer Augen.
O ja, sie würde es denen schon zeigen, daß auch Amerikaner zu glänzen und zu repräsentieren wußten. Geld spielte Gott sei Dank keine Rolle.
»Nun schau dir das an!« sagte Allan gerade in dem Augenblick, als Gwendolyn Noraway mit ihren Gedanken bei diesem Punkt angelangt war.
Sie war ein wenig verärgert über die Störung, denn es war zu schön, in Zukunftshoffnungen zu schwelgen.
Trotzdem folgte ihr Blick neugierig der ausgestreckten Hand ihres Sohnes.
Die Landschaft war immer noch die gleiche. Natürlich großartig und erhaben, der Blick hier von der Küstenstraße aus auf die vorgelagerten Inseln und das Meer, aber auf die Dauer, so fand Frau Noraway, doch ein bißchen eintönig.
Die Champs-Elysées in Paris zum Beispiel, die berühmte Prachtstraße, hatte sie weit mehr interessiert.
Aber ihr Sohn hatte mit seinem Hinweis offenbar nicht die Landschaft gemeint.
Mitten auf der Fahrbahn dieser Küstenstraße, wo weit und breit kein Haus zu finden war, geschweige denn eine Ortschaft, ging ein junges Mädchen.
Sie hatte eine zierliche Figur, die Taille, durch den Gürtel des sportlichen Kleides besonders betont, erschien so schmal, daß man sie leicht mit beiden Händen umspannen konnte. Schlank und lang waren die Beine, schwarzes glänzendes Haar fiel aufgelöst bis über die Schultern, und der schon stärker aufgekommene Wind spielte damit wie mit einem Vorhang.
»Das schöne Kind scheint lebensmüde zu sein«, brummte Allan. Er hatte bereits auf die Bremse getreten und den Wagen unmittelbar neben dem Mädchen zum Stehen gebracht.
Er lachte gutmütig, als das Mädchen sich erschrocken umwandte und wie erwachend in den Wagen starrte, der so dicht neben ihr stand, daß der Stoff ihres Kleides die Karosserie berührte.
»Würden Sie wohl die Freundlichkeit haben« sagte Allan lachend, »und dieses Auto ausnahmsweise einmal vorbeifahren lassen? Es handelt sich zwar um eine Fahrstraße, aber ich habe vollstes Verständnis dafür, daß Sie gerade hier Ihren Spaziergang machen wollen.«
Edina – sie war es natürlich – schüttelte mit einem Schwung das Haar aus dem Gesicht, daß es wie eine Mähne nach hinten flog.
»Sie dürfen sich Ihre Ironie sparen«, entgegnete sie kühl. »Selbstverständlich habe ich einen Fehler gemacht, ich hätte mehr auf der Seite gehen müssen. Also bitte ich um Entschuldigung, wenn ich Sie behindert haben sollte.«
Sie nickte kurz und fast schon ein wenig herablassend, wandte sich ab, ging zum Fahrbahnrand und setzte dort ruhig ihren Weg fort, als wäre sie nicht aufgehalten worden.
»Hast du so etwas schon gesehen?« fragte Allan Noraway und wandte sich verblüfft seiner Mutter zu. »Da denkt man, einem kleinen Mädchen das Leben gerettet zu haben, und da entpuppt sie sich als stolze, unnahbare Schönheit mit königlicher Haltung.«
Auch Gwendolyn Noraway war beeindruckt.
»Wirklich, eine erstaunliche junge Dame«, sagte sie. »Sollte man gar nicht glauben, hier in der Wildnis so etwas anzutreffen.«
»Na, Wildnis, ich weiß nicht recht, Mutter.«
»Ach, du brauchst mich nicht schon wieder zu belehren. Du weißt, wie ich über diese Landschaft denke. Natürlich ist es reine Geschmackssache, das gebe ich zu.«
»Eben.«
Allan hatte den Wagen wieder in Gang gesetzt, er fuhr langsam an Edina vorbei, die überhaupt nicht auf das Fahrzeug achtete.
»Wo das Mädchen nur hin will?« sagte er laut. »Hier gibt es keine Häuser, das weiß ich von meinen früheren Fahrten hier auf der Straße. Bis zur nächsten Ortschaft sind es gut zehn Kilometer.
»Du lieber Himmel, diese Strecke will die Kleine doch wohl nicht laufen? Sieh nur, sie hat Sandaletten an, die für einen solchen Fußweg gewiß nicht geeignet sind.«
Echtes Mitleid schwang in der Stimme der Amerikanerin. »Wollen wir sie nicht fragen, ob sie mitfahren will?«
Allan nickte, er war aber skeptisch.
»Na, die junge Dame sieht mir kaum nach Anhalterin aus. Aber du hast recht, Mutter, wir können sie nicht einfach hier allein auf der Straße lassen. Sie scheint auch ein bißchen durcheinander zu sein, denn eben lief sie wie eine Schlafwandlerin mitten auf der Fahrbahn. Sie war sich gewiß nicht der Gefahr bewußt, in der sie sich befand, denn es gibt ja auch noch andere Autos, wenn der Verkehr hier auch nicht allzu stark ist.«
Allan hatte den Wagen inzwischen bereits wieder angehalten, und nun wartete er, bis Edina herangekommen war.
»Wollen Sie ein Stück mitfahren, gnädiges Fräulein?« fragte er höflich.
»Ich wüßte nicht, Sie darum gebeten zu haben«, antwortete Edina eisig.
»Selbstverständlich nicht. Und es ist sonst auch nicht meine Art, junge Damen zum Mitfahren aufzufordern. Aber zufällig weiß ich, daß es hier weit und breit kein bewohnbares Haus gibt. Sie haben also auf jeden Fall noch einen weiten Fußmarsch vor sich. Wäre es da nicht angenehmer, ein Stück zu fahren, meine Dame?«
Nun beugte sich auch Gwendolyn Noraway aus dem Fenster, und es störte sie gar nicht, daß dabei der kostbare Blumenhut verrutschte und sogar das lila getönte Haar in Unordnung geriet.
»Seien Sie doch nicht so stolz, Fräulein«, sagte Gwendolyn mit echter Herzlichkeit. »Mein Sohn ist kein Mädchenverführer, das weiß ich genau. Und im übrigen bin ich ja auch noch da. Sie können ganz beruhigt sein.«
Obwohl Edina eben noch überzeugt gewesen war, in ihrem ganzen Leben nie mehr lächeln oder gar lachen zu können, mußte sie nun doch unwillkürlich lächeln.
Die beiden Fremden, der junge Mann und seine aufgeputzte, aber darum doch nicht unsympathische Mutter, waren nett, und das Angebot war bestimmt gut gemein.
Der Weg bis zur Anlegestelle, wo sie das Boot zurückgelassen hatte, war wirklich noch weit, und sie sehnte sich nach nichts so sehr wie nach der Stille ihres Zimmers. Dort wollte sie ausruhen und nachdenken.
Außerdem war sie müde. Es wäre schön, fahren zu können.
»Sie sind sehr freundlich«, erklärte sie zögernd.
Doch da hatte Frau Noraway schon die Wagentür geöffnet und zog Edina neben sich.
»Kommen Sie, Kind!« sagte sie mütterlich. »Sie sehen ganz müde und erschöpft aus. Warum machen Sie sich auch auf einen so langen Weg? Fahr zu, Allan, es ist alles ihn Ordnung.«
Allan hatte sich umgewandt. Lieber hätte er die schöne Unbekannte neben sich gehabt, doch seine Mutter, die übrigens immer darauf bestand, hinten zu sitzen, war schneller gewesen. Nun mußte er sich mit einem Blick in den Rückspiegel begnügen.
Irgendwie kam ihm das Mädchen bekannt vor, obwohl er es ganz sicher noch nie gesehen hatte.
Wieder schaute er, während der Wagen bereits fuhr, in den Rückspiegel. Darin erschien das Gesicht des Mädchens neben seinem eigenen, und – das war doch zu komisch – Allan fiel eine frappierende Ähnlichkeit zwischen ihnen beiden auf. Der gleiche Gesichtsschnitt, das gleiche dunkle Haar, die charakteristische Nase, die geschwungenen Lippen.
Bei dem Mädchen war natürlich alles viel feiner, zierlicher.
Ach, das war ja verrückt! Er sollte seine Aufmerksamkeit lieber der Straße zuwenden, das war gescheiter.
»Ich heiße Gwendolyn Noraway, und das ist mein Sohn Allan«, sagte seine Mutter gerade. »Wir sind Amerikaner und machen hier einen Besuch.«
Edina nickte freundlich, gab aber keine Antwort. Es war nicht einmal ersichtlich, ob sie überhaupt zugehört hatte.
Noch immer war sie wie betäubt über das, was der Aufseher ihr arglos mitgeteilt hatte.
Erst die schriftliche Ankündigung der Verlobung des Fürsten und nun das… Der Schock war zu plötzlich gekommen.
Edina, die so lange geträumt und in einem Wolkenschloß gelebt hatte, konnte so schnell nicht in die Wirklichkeit zurückfinden.
Wollte sie es überhaupt?
Ach, sie wußte nicht, was sie wollte. Nur allein sein, nachdenken können.
Frau Noraway, sonst ziemlich derb und gar nicht so sehr zartfühlend, schien zu spüren, was in dem jungen Mädchen vorging, und so sagte sie bald auch nichts mehr.
Schweigend fuhren sie so dahin, bis Edina plötzlich sagte: »Hier möchte ich aussteigen.«
»Hier?« fragte Allan verwundert und blickte sich um. Nur das Gasthaus war zu sehen und das hohe Schloß drüben auf der Insel. Ob das Mädchen zu dem Gasthaus gehörte?
Er mußte noch ein Stück weiter, denn die Fähre, die zur Insel übersetzte, ging nur von der nächsten Ortschaft aus, und es war nicht einmal sicher, ob noch eine Übersetzmöglichkeit bestand.
»Ja, ich muß hier aussteigen«, sagte Edina.
»Selbstverständlich!« Allan nickte.
Der Wagen hielt, und Edina stieg aus. Sie blickte noch einmal durchs Fenster, nickte Gwendolyn Noraway und ihrem Sohn zu und sagte: »Ich danke Ihnen, Sie waren sehr freundlich!« Dann ging sie davon.
»Seltsames Girl«, meinte Frau Noraway verblüfft. »Ist dir so etwas schon einmal begegnet?«
»Nein«, erwiderte Allan. »Aber ich muß sagen, die Kleine hat mir sehr imponiert.«
Der Wagen war schon wieder unterwegs, da rief Gwendolyn erstaunt: »Das Mädchen geht zum Meer hinunter, sieh nur!«
Allan konnte es im Rückspiegel nicht erkennen, und so bemerkte er nur: »Da hast du dich sicher getäuscht, Mutter. Was sollte das Mädchen denn bei diesem Wetter da unten am Meer?«
*
Der Sekretär des Königs war auf die Terrasse hinausgegangen, um eine Zigarette zu rauchen. Der König sah es nicht gern, wenn in seinen Arbeitsräumen geraucht wurde.
Wie in tiefes Nachdenken versunken, schüttelte der Sekretär den Kopf, gerade als der Butler Archibald vorüberging.
Archie mußte unwillkürlich lächeln.
»Sie führen wohl stumme Selbstgespräche?« fragte er heiter.
Der Sekretär nickte.
»So etwas Ähnliches. Ich habe gerade darüber nachgedacht, wie verdreht und undiszipliniert junge Damen in einem gewissen Alter sein können, selbst wenn sie den höchsten Familien entstammen.«
Archie runzelte die Stirn. Er wußte natürlich sofort, daß Prinzessin Edina gemeint war, und er wollte auf keinen Fall dulden, daß jemand etwas Nachteiliges über sie sagte.
Das nicht nur, weil es sich um die Tochter des Königs handelte. Archie selbst fühlte sich getroffen, und darüber wunderte er sich.
Aber er nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken.
»Wie meinen Sie das?« fragte er nur knapp.
Der Sekretär schmunzelte.
»Na, was halten Sie denn davon? Da kommt die junge Dame zu mir hereinspaziert und besteht darauf, ihrem Vater die Post persönlich auf den Schreibtisch zu legen. Schon nach kurzer Zeit aber kommt sie aus dem Zimmer herausgestürmt, als sei der Leibhaftige hinter ihr her. Sie rennt davon, ohne mich überhaupt zu beachten. Da müssen Sie doch zugeben, daß das ein sonderbares Verhalten ist.«
Archie war alarmiert. Er wußte nicht, warum, aber es war nun einmal so. »Die Prinzessin hat die Post gebracht, sagten Sie?«
»Ganz recht.
»Und der König war nicht anwesend?«
»Nein, er ist auch noch nicht zurückgekommen von seinen Besprechungen.«
Archie fragte nicht weiter. Er machte auf dem Absatz kehrt und ging auf die Tür zum Arbeitszimmer des Königs zu.
»Wohin wollen Sie?« fragte der Sekretär verblüfft. »Sie wissen doch, ich darf nicht…«
Doch Archie beachtete den Einwand überhaupt nicht. Mit größter Selbstverständlichkeit betrat er den Raum, in dem der König in seiner Abwesenheit niemanden duldete, und er ging geradewegs auf den Schreibtisch zu.
Hatte der Sekretär nicht gesagt, die Prinzessin habe die Post gebracht und wollte sie auf den Schreibtisch legen?
Ja, dort lag die Post – und obenauf ein geöffneter weißer Umschlag und ein auseinandergefalteter weißer Bogen.
Archie warf nur einen Blick darauf und wußte Bescheid.
Er war schon wieder an der Tür, als der Sekretär herangekommen war. Der Butler war blaß.
»Gibt es etwas Besonderes?« fragte der Sekretär erstaunt.
»Nein, nein! Wissen Sie, wohin sich die Prinzessin begeben hat?«
»Keine Ahnung, Herr Archibald. Sie stürmte aus meinem Zimmer und warf die Tür hinter sich zu. Ich konnte nicht sehen, wohin sie lief.«
Also mußte Archie suchen.
Daß er Edina suchen mußte, war für ihn ganz klar. Er konnte sich denken, wie verstört sie sein mußte, nachdem sie die Nachricht von der Verlobung des Fürsten bekommen hatte.
Archie wußte doch, wie sehr Edina sich in den Gedanken verrannt hatte, die Auserwählte des Fürsten zu sein, wie sicher sie gewesen war.
Ob es sich bei dem jungen Mädchen dagegen wirklich um Liebe handelte, wußte Archie nicht so genau. War es nicht viel mehr Schwärmerei, Einbildung?
Aber wie dem auch sein mochte. Edinas Enttäuschung mußte grenzenlos sein, und sie brauchte Hilfe.
Archie war hinaus in den Park gelaufen, er wollte Edina suchen.
Dort stieß er auf Juray, den Gärtner, der auf einem etwas erhöhten Punkt stand und besorgt abwechselnd immer wieder zum Himmel und aufs Meer hinaus starrte.
»Sie muß drüben sein«, murmelte er, »sicher ist sie drüben und wartet ab, bis das Meer sich wieder beruhigt hat.«
»Von wem sprichst du, Juray?«
Wie ertappt zuckte der alte Mann zusammen. Er hatte den Butler nicht herankommen gehört.
»Von wem du sprichst, möchte ich wissen!«
»Von Ihrer Hoheit natürlich, von unserer Prinzessin.«
»Hast du sie gesehen?«
»Freilich! Gewarnt habe ich sie, immer wieder gewarnt. Aber sie wollte nicht auf mich hören.«
»Wovor hast du sie gewarnt?«
»Vor der Fahrt auf das Meer hinaus.«
»Edina – die Prinzessin ist auf das Meer hinausgefahren?«
»Ja, das sage ich doch. Mit dem Motorboot und ganz allein. Ich habe gesagt, die Bora kommt, aber sie… Und nun sehen Sie doch selbst, Herr Archibald, habe ich nicht recht behalten? Die See kocht förmlich. Gut nur, daß die Prinzessin schon lange unterwegs ist. Sie muß längst drüben am anderen Ufer sein und wird dort warten, bis sie wieder zurückkehren kann, oder sie wird mit dem Fährboot kommen. Aber das wird der König wohl wissen, es gibt ja Telefon.«
Archie war da nicht so sicher. Hatte Edina wirklich telefoniert? Dann hätte der Sekretär es eigentlich wissen müssen.
Wo war die Prinzessin gerade?
War sie vielleicht doch auf dem Meer, war sie vielleicht… Archie wagte kaum, den Gedanken zu Ende zu führen.
Angestrengt und voller Sorge starrte er auf die weite, bleigraue Wasserfläche, die von den weißen Schaumkronen der Wellen wie zerrissen wirkte.
Da! Für einen Moment glaubte Archie, das Herz setzte ihm aus.
Dort hinten, mitten auf dem Kanal, war das rotweiße Sportboot zu erkennen. Wie eine Nußschale wurde es von den Wellen hin und her geworfen.
Allmächtiger! Dort war Edina, ganz allein, und sie schwebte in höchster Lebensgefahr!
»Hol Hilfe herbei, Juray, schnell!« rief Archie. »Alarmier die Leute vom Schloß und vor allem die Fischer! Beeilung, keine Sekunde ist zu verlieren!«
Archie hastete schon zum Ufer hinunter, rannte zur Mole.
Mit einem schnellen Blick suchte er sich unter den angebundenen Booten das kräftigste heraus, von dem er wußte, daß es den stärksten Motor hatte.
Trotzdem war es Wahnsinn, auch mit diesem Boot hinauszufahren. Bei dieser schweren See würde auch der stärkere Motor nichts helfen.
Aber Archie überlegte nicht lange, und er zögerte keine Sekunde, sich in Gefahr zu begeben.
Er konnte und wollte nicht warten, bis die schweren Fischerboote flottgemacht wären, bis vom Festland her das alarmierte Rettungsboot kommen würde.
Bis dahin konnte es längst zu spät sein.
Edina brauchte Hilfe, sofort, da gab es kein Überlegen und keinen Gedanken an die eigene Sicherheit.
Die See packte das Boot mit aller Gewalt, nachdem es aus dem Windschatten der Insel heraus war.
Die Brecher kamen von vorn und schlugen über dem Boot zusammen. In Sekunden war Archie völlig durchnäßt. Mit eisernem Griff hielt er das Steuer, und nun kam es ihm zugute, daß er sportlich durchtrainiert und im Umgang mit Motorbooten erfahren war.
Geschickt fuhr er die Wellen an, wo bei einem weniger geübten Steuermann das Boot sofort zum Kentern gebracht worden wäre.
Trotzdem hatte auch Archie seine liebe Not, denn ihm war klar, daß mit Können und Mut allein hier wenig auszurichten war.
Er brauchte Glück, sehr viel Glück, wenn er die Prinzessin erreichen wollte, ehe es zu spät war.
Das Herz krampfte sich ihm
zusammen, wenn er an Edina dachte – und nun wußte er plötzlich auch, welcher Art die Gefühle waren, die er für das junge Mädchen hegte.
Er liebte Prinzessin Edina.
Es war keine Liebelei, deren er schon einige hinter sich hatte, wie wohl jeder Mann seines Alters, sondern diesmal war es die wirkliche Liebe.
Sonderbar, daß er es nicht gleich gespürt hatte.
Aber er hatte geglaubt, verzichten zu müssen, hatte annehmen müssen, die Prinzessin sei bereits so gut wie verlobt. Und nun…
Wieder kam eine Welle, die aus der Sicht des niedrigen Bootes riesengroß wirkte.
Archie duckte sich und hielt das Steuer so fest, als wäre er damit verwachsen.
Gleich darauf wurde das Boot hochgehoben wie von einer Riesenfaust, es wurde von einer Welle getragen, und wie von einem Aussichtsturm aus spähte Archie in die Richtung, in der er Edina in ihrem Boot vermutete.
War sie überhaupt noch im Boot? War es nicht schon längst umgeschlagen?
Gleich einem Fahrstuhl sauste Archie wieder in die Tiefe, in ein Wellental hinein. Aber vorher hatte er gerade noch etwas gesehen, was ihm das Blut in den Adern erstarren ließ.
Edinas Boot war umgeschlagen, es trieb kieloben in den Fluten.
Wo war die Prinzessin?
Sein Boot wurde wieder hochgehoben, und Archie entdeckte, gar nicht mehr so weit entfernt, einen orangefarbenen Fleck auf dem Wasser. Das mußte Edina sein! Er erinnerte sich, daß sie ein Kleid in dieser Farbe getragen hatte.
Er riß das Steuer herum, lenkte auf die Prinzessin zu und hoffte, daß er sie noch rechtzeitig erreichen möge.
Aber ja, Edina lebte! Er sah, wie sie schwach eine Hand hob. Offenbar hatte auch sie das Boot bemerkt.
»Ich komme!« schrie Archie. »Aushalten!« Obwohl er wußte, daß der Wind ihm die Worte wie Fetzen vom Mund riß und Edina sie niemals hören konnte.
Aber nun war er so nah, daß er die im Wasser Treibende beinahe schon ergreifen konnte. Das aufgelöste Haar schwamm wie schwarzer Tang auf dem Wasser, und Edinas Bewegungen waren erschreckend schwach. Offenbar war sie völlig erschöpft.
In einem ersten Impuls wollte Archie ins Wasser hechten, dem geliebten Mädchen zu Hilfe eilen, so rasch er nur konnte.
Aber die Vernunft behielt doch die Oberhand. Wenn er das Boot verließ, es in diesen aufgewühlten Wassermassen steuerlos machte, dann würde es ebenfalls augenblicklich kentern.
Würde er die erschöpfte Prinzessin aber so lange über Wasser halten können, bis Hilfe nahte? Nein, es mußte auch anders gehen.
Mit äußerster Geschicklichkeit, zu der auch eine unbändige Kraft gehörte, brachte er das Boot in unmittelbare Nähe der Schwimmenden. Schon vorher hatte er zwei Strickleitern über Bord geworfen.
Edina versuchte, danach zu greifen, aber sie war zu geschwächt.
Nun blieb Archie nichts anderes übrig, als selbst einzugreifen.
Wenn nur das Boot aushielte. Er mußte das Steuer loslassen, das Boot den Wellen ausliefern.
Würde es gutgehen? Oder…
Nein, zum Nachdenken war keine Zeit.
Archie legte den Leerlauf ein, er stemmte sich mit den Füßen gegen die Planken und beugte sich weit über den Rand des Bootes.
Mit beiden Händen griff er nach der jungen Frau, die schon wieder abzutreiben drohte, und konnte sie gerade noch an ihrem weiten Rock fassen.
Edina spürte den Halt, sie klammerte sich an Archies Arm fest und wurde von einer Welle gegen die Bootswand geschleudert, so daß sie vor Schmerz und Schreck laut aufschrie.
Archie hatte die Welle kommen sehen. Er hatte Edina nicht vor dem Zusammenprall bewahren können, aber er nutzte die Kraft des hochschlagenden Wassers geschickt aus, um Edina blitzschnell an Bord zu ziehen. Keine Sekunde zu früh.
Das Boot lag fast senkrecht auf der Seite, es kippte schon gefährlich nach vorn.
Wie ein Wilder warf Archie sich mit seinem ganzen Körpergewicht zur anderen Seite, um das Gleichgewicht wiederherzustellen. Und es gelang. Das Boot neigte sich wieder zurück, der Kiel kam wieder mit dem Wasser in Berührung, die größte Gefahr war gebannt.
Aber noch konnte Archie sich nicht um die Gerettete kümmern. Er griff zum Steuer und gab wieder Gas.
Die Kraft des Motors sollte mit den tosenden Mächten der Natur kämpfen, Menschenkraft konnte hier nichts ausrichten.
Wo blieben denn nur die Helfer?
Archie wußte, daß die anderen Boote noch nicht hiersein konnten, daß die Verantwortung für das Leben der Prinzessin noch ganz allein bei ihm lag.
Ein Blick in die Runde überzeugte ihn, daß das Festland näher war als die Insel. Also nahm er Kurs zum Festland. Er wollte eine kleine Bucht ansteuern, dort wären die ärgsten Gefahren zunächst einmal abgewandt.
Später wußte Archie es kaum noch zu sagen, wie er es tatsächlich geschafft hatte, die Bucht zu erreichen.
Immer wieder war das Boot in die Gefahr des Kenterns gekommen, immer wieder entschieden Sekundenbruchteile, seine Geistesgegenwart und Kraft praktisch über Leben und Tod – und dann war es endlich geschafft!
Das Boot trieb in den Windschatten der Bucht, sofort wurde auch das Wasser ruhiger, Archie konnte endlich aufatmen.
Edina kauerte zu seinen Füßen. Er hatte es während des Kampfes mit den Naturgewalten überhaupt nicht bemerkt.
»Wie fühlen Sie sich, Prinzessin?«
»Ich – ich schäme mich so.«
»Warum?«
»Weil doch alles meine Schuld ist. Ich war dumm und kopflos, bin einfach davongerannt, habe die Warnungen des Gärtners in den Wind geschlagen, und nun – und nun hätte es beinahe Ihr Leben gekostet, Archie.«
»So schnell gebe ich nicht auf. Ich bin ein richtig ziemlich zäher Bursche.«
Das sollte munter und ein bißchen burschikos klingen, aber Archie hatte sich doch vorher die Kehle freiräuspern müssen, denn plötzlich hatte er erkannt, daß die Prinzessin nicht um sich, sondern um ihn Angst gehabt hatte.
War das denn die Möglichkeit? Das würde ja bedeuten…
Siedend heiß strömte es zum Herzen des jungen Mannes, und obwohl er völlig durchnäßt und erschöpft war, glaubte er, sich noch nie in seinem ganzen Leben so wohl gefühlt zu haben.
»Archie?« wisperte Edina.
»Ja, Hoheit?«
»Archie, wir sind doch beide mit knapper Not dem Tod entronnen, nicht wahr?«
»Nun, eine Weile hätten wir wohl noch schwimmen können, wenn auch das…«
»Nein, ich weiß, was es bedeutet, bei einem solchen Sturm im Meer zu treiben. Und wenn Sie nicht gekommen wären, Archie, wäre ich jetzt sicher tot, ertrunken.«
»Wir wollen so etwas Schreckliches nicht denken, Prinzessin.«
»Doch, ich will aber daran denken. Und ich will es nie wieder vergessen. Und wenn man dem Tod so nahe gewesen ist, dann darf man auch ohne Scheu die Wahrheit sagen, oder?«
»Die Wahrheit ist niemals ein Fehler, Hoheit.«
»Nun, in gewisser Beziehung doch. Wenn zum Beispiel ein Mädchen wie ich… Archie, ich bin so dumm gewesen. Ich hatte mir eingebildet, den Fürsten von Lukorin zu lieben, ich war sogar unterwegs zu ihm, wollte ihn noch von meiner Liebe überzeugen. Wie konnte ich nur so kindisch sein.
Sie brauchen mich nicht so überrascht anzuschauen, Archie. Sie sind doch mein Vertrauter gewesen, Ihnen habe ich alles erzählt, und so sollen Sie auch wissen, daß ich endlich klug und vernünftig geworden bin. Während dieser Höllenfahrt im Boot, als ich so ganz allein war, ist mir das alles klargeworden.
Vielleicht klingt es albern, aber ich habe das Gefühl, in dieser kurzen Zeit erwachsen geworden zu sein. Es war Kinderei, meine sogenannte Liebe zum Fürsten Drago. Das weiß ich, aber nicht etwa nur deshalb, weil er eine andere Frau liebt.«
»Wirklich nicht?«
»Nein. Wenn es anders gekommen wäre, wenn der Fürst um meine Hand angehalten und mich vielleicht geküßt hätte, ich weiß jetzt ganz sicher, daß mir spätestens in einem solchen Augenblick klargeworden wäre, daß ich den Fürsten nicht liebte, weil ich…«
Ja?«
»Weil ich in Wahrheit einen anderen Mann liebe. Ach, Archie, Sie müssen mich für hysterisch halten, für ein verrücktes junges Ding, das sich von einer Liebe in die andere stürzt. Aber wir beide waren dem Tod so nah, ich muß es einfach sagen, ich kann nicht schweigen, obwohl…«
»Nichts mehr sagen, kleine Edina!« unterbrach Archie sie leise.
Längst hatte er sie neben sich auf den Sitz gezogen, beide Arme um sie gelegt, um sie zu wärmen.
Nur um sie zu wärmen?
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, ich verstehe so gut, was in dir vorgeht.«
»Du hast mich immer verstanden, Archie, wie noch nie ein Mensch vorher. Ich möchte bei dir bleiben dürfen, für immer!«
»Weißt du, was du da sagst, Edina?« fragte Archie ernst.
»Ach ja, und nun wirst du mich doch für hysterisch halten. Heute morgen noch glaubte ich den Fürsten von Lukorin zu lieben, wollte ich mich ihm geradezu an den Hals werfen, und jetzt sage ich dir…«
»Ja, ich weiß schon, Edina, und ich glaube dir auch. Deine Gefühle hatten sich verirrt, es wäre schon möglich, daß du jetzt klug geworden bist, daß du nun wirklich weißt, was dein Herz dir sagt. Aber ich frage dich noch einmal Edina, ist dir die Bedeutung dessen, was du gesagt hast, voll und ganz klar?«
»Ich liebe dich. Könnte es da noch eine andere Bedeutung geben?«
»O doch, Edina, es gibt noch eine andere Bedeutung.«
»Ach so. Du meinst, weil du nur ein Butler bist? Archie, ich habe dir doch gesagt, daß ich endlich erwachsen geworden bin. Jetzt zählt für mich nur noch der Mensch, was bedeutet denn schon ein Titel? Ach, Archie, wenn du mich doch auch nur ein klein bißchen liebhaben könntest. Ich verlange gar nicht mehr. Ich möchte nur…«
Da zog der junge Mann das Mädchen noch näher zu sich heran. Ganz sanft nahm er ihren Kopf in seine Hände, er blickte ihr tief in die Augen und sagte zärtlich: »Ich habe dich nicht nur ein bißchen lieb, kleine Edina, ich liebe dich. Ich liebe dich sehr.«
»Ist das wahr?«
»Ja, es ist wahr! Mir ist noch
niemals so ernst und feierlich zumute gewesen wie in diesem Augenblick.«
»Ja, dann – dann…«
Mehr konnte die Prinzessin nicht sagen. Archies Kuß verschloß ihr den süßen Mund, und ihn erfüllte eine solche Innigkeit, wie er sie noch nie empfunden hatte.
»Ich liebe dich, Edina!« sagte er leise und zärtlich. »Mit deiner Liebe hast du mich zum glücklichsten Menschen der Erde gemacht. Und du sollst es niemals bereuen, daß du dich für mich entschieden hast.«
»Nicht ich habe mich entschieden, es war mein Herz«, flüsterte Edina froh. »Und mein Herz ist stark, Archie. Wenn es nötig sein sollte, kann es auch kämpfen.«
So sehr waren die jungen Leute von ihrer Liebe erfüllt, daß sie die Rettungsboote, die sich ihnen näherten, erst entdeckten, als diese schon auf Rufweite heran waren.
»Schade«, meinte Edina, »ich wäre so gern noch mit dir allein geblieben.«
Archie lachte leise. »Lebensretter kann man nicht gut wieder fortschicken, Liebste.« Doch gleich wurde er wieder ernst. »Aber wir beide bleiben jetzt immer zusammen, Edina, ein ganzes Leben!«
»Versprichst du es mir?«
»Ja, Liebste, ich verspreche es dir. Uns kann nichts und niemand mehr trennen.«
*
Die Lebensgefahr, in der Prinzessin Edina geschwebt hatte, versetzte alle Menschen, die zum Schloß Norawa gehörten, in begreifliche Aufregung. Und als sie an Land gebracht wurden, waren sowohl Edina als auch Archie so erschöpft, daß sie sich widerspruchslos von den Ärzten in Empfang nehmen und betreuen ließen.
So platzte die Bombe erst am nächsten Tag.
Edina, der ihr Arzt noch Bettruhe verordnet hatte, erschien trotzdem strahlend am Frühstückstisch.
Sie umarmte ihre Mutter und sagte selig: »Ich bin so glücklich, Mutti. So glücklich, wie noch nie in meinem Leben.«
»Königin Ilara Theresia war verblüfft. Auch sie hatte den Grund für Edinas gefährliche Bootsfahrt zu ahnen geglaubt, nachdem sie die angekündigte Vermählung des Fürsten von Lukorin gelesen hatte.
Und nun behauptete Edina, so glücklich wie noch nie in ihrem Leben zu sein?
Ein Blick in das strahlende, gewissermaßen von innen heraus leuchtende Gesicht ihrer Tochter überzeugte die Königin, daß Edina nicht bloße Worte gemacht hatte, sondern daß sie wirklich glücklich war.
Was war geschehen?
»Mutti, Vati«, sagte Edina, »bitte, seid nicht böse, hört mich an und versucht mich bitte, bitte zu verstehen! Vielleicht seid ihr nicht sofort einverstanden mit meinem Entschluß, aber ich weiß ganz bestimmt, daß es so und nicht anders kommen mußte. Ich hätte nie geglaubt, daß man so sicher und so glücklich sein kann.«
»Möchtest du dich bitte etwas genauer ausdrücken, Edina«, bemerkte König Maximilian Peter, und seinem Gesicht sah man an, daß er eine unangenehme Überraschung befürchtete.
»Ja, Vati, ich will es sagen, am liebsten möchte ich es in die ganze Welt hinausschreien. Ich bin verliebt, und ich habe Archie versprochen, ihm zu gehören für immer, für ein ganzes Leben!«
»Archie?«
Die Eltern riefen es wie aus einem Mund, und Edina nickte arglos.
»Ja, Archie. Er ist zwar nur unser Butler, aber er ist der liebste, der beste Mensch auf der ganzen Welt. Ihr mögt ihn doch auch gut leiden, ihr habt es beide oft genug gesagt.«
Der König war so abrupt aufgestanden, daß der Stuhl hinter ihm umkippte.
»Dieser – dieser Kerl!« stieß er empört hervor. »Ich hätte nie geglaubt, daß er schamlos genug wäre, die gestrige Situation dermaßen auszunutzen. Er hat dir das Leben gerettet, das ist wahr, und wir schulden ihm Dank, aber das geht doch entschieden zu weit.«
Edina schüttelte heftig den Kopf.
»Du irrst, Vati, wenn du meinst, Archie hätte die Situation ausgenutzt. Es war ganz anders. Ich habe ihm gesagt, daß ich ihn liebe, und da ist er sehr ernst geworden und hat gefragt, ob ich auch genau wüßte, was ich da sagte, und da habe ich geantwortet, ich wollte nie einen anderen Mann haben als ihn. Darum dürft ihr nicht auf Archie böse sein, Vati und Mutti, er hätte mir gestern sicher nicht gesagt, daß er mich auch liebt. Ich ganz allein bin daran schuld. Und ich bin so unsagbar glücklich!«
»Oh, Edina, was hast du da nur angerichtet?« stöhnte die Königin.
Und Maximilian Peter sagte grimmig: »Da werde ich wohl mit dem jungen Mann mal ein ernstes Wort reden müssen.«
Er war so aufgebracht, daß er den Butler sofort zur Rede stellen wollte.
Er hatte nicht die Geduld, ihn zu sich ins Arbeitszimmer zu bitten. Mit großen Schritten eilte er über den langen Gang, und als er gerade die Treppe erreichte, die in weitem, elegantem Bogen in die Halle führte, sah er dort drei Menschen, von denen er selbst noch nicht bemerkt worden war, da sie mit dem Rücken zu ihm standen.
Es waren ein großer, stattlicher junge Mann, gut und geschmackvoll gekleidet, eine ebenfalls teuer, aber recht auffällig gekleidete ältere Dame und der Butler Archibald.
Die Dame, deren Haar lila getönt war, hatte ihre ringgeschmückte Hand vertraulich auf den Arm des Butlers gelegt und sagte gerade: »Wir haben uns schon Sorgen um Sie gemacht, Archie. Sie hätten ja inzwischen entlarvt worden sein können.«
Der fremde junge Mann lachte.
»Keine Bange, Mutter, mein Freund läßt sich nicht erwischen! Aber im Ernst, alter Junge, warum hast du gar nichts mehr von dir hören lassen? Waren deine Nachforschungen ergebnislos? Hat sich der alte Fuchs nicht aus seinem Bau locken lassen?«
»Falls Sie mit dem alten Fuchs mich meinen sollten – hier bin ich!« rief König Maximilian Peter mit lauter Stimme und kam die Treppe herunter. »Ich darf die Herrschaften wohl um eine Erklärung bitten.«
Archie fing sich als erster.
»Darf ich Ihnen die Gäste vorstellen, Hoheit, die gerade auf Schloß Norawa eingetroffen sind? Das ist Mrs. Gwendolyn Noraway aus Amerika, und das ist ihr Sohn Allan.«
»Aha, ich verstehe!« bemerkte König Maximilian Peter eisig. »Und Sie sind vermutlich ein bezahlter Spion dieser Familie, die ja schon mehrmals an mich herangetreten ist.«
Archie grinste. Ein bißchen schuldbewußt, aber keineswegs zerknirscht.
»Spion stimmt«, gestand er, »bezahlt stimmt nicht, obwohl ich…«
»Schweigen Sie!« donnerte der König. »Ich verzichte auf Ihre Erklärungen! Sie sind fristlos entlassen!«
»Das darfst du nicht tun, Vati! Nein, das darfst du nicht!« rief Edina oben von der Treppe her.
Sie war ihrem Vater nachgelaufen und hatte seine letzten Worte gerade noch gehört. Nun flog sie die Stufen förmlich hinab und stürzte sich in Archies Arme.
»Ich liebe ihn, und er liebt mich, das ist doch kein Verbrechen. Du darfst ihn nicht aus dem Haus werfen, Vati, oder ich gehe gleich mit.«
»So, und dann willst du wohl bei der nächsten Herrschaft deines Auserwählten Dienstmädchen spielen, wie?« fragte der König sarkastisch.
Da mischte sich Allan ein.
»Moment mal«, sagte er gelassen, »ja, hier sollte ein kleines Mißverständnis aufgeklärt werden. Hoheit, ich stelle Ihnen Archibald Arthur Lord of Duncaster vor. Seine Lordschaft ist der künftige Herzog von Duncaster und Fulster. Aber er scheint auch ein begabter Butler zu sein, sonst wäre er sicherlich von Ihnen schon früher gefeuert worden.«
Sowohl der König als auch seine Tochter waren sekundenlang sprachlos.
In das allgemeine Schweigen hinein bemerkte Gwendolyn Noraway. »Und die Hauptschuldige an dem ganzen unsinnigen Spektakel bin wohl ich. Ich wollte unbedingt Prinzessin werden, weil ich dachte, unsere Familie gehörte hierher. Dabei, wenn ich es mir so recht überlege, wenn ich das Meer sehe und die weite, menschenarme Landschaft, also, ich denke, in New York gefällt es mir doch besser. Sie brauchen nicht länger in alten Chroniken zu schnüffeln, Archie. Ich bin Amerikanerin und bleibe es auch. Mein Sohn war eigentlich von Anfang an gegen das ganze Unternehmen.«
»Dabei fließt wirklich das Blut der Norawas in seinen Adern«, Archie grinste, »wenn er daraus auch kein Recht auf einen Titel herleiten kann.«
»Wieso?«
»Natürlich bin ich bei meinen Nachforschungen zu einem Ergebnis gekommen. Ich glaubt doch wohl nicht, daß ein Lord of Duncaster etwas nicht erreicht, was er sich vorgenommen hat, auch wenn Seine Hoheit der König die fraglichen Seiten aus der Chronik entfernt hat. Erlauben Sie, Hoheit, daß ich das Geheimnis trotzdem lüfte?«
König Maximilian Peter wußte nicht so recht, ob er empört sein oder die Angelegenheit lieber von der humorvollen Seite nehmen sollte.
Er ahnte schon, daß es sich bei dem Unternehmen der beiden jungen Männer mehr oder weniger um einen Ulk handelte, und wenn er an seine eigene Jugendzeit dachte, so hatte er dafür volles Verständnis. Und außerdem war ihm Archie von Anfang an sehr sympathisch gewesen.
So nickte er nur, und in seinen Augen erschien schon ein kleines Lächeln.
»Danke«, sagte Archie und wandte sich Allan zu. »Du hast das Blut der Norawas in den Adern, mein Freund«, erklärte er pathetisch, »aber der Titel gebührt dir nicht. Weil nämlich in früheren Zeiten einmal eine Prinzessin aus diesem Schloß der Stimme ihres Herzens gefolgt und bei Nacht und Nebel ausgerissen ist in die Arme des geliebten Mannes. War er ein Seeräuber, ein Kaperkapitän? Das weiß man nicht so genau, jedenfalls muß er ein Teufelskerl gewesen sein. Die beiden sind nach Amerika geflohen, sie gründeten eine Familie und lebten glücklich und zufrieden unter dem Namen Noraway – der Mann hatte wohl Grund, seinen eigenen Namen zu verschweigen. Nun ja, und sie sind die Stammeseltern eurer Familie.«
Gwendolyn Noraway hatte glänzende Augen bekommen.
»Ach, wie romantisch!« schwärmte sie. »Ein Seeräuber! Das ist ja noch viel interessanter als ein König. Wie werden meine Freundinnen staunen, wenn ich es ihnen erzähle.«
»Und warum hast du die fraglichen Seiten aus der Chronik entfernt, Maximilian?« fragte nun Königin Ilara Theresia, die ebenfalls inzwischen herangekommen war.
»Hm, ich wollte nicht, daß die Angelegenheit an die große Glocke gehängt wird«, entgegnete der König. »Und außerdem – unsere Tochter sollte sich nicht ein Beispiel an ihrer Ahnin nehmen und ebenfalls ausreißen, wenn sie sich verliebt hätte.«
»Also, nun wäre ich beinahe doch ausgerissen,Vati!« jauchzte Edina.
Sie hatte sich glücklich in Archies Arm geschmiegt, und es sah ganz so aus, als wollte sie sich nie mehr daraus lösen.
»Erlaubst du, daß ich bei Archie bleibe?«
Nun lachte der König, und man sah ihm an, daß er im Grunde sehr zufrieden war mit seinem Schwiegersohn.
»Schade«, sagte er schmunzelnd, »wir verlieren dadurch den besten Butler, den wir je hatten.«