Читать книгу Fürstenkrone Staffel 10 – Adelsroman - Marisa Frank - Страница 9

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Gräfin Auguste Sturmeck sah in den Spiegel und lächelte zufrieden.

»Eigentlich bin ich eine hübsche alte Dame!« stellte sie fest. Sie hatte nie den ohnehin vergeblichen Versuch unternommen, jünger auszusehen, als sie tatsächlich war. Schließlich konnte jeder im Gotha nachlesen, wann sie geboren war! Und wozu auch? Wenn man gepflegt war, sich geschmackvoll und passend kleidete und auf seine Linie achtete, dann war es nicht so schwierig, sich gut zu halten.

Freilich, das gab sie ehrlich zu: das Schicksal hatte es gut mit ihr gemeint! Sie war in einem liebevollen und wohlhabenden Elternhaus aufgewachsen, hatte ihre erste große Liebe geheiratet und war die ganze Ehe hindurch sehr glücklich gewesen.

Um so bitterer war natürlich der relativ frühe Tod ihres Gatten. Doch dagegen aufzubegehren war sinnlos – und sie hatte ja ihren Sohn und die reizenden Enkelkinder!

Aus dem für sie zu großen und zu anspruchsvollen Schloß war sie nach dem Tod ihres Mannes ausgezogen: zu viele Erinnerungen lebten darin. Und ihr Sohn Gotthard und seine Frau Eliane – nun, ihr Typ war sie nicht, und wenn sie sich in diese Dinge eingemischt hätte – aber das war schließlich die Privatangelegenheit eines jeden, und zweifellos sah sie gut aus, war tüchtig, zu tüchtig, ehrgeizig, zu ehrgeizig, aber sie hatte ihre Kinder hervorragend erzogen, und die drei waren wirklich eine reine Freude.

Gräfin Auguste hatte das Kavaliershaus, das ebenso alt war wie das Schloß, immer schon geliebt. Früher war es ausschließlich für Gäste verwendet worden, nun lebte sie hier. Wenn sie Besuch bekam, wohnte er bei ihr, sonst waren für die Gäste Zimmer im Schloß bereit. Platz war ja genug!

Gräfin Auguste war eher klein, zierlich, sehr schlank, hatte wunderschönes weißes Haar, das ihr feines Gesicht schmeichelnd umgab, leuchtend dunkelblaue Augen, deren Wimpern sie sorgfältig tuschte, und auch die leider inzwischen weißen Augenbrauen zog sie dezent nach.

Make-up benutzte sie nur bei besonderen Anlässen und auch da sehr sparsam, und ihre Lippen schminkte sie in einem natürlichen Rosa.

Gott sei Dank: Ihre Zähne waren gut! Sie hatte immer sehr darauf geachtet!

Sie war energisch, wenn es sein mußte – aber nicht so energisch, daß es sich in harten Linien in ihrem Gesicht ausgedrückt hätte. Ihre Freunde und Verwandten schätzten sie, ihre Angestellten achteten sie und hingen ihr treu an, ihre Enkel – das war das Wichtigste! – liebten sie! Und Sohn und Schwiegertochter – nun, sie kam blendend mit ihnen aus, denn sie lebte sehr zurückgezogen und kam nur auf Einladung hinüber ins Schloß.

Gräfin Auguste lebte in dem Kavaliershaus mit ihrer alten Haushälterin, die auch für sie kochte. Sehr gut, übrigens. Für die sonst anfallenden Arbeiten, oder wenn sie einen ihrer seltenen Besuche bekam, half das zahlreiche Schloßpersonal aus.

Jetzt erhob sich Gräfin Auguste, betrachtete nochmals das für ihre siebenundsechzig Jahre befriedigende Ergebnis ihrer Bemühungen in dem großen, eleganten Empire-Spiegel und ging dann hinunter in den Rokoko-Salon, in dem sie zu frühstücken pflegte: mit den hellen, zarten Farben, den zierlichen Möbeln, den hübschen goldgerahmten Schäferszenen war er genau richtig, um heiter den neuen Tag zu beginnen.

Die silberne Kaffeekanne stand bereits auf dem gleichfalls silbernen Stövchen und Auguste war eben dabei, sich eine Tasse einzuschenken, als sie draußen die leider etwas schrille Stimme ihrer Schwiegertochter hörte.

Schade, jetzt würde sie nicht in Ruhe die letzten Nachrichten in der Tageszeitung lesen können!

Die Tür flog auf, und Eliane strömte herein.

»Verzeih’, daß ich so hereinplatze, Mama! Aber ich habe eine so wunderbare Nachricht! Ich wollte, daß du es gleich erfährst!«

»Wie lieb von dir!« erwiderte Auguste lächelnd und ließ sich beide Wangen küssen. »Möchtest du einen Kaffee mit mir trinken?«

In der Tür wartete noch Emma, um etwaige Anordnungen entgegenzunehmen.

»Nein! O nein! Ich bin ohnehin so überdreht!« Eliane lachte, auch etwas zu laut.

Auguste wollte Emma ein Zeichen geben, daß sie sich zurückziehen könnte, doch Eliane, ganz gegen ihre sonstige Gewohnheit, sie hielt sehr auf Abstand zum Personal, protestierte:

»Aber nein! Bleiben Sie, Frau Emma! Sie müssen es mithören!«

Daraufhin kam Emma ganz in den Salon, schloß die Tür hinter sich und faltete die Hände über ihrer weißen Schürze, die diskret ihre stämmige Gestalt in dem blauweiß gestreiften Kleid umhüllte.

»Mama! So ein Glück!« Eliane schlug theatralisch ihre Hände zusammen. Sie trug wieder einmal schon am frühen Morgen zu viele und zu kostbare Ringe, dachte Auguste, sagte aber nichts. Im Großen und Ganzen kleidete sie sich richtig und elegant. Auch heute sah sie wirklich gut aus.

»Du machst es spannend!« sagte sie in die erwartungsvolle Pause hinein, die Eliane machte, damit sie fragte.

»Ekatarina hat sich verlobt!«

»Oh!« sagte Auguste, und es klang fast erschrocken.

»Du bist nicht begeistert?« Eliane war schockiert.

»Du liebe Zeit! Sie ist erst neunzehn!«

»Ich finde, es ist besser, die jungen Mädchen heiraten, bevor sie auf dumme Gedanken kommen!«

»Da hast du recht!« stimmte Auguste ihr zu.

»Du warst auch nicht älter!« erinnerte Eliane sie etwas spitz.

»Stimmt. Das vergißt man immer. Aber heute hat sich so vieles geändert. Die meisten wollen erst eine Berufsausbildung machen…«

»Ach, das könnte man auch, wenn man verlobt ist«, fand Eliane. »Außerdem hat Ekatarina eigentlich keine wirklichen Interessen.«

Auch das traf zu. Ganz im Gegensatz zu ihrer Schwester – sie waren zweieiige Zwillinge – die eine Menge Interessen und Begabungen hatte. Fast schon zu viele, um sich für etwas zu entscheiden!

»Du fragst nicht, wer es ist?« fragte Eliane nun ungeduldig.

»Ich habe so eine Ahnung. Trifft sie zu?«

»Es ist der Erbprinz Alexander von Schönhausen!« verkündete Eliane triumphierend. Sie sah sich nach Emma um. Die knickste, wie es erwartet wurde. »Nun, Emma?«

»Da gratuliere ist aber, Frau Gräfin! So ein liebenswerter junger Herr!«

»Eine blendende Partie!« verbesserte Gräfin Eliane sie und entließ sie mit einer Handbewegung.

»Ja, er ist reizend«, stimmte auch Auguste zu. »Und er sieht gut aus. Wenn sie beide einmal richtig erwachsen sind, werden sie ein sehr schönes und elegantes Paar abgeben!«

»Und ein sehr vornehmes!« setzte Eliane hinzu.

»Wollen wir es hoffen!« Auguste lachte leise. Leider paarte sich Vornehmheit nicht immer mit Adel und Reichtum. Doch sie wollte Eliane nicht unnötig aufbringen und setzte nun hinzu, was ja auch wirklich zutraf: »Du hast recht: es ist eine blendende Partie! Sie passen sehr gut zusammen, und ich wünsche ihnen, daß sie so glücklich werden, wie dein Schwiegervater und ich es waren.«

»Und wie Gotthard und ich es sind!« setzte Eliane hinzu und hatte wahrhaftig Tränen in den Augen. Sie umarmte Auguste nochmals. »Ich kann nicht bleiben, sämtliche Schönhausens kommen heute nachmittag zu uns – du kommst doch auch? Und dann feiern wir die Verlobung und besprechen alles weitere.«

»Danke! Ich komme natürlich gerne!« versicherte Auguste. »Gegen vier Uhr?«

»Ja!« Eliane warf ihr von der Tür noch eine Kußhand zu, und dann eilte sie zurück ins Schloß.

Gräfin Auguste legte die Zeitung zur Seite. Sie hatte keine Lust mehr auf unerfreuliche politische Nachrichten. Politische Nachrichten waren leider zumeist unerfreulich.

Die kleine Ekatarina! Ach ja! Sie war ein so süßes Kind gewesen. Und natürlich war sie auch jetzt noch süß. Genau wie ihre so völlig anders geartete Schwester. Ekatarina war blond und blauäugig und sportlich elegant. Eigentlich wie Eliane – nur war sie weicher in ihrer ganzen Art. Elena kam mehr aus sich selbst hinaus: auch blauäugig, aber dunkelhaarig und kleiner. Ach ja, und der erst siebzehnjährige Aribo! Er würde einmal fabelhaft aussehen! Zum Glück kam er auf seinen Großvater und nicht auf seinen Vater. Gotthard neigte mit seinen vierundvierzig Jahren leider dazu, ziemlich dick zu werden.

Sie kannte Alexander Schönhausen natürlich. Flüchtig, wie man die Verehrer seiner Enkelinnen eben kennt! Er hatte Ekatarina bereits in der Tanzstunde eifrig den Hof gemacht. Es war eigentlich ganz ähnlich, wie es bei ihr selbst gewesen war! Wie sich alles wiederholte!

Wie alt mochte der junge Mann sein? Der Bund nach dem Abitur, Jurastudium – welches Semester? Nun, das alles würde sich heute nachmittag herausstellen.

»Hatschi!« Du liebe Zeit, was war denn das? Sie nieste nochmals. Wie ärgerlich! War das jetzt eine Erkältung, oder reagierte sie auf irgend etwas allergisch? »Hatschi!«

Nun, etwas Gutes hatte es: sie konnte sich bald zurückziehen, wenn die zukünftigen Schwiegermütter in Festvorbereitungen schwelgten.

»Hatschi! Hatschi!«

»Gesundheit, liebste Omama!« Ekatarina kam zur Türe herein und hinter ihr gleich Elena.

»Eigentlich bin ich wütend!« rief sie und umarmte ihre Großmutter. »Ich wollte es doch selbst sagen – aber du kennst ja Mama!«

»Eben«, erwiderte Auguste und wischte sich die plötzlich tränenden Augen. »Mein Liebling! Ich wünsche dir so viel Glück! Alexander ist wirklich sympathisch…«

»Und eine so gute Partie!« setzte Elena lachend hinzu und küßte nun ihrerseits auch die Großmutter.

»Richtig!« Auguste lachte gleichfalls.

»Sollte es mich stören?« fragte Ekatarina ärgerlich.

»Natürlich nicht«, fand Auguste. »Es ist gut, wenn alles rundherum zusammenpaßt. Dann kommen zu den üblichen ehelichen Schwierigkeiten nicht noch andere!«

»Siehst du!« sagte Ekatarina und streckte ihrer Schwester die Zunge heraus.

»Ich hoffe, du bleibst noch ein bißchen länger bei uns!« Auguste wandte sich an ihre andere Enkelin.

»Garantiert. Ich möchte Archäologie studieren!« erklärte die.

»Ein sehr interessantes und aussichtsloses Studium«, fand Auguste vergnügt.

»Aber mit unseren Beziehungen und denen der Schönhausens könnte ich zum Beispiel Direktorin in einem großen Museum werden«, erläuterte Elena ihre Zukunftspläne. »Oder in ein Versteigerungshaus wie Sotheby’s. Oder in einem entsprechenden in den USA. Dort lieben sie Titel!«

Auguste mußte lachen.

»Ausgezeichnet. Wir bereden es, wenn es soweit ist. Jetzt widmen wir uns erst einmal dem jungen Liebesglück.«

»Du kommst doch heute nachmittag?« drängte Ekatarina.

»Garantiert! Ich muß mir Alexander jetzt doch genauer ansehen, wo er mein Enkel wird!«

»Ach, ich bin so glücklich!« flüsterte Ekatarina. »Ich könnte die ganze Zeit weinen!« Und prompt fing sie an zu schluchzen.

»Hatschi!« nieste Gräfin Auguste erneut. »Diese Mal war es, weil ich auch so gerührt bin!« behauptete sie und nieste gleich noch ein paarmal.

»Völlig überdreht, das Mädchen!« bemerkte Elena betont von oben herab. Doch Ekatarina lachte schon wieder.

»Wir müssen gehn! Wie müssen uns wunderschön machen, Omama! Du dich bitte auch!«

»Omama ist sowieso wunderschön!« erinnerte Elena ihre Schwester.

»Klar«, sagte die friedfertig. »Noch wunderschöner!«

»Ich werde mir Mühe geben!« versicherte Auguste lachend und benieste es gleich nochmals.

*

Daß Alexander, der Erbprinz von Schönhausen, blendend aussah, fand nicht nur die verliebte Ekatarina. Sie hatte fragend zu ihrer geliebten Omama hingesehen, als Alexander sich über deren Hand beugte, und die hatte ihr zugelächelt und geblinzelt.

Ekatarina strahlte! Nicht, daß sie unbedingt die Bestätigung brauchte – aber es war sehr schön, sie zu erhalten! Natürlich hatte sie von ihren Eltern seit der Verlobung nur überschwenglichstes Lob gehört, aber das nahm sie nicht ernst. Es würde nicht viel anders ausfallen, wenn August klein, krumm und dumm wäre – solange er der Erbprinz von Schönhausen blieb.

Aber er war nicht klein, dumm und krumm! Er war groß und schlank, ein erstklassiger Skifahrer und Reiter – was man ihm auch ansah. Er hatte dunkles, leicht gewelltes Haar, das er halblang trug, was ihm einfach toll stand!, ein gut geschnittenes, rassiges Gesicht und wunderschöne dunkle Augen unter dichten Wimpern. Ach: und sein Mund! Die Nase – laut ihren Eltern war sie typisch aristokratisch. Na, wenn schon! Nicht, daß Ekatarina etwas dagegen hatte, wenn jemand vornehm aussah – aber: sein Mund…

Sie hielt es nicht länger aus und verließ den Salon, in dem sich die Erwachsenen gerade zum dritten Mal sagten, wie überglücklich sie über diese Verbindung wären, und daß man sich niemand Besseren und Lieberen hätte wünschen können.

Hoffentlich verstand Alexander und sah nach ihr.

Alexander Schönhausen, dem es ähnlich ging und dessen höfliches Lächeln allmählich immer weniger strahlte und immer eingefrorener wurde, verstand Ekatarina nur zu gut. Er entschuldigte sich mit einer gemurmelten, unverständlichen Floskel und war ihr gefolgt, bevor die Eltern und Schwiegereltern in spe nachfragen konnten, was denn los wäre.

»Uff!« sagte er lachend und schloß Ekatarina, die nur wenige Schritte weiter in der breiten Diele stand und auf ihn wartete, in die Arme.

»Sie sind ja alles sehr nett, und es freut einen, daß sie einverstanden sind! Aber was zuviel ist, ist zuviel!«

»Peinlich ist es«, fand Ekatarina zornig und dann strahlte sie ihn an. »Weißt du: ich finde dich ja auch toll – aber…«

»Aber was?« Er legte den Arm um sie und ging langsam mit ihr den Gang hinunter und durch eine rückwärtige Tür hinaus in den Park. »Hier können sie uns vom Fenster und der Terrasse aus nicht sehen!« erklärte er. »Was wolltest du sagen?«

»Würdest du mich auch lieben und heiraten wollen, wenn ich – wenn ich –« sie dachte nach – »Bardame in irgendeiner Disco wäre?«

Alexander sah sie verblüfft an und begann dann zu lachen.

»Muß es unbedingt eine Bardame sein?«

»Nein, natürlich nicht. Ich wollte nur wissen, ob du mich auch nur wegen meines Namens…«

»Jetzt bist du aber still!« Er hielt ihr ärgerlich den Mund zu, und als er ihre erschrockenen Augen sah, verschloß er ihn ihr mit einem Kuß. Nach einer Weile ließ er sie los. »Ich weiß, was du fragen willst: ob ich dich auch ohne Titel und Geld lieben und heiraten würde. Ja, mein Schatz! Das würd ich! Ich habe mich damals in dich verliebt…«

»Ja! Ich weiß! In dieser dämlichen Tanzstunde! Aber da waren doch nur Jungs und Mädchen aus sogenannten ›besseren Familien‹«, erinnerte sie ihn.

»Na ja, du hättest zum Beispiel die Tochter eines gut verdienenden Zahnarztes sein können«, schlug Alexander mit belustigt funkelnden Augen vor.

»Ja, das wäre möglich gewesen«, fand Ekatarina ernst. »Ich kann dir verraten, daß meine Eltern nicht mit dir einverstanden gewesen wären, wenn du ein Zahnarztsohn oder etwas ähnliches wärst.«

Er lachte auf und zog sie hinter einen Fliederbusch, um sie nochmals zu küssen.

»Den Eindruck habe ich allerdings auch«, gab er dann zu. »Was für ein Glück, daß ich kein Zahnarztsohn bin!« Sie lachten beide. Dann schmollte Ekatarina.

»Du nimmst mich nicht ernst!«

»Doch! Sehr! Ich bin sicher, daß es meinen Eltern so auch lieber ist«, gab er ehrlich zu. »Aber wenn du auch als Zahnarzttochter so wärest, wie du jetzt bist, bin ich auch sicher, daß sie nichts dagegen hätten.«

»Ehrlich?« staunte Ekatarina.

»Ehrlich!« erwiderte er und wollte sie wieder an sich ziehen. Doch sie stemmte ihre Arme gegen seine Brust.

»Meine Omama ist, glaube ich, auch mehr so wie deine Eltern«, meinte sie dann.

Er lächelte und strich über ihr seidiges blondes Haar.

»Den Eindruck hatte ich auch. Ich freue mich, daß sie meine Omama wird!«

Ekatarina schmiegte sich nun an ihn. Jetzt hätte sie nichts mehr gegen ein ausführliches Geschmuse einzuwenden.

»Jetzt bin ich dran«, sagte Alexander nun. »Hättest du dich denn in mich verliebt, wenn.«

»In der Tanzstunde noch nicht!« gab sie ehrlich zu. »Da fand ich eigentlich euch alle blöd!«

»Danke! Erbprinzen ebenso wie reiche Zahnarztsöhne?«

»Genau. Aber dann… Ein paar Jahre später: weißt du: auf der Hochzeit von Susi Greifenstein und Peter Ilmhoff…«

»Hm«, er grinste zufrieden. »Wußtest du, daß ihr auf meine Bitte hin eingeladen worden wart? Denn ihr standet doch damals gerade vor dem Abitur!«

»Nein, das wußte ich nicht«, erwiderte Ekatarina, entzückt, daß er sie in den drei oder vier Jahren zwischen Tanzstunde und Abitur nicht vergessen hatte, und das, obgleich er in dieser Zwischenzeit beim Bund war und schon ein paar Semester studierte… »Aber ich wußte nicht, wer du bist, ich dachte, Fonsi wäre der Schönhausen…«

»Und trotzdem hast du dich verliebt?« fragte er zärtlich.

»Und wie!« seufzte Ekatarina. Dann dachte sie nach. »Mit den Augen – da hätte ich mich wahrscheinlich auch in einem Eisverkäufer verliebt!« Sie seufzte hingebungsvoll.

Alexander blieb einen Moment der Mund offen.

»Das ist ja…« Bevor er sich empört weiter äußern konnte, riß sie sich los und rannte lachend durch den Park zum Schloß zurück. Er sprintete hinter ihr her, und vor der Türe holte er sie ein und bestrafte sie für ihre Frechheit mit einem langen Kuß.

»Ist es nicht entzückend anzusehen?« fragte oben an dem großen Fenster Eliane Sturmeck die Fürstin Jenny Schönhausen. Die schenkte ihr ein zustimmendes Lächeln, während sie bei sich dachte: ein Glück, daß Ekatarina nicht so überschwenglich ist wie ihre Mutter. Eigentlich liegt mir die liebe Auguste mehr! Schade, daß sie sich nicht wohl fühlte und früher aufbrach.

*

Uff! Das war überstanden! Eigentlich waren die Schönhausens ja alle sehr nett! Besonders Alexander war wirklich ein echter Märchenprinz, wie ihn ihre liebe Ekatarina verdiente – aber sie hatte sich einfach scheußlich gefühlt!

Der Schnupfen war immer stärker geworden, sie hatte ständig geniest – was auch für die anderen wirklich nicht angenehm war! – und dann hatten sich auch noch Kopfschmerzen dazugesellt. War es ihr nur so vorgekommen, oder war es tatsächlich besonders laut und lustig zugegangen? Jetzt erinnerte sich Auguste auch daran, daß sie bereits am Morgen gefroren hatte. Sie hatte es nicht weiter beachtet – und wahrscheinlich wäre es ohnehin schon zu spät gewesen, um etwas zu unternehmen.

Nun lag sie in ihrem schönen Himmelbett, hatte dank der Wärmflasche warme Füße, trank den mit Honig gesüßten Kamillentee, den Emma ihr zubereitet hatte, und wenn ihre Augen tränten und ihre Nase rot war – wenn schon! Jetzt brauchte sie nicht mehr würdig auszusehen!

Es kam Auguste vor, als ginge es ihr bereits besser. Doch das Fieberthermometer zeigte etwas ganz anderes an, und Emma beschloß, gegen ihre leisen Proteste, daß sie gleich morgen früh Dr. Wenden anrufen würde. Es sei denn, die Gräfin wäre bis dahin völlig fieberfrei.

»Aber das glaube ich nicht!« sagte Emma und sah ihre verehrte Herrin vorwurfsvoll an – was natürlich nur ihre Besorgnis ausdrückte.

Auguste trank brav den Tee aus, dann legte sie sich hin und zog sich die Decke bis an die Nasenspitze. Sie schloß die Augen und versuchte, einzuschlafen und etwas Schönes, Beruhigendes zu träumen.

Doch es gelang ihr nicht.

Je mehr sie sich bemühte, um so wacher wurde sie.

Es war natürlich dumm und auch völlig sinnlos, sich Sorgen zu machen: aber sie konnte sie nicht unterdrücken! Wahrscheinlich lag das mit an ihrer Erkältung!

Sie fand Ekatarina einfach zu jung, um sich fürs Leben zu binden!

Sicher, sie war nicht älter gewesen, als sie sich verlobte und ein Jahr später heiratete! Aber – sie hatte noch den letzten Krieg mitgemacht! Bewußt! Sie war zwölf bei Kriegsende gewesen. Und ihr lieber späterer Mann war noch als Sechszehnjähriger an der Flak gestanden, mit achtzehn hatte man den armen Burschen ins Feld geschickt, und da glücklicherweise der Krieg dann bald zu Ende war, kam er noch für einige Monate in Gefangenschaft. Halbverhungert war er nach Hause gekommen.

Sie waren immer noch glücklicher als viele andere gewesen – sie hatten nicht ihre Heimat verloren! Aber sie waren einfach reifer gewesen, als die gleichaltrigen jungen Leute heute es waren. Und natürlich auch nicht so verwöhnt.

Auguste seufzte und schaute auf ihre kleine goldene Taschenuhr, die von einer Urgroßtante ihres lieben, verstorbenen Mannes stammte.

Oje! Gerade Mitternacht! Noch lange bis zum Morgen!

Vielleicht waren die jungen Leute heute auf eine andere Art reif. Die Welt hatte sich ja so verändert in den vergangenen 55 Jahren! Sie versuchte, die Überlegungen von sich zu schieben und daran zu denken, was sie zu der offiziellen Verlobung anziehen würde. Und zur Hochzeit. Obwohl es da noch einige Zeit hin war! Alexander wollte erst seinen Referendar machen. Hoffentlich schaffte er ihn…

O Gott, tat ihr der Kopf weh!

Die Uhrzeiger zeigte erst eine halbe Stunde später.

Auguste beschloß, noch eine Tablette zu nehmen. Als sie aufstand, um ins Bad zugehen – sie wollte keinesfalls Emma herbeiläuten – wurde ihr schwindelig.

Als sie wieder aufwachte, lag sie auf dem Boden und war am ganzen Körper eiskalt. Ganz langsam setzte sie sich hin. Sie fürchtete, nochmals ohnmächtig zu werden, wenn sie sich zu rasch bewegte. Und prompt wurde ihr wieder schwindelig, als sie einen erneuten Versuch unternahm, aufzustehen.

Jetzt mußte sie doch läuten! Sehnsüchtig schaute sie zu ihrem Nachttisch, auf dem die elektrische Klingel stand. Sie wagte nicht aufzustehen und rutschte, höchst unelegant im Sitzen, zu ihrem Bett hin. Sie hangelte sich hoch – und dann wurde ihr auch noch schlecht!

Arme Emma, dachte Auguste. Jetzt muß sie das alles noch wegputzen! Sie läutete, und dann ließ sie sich zurücksinken.

Anscheinend war sie doch richtig krank, war es doch nicht nur ein kleiner Schnupfen.

»Um Gottes willen! Frau Gräfin!« Wie durch Wolken drang Emmas Stimme zu ihr. Und dann war sie wieder weg…

Als Auguste wieder zu sich kam, saß ein ihr unbekannter älterer Herr an ihrem Bett und hielt ihr Handgelenk. Sie blinzelte zu ihm hin.

»Gott sei Dank, da sind Sie wieder!« Er lächelte sie freundlich an.

Auguste fühlte sich zu schwach, um zu antworten, und schloß die Augen. Kannte sie ihn?

»Kenne ich Sie?« fragte sie nach einer Weile.

»Noch nicht!« Er lachte leise. »Ich bin Dr. Andreas Wenden, der Vater von Peter Wenden, Ihrem Hausarzt. Mein Sohn ist mit seiner Frau für vier Wochen in Urlaub gefahren, und ich vertrete ihn und kümmere mich zudem um meine Enkel.«

»Ah…«, sagte Auguste. Und nach einer kleinen Pause: »Wohnen Sie nicht hier?«

»Doch«, erwiderte er, und sie dachte, was er für eine angenehme, tiefe Stimme hatte! »Seit dem Tod meiner Frau. Ich bin inzwischen auch in Pension und dachte, es wäre nicht so einsam, wenn ich in das Haus zurückkehrte, in dem ich aufgewachsen bin. Auch mein Vater war ja schon Arzt.«

»Ich weiß.« Die Andeutung eines Lächelns glitt über Augustes bleiches Gesicht.

»Und Hausarzt hier bei uns – bis Ihr Sohn kam!«

»Richtig! Wir kennen uns also eigentlich doch schon!«

»Und wieso haben Sie nicht die Praxis Ihres Vaters übernommen?« fragte Auguste nach einer Weile, in der Dr. Wenden sie abgehorcht und ihr den Blutdruck gemessen hatte.

»Mein Vater war sehr rüstig und praktizierte, bis mein Sohn an der Reihe war. Und ich arbeitete gerne in einem großen Krankenhaus.«

»Und – langweilen Sie sich jetzt hier auf dem Land?« erkundigte sich Auguste.

»Jein!« Er lachte. »Zur Zeit nicht. Und wenn ich meinen Enkeln bei ihren Schulaufgaben helfe – auch nicht! Allerdings kann ich nur in den Sprachen und Geschichte und Geographie noch mitreden«, schloß er mit einem leichten Seufzer.

»Ich stehe auch sehr gut mit meinen Ekeln!« sagte Auguste.

»Da haben wir schon wieder etwas gemeinsam!« erwiderte Dr. Wenden lächelnd.

»Und – Ihre Schwiegertochter?«

Jetzt lachte er laut auf.

»Haben Sie denn mit Ihrer Schwierigkeiten?«

»Nein. Aber ich hätte sie, wenn wir im gleichen Haus wohnten.«

»Tja. Damit ist Ihre Frage schon beantwortet«, sagte er nun, und es klang traurig. »Ich wäre wohl besser in der Stadt geblieben, wo ich meine Freunde und Kollegen hatte. Aber die große Wohnung – es war sehr teuer und auch zu mühsam. Und wie gesagt: ich fühlte mich ziemlich allein. Ich war sehr glücklich verheiratet«, schloß er leise.

»Ich auch.« Auguste wandte ihm das Gesicht zu, und jetzt erst sah sie ihn richtig an. »Ich glaube, es geht mir besser!«

»Das hoffe ich!« Er lachte. »Ich habe Ihnen etwas für Ihren Kreislauf gegeben und auch etwas Fiebersenkendes.«

»Danke!« Er sah nett aus. Sympathisch. Und auch gut. Mittelgroß, kräftig, er hatte ein volles Gesicht mit einem weißen Bart und sich über der Stirn ziemlich lichtendes weißes Haar. Um die Augen, die unter buschigen Brauen lagen, war ein Kranz von Fältchen. Bestimmt war er früher ein fröhlicher Mensch gewesen, bevor er die Dummheit begangen hatte, zu seinem Sohn und dessen Familie zu ziehen. Aber freilich, ein Mann alleine…

Dr. Wenden jr. war ihr nie besonders sympathisch gewesen. Aber auch nicht unsympathisch. Er war – blaß. Hatte nicht die Ausstrahlung seines Vaters oder seines Großvaters. Wahrscheinlich stand er unter dem Pantoffel. Sie mußte unwillkürlich lachen.

»Na, wenn Sie bereits über mich lachen können, ist es ein gutes Zeichen!« fand Dr. Wenden sen.

»Ich hatte nicht über Sie gelacht!« versicherte Auguste. »Aber ich denke, ich kann Sie nun entlassen. Damit Sie noch ein wenig Schlaf bekommen, bevor Sie morgen in die Praxis müssen.«

»Morgen ist keine Sprechstunde! Morgen ist Sonntag!« erinnerte er sie. »Aber ein bißchen Schlaf kann trotzdem nicht schaden.« Er sah auf seine Armbanduhr. »Vier Uhr! Auch Sie sollten noch schlafen!«

»Ich glaube, jetzt gelingt es mir auch«, meinte Auguste.

»Ich schaue morgen nach der Sonntagsmesse bei Ihnen vorbei«, versprach Dr. Wenden.

»Das ist nicht notwendig! Wirklich! Ich will Ihnen doch nicht den Sonntag verderben!«

»Ich schaue trotzdem vorbei. Morgen wird bei uns nicht gekocht, die Haushaltshilfe hat frei, und ich gehe mit meinen Enkeln zum Essen!«

»Dann kommen Sie doch nicht nach der Kirche, sondern anschließend ans Essen auf ein Täßchen Kaffee!« schlug Auguste zu ihrer eigenen Überraschung vor.

»Ich glaube nicht, daß ich Ihnen morgen schon Kaffee erlaube!« sagte Dr. Wenden ernst.

»Na gut: dann trinke ich Tee und Sie…«

»Ich trinke auch Tee!«

»Wunderbar! Dann bis morgen – um –?«

»Drei Uhr? Haben Sie da schon ausgeschlafen?«

»Wenn ich bis dahin im Bett bleibe – bestimmt!« versicherte Auguste.

Als er gegangen war, kam Emma noch einmal ins Zimmer.

»Ein sehr netter Herr, der alte Herr Dr. Wenden!« stellte sie zufrieden fest.

»Das finde ich auch«, stimmte Auguste ihr zu.

»Mir gefällt er besser als sein Sohn!« fuhr Emma fort.

»Mir auch!«

»Sie sehen jetzt auch schon besser aus – nicht mehr so – kalkweiß! Ich bin entsetzlich erschrocken!«

»Arme Emma! Aber jetzt schnell ins Bett.«

»Sie brauchen wirklich nichts mehr?« Emma sah sie besorgt an.

»Nein, Emma, wirklich nicht! Gute Nacht! Und schlafen Sie morgen aus!«

»Danke, Frau Gräfin! Und gute Nacht!«

Auguste hörte, wie sie draußen in der Diele laut gähnte. Sie schmunzelte. Brave Emma! Und sie hatte recht: dieser Dr. Wenden war ein wirklich sehr netter…

Auguste Sturmeck schlief friedlich bis tief in den Morgen.

*

»Na, Opa, wo hast du dich

heute nacht rumgetrieben?« begrüßte der fünfzehnjährige Jakob Dr. Andreas Wenden, als dieser noch unausgeschlafen zum gemeinsamen Frühstück erschien. Die zwölfjährige Ursula kicherte albern.

»Ich wurde nach Schloß Sturmeck gerufen!« erklärte der alte Arzt.

»Und? Was fehlte den armen Grafens?« Jakob gab sich betont lässig.

»Arztgeheimnis«, gab sein Großvater zur Antwort. »Kennst du die Familie?«

»Was heißt kennen«, brummte Jakob. »Der Aribo – so ein blöder Name! – geht zwei Klassen über mir. Die reden doch nicht mit so einem ›Baby‹!« Er zuckte die Schultern.

»Er ist sehr nett und sieht soooo süß aus!« schwärmte Ursula. »Wie ein echter Märchenprinz!«

Andreas Wenden schmunzelte und Jakob sagte verächtlich:

»Weiber! Alle gleich blöd!«

»Du bist selber blöd!« konterte Ursula. »Ich bin die Klassenbeste! Und was bist du?«

»Auch Einstein ist einmal sitzengeblieben. Und Bismarck ebenso«, war die ungerührte Antwort, und Wenden lachte über die Schlagfertigkeit.

»Da habe ich ja einen Enkel mit wahrhaft eindrucksvoller Zukunft!« meinte er. »Hoffentlich erlebe ich noch deine Wahl zum Bundeskanzler!«

»Ich gehe lieber in die Forschung. Da muß man einen nicht ganz so miesen Charakter haben wie in der Politik!«

»Hört, hört!« Wenden hob die Brauen. »Du könntest ja der Idealist sein, der die Welt rettet!«

»Dazu braucht es mehr als einen«, erwiderte Jakob trübe, und Ursula, die dieses Thema langweilig fand, erkundigte sich wieder nach den Sturmecks:

»Kennst du auch die Zwillinge, Opa?«

»Zwillinge?«

»Ja. Zwei tolle hübsche Mädchen. Aber ganz verschieden.«

»Zweieiige, du Klassenbeste!« warf ihr Bruder ein. Sie streckte ihm die Zunge raus.

»Das ist doch klar, wenn sie verschieden sind!«

»Nein, ich habe nur die alte Dame besucht. Ach ja: was macht ihr heute nachmittag?«

»Warum?« wollte Ursula wissen.

»Ich muß nochmals zur Gräfin und nachsehen, wie es ihr heute geht«, gab Wenden zur Antwort.

»Ich habe morgen Latein-Schularbeit«, seufzte Jakob. »Könntest du mich später abfragen?«

Wenden überlegte einen Moment.

»Bis sechs Uhr bin ich spätestens zu Hause.«

»Das ist aber ein langer Krankenbesuch«, stellte Ursula fest. »Bis in den späten Nachmittag!«

»Wenn es ihr besser geht, bleibe ich noch zum Kaffee.« Wieso erzähle ich das den neugierigen Fratzen? dachte Wenden.

»Donnerwetter! Opa, Vorsicht!« zog ihn Jakob prompt auf.

»Denke lieber an deine Lateinarbeit als an solchen Unsinn«, erwiderte Wenden etwas ärgerlich, nur mit dem Erfolg, daß Jakob wissend schmunzelte und Ursula wieder einmal kicherte.

Zur gleichen Zeit stellte Auguste Sturmeck fest, daß sie sich heute viel wohler fühlte, und als Emma mit dem Frühstückstablett kam, erklärte sie, daß sie wie immer im Rokoko-Salon frühstücken wolle.

»Nichts da, Frau Gräfin«, gab Emma streng zur Antwort und stellte das Frühstück auf das Betttischchen. »Sie bleiben mindestens bis heute nachmittag im Bett. Sonst liegen Sie gleich wieder auf der Nase! Guten Morgen, übrigens!«

»Guten Morgen!« Auguste lachte.

»Sie haben ja recht. Im Bett fühlt man sich immer stärker, als wenn man dann aufsteht.«

»Gut, daß Sie das einsehen, Frau Gräfin. Der Herr Dr. Wenden hat mir nämlich ausdrücklich befohlen, auf Sie aufzupassen.«

»Soso, hat er«, lächelte Auguste und betrachtete das langweilige Krankenfrühstück: leichten schwarzen Tee, Toast, Butter – aus. »Aber heute nachmittag gibt es doch etwas Ansprechenderes, oder hat Dr. Wenden da auch seine Vorschriften hinterlassen?«

»Für Frau Gräfin Tee mit Toast und eventuell etwas Konfitüre, und für den Herrn Doktor habe ich einen Sandkuchen gebacken.«

»So etwas!« tat Auguste empört.

»Ja, weil Sie den vielleicht auch essen dürfen – wenn es Ihnen besser geht und der Herr Doktor es Ihnen erlaubt, Frau Gräfin«, sagte Emma völlig unbeeindruckt.

Auguste seufzte.

»Dann passen jetzt ja schon zwei auf mich auf!«

»Seien Sie froh, Frau Gräfin, daß Sie jemanden haben, der sich um Sie kümmert!«

»Das bin ich, Emma! Wirklich. Ich weiß durchaus, was ich an Ihnen habe. Hat sich meine Familie gerührt?«

»Die Komteß Ekatarina hat angerufen und sich erkundigt, wie es Ihnen geht. Sie schickt Ihnen viele Grüße und Küsse, und sie sind alle heute in Schönhausen.«

»Ach ja, ich erinnere mich.« Auguste trank einen Schluck von dem ungesüßten Tee. »Sie sagten das bereits gestern. Aber dazu fühle ich mich wirklich noch nicht gut genug.«

Emma nickte zustimmend. Das wäre ausgemachter Unsinn.

Auguste trug ihr auf, im Terrassenzimmer zum Kaffee zu decken. Da schien nachmittags die Sonne hinein, und vielleicht konnte man sogar die Tür offen stehen lassen. Die Rankrosen, die bis herauf über die Balustrade wuchsen, waren so wunderschön!

»Und lassen Sie sich von Herrn Clausen«, das war der Schloßgärtner, »Blumen für die große Bodenvase geben. Achten Sie darauf, daß er sie lang genug abschneidet. Und decken Sie mit dem Fürstenberger Vogelservice, und auf den Tisch stellen Sie bitte die bauchige Silbervase mit rosa und roten Rankrosen. Zeigen Sie sie mir, wenn Sie alles fertig haben!«

»Als ob ich das nicht immer so machte«, brummte Emma ein wenig gekränkt. Schließlich war sie lange genug bei der Gräfin, um zu wissen, wie sie alles wollte.

»Was gibt es mittags?«

»Hühnerbrühe«, war die muffige Antwort.

»Ach, Emma, seien Sie nicht so streng mit mir!« zog Auguste sie auf.

Aber es war zu spät! Emma verließ mit dem Frühstückstablett das Zimmer und machte die Tür energisch hinter sich zu. Nun, bis zur nächsten Mahlzeit hatte sie sich wieder beruhigt!

Auguste lehnte sich lächelnd zurück. Aber eigentlich hatte sie recht! Schließlich kannte sie die Wünsche ihrer Herrin. Nur dieses Mal lag ihr daran, daß alles wirklich besonders schön gerichtet war.

Eigentlich hatte sie nur wenige Freunde. Natürlich traf man sich bei offiziellen Anlässen, Familienfesten aller Art – aber daß jemand sie spontan besuchte, war eher selten. Sie blieben im Schloß bei Gotthard und Eliane. Es war ja verständlich. Sie war eben alt! Und die in ihrem Alter waren fuhren nicht mehr in der Gegend herum, um Besuche zu machen. Das war ein Nachteil des Landlebens.

Aber in die Stadt ziehen, wo sie sich an einer Bridge-Runde beteiligen könnte, interessante Museumsführungen mitmachen, ein Theater- und Konzert-Abonnement sich halten – das war zweifellos alles sehr verlockend! Aber – allein?

Als ihr Mann noch lebte, hatten sie beide sich das für später vorgenommen: eine Stadtwohnung, die sie vornehmlich im Winter nutzen wollten. Denn das Landleben ganz aufgeben, wo es hier so wunderschön war mit den Scharen verschiedenfarbiger Narzissen und Tulpen, die im ganzen Park wuchsen, dann der Flieder, der Jasmin und schließlich ihre über alles geliebten Rosen, die am frühen Morgen die Luft mit ihrem Duft erfüllten! Ach ja, und die bunte Sommerblumenpracht, die bis zu den ersten Frösten dauerte. Und dann das bunte Laub! Und im Winter: wenn der Rauhreif alles mit seinen flimmernden Kristallen überzog! Nein, ganz in der Stadt wollte sie nicht leben.

Und alleine schon zweimal nicht.

Aber es wäre nett, wenn sie sich hier einen Freundeskreis schaffen könnte. Dieser nette Dr. Wenden zum Beispiel, dann der alte Pfarrer – sicher gab es noch jemanden, der zu ihnen paßte! Noch eine vierte Person. Dann könnte man Bridge spielen, zum Beispiel. Das wäre lustig! Ein gemütliches, ehrgeizloses Kaffee-Bridge! Vielleicht kannte Wenden jemanden.

Aber keine Frau! schoß es ihr durch den Kopf.

Was hatte sie da gedacht?

Auguste war über sich entsetzt. Es war besser, sie grübelte nicht weiter darüber nach, sondern schlief ein wenig, damit sie zum Kaffee auch wirklich aufstehen konnte.

*

»Schau mal, wie Opa sich fein macht!« sagte Ursula, wieder von ihrem gansigen Kichern begleitet.

Wenden unterdrückte seinen Ärger.

»Wenn man eingeladen ist, zieht man sich sauber an. Auch wenn es bei euch zur Zeit nicht ›in‹ ist!« erwiderte er ungeduldig.

»Dürfen wir mitkommen, Opa?« fragte Ursula mit frommem Augenaufschlag.

»Nein!« war die eindeutige Antwort. Und weil sie wieder so unverschämt grinste, glaubte Wenden zu seinem Ärger, es erklären zu müssen: »Es ist ein Krankenbesuch, Kinder. Das mit dem Kaffee ist nicht sicher, und außerdem seid ihr nicht eingeladen!«

»Ich wäre sowieso nicht mitgekommen, es wäre mir viel zu langweilig«, sagte Jakob. »Und dann dieses Latein! Bitte, Opa: vergiß es nicht!«

»Bestimmt nicht!« versprach der. »Und du, Ursula? Was treibst du heute nachmittag?«

»Irgendwas. Vielleicht lese ich. Vielleicht gehe ich mit Hilde«, das war eine Klassenkameradin, »ein Eis essen. Oder ins Kino. Mal sehen.«

»Deine Hausaufgaben…?«

»Aber Opa! Immer!«

»Alte Streberin!« murmelte Jakob vor sich hin. Ursula lachte nur.

Andreas Wenden stand vor dem streng gehüteten Blumenbeet seiner Schwiegertochter und überlegte, ob er ein paar Rosen abschneiden sollte. Natürlich hatte man auf Sturmeck, wo man eine eigene Gärtnerei mit Gewächshaus unterhielt, mehr als genug Blumen. Es wäre nur eine Geste. Doch dann besann er sich anders: etwas zu lesen! Er wählte einen der amüsanten, gesellschaftskritischen Kriminal-Romane der Anne Perry aus und fuhr nach Sturmeck.

Ursula sah vom Wohnzimmerfenster ihm nach.

»Findest du nicht, daß er sich anders benimmt als bei seinen anderen Patienten?« fragte sie Jakob, der traurig das noch geschlossene Lateinbuch ansah.

»Wer? Opa? Na ja, die Sturmecks sind ja auch anders als die meisten!«

»Du weißt schon, was ich meine!«

Er sah sie neugierig an.

»Du bist vielleicht ein frühreifes Früchtchen!«

»Ich? Wieso? Ich habe doch kein date?«

»Daß du überhaupt auf solche Gedanken kommst…«

»Du hast doch heute morgen damit angefangen!« verteidigte sich Ursula. »Ich habe daraufhin nur aufgepaßt.«

»Eben. Das meine ich. Aber – es wäre doch nicht schlecht: eine Gräfin in der Familie. Und weißt du…«, er verstummte. Vielleicht war es besser, seine Beobachtung für sich zu behalten. Sie war doch noch sehr klein…

»Ich weiß schon, was du sagen willst: Mama nörgelt immer an Opa herum.«

Jakob nickte. Sie hatte es also auch gemerkt.

»Er lacht viel weniger als früher, als Oma noch lebte.«

Wieder nickte Jakob.

»Und auch anfangs, bevor er bei uns wohnte, da hat er auch viel mehr gelacht«, setzte Ursula bekümmert hinzu.

»Er hat hier keine Freunde. Papa sagte letzthin zu Mama, daß es ein Fehler war, ihn aus seiner vertrauten Umgebung zu reißen. Aber es wäre eben so teuer gewesen…«

»Immer das leidige Geld!« seufzte Ursula, die ihrerseits damit bislang keine Schwierigkeiten hatte. Aber man hörte eben so viel!

*

Auguste kleidete sich für den Nachmittagskaffee wie zu einem ganz offiziellen Besuch: silbergraue Seidenbluse, passender Rock, silbergraue Strümpfe und hochhackige Pumps, dazu eine lange Perlenkette und Perlen in die Ohrläppchen. Die mittlere Garnitur, nicht die für abendliche Gelegenheiten.

Sie freute sich über den anerkennenden Blick in den Augen des alten Arztes, darüber, daß er ihr spannende »Bettlektüre« mitgebracht hatte und sie für gesund erklärte, nachdem er ihren Blutdruck gemessen und ihren Puls gefühlt hatte. Nichts stand einem gemütlichen Nachmittag mehr im Wege.

Sie erzählten einander von ihrem Leben früher, und wie sich alles verändert hatte, seit sie allein waren.

Nach fünf Uhr kam Emma in den Salon, doch bevor sie etwas sagen konnte, schob Ekatarina sie beiseite.

»Seit wann muß man mich bei dir anmelden, Omama!« rief sie empört. »Oh, du hast Besuch!« Sie blieb in der Tür stehen. Über ihre Schulter sah Auguste Alexanders Gesicht.

»Natürlich brauchst du dich nicht anzumelden!« sagte sie. »Kommt doch herein. Herr Dr. Wenden, das sind meine Enkelin Ekatarina und ihr Verlobter Prinz Alexander Schönhausen.«

Wenden stand auf und begrüßte die beiden.

»Ich habe schon von den hübschen, zweieiigen Zwillingen gehört«, sagte er lächelnd. »Von meinen Enkeln«, fügte er erklärend hinzu.

»Wieso zweieiig?« fragte Alexander einigermaßen verblüfft.

»Weil sie so verschieden sind!«

»Ach so, ja, natürlich!« Auguste lachte und legte einen Arm um Ekatarina.

»Wir wollten uns nach deiner Gesundheit erkundigen, liebe Omama in spe!«

»Wie ihr seht: dank der hervorragenden ärztlichen Hilfe hervorragend!« gab sie zur Antwort: »Wollt ihr mit uns Kaffee oder Tee trinken?«

Die beiden wechselten einen Blick.

»Oh, ihr müßt nicht! Ihr habt sicher lustigere Dinge vor!« meinte Auguste verständnisvoll.

»Du bist nicht böse?« Ekatarina beugte sich zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Wir kommen wieder, wenn du mal allein bist!« versprach Ekatarina.

»Das ist lieb!«

Alexander küßte Auguste die Hand, dann gingen die beiden jungen Leute wieder.

»Sie sind reizend«, fand Dr. Wenden.

»Ja. Das sind sie. Auch meine beiden anderen Enkel«, erzählte Auguste.

Am nächsten Tag, es war ein Montag, sah Dr. Wenden wieder bei seiner Patientin vorbei.

Dieses Mal kam er erst am Abend, da er tagsüber seinen Sohn in der Sprechstunde vertrat, der noch nicht aus dem Urlaub zurück war.

Gräfin Auguste saß gerade beim Abendbrot und forderte ihn auf, ihr Gesellschaft zu leisten.

Dr. Wenden nahm an, obgleich er wußte, daß zu Hause auch für ihn angetragen war, aber er unterhielt sich gerne mit der Gräfin.

Nach einem letzten Glas Wein stellte er fest:

»Sie sind ganz gesund. Ich glaube nicht, daß Sie noch weiter Medikamente einnehmen müssen.«

»Das heißt: Sie werden auch keine Krankenbesuche mehr bei mir machen!« sagte Auguste. »Das finde ich ausgesprochen schade!«

Er war verblüfft. Dann gab er zu: »Ich auch, Gräfin!«

»Und – Sie haben keine Zeit, mich auch außerdienstlich zu besuchen, Dr. Wenden? Ich finde, man trifft so selten Menschen, mit denen man sich auf Anhieb versteht. Und je älter man wird, um so schwieriger wird es, Gleichgesinnte zu finden.«

Er sah sie nachdenklich an.

»Sie haben recht«, stimmte er ihr dann zu. »Mein Sohn kommt am Wochenende wieder – und ich habe dann mehr Zeit, als mir lieb ist.«

»Spielen Sie Bridge?« erkundigte sich Auguste hoffnungsvoll. »Das ist ein amüsantes Spiel, immer vorausgesetzt, man nimmt es nicht zu ernst!«

»Leider nein«, gab Wenden zu.

»Schade«, sagte Auguste, sichtlich enttäuscht. Sie wußte nicht, zu was sie ihn auffordern könnte, ohne daß es seltsam aussah.

»Ja«, Wenden überlegte. »Aber ich kann Zank-Patience! Die spielte ich mit meiner Frau!«

»Wirklich? Wie lustig! Ich spielte sie auch öfter mit meinem Mann. Auch Mühle und Dame…« Sie sah ihn abwartend an.

»Es würde mir großen Spaß machen, wenn wir gelegentlich einen Abend bei so einem Gesellschaftsspiel verbringen könnten«, sagte Wenden nun eifrig. »Wissen Sie: man kann nicht jeden Abend früh zu Bett gehen, um die Familie meines Sohnes sich selbst zu überlassen. Ich habe zwar einen Fernsehapparat auf meinem Zimmer, aber das Programm ist leider auch nicht so, daß man jeden Abend davor sitzen mag.«

»Und wenn man nicht einmal mit einem anderen lästern kann, ist es noch langweiliger«, fand Auguste. »Wenn Sie Lust und Zeit haben, erwarte ich Sie kommenden Sonntag nachmittag zum Tee. Und es würde mich freuen, wenn Sie zum Abendessen blieben. Dann können Sie sich auch überzeugen, daß ich keinen Rückfall hatte«, schloß sie ihre Einladung lächelnd.

»Ich komme sehr gerne, Gräfin«, versicherte Wenden, als er schließlich aufbrach, und küßte ihr die Hand zum Abschied. Ganz Kavalier alter Schule.

*

»Meine Patienten waren von dir sehr angetan, Papa«, sagte Peter Wenden zu seinem Vater, nachdem er, vom Urlaub zurück, sich wieder selbst um seine Praxis kümmerte.

»Es hat mir auch Spaß gemacht, wieder zu praktizieren«, gab Andreas Wenden zur Antwort.

»Und er hat die Herzen deiner Patientinnen gebrochen!« berichtete Ursula vergnügt.

»Rede keinen Unsinn!« wies ihre Mutter sie scharf zurecht.

»Doch, Mami!« sagte nun auch Jakob lachend.

»Die alte Gräfin von Schloß Sturmeck hat ihn mehrmals eingeladen!«

»Oh, du hast einen anspruchsvollen Geschmack«, stellte Ilse etwas spitz fest.

»Es ging ihr sehr schlecht«, glaubte Andreas erklären zu müssen.

»So?« Auch seinem Sohn paßte das irgendwie nicht. »Nun, von jetzt an werde ich wieder nach ihr sehen! Die Sturmecks sind seit Großvater unsere Patienten.«

»Ich weiß«, erwiderte Andreas ausweichend. Er bedauerte, daß Ursula und Jakob wußten, daß er mit der Gräfin in einem Konzert gewesen war. Sie hatte ihn eingeladen. Anstelle der obligaten Flasche Kognak, die man seinem verdienten Arzt am Ende der Behandlung verehrt, hatte sie gesagt. Ihm war es lieber gewesen – und ihr auch, wie sie gestand. Alleine fuhr sie ungern so weit in die Stadt, und überhaupt waren alle diese Unternehmungen zu zweit amüsanter.

In der Oper sollte eine interessante Premiere stattfinden, und er hatte sie seinerseits eingeladen.

»Sie müssen nicht denken, daß Sie sich revanchieren müssen«, hatte Auguste gesagt und er hatte ihr erwidert, er wollte sich nicht revanchieren, es würde ihm Freude machen, mit ihr zusammen hinzugehen.

Als er es wenige Tage später seinem Sohn und seiner Schwiegertochter eröffnete, sahen ihn die beiden perplex an. Dann wechselten sie einen zweifelnden Blick – und sagten gar nichts.

Andreas Wenden war sich sicher, daß sie beide eine Menge sagen würden, sobald er außer Hörweite war. Und genauso war es auch!

»Findest du nicht, daß dein Vater sich etwas – hm – lächerlich macht?« fragte Ilse, nachdem sie gehört hatten, daß der alte Herr das Haus verlassen hatte. In elegantem dunklem Anzug mit silberfarbener Krawatte.

»Tja«, brummte Peter Wenden, den es irgendwie erbost hatte, daß es ihm selbst nie gelungen war, das freundschaftliche Verhältnis, das sein Großvater zu den Sturmecks hatte, weiterzupflegen. »Ein wenig seltsam ist es schon. Aber – was soll man tun?«

»Du solltest mit ihm reden!« fand Ilse. »Wir haben hier im Ort schließlich einen Ruf zu verlieren!«

»Ich bitte dich! Vater ist erwachsen!«

»Sehr erwachsen. An der Grenze zur Senilität!« gab Ilse scharf zurück.

»Wo ist Opa?« Jakob kam ins Zimmer. »Ich muß ihn mit der Lateinübersetzung etwas fragen…«

»Kann ich dir nicht helfen?« bot sein Vater an, dem die Unterhaltung mit seiner Frau unangenehm war. Was für ein peinliches Thema!

»Opa kann besser Latein! Er war ja auch auf einem humanistischen Gymnasium«, gab sein Sohn ihm zur Antwort. »Wo ist er denn?«

»Er ist wieder mir dieser Gräfin unterwegs«, erwiderte seine Mutter in abfälligem Ton.

»Ehrlich?« Jakob fand das sichtlich komisch. Und als jetzt Ursula ins Zimmer kam, sagte er lachend zu ihr: »Stell’ dir vor: Opa ist wieder mit der Gräfin Sturmeck unterwegs!«

»Ja! Sie gehen in die Oper!« wußte Ursula. »Findet ihr das nicht prima?« wandte sie sich an ihre Eltern.

»Na, ich weiß nicht«, Ilse verzog das Gesicht.

»Er ist wieder viel lustiger! Wieder fast so wie zur Zeit, als Oma noch lebte!« sagte Ursula. »Das ist doch gut!«

»Wenn er sich nur nicht lächerlich macht«, warf Peter Wenden scharf ein.

»Die nützen ihn doch sicher nur aus, diese Sturmecks! So eingebildet, wie sie sind!« ärgerte sich Ilse darüber, daß sie alle noch nie eingeladen worden waren. Schließlich könnte diese alte Gräfin ja auch mal Peter und sie auffordern zu kommen, zumindest zusammen mit ihrem Schwiegervater. Peter war schließlich der Hausarzt!

»Aber Mami!« Ursula schüttelte den Kopf. »Sie ist doch in Opas Alter! Sicher denkt sie, ihr wäret nur gelangweilt…«

»Rede nicht über Dinge, die du nicht verstehst!« fuhr ihre Mutter sie aufgebracht an. »Manchmal habe ich den Eindruck, dein Vater trägt sich mit dem Gedanken, wieder zu praktizieren, und will dir deine Patienten wegnehmen«, wandte sie sich an Peter.

»Mami, jetzt übertreibst du!« riefen Jakob und Ursula fast gleichzeitig.

»Also, das denke ich auch, Ilse«, versuchte Peter sie zu beruhigen. »Du vergißt, daß Vater bereits

achtundsechzig ist. Da macht man keine neue Praxis mehr auf!«

»Nein! Aber er will in deine einsteigen – und dir die lukrativsten Patienten wegnehmen.«

»Das höre ich mir nicht länger an! Das ist zu dumm!« rief Jakob zornig und lief aus dem Wohnzimmer.

Ursula rannte hinter ihm her.

»Sie sollten doch froh sein, daß Opa nicht mehr so depressiv ist!« meinte sie.

»Genau!« fand auch Jakob. »Los, du kannst mich Vokabeln abhören, wenn Opa nicht da ist. Und außerdem ist es für dich auch eine gute Übung!«

*

»Heute nachmittag kommen die Feldkirchens zum Tee«, sagte Eliane Sturmeck zu ihrem Mann. »Findest du nicht, wir müßten deine Mutter dazunehmen? Schließlich ist sie doch über ihre Großmutter mit ihnen verwandt.«

»Du kannst sie ja anrufen«, erwiderte Gotthard zerstreut.

Minuten später kam Eliane mit geradezu entsetztem Gesicht zurück in sein Arbeitszimmer.

»Gotthard, so geht es nicht weiter! Bisher habe ich mir eingeredet, ich würde es überbewerten oder es mir nur einbilden, weil ich es einfach nicht wahrhaben wollte, aber jetzt läßt es sich nicht mehr übersehen!«

»Was ist denn?« fragte er unwillig.

»Deine Mutter – ich kann es mir nur mit fortschreitender Senilität erklären!«

»Den Eindruck hatte ich bisher nicht«, gab er zur Antwort. »Erst kürzlich beim Steuerberater…«

»Sie ist schon wieder mit diesem alten Arzt unterwegs.«

»Dr. Wenden?«

»Genau! Sie gehen zusammen in die Oper. Deshalb kann sie nicht kommen, und wir sollten die Feldkirchens von ihr grüßen.«

»Hm«, machte Gotthard.

»Jetzt waren sie doch erst im Konzert, dann in einer Ausstellung, und zudem kommt er ständig zum Tee…«

»Ja, ja, Omama hat einen scharfen Verehrer!« Aribo, der gerade in die Bibliothek kam, hatte offenbar die letzten Worte gehört.

»Sie macht sich und uns unmöglich!« rief Eliane zornig.

»Naja…«, brummte Gotthard, der nicht recht wußte, was er sagen sollte.

»Wir finden das super!« rief Aribo lachend.

»Wer ›wir‹?« wollte seine Mutter ärgerlich wissen.

»Ekatarina, Elena und ich! Ist doch toll, daß man auch in späteren Jahren…«

»Da hörst du es!« schrie Eliane außer sich und völlig unbeherrscht, »sie macht sich zum Gespött!«

»Omama – niemals!« verteidigte Aribo seine Großmutter.

»Und habt ihr schon weiter gedacht?« bohrte Eliane, entschlossen, gegen diese peinliche Freundschaft etwas zu unternehmen, weiter.

»Wie weit?« spottete Aribo.

»Du sei still!« fuhr ihn nun sein Vater ungeduldig an. »Deine Mutter hat ganz recht! Der alte Dr. Wenden mag ja ein netter Mann sein und auch vielleicht ein guter Arzt…«

»Er ist pensioniert und lebt bei der Familie seines Sohnes!« unterbrach Gräfin Eliane erneut. »Wahrscheinlich…«

»Mama!« Aribo wurde ärgerlich.

»Das ist doch absurd!«

»Was ist absurd? Wenn deine Großmutter so verrückt ist, in ihrem Alter sich noch für Männer zu interessieren…«

»Eliane, mäßige dich!« warnte nun auch Gotthard.

»Und was ist, wenn sie ihr Vermögen diesem Arzt und seiner Familie hinterläßt?« fauchte Eliane nun.

Gotthard starrte sie ziemlich verblüfft an.

Daran hatte er noch nicht gedacht! Aber freilich: Eliane hatte recht!

»Mama, Papa…«, versuchte Aribo etwas zu sagen.

»Du hältst dich da ganz raus!« mahnte jetzt sein Vater. »Was willst du eigentlich hier?«

»Ich wollte im Lexikon etwas nachschlagen«, gab Aribo schlecht gelaunt zur Antwort.

»Dann nimm’ es dir mit und verschwinde. Dein Vater und ich haben hier Wichtiges zu besprechen«, forderte seine Mutter ihn ungnädig auf.

Aribo gab keine Antwort, holte sich den benötigten Band aus dem Regal und verließ ohne ein weiteres Wort die Bibliothek.

»Man muß bei den Kindern aufpassen: sie haben so moderne Ansichten«, sagte Eliane aufgeregt. »Stell’ dir vor: wenn die Schönhausens von dieser – Mesalliance hören! Womöglich bestehen sie darauf, daß Alexander seine Verlobung mit Ekatarina löst!«

Gotthard sah seine Frau mit einer Mischung aus Schreck und Bewunderung an.

»So weit habe ich noch gar

nicht gedacht«, gab er zu. »Allerdings – ich kann mir nicht vorstellen…«

»Du bist mit deiner Arbeit

so beschäftigt, daß du nicht mitkriegst, daß deine Mutter fast täglich mit diesem – diesem Erbschleicher zusammen ist.«

»Erbschleicher…«, murmelte er etwas zweifelnd.

»Nun ja! Natürlich nicht für sich! In erster Linie für seine Kinder und Enkel!« behauptete Eliane.

»Da besteht natürlich eine gewisse Gefahr«, dachte Gotthard laut und stieß einen abgrundtiefen Seufzer aus. Die Sorgen wurden immer mehr anstatt weniger! »Es kann gut sein, daß nach den verschiedenen Reformen im Gesundheitswesen die Wendens sich gerne hier etwas – nun, mitnehmen wollen. Aber ganz abgesehen davon: er ist nur, wirklich nichts, standesgemäß!«

»Bei Gott nicht!« empörte sich Eliane.

»Und dazu in diesem Alter! Fast Siebzig! Das – das ist doch einfach – peinlich!«

*

Aribo hatte sich den Folianten unter den Arm geklemmt und ging hinüber in den Westflügel des Schlosses, wo sich die Räume seiner Schwestern befanden. Er klopfte bei Ekatarina an die Türe.

»Störe ich dich beim Knutschen mit deinem Zukünftigen oder habt ihr für einen Moment Zeit?«

»Alexander ist leider schon weg«, gab die zur Antwort. »Ich habe meine Streicheleinheiten für heute schon bekommen!« Sie lachte höchst vergnügt.

»Wo ist Elena?« fragte ihr Bruder.

»Wo wird sie sein? Auf ihrem Zimmer, irgendein langweiliges Kunstbuch wälzen!« erwiderte Ekatarina und rekelte sich. »Gibt es etwas Besonderes?«

»Ja. Aber ich habe keine Lust, zweimal das gleiche zu erzählen. Ich rufe Elena herüber!«

Ekatarina sah ihm erstaunt nach. Dann legte sie mit einem bedauernden Seufzer den Liebesroman, in dem sie gerade schmökerte, zur Seite. Irgendwie klang Aribo, als hätte er unangenehme Nachrichten. Womöglich war er in Gefahr sitzenzubleiben und brauchte schwesterliche Unterstützung!

»Er macht es echt spannend!« fand Elena, als sie mit ihm zurückkam.

»Omama geht heute mit Dr. Wenden in die Oper!« platzte Aribo nun heraus.

»Ehrlich?« Ekatarina klatschte vergnügt in die Hände. »Das finde ich wunderbar!«

»Und? Was ist dabei?« erkundigte sich Eliane.

»Nichts. Ich finde es auch prima. Aber ihr solltet unsere Eltern hören. Ich kam zufällig dazu, weil ich ein Buch brauchte.«

»Wieso? Was kann sie da stören?« wunderte sich Elena. »Ich finde das ganz prima. Was soll sie immer alleine in ihrem Haus herumsitzen?!«

»Eben! Aber sie empören sich wegen nicht standesgemäß!«

»Quatsch!« sagte Ekatarina.

»Würde es dich als zukünftige Fürstin nicht stören, wenn deine Großmutter schlicht ›Frau Wenden‹ hieße?« fragte Aribo interessiert.

»Du glaubst, es ist sooo ernst?« fragte Elena entzückt.

»Unseren Eltern nach – ja!«

»Na, so etwas! Wer hätte das gedacht: Omama heiratet womöglich noch vor dir!« Elena fand die Geschichte köstlich.

»Die Hauptsache ich doch, daß die beiden zufrieden und glücklich sind«, meinte Ekatarina. »Ich erinnere mich sehr gut, daß unsere Eltern auch immer ein Gesicht ziehen, wenn sie Omama dazubitten müssen. Oder glauben, es zu müssen! Sollen sie doch froh sein!«

»Das finde ich eben auch: wir müssen Omama unterstützen!« erklärte Ario.

»Klar unterstützen wir sie!« stimmten die beiden Mädchen sofort zu.

»Sie haben Angst, sie könnte etwas von ihrem Geld an die Familie von Dr. Wenden vererben!« berichtete Aribo.

»Es ist doch ihr Geld! Und sie kann damit machen, was sie will!« ärgerte sich Elena. »Sie ist doch wirklich alt genug, um über sich selbst bestimmen zu können!«

»Dann sind wir drei uns ja einig«, stellte Aribo zufrieden fest. »Und ich kann mich nun mit gutem Gewissen an mein langweiliges Referat machen!«

»Gut, daß du uns eingeweiht hast«, bedankten sich seine Schwestern. »Da können wir uns gleich etwas überlegen, wenn unsere Eltern irgendwie komische Bemerkungen machen sollten.«

*

Gräfin Auguste Sturmeck saß vor ihrem Schminktisch und betrachtete sich im Spiegel. Sie lachte sich an. Wie ihre Augen strahlten! Fast kam sie sich ein bißchen albern vor: aber sie war seit dem Tod ihres Mannes nicht mehr so glücklich gewesen.

»Ich glaube, du altes Mädchen, du hast dich verliebt!« sagte sie zu ihrem Spiegelbild. »Ich kann es irgendwie noch gar nicht glauben!« Sie holte tief Atem und mußte lachen, weil sie vor sich selbst errötete.

»Wie ein etwas reifer Teenie!« zog sie sich auf.

Es war eine herrliche Vorstellung gewesen. Aber nachher – war es noch schöner geworden.

Andreas hatte sie ausgeführt, zu einem eleganten Diner in ein besonders reizendes Lokal. Als eine Blumenverkäuferin mit Veilchen kam, hatte er einen Strauß für sie gekauft. Und daraufhin hatte sie ihm vorgeschlagen, daß man sich duze.

Ja! Sie hatte es vorgeschlagen! Und wie er sich gefreut hatte! Und dann hatte er ihre Hände geküßt und sie so fragend angesehen, und wieder hatte sie die Initiative ergriffen und ihn einfach auf den Mund geküßt!

»So!« hatte sie gesagt und ihre Verlegenheit hinweggelacht, »jetzt weiß ich, wie ein Kuß mit Bart schmeckt.«

Er hatte in ihr Lachen eingestimmt und ihr den alten, um die Jahrhundertwende oft zitierten Spruch genannt:

»Ein Kuß ohne Bart ist wie eine Suppe ohne Salz!«

Später im Auto hatte er sie nochmals geküßt…

Ihr Herz hatte geklopft, wie das eines jungen Mädchens. Aber seines auch! Sie hatte es deutlich gespürt!

»Ich muß mich wieder daran gewöhnen«, sagte Auguste zu ihrem Spiegelbild. »Mein lieber Ernst ist schon fünf Jahre tot – wer hat mich seither schon geküßt? Ich meine: richtig?!«

Es klopfte, und Frau Emma kam in das Ankleidezimmer ihrer Herrin.

»Graf Gotthard wartet im Frühstückszimmer, Frau Gräfin. Ich wollte ihm ein Gedeck bringen, aber er lehnte ab.«

»Oh«, sagte Auguste. Das klang nach etwas Unerfreulichem. »Sagen Sie bitte meinem Sohn, ich würde gleich kommen.« Es war nett, daß er immer noch mit seinen Sorgen zu ihr kam. Wie neulich mit der Steuersache! Sie überlegte, ob sie ihm von Andreas erzählen sollte.

»Besser, noch ein wenig warten«, beschloß sie dann und lächelte ihrem Spiegelbild zu.

*

»Nun, mein lieber Gotthard«, begrüßte Auguste ihren Sohn, »wie nett, dich schon am frühen Morgen zu sehen. Willst du wirklich nicht mit mir frühstücken?«

»Danke, nein«, erwiderte er steif und küßte ihr die Hand und dann die Wange.

»Setz’ dich wenigstens«, forderte Auguste ihn auf, als er im Zimmer herumlief und einmal am Fenster stehen blieb, und dann an dem Blumenstrauß auf der Kommode zupfte.

»Tja, es ist – mir sehr peinlich…«, begann er und setzte sich seiner Mutter gegenüber, um gleich wieder aufzustehen.

»Du liebe Zeit!« Auguste lachte. »Übrigens: ihr solltet euch die neue Inszenierung von ›Ariodante‹ ansehen. Eine Händel-Oper! Wirklich sehenswert.« Sie strich sich ihr Brötchen und biß mit gutem Appetit hinein.

»So? Ja. Nein – mir steht der Kopf nicht danach.«

»Tut mir leid, daß du solchen Ärger hast«, sagte Auguste freundlich. »Du weißt, wenn ich dir helfen kann…«

»Das kannst du!« platzte er heraus. »Es geht nämlich um dich!«

»Ach!« Auguste war verblüfft und verschluckte sich. Sie mußte erst ein paar Schluck Kaffee trinken, bevor sie wieder ihre ungeteilte Aufmerksamkeit ihrem Sohn zuwenden konnte.

»Dieser Dr. Wenden – er – also…«

»Ja? Was ist mit Andreas?« fragte sie besorgt. »Es ist ihm doch nichts zugestoßen?« Auf einmal hatte sie Angst um den neuen Freund.

»Leider nein!« stieß Gotthard zornig hervor.

»Gotthard!« rief seine Mutter entsetzt.

»Ja! Leider!« Es fiel leichter zu sprechen, wenn er wütend war! »Dein Verhalten ist einfach unmöglich! Du machst dich lächerlich! Alle im Ort reden darüber. Und wenn es erst in unseren Kreisen bekannt wird! Ich darf mir das gar nicht vorstellen. Mama, ich bitte dich herzlich: denke an Papa, was er für ein großartiger Mensch war, und höre auf, dich mit diesem Arzt herumzutreiben.«

Auguste hörte ihm mit offenem Mund zu. Dann setzte sie vorsichtig die Kaffeetasse auf die Untertasse, denn ihre Hand zitterte so, daß sie Angst hatte, den Inhalt zu verschütten.

»Was soll das, Gotthard?« fragte sie leise. »Ich weiß nicht, was du willst. Ich treibe mich mit niemandem herum! Was können die Leute dabei finden, wenn ich mit einem netten Herrn meines Alters ins Theater oder zum Essen gehe? Ich verstehe dich nicht.«

»Das merke ich!« entgegnete er aufgebracht. »Dir geht offenbar schon jedes Gefühl für Anstand ab…«

»Gotthard!« rief Auguste gekränkt.

»In deinem Alter! Mama! Ich bitte dich! Der hat es doch nur auf dein Geld abgesehen!«

»Jetzt reicht es! Bitte, verlasse augenblicklich mein Haus und komme erst wieder, wenn du wieder klar denken kannst!« rief Auguste. Sie preßte die Hände im Schoß fest zusammen, damit sie nicht zitterten. »Es genügt!« rief sie, und ihre Stimme überschlug sich, weil ihr die Tränen in der Kehle saßen.

»Gut. Ich gehe. Du kannst in Ruhe über alles nachdenken. Und darüber, für wen du dich entscheidest: für diesen – diesen Erbschleicher oder deinen Sohn und deine Enkel!« erklärte er dramatisch und verließ den hübschen Salon.

Kaum war die Türe hinter ihm zugefallen, brach Auguste in Tränen aus. Was hatte sie verbrochen? Warum sollte man in ihrem Alter nur mehr herumsitzen und auf den Tod warten? Man störte, wenn man sich allzu eng an die Kinder anschloß – aber es wurde einem auch kein eigenes Leben mehr gegönnt. Ach, warum war sie damals nicht mit ihrem Mann gestorben? Auguste fand plötzlich, daß die Sitte der Witwenverbrennung gar nicht so grausam war…

Plötzlich fühlte sie sich von zwei Armen umschlungen.

»Omama! Was ist denn los?« Es war Ekatarina, die neben ihrem Sessel kniete.

»Ach – ach – Kind…« Sie wischte sich die Augen und versuchte ein Lächeln. »Wo kommst du denn her?«

»Na, wo schon!« Ihre Enkelin lachte. »Von drüben, vom Schloß! Ich wollte hören, wie deine Oper war!« Sie verschwieg, daß sie gesehen hatte, wie ihr Vater, Wut und Empörung schnaubend, im Eilschritt durch den Park ins Schloß gelaufen war, aus der Richtung des Kavalierhauses kommend. Und, im Gedenken an das gestrige Gespräch mit Aribo, hatte sie das Gefühl, mal nachsehen zu müssen. Aribo war in der Schule, und Elena, das Faultier schlief noch.

»Oh! Schön!« erwiderte Auguste und hätte fast wieder zu weinen angefangen…

»Omachen«, sagte Ekatarina zärtlich, schmiegte ihr Gesicht in die Hände der alten Dame und küßte sie. »Hat Papa dich genervt?«

»Ach, nein. Reden wir nicht darüber!« Wieder ein mißlungenes Lächeln.

»Erzähle mir von dir und Alexander!«

Das war zweifellos nicht nur Ekatarinas Lieblingsthema, sondern es war auch ein unerschöpflicher Gesprächsstoff.

»Ach, Omama, du kannst dir nicht vorstellen, wie gut wir uns verstehen!« begann sie und brachte gleich ein halbes Dutzend Beispiele dafür. Es dauerte, bis sie in ihrem Eifer merkte, daß ihre Großmutter nicht richtig zuhörte, sondern in ihre eigenen, offensichtlich sehr traurigen Gedanken versunken war. Sie holte tief Luft und sagte dann: »Weißt du, Omama…?«

Weil sie nicht weitersprach, horchte Auguste auf.

»Alexander hat zu mir gesagt, daß du ihm besser gefällst als Papa und Mama zusammengenommen!«

»Wirklich?« Anstatt sich zu freuen, war auch dies wieder ein Grund für Auguste, mit den Tränen zu kämpfen – und schließlich zu verlieren.

»Omama, jetzt schütte du mir mal dein Herz aus!« schlug Ekatarina vor. »Vielleicht kann ich dir helfen?« Sie sah sie liebevoll an.

»Ach, mein Schätzchen!« Jetzt mußte Auguste doch lachen.

»Nein, Omama, lache mich nicht aus! Ich bin erwachsen!«

»Ich lache dich nicht aus! Ich bin gerührt und erfreut und – ja, dankbar für deine – Zuneigung!«

»Sage ruhig: Liebe, Omama! Ich liebe dich nämlich. Und Aribo und Elena lieben dich ebenfalls! Aber das ist doch kein Grund, schon wieder zu weinen!« rief sie mit komischem Schrecken. »Wirklich, Omama! Dr. Wenden soll dir etwas für deine Nerven geben! Erst gestern sprachen wir drei davon, wie…« Ja, wie sagte sie das am diplomatischsten! – »Ja, wie gern wir dich haben. Und daß wir immer auf deiner Seite stehen.«

»Ich – liebe euch auch!« versicherte Auguste und umarmte ihre Enkelin. »Und jetzt setz’ dich hin und frühstücke mit mir zusammen – dann schmeckt es mir besser. Dein Vater – nun, er hat mir etwas den Appetit verdorben!«

Ekatarina nickte ernst.

»Ich fürchte, ich kann mir denken, was er wollte.« Und als ihre Großmutter nun rot und sichtlich verlegen wurde, brach sie in Gelächter aus. »Omama! Ich finde es herrlich, daß wir beide verliebt sind! Laß dir nur ja von niemandem dreinreden, hörst du?«

»Wenn du es sagst!« Auguste war noch immer ganz rot, aber ihr war doch um einiges wohler. Sie läutete nach einem zusätzlichen Gedeck für Ekatarina. Zusammen mit Frau Emma kam Elena ins Zimmer.

»Guten Morgen!« rief sie vergnügt. »Drüben herrscht eine so gräßliche Stimmung: Omama, kriege ich bei dir Kaffee?«

»Zwei Gedecke bitte, Emma!« ordnete die Gräfin an, und Emma zog sich zufrieden zurück. Ein Glück, daß die beiden Komtessen nicht nach ihren Eltern, sondern offensichtlich ganz nach den Großeltern schlugen!

*

Gräfin Eliane Sturmeck stand in der Drogerie und ließ sich verschiedene Düfte vorführen.

»Nicht zu blumig, mehr – elegant!« sagte sie eben zu der Verkäuferin, als sie zufällig eine hübsche, schick angezogene Frau an der Stellage mit den verschiedensten Lidschatten entdeckte.

»Wer ist das?« fragte sie leise, da die Dame ihr gefiel. Vielleicht war es eine Standesgenossin?

»Das ist Frau Ilse Wenden, die Frau von dem Arzt Dr. Wenden!«

»Oh!« Wie man sich täuschen konnte! Plötzlich fand Eliane die Frau nur mehr unangenehm. Die würde sie sich jetzt vornehmen, entschloß sie sich, zornig, weil sie sie falsch eingeschätzt hatte. »Packen Sie mir das ein!« sagte sie kurz angebunden zu der Verkäuferin.

»Sehr gerne, Frau Gräfin!« erwiderte die.

Frau Gräfin! Ilse Wenden hatte es mitbekommen und wandte sich der so Angesprochenen zu. Bevor sie sich noch darüber im klaren war, wie sie die Gräfin begrüßen sollte oder ob überhaupt, kam die auf sie zu.

»Frau Wenden?« ihre Stimme klirrte laut und aggressiv.

»Ja?« Ilse warf den Kopf zurück, entschlossen, sich nichts von dieser arroganten Person bieten zu lassen.

»Ich möchte Sie und Ihren Mann herzlich bitten, dafür zu sorgen, daß Ihr Schwiegervater nicht länger meine Schwiegermutter belästigt…«

»Mein Schwiegervater hat niemals Ihre Schwiegermutter belästigt! So eine unverschämte Dummheit! Er hat ihr ein paar Krankenbesuche gemacht – und Sie können ganz sicher sein, daß er nie mehr zu ihr geht, falls Ihre Schwiegermutter sich da irgendwelche Hoffnungen gemacht haben sollte!«

»Hoffnungen?! Meine Schwiegermutter?! Eine Gräfin Sturmeck?!« Elianes Stimme überschlug sich vor Wut.

»Anscheinend. Ihrer dummen Bemerkung nach!«

»Er ist es, der hinter dem Geld meiner Schwiegermutter her ist…«

»Das muß ich mir nicht bieten lassen! Nicht von einer degenerierten, aufgetakelten Ziege!« schrie Ilse.

»Sie – Sie – geschmacklose Person!?«

»Ich«, Ilse lachte höhnisch. »Ich blitze nicht schon am frühen Vormittag von Brillanten. Ich weiß, wann man die trägt!« Damit kehrte sie ihr den Rücken zu. »Fräulein, ich komme ein anderes Mal wieder, wenn sich hier keine Geisteskranken aufhalten!« Damit rauschte sie hinaus.

Die Verkäuferinnen sahen sich entsetzt an. Es war zwar sehr komisch – aber sie wollten um Himmels willen nicht zwei gute Kundinnen verlieren!

»Diese – diese…« Gräfin Eliane zitterte am ganzen Leibe. »Ein Glas Wasser, bitte!«

»Selbstverständlich, Frau Gräfin!«

»Ich muß mich setzen!« Es dauerte eine Weile, bis sie sich so weit erholt hatte, daß sie zahlen und das Geschäft verlassen konnte.

Oh, sie war sich sicher, daß hinter ihr diese Verkäuferinnen feixten! Sie hatte ja gewußt, daß man mit dieser peinlichen Sache die ganze Familie lächerlich machte!

Gotthard mußte Auguste den Umgang mit diesem Arzt verbieten!

Auf den Gedanken, daß es nicht Auguste war, die sich daneben benommen hatte, kam Eliane nicht.

*

Ilse Wenden war im Laufschritt nach Hause gerannt. Im Parterre des Hauses befanden sich die Praxisräume, und sie stürzte, noch immer außer sich, auf das Sprechzimmer zu. Im letzten Moment gelangt es einer Sprechstundenhilfe, sie aufzuhalten.

»Bitte, Frau Doktor! Der Herr Doktor hat einen Patienten im Sprechzimmer!«

»O Gott! Rufen Sie ihn heraus! Ich muß ihn sofort sprechen! Es ist etwas Unglaubliches vorgefallen! Sofort! Wo kann ich mit ihm reden?«

»Bitte, Frau Doktor, kommen Sie doch hier herein!« Die Sprechstundenhilfe schob sie in das kleine Büro, in dem die Schreibarbeiten erledigt wurden, und machte die Tür hinter ihr zu. »Puh!«

»Was ist?« fragte ihre Kollegin und grinste.

»Keine Ahnung! Ich rufe den Herrn Doktor!« Sie verdrehte die Augen, und die andere lachte.

Gleich darauf kam Dr. Peter Wenden erschrocken aus dem Sprechzimmer:

»Ilse, um Himmels willen! Was ist passiert?« Er atmete auf, als er sah, daß sich nicht verletzt war. »Etwas mit den Kindern?«

»Nein! Nein! Dein Vater!« zischte sie wie eine gereizte Otter.

»Er war doch gestern mit dieser Gräfin in der Oper – und heute treffe ich zufällig ihre Schwiegertochter, und die – die beschimpft ihn – und uns – als – als Erbschleicher! Er wäre hinter dem Geld der Gräfin her – o Gott! Peter! Vor allen Leuten! Sie wurde so ausfallend…« Ilse begann zu weinen. Daß sie selbst auch nicht gerade zurückhaltend vornehm gewesen war, behielt sie für sich.

»Jetzt ist Schluß mit dem Theater! Das geht zu weit!« Peter Wenden war nicht energisch, um so zorniger war er jetzt, da man es von ihm verlangte. »Ich werde mit Vater reden…«

»Peter: entweder er trennt sich von der Alten im Schloß – oder – oder – er zieht aus!«

»Ilse!«

»Jawohl! Ich bestehe darauf! Sonst ziehe ich aus!« Sie weinte wieder.

»Wir besprechen das später«, sagte Peter voller Unbehagen. Es war wirklich keine gute Idee gewesen, den Vater hierher zu holen…

*

Für gewöhnlich kümmerte sich Jakob nicht um seine kleine Schwester. Jedenfalls nicht in der Schule. Aber heute standen die Geschwister in der großen Pause zusammen, steckten die Köpfe zusammen und überlegten, was sie nur tun könnten, um dem Großvater zu helfen.

Es hatte gestern einen Riesenkrach gegeben!

Papa hatte geschrien, Mama hatte gekreischt und geweint und Opa war erst wütend gewesen und dann ganz resigniert. Und das war noch schlimmer.

Sie hatten versucht, mit ihm zu reden, aber er hatte sich in sein Zimmer eingesperrt und getan, als würde er nichts hören. Und Mami war nicht zum Essen erschienen und Opa natürlich auch nicht. Er hatte sich auch nicht das Essen aufs Zimmer bringen lassen: Ursula hatte es versucht! Er hatte wieder nicht aufgemacht.

»Ich sagte zu ihm«, erzählte sie ungefähr zum fünften Mal: »Opa! Bitte! Mach’ doch auf! Jakob und ich halten zu dir!«

»Ich weiß«, seufzte Jakob, auch zum fünften Mal. »Ich habe es später auch noch mal probiert. Doch er sagte nur: ›Ihr seid lieb – aber mischt euch nicht ein!‹«

»Aber wir müssen uns einmischen!« fand Ursula.

Jakob nickte. Nur: wie?!

»Da kommt dieser Lackaffe! Dieser degenerierte Schnösel!« flüsterte er auf einmal aufgeregt seiner Schwester zu.

Ursula drehte sich um.

»Aribo! Wenn einer schon Aribo heißt! Das kann nur ein Idiot sein!« sagte sie laut, mit vor Aufregung ganz piepsiger Stimme.

»Diese Adelsdeppen sind doch alle degeneriert und geistig behindert!« erklärte Jakob nun laut. »Das macht die Inzucht!«

Aribo Sturmeck hatte die beiden bisher nicht beachtet, doch das konnte er schlecht überhören und auf sich sitzen lassen. Er blieb stehen.

»Wollt ihr etwas von mir?« fragte er herablassend.

»Ha!« machte Ursula, weil ihr nichts einfiel.

»Was kann man von einem A… das aus einer Familie von A…n stammt, schon wollen?« erwiderte Jakob und machte sich kampfbereit.

Aribo glaubte, seinen Ohren nicht zu trauen.

»Hör mal Kleiner – du scheinst mich zu verwechseln! Du nimmst das jetzt zurück, oder ich muß dir ein paar verpassen. Für gewöhnlich schlage ich mich ja nicht mit Babys herum…«

»Baby – du – du…« Jakob warf ihm noch ein paar Schimpfworte an den Kopf. Schon um sich selbst Mut zu machen, denn Aribo war um einiges größer und kräftiger als er.

Der war jetzt auch mit ein paar Schritten bei ihm und packte ihn unsanft an den Schultern und schüttelte ihn. Jakob verpaßte ihm einen Tritt gegen die Schienbeine, und Aribo revanchierte sich mit einem gut gezielten Kinnhaken, der Jakob zu Boden schickte. Daraufhin griff Ursula mit spitzen Schreien in das Kampfgeschehen ein, sprang dem großen Jungen an den Hals und biß ihn. Da Aribo ihr nicht mehr weh tun wollte, als unvermeidlich, drehte er ihr die Arme um. Kreischend trat sie um sich.

Allmählich sammelten sich Zuschauer um die Streitenden.

»Gibt’s dem kleinen Miststück!«

»Bravo, Ursula!«

»Hei! Jakob! Bist du schon bedient?«

Bevor der sich wieder aufgerappelt hatte, um erneut ins Kampfgeschehen einzugreifen, erschien ein Lehrer auf der Bildfläche.

»Was ist denn hier los? Sturmeck! Ich sehe wohl nicht recht! Ursula! Wenden! Sofort Schluß. Los! Ihr kommt mit mir!« Er packte Ursula am Handgelenk und zog sie mit sich, die beiden jungen Burschen folgten mit muffigen Gesichtern, sich gegenseitig wütende Blicke zuwerfend.

Der Lehrer, es war der Klassenlehrer von Jakob, der Aribo aus dem Geschichtsunterricht kannte, schob die drei vor sich in ein leeres Klassenzimmer.

»Also? Was war das?« Er sah von einem zum anderen. »Ich kenne euch doch. Ihr seid doch sonst nicht so – so – na ja. Also: was war der Grund?«

Ursula und Jakob sahen sich an und schwiegen.

»Sie haben mich und meine Familie beschimpft!« sagte Aribo nach einer Pause.

»Aha. Und warum?« wandte der Lehrer sich nun an die beiden.

»Weil seine Mutter, die blöde Kuh…«

»Halt! Moment! So geht das nicht, Wenden!« unterbrach der Lehrer verärgert.

»Moment!« Aribo horchte auf. »Heißt du ›Wenden‹?«

»Das geht dich einen…«

»Du hältst jetzt den Mund, Jakob!« unterbrach der Lehrer. »Ja, das sind Ursula und Jakob Wenden. Die Kinder von Dr. Peter Wenden.«

»Und Dr. Andreas Wenden ist euer Großvater?« fragte Aribo rasch und rieb sich die schmerzenden Schienbeine.

»Genau! Und Opa pfeift auf das Sch-Geld von deiner Großmutter!«

»Wie? Was?« Der Lehrer sah perplex von einem zum andren.

»Herr Staufer, ich denke, Sie können uns jetzt alleine lassen. Ich glaube, ich weiß, warum – es tut uns leid – wirklich…«

»Mir tut gar nichts leid!« kreischte Ursula empört.

Aribo lachte, was ihm mit seiner aufgeplatzten Lippe weh tat, sodaß er es gleich wieder unterdrückte.

»Doch, Herr Staufer, ich komme jetzt mit den beiden zurecht. Vielen Dank, daß Sie mich gerettet haben. Bei Damen kann man doch nicht so hinlangen!« Er grinste Ursula an, die prompt rot wurde und sich darüber so ärgerte, daß sie am liebsten erneut auf ihn losgegangen wäre.

»Na, schön, Sturmeck«, meinte der Lehrer zweifelnd. »Aber keine neue Rauferei. Und vielleicht erfahre ich dann, um was es ging, damit ich mich wegen einer Eintragung ins Klassenbuch entscheiden kann.«

»Nicht nötig, Herr Staufer!« versicherte Aribo. »Es handelt sich um einen in jeder Hinsicht ritterlichen Kampf!«

Kopfschüttelnd ließ der Lehrer die drei alleine.

»Spinnst du?« fauchte Ursula.

»Halt den Mund«, wies ihr Bruder sie zurecht.

»Hört zu, ihr zwei!« Aribo sah sie an und fand sie auf einmal richtig nett.

»Meine beiden Schwestern und ich – wir finden euren Opa prima.«

»Das ist er auch!« erwiderte Jakob herausfordernd.

»Wir finden es ziemlich unmöglich, wie unsere Eltern sich gegen unsere Oma verhalten. Und – es sieht mir fast so aus, als würden eure Eltern…«

»Gemein sind sie! Richtig gemein! Nie hätte ich das gedacht!« rief Ursula, plötzlich den Tränen nahe, weil die Spannung sich löste. »Sie wollen, daß Opa weggeht, weil deine Mutter rumerzählt, er wäre hinter dem Geld von deiner Oma her. Die beiden haben sich in einem Geschäft gestritten.«

Aribo sah sie entsetzt an, dann wandte er sich an Jakob.

»Stimmt das?«

»Weißt du das gar nicht?« fragte der zurück. »Sie hat Opa und uns alle als Erbschleicher bezeichnet!«

»Du lieber Himmel«, flüsterte Aribo, nun wirklich erschüttert. Er tat Jakob fast leid.

»Weißt du, unsere Mutter wird auch nicht gerade zurückhaltend gewesen sein. Der paßt es schon lange nicht, daß Opa bei uns wohnt. Obwohl er sehr nett ist und wirklich nicht stört und sich immer zurückzieht. Aber – es ist halt im gleichen Haus!«

Aribo sah sie etwa nachdenklich an.

Die Schulglocke läutete schrill.

»Die Pause ist aus. Wir müssen in den Unterricht!« erinnerte Ursula.

»Wißt ihr was: wir besprechen das zusammen. Mit meinen Schwestern. Ich habe das Gefühl, daß wir eigentlich alle das gleiche wollen!«

»Ehrlich?« freute sich Jakob.

»Ja!«

»Prima!« Ursula klatschte in die Hände. »Tut mir leid, daß ich dich so gebissen und getreten habe! Du hast dich ja nicht getraut, dich richtig zu wehren!«

»Na, ich weiß nicht«, fand Jakob und rieb sich das Kinn, das inzwischen rot und blau verschwollen war.

»Ich wußte gar nicht, was los ist«, sagte Aribo lachend. »Ihr wart ja wie zwei Teufel! Ich kannte euch gar nicht!«

»Klar«, gab Jakob zu, »man kennt immer nur die aus der Oberklasse! Mensch! Wir haben Mathe-Ex! Ich muß sausen!« Und er rannte los.

Ursula stand etwas verlegen vor Aribo. Er gefiel ihr jetzt gleich noch besser als früher. Und der große Junge grinste, weil er merkte, was los war.

»Ich melde mich bei euch, sobald ich mit meinen Schwestern gesprochen habe. Okay?«

»Ja.« Sie vermied es, ihn anzusehen.

»Vielleicht werden wir ja verwandt, wenn wir unseren Großeltern helfen, was?« Er lachte und gab ihr einen kleinen Stups, dann lief er den Gang hinunter zu seinem Klassenzimmer.

Ursula starrte ihm hingerissen nach: Er war eben doch ein echter Märchenprinz!

*

»Oh!« sagte Auguste wenig begeistert, als auch am nächsten Tag ihr Sohn wieder zum Frühstück erschien.

»Es tut mir leid, Mama«, erwiderte er, »ich komme nicht gerne. Besonders nicht, wenn es sich um ein so ausgemacht peinliche Angelegenheit handelt. Eliane traf gestern die Schwiegertochter von diesem Dr. Wenden, und die griff sie auf eine Art an und beschimpfte sie: es tut mir sehr leid, Mama, aber wir können uns das nicht bieten lassen! Es geht nicht an, daß dieser Mann nochmals meinen Grund und Boden betritt! Nicht nach dem gestrigen Auftritt!«

Auguste griff sich an die Brust. Ihr Herz klopfte und jagte, dann setzte es plötzlich ganz aus. Vor ihren Augen schwamm alles in dichten Nebelschwaden.

»Gotthard…«, sagte sie schwach. Aber der schien nicht zu bemerken, wie sehr diese Mitteilung sie angriff. Sie verstand nicht mehr, was er sagte, sie hörte nur seine Stimme immer weiter auf sich einhämmern, und schließlich hörte sie gar nichts mehr.

»Herr Graf! Herr Graf! Jetzt lassen Sie doch Ihre arme Frau Mutter!« Emma hatte die erregten Stimmen gehört und vorsichtshalber ins Zimmer geschaut.

Erst jetzt fiel es dem selbst äußerst aufgeregten Grafen auf, daß seine Mutter völlig zusammengesunken in ihrem Sessel hing.

»Ist sie ohnmächtig?« fragte er entsetzt.

»Wir müssen sofort einen Arzt rufen!« jammerte Emma.

»Aber nicht diesen Alten!« protestierte Gotthard und ging selbst ans Telefon.

»Dann rufen Sie den Sohn, Herr Graf! Es muß doch jemand kommen, der über den Gesundheitszustand Ihrer Frau Mutter Bescheid weiß!« jammerte Emma.

Unwillig wählte Gotthard die Telefonnummer der Wendens.

»Aber das ist das letzte Mal!« erklärte er der verängstigten Emma und seiner halb bewußtlosen Mutter. »Das nächste Mal…«

»Er – soll – gehn…«, hauchte Auguste.

»Es ist besser, wenn Sie – die Frau Gräfin regt sich sonst noch mehr auf! Bitte, gehen Sie, Herr Graf!«

»Unerhört!« murrte Gotthard, zog sich aber doch zurück.

Emma beugte sich über ihre Herrin.

»Frau Gräfin? Frau Gräfin? Können Sie mich hören?«

»Ja, Emma. Bitte: ich will den jungen Wenden nicht! Andreas soll kommen! Bitte! Sie verstehn doch? Der alte Dr. Wenden!«

»Ach, Frau Gräfin…«, schluchzte Emma.

»Bitte, Emma!«

»Gut, Frau Gräfin. Ich rufe nochmals an. Aber bitte, Sie versprechen mir: Sie regen sich jetzt nicht mehr auf?!«

Auguste lachte ein wenig.

»Ich verspreche es: Andreas soll kommen! Und den anderen will ich nicht sehen!«

Mit Hilfe von Emma ging sie zu der zierlichen Recamiére, und Emma bettete sie darauf. Dann ließ sie ihre Herrin allein. Lieber Gott, betete sie, hilf, daß der alte Herr ans Telefon geht! Und bitte, laß die liebe Frau Gräfin wieder gesund werden!

Auguste lag auf der Recamiére und versuchte sich an die Vorwürfe zu erinnern, die Gotthard ihr gemacht hatte. War es wirklich so schlimm, wenn man in ihrem Alter noch jemanden traf, den man mochte und mit dem man sich gut verstand?

Was hatte er da von Geld und Erbschleicherei gesagt? Das war doch lächerlich! Ganz abgesehen davon, daß sie mit ihrem Geld machen konnte, was sie wollte! Und Andreas! Nein, der war bestimmt nicht auf ihr Geld aus!

Nein, das war kein Grund!

Aber – da hatte er noch etwas gesagt, als sie halb ohnmächtig war… Nicht standesgemäß… Lächerlich. In ihrem Alter auf so etwas noch Wert zu legen! Nein – es ging um Ekatarina.

Mit einem Ruck setzte Auguste sich auf.

Hatte er das wirklich gesagt: daß die Schönhausens – sich zurückziehen würden, wenn…

Oh, mein Gott, nein! Auguste begann zu weinen.

Alexander würde Ekatarina nicht heiraten, wenn – wenn…

Nein! Das konnte sie nicht verantworten! Das durfte nicht sein! Ihre lieben, geliebten Enkel! Und Ekatarina, die so lieb zu ihr gewesen war – erst gestern! Sie wollte doch nicht ihr Glück zerstören!

Sie würde mit Andreas sprechen. Er würde es verstehen. Er mußte es einfach verstehen! Er liebte doch seine Enkel nicht weniger, als sie die ihrigen.

*

»Wer war am Telefon?« Peter Wenden kam nochmals zurück, als er das Läuten hörte.

Sein Vater legte langsam auf.

»Es war für mich. Ich soll nach Gräfin Sturmeck sehen!«

»Das kommt überhaupt nicht in Frage!« protestierte sein Sohn umgehend. »Eben hat mich der Graf selbst angerufen und gebeten, ich möchte zu seiner Mutter kommen!«

Sein Vater versuchte, an ihm vorbei zu gehen.

»Hast du nicht gehört?«

»Doch!« erwiderte Andreas gereizt. »Ich weiß! Aber die Gräfin will nicht dich, sondern mich sehen – deshalb hat Frau Emma nochmals angerufen!«

»Ich werde mir nicht meine lukrativsten Patienten von dir wegschnappen lassen!« schrie Peter, denn Ilse war hereingekommen und sah ihn auffordernd an.

»Ich nehme dir niemanden weg, und zudem wirst du nach dem Auftritt zwischen Ilse und Augustes Schwiegertochter ohnehin längste Zeit Hausarzt auf Sturmeck gewesen sein«, erwiderte sein Vater zornig.

»Das ist unglaublich! Jetzt bin ich noch an allem schuld!« Ilse fand das eine herrliche Gelegenheit für etwas, was sie sich schon lange wünschte. »Peter: entweder dein Vater zieht aus – oder – oder ich gehe!«

»Ich gehe!« erwiderte Andreas grimmig. »Und gern noch dazu! Aber jetzt gehe ich erst einmal zu meiner Freundin.«

»Freundin! Hast du das gehört! Meine Güte, wie er uns blamiert!« Ilse warf sich dramatisch in einen Sessel und verbarg ihr Gesicht in einem Taschentuch.

Während Peter sie zu beruhigen versuchte, verließ sein Vater das Haus. Als die beiden merkten, was er vorhatte, schickte Ilse umgehend ihren Mann hinterher, doch der kam zu spät. Er konnte seinem Vater nur mehr in seinem eigenen Wagen folgen.

Erst vor dem Kavalierhaus im Schloßpark holte er ihn ein. Er stellte sich ihm in den Weg.

»Vater! Das nehme ich dir übel!«

»Und ich nehme dir und Ilse auch einiges übel!« erwiderte der fest entschlossen, sich von seinem Sohn nicht abhalten zu lassen, die geliebte Freundin aufzusuchen.

Der Disput war lautstark, und so war es kein Wunder, daß er von Gräfin Auguste gehört wurde. Sie ließ sich von Emma ans Fenster helfen und dieses öffnen.

»Andreas! Da bist du ja endlich!« Schon sein Anblick ließ sie sich wohler fühlen. »Komm bitte!«

»Gräfin Sturmeck – Ihr Sohn…«

»Mein Sohn hat nichts für mich zu bestimmen!« gab sie ungehalten zur Antwort. »Ihr Vater behandelt mich – ich brauche Sie nicht mehr! Danke für Ihre Bemühung!«

»Aber…« Peter wollte nicht gleich klein beigeben.

»Hast du nicht gehört?« fuhr sein Vater ihn an. »Du kannst die drüben im Schloß besuchen und verarzten – wenn sie noch länger mit dem Ehemann einer so unmöglichen Frau wie Ilse zu tun haben wollen. Hier hast du nichts mehr verloren. Du machst dich nur lächerlich, wenn du noch länger hier herumstehst.«

Zu seinem Bedauern mußte Peter das einsehen. Und wenn er ganz ehrlich mit sich war: daß Ilse sich vornehmer Zurückhaltung befleißigt hatte, fiel ihm ziemlich schwer zu glauben. Wahrscheinlich war es besser, jetzt nicht ins Schloß zu gehen, sondern abzuwarten, bis die Wogen sich einigermaßen geglättet hatten.

Während er beleidigt in seinen Wagen stieg und beschloß, auf einem Umweg nach Hause zu fahren, um sich für Ilse eine plausible Erklärung zurechtzulegen, öffnete Emma Andreas Wenden die Haustür, und begleitete ihn in das Frühstückszimmer, wo Auguste inzwischen wieder auf der Recamiére Platz genommen hatte.

»Andreas!« rief sie, streckte ihm die Arme entgegen und brach in Tränen aus.

Er nickte Emma zu, die sich verständnisvoll zurückzog und die Tür hinter sich schloß.

»Meine Liebe!« Er ging zu ihr, setzte sich neben sie und schloß sie in die Arme. »Haben sie dir auch so zugesetzt wie mir?« Er lachte ein wenig und strich ihr über das ausnahmsweise nicht tadellos frisierte Haar.

»Es war furchtbar!« versicherte Auguste und berichtete.

»So ähnlich war es auch bei mir«, gestand er. »Genaugenommen sollten wir darüber lachen. Aber – es tut weh, wenn die Kinder sich so verhalten…«

Sie nickte.

»Und das ist noch nicht alles«, flüsterte sie.

»Bei mir leider auch nicht. Sie haben mir die unmöglichsten Vorwürfe gemacht, und was mir im Moment das meiste Kopfzerbrechen schafft: ich soll ausziehen! Eigentlich – habe ich gar nichts dagegen. Ich habe schon seit längerem gemerkt, daß ich meiner Schwiegertochter lästig bin. Das Ärgerliche ist nur, daß ich meine frühere Wohnung auf ihr und das Drängen meines Sohnes aufgegeben habe. Und so schnell findet man nicht wieder etwas.«

Auguste sah ihn an, und wieder flossen die Tränen.

»Es könnte so schön sein, so einfach!« schluchzte sie.

»Ja.« Er sah sie abwartend an. Eigentlich fand er, daß sie ihm doch anbieten könnte, er solle zu ihr ziehen.

Groß genug war das Haus. Aber nach allem – fragen wollte er nicht…

»Es ist, ach, Andreas! Das Schlimmste kommt noch!«

»Noch etwas?« Er runzelte die Stirne.

»Du weißt doch – Ekatarina und Alexander…«

»Haben die dir auch Vorwürfe gemacht?«

»Aber nein, meine Enkel sind so lieb – aber – oh, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll.«

»Sage es einfach gradeheraus. Dann können wir gemeinsam überlegen.« Er lächelte sie ermutigend an, doch er konnte nicht verhindern, daß ihm mulmig zumute war.

»Ekatarina und Alexander«, begann Auguste wieder und vermied es ihn anzusehen. »Sie – lieben sich…«

»So wie wir uns auch«, erinnerte er sie und nahm ihre Hand. Sie schluchzte auf, ließ ihm aber die Hand und sprach weiter.

»Mein Sohn – er sagt – wir machen uns lächerlich. Oder richtiger: ich würde die Familie lächerlich machen. Weil ich – so alt bin…«

»Er ist mit seinen vertrockneten Ansichten weit älter als du!« fand Andreas.

»Ach!« Schluchz. »Und – du bist – nicht…«

»Ach, du liebe Zeit!« Andreas lachte verärgert. »Und das ist dir nicht zu dumm?«

»Doch! Mir schon – aber – die Schönhausens…« Sie sah ihn verzweifelt an.

»Du meinst: die stoßen sich an mir als ›Schwieger-Großvater‹?«

Sie nickte stumm.

»Wer hat das gesagt?«

»Gotthard. Er kam herüber, um mir mitzuteilen, daß die Verlobung gelöst wird – oh, Andreas! Ich bin so unglücklich!« Sie warf sich aufweinend in seine Arme.

»Du willst sagen: sie erlauben Alexander nicht, Ekatarina zu heiraten, wenn wir beide…?«

»Ja!« Auguste sah ihn todunglücklich an »Es ist so schrecklich, aber – ich kann ihr das einfach nicht antun.«

Andreas Wenden ließ sie los, er stützte die Ellbogen auf die Oberschenkel, und seine Schultern sanken müde nach vorne. Er sah plötzlich um Jahre gealtert aus. Eine Weile schwieg er und überlegte.

»Glaubst du wirklich, Ekatarina versäumt etwas, wenn sie jemanden aus so einer bornierten Familie nicht heiratet?«

»Vielleicht nicht«, erwiderte Auguste mit zitternder Stimme. »Aber wenn die Verlobung wegen mir in die Brüche geht, wird sie ganz bestimmt denken, daß sie etwas Wertvolles verloren hat.«

Andreas nickte traurig.

»Sie sind so jung – sie haben das ganze Leben noch vor sich! Sie können sich noch xmal verlieben. Für uns, für dich und mich – ist es das letzte Mal!« Er sah sie mit einem bekümmerten Lächeln an.

Auguste begann wieder zu weinen. »Nein, nein, weine nicht. Was bin ich für ein Arzt, daß es mir nicht gelingt, meine liebste Patientin zu beruhigen!«

»Ach, Andreas!« Sie lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

»Ja, ja«, murmelte er und tätschelte ihre Hand. »Unter diesen Umständen ist es sicher besser, wenn ich wieder dahin zurückkehre, woher ich, ohnehin nur unwillig, gekommen bin.«

»Andreas – du bist mir böse?«

»Wie könnte ich?« erwiderte er müde. »Natürlich nicht. Freilich: richtig finde ich dein Verhalten nicht. Ich – würde dich nach meinem Empfinden jetzt erst recht heiraten – und ich gehe jede Wette mit dir ein…«

»Andreas, du kennst nicht die noch immer sehr starren Ansichten in unseren Kreisen.« Sie sah ihn flehend an. »Bitte, versuche, mich zu verstehen!«

»Ich versuche es!« versprach er. Dann stand er auf und ging zum Tisch, auf dem seine Arzttasche lag. »Hier habe ich etwas zur Beruhigung. Und für abends – etwas zum Einschlafen.« Er stand eine Weile, den Rücken ihr zugewandt da. »Dann – sehen wir uns nicht wieder?«

»Ich weiß es nicht. Vielleicht später…«

»Du denkst, wenn Ekatarina verheiratet ist und nichts mehr dazwischen kommen kann? Sei nicht böse: das möchte ich nun nicht!«

»Du hast recht«, gab sie kleinlaut zu. »Aber vielleicht – in ein paar Tagen. Ich werde die Schönhausens aufsuchen…«

»Wenn du meinst…« Er wandte sich ihr wieder zu. »So schnell werde ich nicht von hier weggehen. Du weißt ja, es ist nicht einfach, eine Wohnung zu finden!«

»Ach, Andreas – ich – ich schäme mich fast.«

»Das brauchst du nicht. Aber vielleicht sollten sich die schämen, die dich so unter Druck setzen!« Er legte die beiden Medikamente auf den Tisch, ging nochmals zu ihr und küßte sie auf die Wange. »Schlafe darüber, mein Herz. Und – trotz allem warte ich auf deinen Anruf!«

*

Dr. Andreas Wenden saß mißmutig in seinem Zimmer. Gut. Er würde sich irgendwo eine andere Wohnung suchen.

Sie brauchte für ihn ja nicht groß zu sein! Im Gegenteil: da er keine Lust hatte, seine Zeit mit Ordnungmachen und Putzen zu verbringen, wären zwei Zimmer genau das Richtige.

Nur: seine schönen Möbel hatte die liebe Ilse inzwischen in ihre Wohnräume integriert, und das Wenige, was in dem ihm zur Verfügung gestellten Zimmer sich befand, genügte bei weitem nicht, um auch nur eine kleine Wohnung gemütlich einzurichten. Sicher, er konnte sein Eigentum zurückfordern.

Aber wenn er daran dachte, zu was für Schwierigkeiten und Aufregungen das wieder führen sollte, dann verging ihm die Lust. Und einige Dinge hatte er ja auch seinen Enkeln geschenkt – nein, die wollte er unter keinen Umständen wiederhaben.

Es klopfte, und während er noch überlegte, ob er überhaupt antworten sollte, ging langsam die Tür auf, und Ursula schob sich herein, gefolgt von dem gleichfalls sehr unglücklich aussehenden Jakob.

»Opa – stören wir?« fragte sie weinerlich.

»Nein!« erwiderte er und lächelte sie an. »Ihr zwei nicht!«

»Was ist denn jetzt los?« fragte Jakob. Sie blieben beide in der Türe stehen.

»Kommt ganz herein, machte die Tür hinter euch zu und setzt euch«, gab er zur Antwort. Sie gehorchten und sahen unglücklich und verlegen vor sich hin. »Hat man euch gesagt, daß – ich ausziehe?«

Sie nickten betreten, und Ursula platzte heraus:

»Wir wollen das nicht, Opa!« Und sie heulte los.

»Das weiß ich doch, mein Kleines. Aber ihr wißt selbst, daß die Stimmung in letzter Zeit…«

»Aber das Haus gehört doch eigentlich dir…«, fand Jakob und sah ihn fragend an.

»Nicht mehr. Ich habe es deinem Vater überschrieben. Aus Steuergründen.« Die zwei nickten verständig.

Dann druckste Ursula wieder herum, bis sie auf seine belustigte Aufforderung, endlich damit herauszurücken, sagte:

»Und die Gräfin Sturmeck?«

»Tja, der geht es ähnlich wie mir«, erwiderte er mit einem Seufzer.

»Soll die auch ausziehen?«

»Glücklicherweise – nein! Das Haus gehört ihr!«

»Gott sei Dank!« Ursula atmete auf, und Jakob fragte schnell, bevor ihn der Mut verließ:

»Könntest du nicht bei ihr wohnen? Dann wärest du nicht so weit weg und könntest mir auch weiter bei Latein und so helfen!«

Obgleich ihm alles andere als nach Lachen zumute war, mußte Andreas Wenden lachen.

»Tja, das wäre natürlich praktisch«, stimmte er zu.

»Aber – wir dürfen uns nicht mehr sehen.« Wie idiotisch das klang!

»Waaas?« schrien prompt auch beide Kinder. »Warum denn nicht?«

»Weil – die Verlobung ihrer Enkelin sonst gelöst wird. Die fürstliche Familie und sehr wahrscheinlich auch die gräfliche finden mich als Familienmitglied – unpassend.«

Jakob und Ursula starrten erst ihn und dann sich an.

»Das glaube ich nicht!« erklärte Jakob dann.

»Nie und niemals!« setzte Ursula drauf.

»Sollen wir es ihm erzählen?« fragte Jakob dann seine Schwester.

»Wieso? Was wißt ihr?« Andreas wurde aufmerksam.

»Klar!« fand Ursula. »Wir müssen Opa doch helfen!« Und sie berichteten, sich ständig unterbrechend, von ihrem Zusammenstoß mit Aribo Sturmeck.

»Die sind nicht so, Opa, ehrlich!« versicherte Ursula aufgeregt.

Gerührt betrachtete Andreas Wenden seine Enkel. Sie hatten sich sogar für ihn geprügelt! Wie schön, daß auch Auguste wenigstens an ihren Enkeln eine Stütze hatte. Aber…

»Aber«, sagte er, »in diesen Familien gibt es gewisse Erbgesetze, wißt ihr. Vielleicht hätten die Enkel der Gräfin Sturmeck gar nichts gegen mich als Großvater einzuwenden. Oder zumindest nichts gegen mich als Ehemann ihrer Großmutter – aber wenn die Schönhausens die Verlobung des einen Mädchens dann lösen – wißt ihr: das möchte die Gräfin natürlich nicht.«

Ursula nickte weise.

»Sie ist eine ebenso liebe Oma, wie du ein Opa bist!« fand sie.

»Ja.« Andreas mußte sich räuspern.

»Aribo wollte mit seinen Schwestern sprechen, und dann wollen wir alle uns treffen und dann…«

»Kinder, ihr meint es gut! Aber seid vorsichtig! Womöglich wird alles nur noch schlimmer!« versuchte Andreas Wenden den Tatendrang seiner Enkel zu bremsen.

»Schlimmer kann es nicht mehr werden!« erwiderte Jakob ernst. »Hoffentlich ruft der arme Aribo bald an.«

»Hoffentlich!« sagte auch Ursula.

»Warum ist er denn arm?« wunderte sich Wenden.

»Hat er womöglich auch eine Freundin, die seinen Eltern nicht paßt?«

»Keine Ahnung«, gab ihm Jakob zur Antwort.

»Aber möchtest du ›Aribo‹ heißen?«

*

Aribo stürzte in das Zimmer, in welchem seine Schwestern saßen und, wie langweilig! immer dasselbe!, über die bevorstehende offizielle Verlobung sprachen.

»Herrje! Was ist denn schon wieder?« stöhnte Ekatarina beim Anblick ihres zornschnaubenden Bruders.

»Ihr wißt das Schlimmste noch nicht!« verkündete er. »Ich habe eben mit den Wenden-Enkeln gesprochen.«

»Und? Haben sie es sich anders überlegt?« fragte Elena amüsiert.

»Quatsch! Sie sind außer sich: ihr Großvater soll von hier wegziehen!«

»Waaas?! Aber das ist doch wirklich… Was sagt denn unsere arme Omama dazu?« regte sich Ekatarina auf.

»Wartet nur! Das ist das Allerschlimmste: Unsere Eltern haben ihr gegenüber behauptet, daß die Schönhausens verlangen, daß sie sich von dem netten, alten Arzt trennt: Standesrücksichten etcetera – ihr kennt das ja!«

»Quatsch«, brummte Elena.

»Ja! Aber wenn sie es nicht tut, dann löst Alexander seine Verlobung mit dir!«

Den beiden Mädchen blieb der Mund offen.

»Jawohl!« Aribo sah sie herausfordernd an.

Weil sie noch immer nichts sagten, wurde ihm plötzlich mulmig. »Ist es vielleicht wahr?«

»Glaubst du, daß dein Alexander so ein Trottel ist?« fragte Elena, die sich als erste fing.

Ekatarina schluckte.

»Ich hoffe nicht«, erwiderte sie.

»Und seine Eltern?« drängte Aribo.

»Du liebe Zeit! Keine Ahnung, ob sie auch so dämlich sind wie unsere! Sie wirkten immer ganz normal«, antwortete seine Schwester.

»Los! Ruf’ ihn an! Er soll herkommen, damit wir alles besprechen können! Die zwei Wenden-Fratzen kommen auch. Wir treffen uns im Pavillon, habe ich zu ihnen gesagt, damit unsere Eltern nicht wieder Zustände kriegen.«

Ekatarina sprang auf, um ihren Verlobten herzuordern. Und Elena sah kopfschüttelnd ihren Bruder an.

»Irgendwie kann ich das alles nicht begreifen«, meinte sie. »Es kann ihnen doch wirklich und wahrhaftig schnuppegal sein. Omama ist schließlich seit geraumer Zeit bereits mündig. Und Kinder wird sie auch keine mehr haben! Warum soll sie nicht die letzten Jahre ihres Lebens möglichst vergnügt verbringen?«

»Frage mich nicht«, brummte Aribo.

»Ich finde es nur erstaunlich, daß jemand so alt wie Omama weit moderner ist als die nachfolgende Generation!«

»Er ist im Kommen!« Ekatarina lachte, als sie wieder hereinkam.

»Was findest du komisch?« fragte Elena mißtrauisch.

»Ich sagte, daß seine Eltern unsere Verlobung lösen wollten!« Sie lachte wieder. »Er sitzt sicher schon im Auto! Zuerst behauptete er nämlich, keine Zeit zu haben.«

Ihre Geschwister grinsten. Fein, wenn man Liebe als Druckmittel einsetzen konnte!

»Kommt, gehen wir gleich zum Pavillon, bevor jemand anderer die Wendenkinder wieder hinauswirft«, schlug Aribo vor. »Und seid nett zu ihnen! Sie sind nämlich wirklich in Ordnung. Und außerdem gefährlich wild.« Und er zog seine Jeans hoch, um ihnen die blauen Flecken an seinen Schienbeinen zu zeigen, sowie die Abdrücke von Ursulas Zähnen an seinem Hals. Seine Schwester waren beeindruckt und gleichzeitig höchst amüsiert. Und Elena schlug vor, eine der in den Dielen stehenden Ritterrüstungen ihrer Ahnen anzuziehen, falls es zu Meinungsverschiedenheiten kommen sollte.

Doch die beiden benahmen sich dann durchaus gesittet und verwendeten wohlerzogen kein einziges Wort aus ihrem reichen Schimpfwörterschatz, sondern überließen die Kraftausdrücke den drei Sturmecks. Einige neue merkte sich Jakob für spätere Gelegenheiten.

Nur wenig später traf auch Erbprinz Alexander zum Kriegsrat ein.

»Was soll das?« fragte er ungeduldig. »Ich habe meine Eltern gefragt! Die haben von nichts eine Ahnung!«

Dann hörte er sich die Geschichte an, die ihm von fünf Personen gleichzeitig lautstark und empört erzählt wurde. Es sprach für seine Intelligenz und sein Kombinationsvermögen, daß er am Ende doch verstanden hatte, um was es ging.

»Das kann doch nicht euer Ernst sein?« fragte er zuletzt. »Omama Sturmeck soll sich von ihrem netten Verehrer trennen?«

»Und Opa soll die Stadt verlassen!« rief Ursula, der der gut aussehende Prinz nicht weniger gefiel als Aribo, auch wenn sie ihm gegenüber nicht so gehemmt war, weil er glücklicherweise schon in festen Händen war.

»Was sollen wir tun?« fragte Ekatarina. Und auch alle anderen sahen ihn erwartungsvoll an.

Alexander grinste und ließ seinen Blick in der Runde schweifen.

»Sehr gescheit von euch, daß ihr anerkennt, daß ich der Klügste bin!« stellte er zufrieden fest. Etwaigen Widerspruch erstickte er mit einer Handbewegung. »Ich habe auch schon eine Idee!«

»Laß hören! Schnell! Was denn? Rede schon!«

»Sobald ihr den Mund haltet!« Woraufhin alle verstummten. Wieder sah er sie der Reihe nach an. »Wir drehen den Spieß einfach um!«

»Und wie?« drängte ihn seine Verlobte, es nicht so spannend zu machen.

»Ich lasse deine Eltern wissen, daß ich meine Verlobung löse, wenn man sich in eurer Familie einer bezaubernden alten Dame gegenüber so miserabel benimmt.«

»Fabelhaft!« jubelte Ekatarina, und alle stimmten zu.

»Und Opa?« wollte Ursula wissen.

»Nun, wenn unsere Omama nicht mehr unter Druck gesetzt wird, dann können die beiden zusammenziehen…«

»Pfui! Wie unmoralisch!« trat Elena empört.

»Sie können auch heiraten«, beschwichtigte Alexander sie lachend. »Ich wollte damit nur sagen: sie können tun und lassen, was immer sie wollen! Schließlich sind sie erwachsen! Und im Kavaliershaus ist wirklich genug Platz für zwei ältere Leutchen!«

»Hurra!« schrie Ursula, und Jakob machte einen Handstand. Die vier älteren Verschwörer fanden die Idee hervorragend, und Ekatarina wollte wissen, wie man es jetzt ihren Eltern beibringen sollte.

»Wolltest du nicht irgendwann einmal Schauspielerin werden?« zog Alexander sie auf. »Nun beweise dein Talent! Ich fahre nach Hause und weihe meine Eltern ein.«

»Und wir erzählen es Opa!« jubelte Ursula.

»Soll ich euch mitnehmen?« bot Alexander den beiden an.

»Danke! Wir sind mit dem Rad da«, lehnte Jakob bedauernd ab.

Alexander gab Ekatarina einen herzhaften Kuß.

»Und ihr drei solltet eure arme, liebeskranke Omama aufsuchen und ihr klarmachen, daß nicht alle ihre Nachkommen so dümmlich und verknöchert sind!«

*

»Omama! Omama!« Ekatarina stürzte, gefolgt von Elena und Aribo, in den Rokokosalon von Auguste Sturmeck, wo diese, so hatte ihnen Emma verraten, alleine und sehr unglücklich bei Kaffee und Kuchen saß.

»Und ganz bestimmt nichts von meinem Kuchen angerührt, obwohl es ihr Lieblingskuchen ist!« schloß Emma bekümmert und besorgt zugleich.

»Was ist es denn für einer?« wollte Aribo wissen.

»Sei nicht so verfressen!« tadelte Elena. »Wir haben im Moment andere Sorgen!«

»Nichts wird besser, wenn man hungert!« fand der junge Graf. Woraufhin seine Schwestern nur verächtlich auflachten.

Als die drei nun wie die wilde Jagd in den bezaubernden Salon einbrachen, schrak Auguste zusammen und wischte sich schnell die Augen. Sie tat, als habe sie sich bloß die Nase geputzt – aber keines ihrer Enkelkinder glaubte es.

»Omama! Du wirst doch nicht weinen!?« rief Ekatarina geradezu entsetzt aus.

»Es gibt überhaupt keinen Grund!« versicherte Elena aufgeregt.

Und Aribo fügte noch etwas hinzu, was sich nicht wiederholen läßt.

»Ach, gut daß ihr da seid!« tat die alte Gräfin betont heiter, »ich habe gar keinen Appetit, und Emma ist so enttäuscht, wenn niemand von ihrem köstlichen Kuchen ißt!«

»Wir wollen sie nicht enttäuschen!« versicherte Aribo und griff sich ein Stück des Johannisbeerbaiserkuchen.

»Bitte, nimm einen Teller!« Auguste mußte nun wirklich lachen, als sie ihm ihren Dessertteller hinschob.

»Danke!« mampfte Aribo und leckte sich die Finger. »Hm! Ist der gut!«

»Wir sind aber nicht deshalb hier!« erinnerte Ekatarina ihn. Er nickte eifrig.

»Omama: wir Enkelkinder finden alle, daß du und dieser nette Dr. Wenden – heiraten sollt!«

»Oh!« sagte Auguste – und jetzt begann sie zu weinen.

»Das ist doch geradezu lächerlich, was Mama und Papa sich da haben einfallen lassen!« rief Elena.

»Und wenn ihr nicht heiraten wollt – dann zieht einfach so zusammen! Die Enkel von Dr. Wenden sind auch unserer Ansicht!« sagte Aribo und verschluckte sich, weil er mit vollem Mund gesprochen hatte.

»Oh!« sagte Auguste wieder, und dieses Mal lachte sie.

»Ihr seid alle schrecklich lieb – aber…«

»Das stimmt doch alles nicht, was Mama und Papa behaupten!« empörte sich Ekatarina.

»Meint ihr?« Auguste sah sie zweifelnd an. »Es gibt in manchen Familien Erbgesetze, die eine bürgerliche Heirat ausschließen…«

»Aber doch nur oder höchstens wegen der Erbfolge! Und so viele Kinder werdet ihr doch nicht mehr haben wollen!« erregte sich Ekatarina.

»Nein, gewiß nicht!« Wieder schwankte Auguste zwischen Lachen und Weinen. »Aber – ich bin zu altmodisch…«

»Altmodisch?! Wieso?« Ihre drei Enkel sahen sie überrascht an.

»Ich möchte nicht unverheiratet mit einem Mann zusammenleben!«

»Ach so!« Jetzt lachten die drei. »Niemand verlangt das! Wir finden nur, daß ihr wirklich tun sollt, was ihr wollt: heiraten oder…«

»… in wilder Ehe zusammenleben!« schloß Aribo und rollte die Augen.

»Ach ihr! Jetzt seid ihr auch noch frech!« schalt Auguste zärtlich. Sie umarmte der Reihe nach alle drei.

»Ist das jetzt geklärt?« erkundigte sich Ekatarina. »Oder hast du noch irgendwelche Bedenken?«

Auguste sah zum Telefon hin. Sollte sie jetzt gleich Andreas anrufen?

»Wir gehen gleich!« kicherte Elena. »Dann kannst du telefonieren!«

Auguste schlug scherzend mit der Serviette nach ihr.

»Ihr seid zwar schrecklich respektlos – aber ich bin doch sehr froh, daß es euch gibt!« meinte sie. Sie umarmte alle drei, Aribo lud sich noch ein Stück des Kuchens auf den Teller, dann verließen sie ihre Großmutter.

»Eigentlich komisch«, meinte Elena, »daß man in Liebesdingen offensichtlich nie erwachsen wird!«

»Was heißt ›nie erwachsen‹! Du meinst: immer jung bleibt!« verbesserte Ekatarina, die erfahrene Braut, ihre Schwester. Die winkte überlegen ab. »Warte nur, bis du dich verliebst!« drohte Ekatarina. Aribo grinste. Er hatte den Mund voll, deshalb konnte er sich nicht weiter äußern. »Ob die Wenden-Kinder schon zu Hause sind?« überlegte Ekatarina, und dann fiel ihr ein: »Ich muß Alexander anrufen! Nicht, daß im letzten Moment noch etwas schiefgeht!« Und damit rannte sie vor den anderen zum Schloß.

»Endlich hat sie wieder einen Grund, ihn anzurufen!« spottete Elena.

»Nur kein Neid«, sagte Aribo und steckte das letzte Stück Kuchen in den Mund.

*

Alexander stand vor seinen Eltern und sah sie herausfordernd an. Er hatte ihnen brühwarm alles erzählt und erwartete nun eigentlich eine empörte Reaktion.

»Nun? Was ist? Ihr werdet doch nicht ebenso vernagelt sein wie die Sturmecks?« rief er schließlich, da sie nur einen stummen Blick gewechselt hatten und vorerst schwiegen.

»Es ist – unglaublich«, sagte der Fürst nach einer Pause.

»Unglaublich! Das finden wir alle!« rief Alexander, erleichtert, daß sein Vater offenbar seine Meinung teilte.

»Unglaublich, daß man uns – vorschiebt!« sagte Schönhausen nun.

Sein Sohn holte scharf Luft.

»Soll das heißen…?!«

»Nein! Das heißt es nicht!« warf seine Mutter schnell ein. »Wenn ich ehrlich bin, finde ich erstaunlich, daß die liebe Auguste sich in ihrem Altern nochmals so – hm – verliebt. aber die Menschen sind eben verschieden«, setzte sie rasch begütigend hinzu.

»So ist es!« reagierte Alexander gereizt. »Und ich hoffe, daß die Entscheidung von Auguste Sturmeck nichts mit Ekatarina und mir zu tun hat!«

»Selbstverständlich nicht! Das wäre ja geradezu lächerlich!« beeilte sich der Fürst zu versichern. »Auch wenn ich ehrlich zugeben muß, es wäre mir lieber, Auguste hätte irgendeinen – hm – Standesgenossen…«

»Papa!«

»Woldemar!« ereiferten sich nun Sohn und Gemahlin.

»Ach was. Der Dr. Wenden – so heißt er doch – ist sicher ein gebildeter Herr. Sonst würde sich Auguste garantiert nicht für ihn interessieren. Aber – ich hasse das Gerede!«

»Geredet wurde doch immer von gewissen Klatschbasen«, fand Alexander.

Der Fürst seufzte.

»Da hast du auch wieder recht! Und weshalb sollte sich die liebe Auguste nicht über ihren langweiligen Sohn und die habgierige Schwiegertochter hinwegtrösten? Eigentlich hat sie recht!« schloß er.

»Na, endlich!« freute sich Alexander.

»Und? Was erwartete Auguste nun von uns?« wollte die Fürstin wissen.

»Gar nichts!« erklärte Alexander, sehr zufrieden. »Das heißt: nur, daß ihr das, was ihr eben zu mir gesagt habt, auch den Sturmecks beibringt. Etwas verschärft…«, fügte er vorsichtig hinzu.

»Verschärft?« Der Fürst zog die Brauen hoch.

»Tja, ihr solltet ihnen sagen, wenn sie euch darauf ansprechen, daß ich Ekatarina nicht heirate, wenn sie so etwas von ihrer Großmutter verlangt, die ich, und ihr natürlich auch, so hoch schätzt!«

»Oh!« Seine Eltern wechselten wieder einen Blick.

»Ist das nicht ein bißchen…?« begann seine Mutter.

»Man muß denen genauso grob kommen, wie sie es machen!« fand Alexander. »Ihr könnt ja sagen: daß ich einen Charakterfehler bei Ekatarina befürchte, wenn sie solche Bedingungen bei ihrer Großmutter stellt.«

Sein Vater begann zu lachen.

»Meine Güte! Weiß Auguste davon, was ihr da für Ideen habt?«

»Nun ja, wir haben es nicht ganz so deutlich gemacht…«, wich Alexander aus. Seine Mutter schüttelte den Kopf. Doch sein Vater war bereit, auf den Vorschlag seines Sohnes einzugehen.

»Unter normalen Umständen würde ich es ablehnen«, sagte er. »Es ist einfach lächerlich, die Heirat von Auguste Sturmeck mit deiner Verlobung in Zusammenhang zu bringen. Aber die Tatsache, daß Ekatarinas Eltern behauptet haben, wir würden die Zustimmung zu eurer Heirat davon abhängig machen, daß Auguste und Dr. Wenden sich trennen, finde ich so unerhört, daß ich bereit bin, ihnen genauso deutlich zu kommen, wie ihr Kinder euch das ausgedacht habt!«

»Hurra!« schrie Alexander. »Was bin ich froh, daß ich keine zurückgebliebenen Eltern habe!«

»Danke!« sagte der Fürst trocken.

»Und wie geht es nun weiter?« erkundigte sich die Fürstin, halb belustigt, halb besorgt.

»Ekatarina wollte doch einmal Schauspielerin werden…«, begann Alexander.

»Du lieber Himmel! Wir scheinen heute eine Menge Neues über unsere zukünftige Verwandtschaft zu erfahren!« Schönhausen verzog das Gesicht.

»Nein, nein! Inzwischen nicht mehr! Aber sie wird ihren Eltern meinen Entschluß mitteilen! Und ihr müßt mich jetzt entschuldigen – ich will dazu in der Nähe sein! Falls man mich braucht…« Er küßte lachend seine Mutter, umarmte den Vater und lief aus dem Salon, in welchem das Gespräch stattgefunden hatte, um wieder zurück nach Sturmeck zu fahren.

Seine Eltern sahen sich an und schüttelten die Köpfe.

»Sie sind noch sehr jung«, meinte die Fürstin lächelnd.

Der Fürst lachte.

»Und unsere liebe Auguste ist sehr jung geblieben!«

*

Während Jakob und Ursula dem Großvater noch aufgeregt den neuesten Stand der Dinge mitteilten, läutete das Telefon. Auguste Sturmeck war am Apparat.

»Andreas – ich – schäme mich!« sagte sie verlegen.

»Und weshalb?« wollte er wissen und schmunzelte vor sich hin.

»Ich war so kleinmütig! Und so feige!« setzte sie hinzu.

»Und? Hast du es dir inzwischen anders überlegt?«

»Ja. Wenn du noch willst…«

Nun lachte er leise.

»Und ob ich will! Weißt du was, mein Herz? Ich hole dich in einer Stunde ab. Dann werden wir alles genauestens besprechen.«

»Ja«, sagte Auguste. »Ich bin sehr froh…«

»Ich auch…«

»Und, Opa?« fragte Jakob und Ursula, die mit großen Augen und gespitzten Ohren zugehört hatten.

»Alles bestens!« antwortete er und legte um jedes von ihnen einen Arm. »Omama Auguste und ich – heiraten!«

»Hurra!« schrien beide, und Ursula fiel ihm um den Hals und gab ihm einen lauten Schmatz.

»Wann? Wo?« drängte Jakob.

»Ich hab da so eine Idee…«, erwiderte Andreas Wenden vergnügter als seit langem. »Aber die verrate ich noch nicht!«

»Oh, schade!« schmollte Ursula. Doch dieses Mal ließ der Opa sich nicht erweichen. Er schob die beiden aus seinem Zimmer und begann dann, einen Koffer zu packen. Bevor er das Haus verließ, rief er im Kavaliersschlößchen bei Emma an und bat sie, einige Dinge vorzubereiten. Emma war entzückt und versprach, bis in zehn Minuten alles beisammen zu haben.

Eine halbe Stunde später betrat Andreas Wenden den Salon, in welchem Auguste bei dem inzwischen kalt gewordenen Kaffee auf ihn wartete.

»Andreas!« Sie streckte ihm beide Hände entgegen.

»Was für ein Glück, daß wir so liebe und kluge Enkel haben!« sagte er und küßte erst ihre Hände, bevor er sie in die Arme nahm.

Nach einer Weile fragte sie:

»Und wie soll es jetzt weitergehen? Ich meine: soll ich jetzt mit Gotthard reden? Und wissen dein Sohn und deine Schwiegertochter schon Bescheid?«

»Du sollst mit niemandem reden, und meine Kinder wissen auch nicht Bescheid: es geht sie nämlich alle gar nichts an, was wir beide vorhaben!«

»Eigentlich hast du recht!« stimmte sie nach kurzer Überlegung zu.

»Aber…«

»Ich habe mir schon gedacht, daß du wieder eine Menge ›Aber‹ auf Lager hast. Und deshalb wollte ich dir vorschlagen, daß wir eine kleine Spazierfahrt unternehmen. Fern von der lieben Familie kommen wir sicher eher zu einem Entschluß!«

»Oh, ich bin nicht angezogen…« Sie sah an sich herunter.

»Du bist sehr elegant angezogen. Aber wenn du denkst, daß du in etwas anderem bessere Ideen hast – ich warte gerne!« lachte er.

»Du nimmst mich nicht ernst…«

»Ich nehme dich sehr ernst«, versicherte er. »Deshalb finde ich ja auch, daß du nochmals in einen Spiegel schauen solltest. Ich möchte nicht, daß die Leute denken, ich sei schuld an den Tränenspuren!«

»Ach, sehe ich so verheult aus?« Auguste sprang auf und lief zu dem schönen venezianischen Spiegel, der über der elegant gefaßten Rokokokommode hing. »Du hast recht! Ich sehe wirklich schlimm aus!«

»Das ist natürlich übertrieben – aber ich weiß, daß du noch hübscher aussehen kannst!« erwiderte Andreas.

Auguste warf ihm eine Kußhand zu und eilte aus dem Salon. Er hörte sie nach Emma rufen. Schmunzelnd ging er im Zimmer auf und ab. Donnerwetter! Wie lange brauchte sie noch? Er amüsierte sich über ihre Eitelkeit. Aber das war weit besser, als wenn ältere Damen anfingen, sich gehenzulassen.

Als Auguste später wieder den Salon betrat, sah sie fabelhaft elegant aus. Sie trug ein klassisches Kostüm mit dem passenden Schmuck, war tadellos frisiert, und ihr dezentes Make-up verbarg alle Spuren des vergangenen Kummers. Wenden sah sie verliebt an.

»Was habe ich für ein Glück, daß niemand vor mir bemerkte, was alles in dir steckt!« meinte er, nahm ihre Hand und führte sie aus dem Haus zu dem vor dem Eingang geparkten Wagen. Er öffnete für sie die Tür und half ihr, den Gurt anzulegen. Während er zum Fahrersitz auf die andere Seite ging, bemerkte Auguste, daß Emma in der Tür stand und ihr nachwinkte. Mit einem Taschentuch.

»Was hat Emma? Weint sie?« wunderte sie sich.

Andreas ließ den Wagen an.

»Sie ist vermutlich gerührt«, meinte er, ohne sie anzusehen. Eine Weile fuhren sie schweigend. Dann erkundigte sich Auguste:

»Wohin fahren wir eigentlich?«

»Auf unsere Hochzeitsreise!« erwiderte er und lachte.

»Andreas! Laß die Scherze!« erwiderte sie ungeduldig.

»Es ist kein Scherz! Wir – fahren nach – Venedig!«

»Nein!« rief Auguste entsetzt.

»Doch!« gab er zur Antwort. »Oder hast du es dir wieder anders überlegt und willst mich lieber doch nicht heiraten?«

»Nein! Ja – ach was! Du weißt schon! Aber – ich habe nichts dabei…«

»Emma hat alles für dich eingepackt. Dein Koffer ist bei meinem im Gepäckraum.«

»Mein Paß…«, rief Auguste.

»Alles dabei!« versicherte er und warf ihr einen amüsierten Blick zu.

Auguste verstummte. Sie schwieg eine Weile, dann breitete sich langsam ein glückliches Lächeln auf ihrem hübschen Altdamengesicht aus.

»Wunderbar!« seufzte sie. »Wer wird in meinem Alter schon noch entführt? Wenn ich dich nicht schon lange lieben würde, Andreas – jetzt hätte ich mich bestimmt in dich verliebt!«

*

Während sich das alte junge Liebespaar auf seiner Fahrt nach Venedig befand, wartete Ekatarina ungeduldig darauf, daß Alexander zurückkam, um ihn für alle Fälle als Verstärkung in der Nähe zu wissen.

Endlich traf er ein.

»Und? Was sagten deine Eltern?« überfielen ihn die drei Sturmeck-Kinder mit Fragen. Alexander winkte ab.

»Sie waren nicht ganz so entrüstet, wie ich es mir gewünscht hätte«, gab er zu. »Am meisten ärgerte meinen Vater, daß man ihn und Mama vorgeschoben hatte.«

»Aber sie sind doch auf unserer Seite?« fragte Ekatarina besorgt.

Er grinste.

»Hast du Angst, sie könnten mich womöglich umstimmen – Richtung eurer Eltern?«

»Nein!« rief sie empört. Und weil er sie nur anschaute und lachte, fügte sie, verärgert, daß sie sich und ihre plötzlich Unsicherheit verraten hatte: »Und wenn du dich von so etwas würdest abhalten lassen, würde ich dich sowieso nicht mehr haben wollen.«

»Richtig!« lobte Aribo, während Elena nur lachte. Sie mochte sich lieber nicht vorstellen, was los wäre, wenn Alexander es sich anders überlegte.

Aber offenbar hatte Ekatarina diesen Wortwechsel gebraucht, um so richtig in ihre große Szene als verschämte Braut einzusteigen.

»Ihr seid alle so gemein!« rief sie, auch wenn kein wirklicher Grund für diesen Ausbruch vorlag, und verließ das Zimmer.

»Hinterher!« ordnete Aribo vergnügt an.

Alexander hielt ihn zurück.

»Ihr könnt meinetwegen im Nebenzimmer oder an der Tür horchen – aber wenn jemand reingeht, um Ekatarina zu unterstützen, dann bin das nur ich! Klar?«

»Na, klar!« sagte Elena ungeduldig, und dann liefen sie alle drei hinter der inzwischen laut weinenden Ekatarina her.

Wie hatte sie das nur geschafft?!

Graf Gotthard und Gräfin Eliane Sturmeck saßen bei einem ziemlich ungemütlichen Tee im sogenannten Rosenzimmer. Es hieß so, weil die Seidentapete an den Wänden ein Muster aus rosa Rosen trug, das sich im Stoff der Vorhänge wiederholte. Die Sitzgarnitur war mit einer gerippten Seide im Rosaton der Rosen bezogen und auf dem Tisch, zwischen dem Meißner Rosenporzellan, prangte eine große Silberschale, gefüllt mit üppigen, duftenden Rosen in den verschiedensten Rottönen. Der Aubussonteppich, der auf dem kostbar eingelegten Eichenparkett lag, zeigte gleichfalls ein blasses Rosenmuster. An den Wänden hingen schöne, alte Bilder mit Blumenstilleben von holländischen Meistern. Es war ein ausgesprochen heiterer Raum – besonders wenn, so wie jetzt, die Nachmittagssonne ins Zimmer fiel.

Doch die Stimmung war alles andere als heiter.

»Deine Mutter ist abgereist«, sagte Eliane gerade zu Gotthard. »Ich wollte sie zum Tee bitten, um ihr zu zeigen, daß wir ihr nichts nachtragen.«

»Weißt du, wohin?« erkundigte sich ihr Mann überrascht.

»Emma behauptet, sie wisse es nicht. Wahrscheinlich lügt sie, diese gräßliche Person.« Eliane hatte sie noch nie wirklich leiden können.

Gotthard seufzte.

»Besser, sie ist nicht hier. Womöglich würde sie uns Vorwürfe machen. Oder gar weinen!« Die Vorstellung entsetzte ihn.

»Weinen! Wegen so jemandem!« Das war für Eliane unvorstellbar.

Gotthard zuckte die Achseln. Dann versuchte er, das Thema zu wechseln.

»Wo sind eigentlich die Kinder?«

»Du wolltest dir abgewöhnen, von ihnen immer als ›den Kindern‹ zu sprechen. Sie sind inzwischen wirklich erwachsen«, tadelte ihn Eliane gereizt.

Er seufzte und wiederholte die Frage:

»Wo sind – äh – Aribo und die Mädchen?«

»Auch unsere Töchter haben Namen«, erinnerte ihn Eliane wiederum tadelnd. »Sehr schöne, nach meinen russischen Vorfahren!«

»Jetzt reicht es!« ärgerte sich Gotthard. »Sage doch einfach, daß du nicht weißt, wo sie sind! Womöglich sind sie gleichfalls fortgelaufen! Wahrscheinlich wäre es das beste gewesen, wir hätten von der ganzen dummen Heiratsgeschichte meiner Mutter nicht so viel Aufhebens gemacht…«

»Gotthard!« Ein Entsetzensschrei seiner Gemahlin.

»Ach was! Schließlich kommt so etwas öfter vor!«

»Aber nicht in meiner Familie!« erregte sich Eliane.

»Es ist ja nicht in deiner Familie«, schnappte er, »sondern in meiner!«

Mit einem gekränkten Blick holte sie tief Luft:

»Die inzwischen auch die meine ist, wenngleich ist es im Augenblick fast bedaure!«

Bevor er etwas erwidern konnte, hörte man draußen schnelle Schritte und lautes Weinen. Die Tür flog auf, und Ekatarina stürzte herein.

»Es ist aus! Es ist aus! Er hat mich verlassen!« schrie sie und warf sich in einen der hübschen, zierlichen und gefährlich knackenden Sessel. Sie verbarg ihr Gesicht in den Händen, und ihre Schultern bebten von wildem Schluchzen.

Ihre Elter waren einen Moment wie erstarrt. Da Ekatarina sich eine andere Reaktion wünschte, rief sie klagend:

»Ihr seid schuld!«

Die beiden schienen zu Statuen erstarrt.

»Jawohl: ihr! Mir euren altmodischen Ansichten! Weil ihr die arme Omama so gemein behandelt habt!« Verflixt! weshalb sagten sie noch immer keinen Ton?!

»Was – was ist – passiert?« fragte ihr Vater nun, nachdem er sich mehrmals geräuspert hatte.

»Alexander – er – hat mich verlassen! Er – liebt mich nicht mehr!!!!«

»Das – glaube ich nicht! Das kann nicht sein!« flüsterte Eliane, plötzlich ganz grau im Gesicht. »Warum denn nur? Es gibt doch gar keinen Grund!«

»Keinen Grund?!« Ekatarinas Stimme überschlug sich vor Zorn. »Euer Benehmen…«

»Unser – Benehmen…«

»Ja! Genau! Da lügt ihr, daß die Schönhausens nicht wollen, daß Alexander in eine bürgerlich versippte Familie heiratet – was überhaupt nicht zutrifft! Die beiden sind ganz entsetzt darüber, daß ihr sie da vorgeschoben habt…«

Gotthard warf seiner immer bleicher werdenden Frau einen strafenden Blick zu.

»Ich sagte dir ja gleich, wir sollten erst mit Jenny und Woldemar sprechen!«

»Ich wollte doch nur – daß die Geschichte aus der Welt geschafft ist, bevor sie ihnen zur Ohren kommt…«, jammerte Eliane.

»Jetzt ist es zu spät«, sagte Ekatarina und sah triumphierend von ihrem Vater zu ihrer Mutter. Wenn die beiden nicht so erschüttert gewesen wären, hätten sie bestimmt bemerkt, daß ihre Tochter keineswegs so verheult aussah, wie sie eigentlich nach den vorgespielten Tränenfluten aussehen müßte.

»Was soll ich nur tun?« Eliane war nun ihrerseits am Weinen.

»Ade, Erbprinz!« Ekatarinas Stimme bebte. Freilich mehr von unterdrücktem Lachen, als von unterdrückten Tränen. Nun weinte ihre Mutter wirklich.

»Wenn ich denke, daß ich das Glück meiner Tochter ruiniert habe – ich meinte es doch nur gut!« schluchzte sie.

»Ich kann es irgendwie nicht glauben«, murmelte Gotthard und sah flehend zu Ekatarina hin. Rasch setzte die wieder den passenden, verzweifelten Gesichtsausdruck auf. Sie schien wirklich sehr begabt zu sein – oder war ihr Vater nur so außer sich, daß er ihr das Theater abnahm?

»Es ist aber so«, sagte sie mit dumpfer Stimme. »Alexander erklärte, daß er niemandem mit einem so schlechten Charakter heiraten wolle. Wegen der Erbanlagen für die Kinder…«

»Aber – was hat das mit deinem Charakter zu tun?« fragte ihr Vater unglücklich.

»Da fragst du noch?« Ekatarina sah ihn mit großen, todtraurigen und vorwurfsvollen Augen an: »Ihr habt gelogen. Ihr habt Omamas Glück verhindert, ihr habt euch borniert und hochmütig betragen…«

»Mir kommt das sehr übertrieben vor.« Gotthard versuchte, sich zu rechtfertigen. »Wahrscheinlich hat Alexander irgend jemand anderen kennengelernt und suchte nur nach einer Ausrede!«

»Ja, ja, so muß es sein!« rief nun auch Gräfin Eliane.

»Nein!« schrie Ekatarina erschrocken auf. »So ist es nicht! Er – er – hat mich geliebt…«, und jetzt brach sie wahrhaftig in echte Tränen aus. Die Vorstellung war zu fürchterlich!

Glücklicherweise standen der verlorengeglaubte Erbprinz und ihre Geschwister vor der Türe.

»Mein Auftritt!« flüsterte Alexander und blinzelte den beiden zu. Er legte sein Gesicht in ernste Falten und trat in den schönen Salon, der so gar nicht zu der großen Szene, die sich hier abspielte, paßte.

»Graf Sturmeck, Gräfin…«, sagte er todernst und deutete eine kleine, steife Verbeugung an, die genau zu seinem Tonfall paßte.

»Alexander – was ist passiert? Wir verstehen Ekatarina nicht!« stieß Eliane hervor und eilte mit ausgestreckten Armen auf ihn zu.

Er betrat betont einen Schritt zurück.

»Verzeihung, Gräfin, ich denke, Sie haben Ekatarina sehr gut verstanden. Nach allem, was vorgefallen ist, kann eine Verbindung unserer Familie nicht stattfinden.«

»Alexander…«

»Pardon, Graf Sturmeck: so wie die von uns verehrte Gräfin Auguste behandelt wurde – und dies offensichtlich mit dem Einverständnis sämtlicher Familienmitglieder – das kann ich nicht gutheißen.«

»Du hast eine andere!« platzte Gotthard Sturmeck wütend heraus.

»Alexander!« Ekatarina warf sich aufweinend in seine Arme.

»Es tut mir leid.« Er schob sie energisch von sich. »Du weißt sehr gut, daß das nicht zutrifft. Es ist nur – wir sind beide noch so jung, und wie heißt es: man muß die Eltern, besonders die Mutter seiner Braut ansehen, wenn man wissen will, wie sie einmal wird. Der Wappenspruch meiner Familie heißt: Ehrlich und treu. Ehrlich!« wiederholte er bedeutungsvoll, und Eliane sank auf ihrem Sessel zusammen. »Sie entschuldigen mich?« Wieder die knappe, steife Verbeugung, und damit verließ er den Salon.

»Alexander!!!« Mit einem Aufschrei folgte ihm Ekatarina.

»Wie war ich?« fragte sie draußen leise ihre Geschwister.

»Großartig!« Aribo grinste. »Aber Alexander war noch besser!«

»Pst! Weg von hier!« mahnte Elena, die sich kaum das Lachen verkneifen konnte. »Wenn sie nachsehen kommen!« Leise liefen alle den Gang hinunter bis zu der großen Treppe, die von der Halle in die oberen Stockwerke führte. Da Aribos Zimmer das erste war, gingen alle vier da hinein.

»Und jetzt?« fragte Ekatarina, plötzlich ernüchtert.

»Ich denke, sie werden sich an meine Eltern wenden, um zu hören, was der wirkliche Grund für die gelöste Verlobung ist«, vermutete Alexander.

»Und? Was werden sie sagen?« Ekatarina sah ihn an.

Elena und Aribo begannen zu kichern, doch Alexander blieb todernst.

»Nun, sie werden sagen, daß sie nicht wünschen, daß ihr Sohn in so eine Familie einheiratet«, erwiderte er.

Ekatarina erwiderte darauf nichts, aber ihre Augen wurden immer größer.

»Du dummer Schatz!« Er begann zu lachen und nahm sie in die Arme. »Du steigerst dich wahrhaftig so hinein, daß du noch selbst daran glaubst. Natürlich haben sie nichts gegen dich einzuwenden. Sie finden, daß du die ideale Schwiegertochter bist – egal, ob deine Omama nun diesen Dr. Wenden oder jemand anderen oder gar nicht mehr heiratet. Aber schließlich wollen wir alle ja, daß auch deine Omama glücklich wird, nicht wahr?«

»Ja!« stieß Ekatarina mit einem erlösten Seufzer hervor. »Ich wußte zuletzt wirklich nicht mehr, was du gemeint hast.«

»Ich war gut?« Alexander lachte befriedigt. »Aber jetzt muß ich heimfahren, sonst merken sie noch was. Schließlich sind deine Eltern ja nicht dumm – sondern nur – hm in gewisser Hinsicht vernagelt. Und wenn sich der erste Schrecken gelegt hat…«

»Du meinst, sie lassen sich nicht überreden?« sorgte sich Elena.

»Ich denke, daß sie auf alle Fälle nachgeben«, sagte Aribo nüchtern. »Sie müssen doch inzwischen gemerkt haben, wie sie sich mit ihrem Verhalten blamieren. Wir leben doch nicht mehr im 18. Jahrhundert.«

»Und da hätte es dann die morganatische Ehe gegeben«, warf Elena ein.

»Oder man hätte aus Dr. Wenden einfach einen Baron gemacht«, schlug Alexander lachend vor.

»Ich glaube auch, daß es im 19. Jahrhundert schwieriger gewesen wäre. Besonders gegen Ende zu«, stimmte Elena nachdenklich zu.

»Aber da wir im 21. Jahrhundert leben, dürften alle diese Überlegungen nicht relevant sein«, schloß Alexander die Unterhaltung.

»Komm!« Er ergriff Ekatarina an der Hand, winkte den beiden zu und zog sie mit sich aus dem Zimmer.

»Jetzt kommt noch ein fürchterliches Geknutsche«, brummte Aribo und verdrehte genervt die Augen.

»Gott sei Dank!« fand Elena. »Stell dir vor, die Geschichte wäre ernst gewesen?! Ekatarina hat ja so schon Bedenken bekommen!« Beide lachten, als sie daran dachten.

Nach einer Weile kam die »verlassene Braut« zurück. Sie hatte glänzende Augen und glühende Wangen. Sie sah, glücklicherweise! nicht sehr verlassen aus!

*

Zwei Wochen später war Gräfin Auguste noch immer nicht zurückgekehrt. Und niemand wußte, wo sie sich aufhielt. Außer Emma, die zur Wut der Gräfin Sturmeck beharrlich schwieg.

Aribo hatte in der Schulpause die beiden Wenden-Kinder abgepaßt und diese nach ihrem Großvater gefragt.

»Er ist weggefahren. Mit einem Koffer«, war alles, was Jakob wußte. Als sie dann hörten, daß auch die Großmutter von Aribo verschwunden war, lachten sie vergnügt.«

»Das ist doch prima!« fand Ursula. »Bestimmt sind sie zusammen verreist!«

»Aber wohin? Und wann kommen sie zurück?« bohrte Aribo.

»Keine Ahnung. Mama und Papa fangen an, sich Sorgen zu machen«, erzählte Ursula. »Geschieht ihnen ganz recht. Was ist jetzt mit deiner Oma und unserem Opa? Sind deine Eltern auch immer noch so blöd?«

Aribo lachte.

»Garantiert! Aber sie tun so, als wären sie es nicht mehr und behaupten, es wäre ihnen egal, wen Omama heiratet…«

»Das ist doch prima!« freuten sich die beiden Jüngeren.

»Und was ist mit euren Eltern?« wollte Aribo nun wissen.

»Och, die.« Die Geschwister wechselten einen Blick. »Ich glaube, Mama ist es nur darum zu tun, daß Opa Papa nicht Privatpatienten wegnimmt!«

»Nein, Jakob!« rief Ursula. »Mama möchte, daß Opa nicht mehr bei uns wohnt. Wenn er bei Omama Auguste wohnen kann, hat sie bestimmt nichts dagegen, wenn die beiden heiraten.«

»Vorausgesetzt, sie bleiben Patienten deines Vaters!« Aribo fand das sehr schön. Irgendwie schienen die Erwachsenenjahre, so um die Vierzig herum, die gefährlichsten und schwierigsten zu sein…

»Wir müssen es aber herausbringen, wo sie hingefahren sind!« fand Ursula. »Stellt euch vor, sie kommen zurück – da müssen wir sie doch festlich empfangen!«

Aribo sah sie überrascht an.

»Donnerwetter! Du hast recht! Da sieht man doch, daß Mädchen in manchen Dingen weiter denken!«

Ursula wurde rot, weil er sie lobte. »Womöglich sind sie verheiratet – wir müssen einen tollen Empfang veranstalten!«

»Aber wie? Und wo? Wenn wir doch nichts wissen!« erinnerte ihn Jakob.

»Ich werde Emma nochmals löchern. Die weiß bestimmt Bescheid. Und wenn ich ihr verraten, weshalb wir das so dringend wissen müssen, dann weiht sie uns auch bestimmt ein.« Aribo war sich da sicher. Emma, die getreue Seele, würde bestimmt wollen, daß ihre Frau Gräfin gebührend gefeiert wurde. Er versprach, das noch am gleichen Tag herauszufinden.

»Und du rufst uns dann sofort an?« drängte Ursula.

»Klar! Da gibt es so viel zu tun, da müßt ihr schon mithelfen!« versprach Aribo den beiden.

*

Wie erwartet, wußte Emma Bescheid: über das Reiseziel ebenso, wie über den Zeitpunkt der Rückkehr. Sie machte auch keinen Hehl daraus, als die drei Enkel ihrer geliebten Frau Gräfin zusammen mit dem »Traumschwiegersohn« und den netten Wenden-Kindern bei ihr auftauchten, um sie danach zu fragen.

»Ich weiß es«, sagte sie stolz, »aber ich verrate es nicht!«

»Liebe Frau Emma…«, begann Alexander, – aber sie winkte nur ab.

»Emma! Du mußt es uns einfach sagen!« rief Ekatarina ungeduldig.

»Ich kann nicht! Ich habe es hoch und heilig versprochen!« erwiderte die Brave hartnäckig.

»Emma, du weißt doch, wir wollen Omama nichts Böses!« drängte Elena.

»Und wir unserem Opa nicht!« warf Jakob ein.

Man sah Emma an, daß sie unsicher wurde.

»Kannst du sie nicht anrufen und dich erkundigen?« fiel es Aribo ein.

Emma überlegte, doch Ursula fand die Idee nicht gut.

»Es soll doch eine Überraschung werden«, erinnerte sie ihre Mitverschworenen.

»Was für eine Überraschung?« Emma war gleich wieder mißtrauisch.

»Wenn du es nicht verrätst, verraten wir auch nichts«, erwiderte Ekatarina ärgerlich.

»Natürlich müssen wir Emma einweihen!« meinte Alexander diplomatisch. »Wir können doch keine Begrüßungsvorbereitungen ohne die Hilfe und den Rat von Frau Emma treffen!«

»Was für Begrüßungsformalitäten?« Emma sah von einem zum anderen.

»Angenommen, Omama und Dr. Wenden haben geheiratet…«, sagte Elena.

»Sie haben geheiratet!« schrie Aribo. »Ich sehe es Emma an!«

Man sah es ihr wirklich an, auch wenn sie vergeblich versuchte, es mit schwachem Protest abzustreiten. Alle sechs lachten und jubelten, und die Wenden-Kinder sprangen in die Luft vor Begeisterung.

»Frau Emma, jetzt müssen wir ernst mit Ihnen reden«, sagte Alexander schließlich. »Es geht doch nicht, daß Gräfin Sturmeck nach ihrer Eheschließung zurückkommt – und nichts ist für ihren Empfang vorbereitet! Wirklich! Das ist unmöglich!«

Emma seufzte, daß es einen Stein erweicht hätte.

»Ich finde es ja auch – aber…«

»Es gibt kein Aber!« erklärte Alexander streng. »Wir Enkel möchten den beiden einen festlichen Empfang bereiten. Schon damit alle gleich wissen, was Ekatarina und ich uns einmal erwarten, was, meine Süße?« Er legte den Arm um sie und zog sie näher an sich heran.

»Na ja – aber – was habt ihr euch denn gedacht?« fragte Emma vorsichtig.

»Ganz einfach: großer Bahnhof!« rief Aribo vergnügt.

»Blumengirlanden, und alle müssen antreten in Feiertagskleidung, und die Jagdhornbläser von unseren Jägern müssen aufspielen, und der Herr Pfarrer samt Ministranten soll den Einzug in das Haus segnen…«

»Ach! Schön!« sagte Emma und schluchzte unwillkürlich auf. Ja, so sollte es sein.

»Du wirst doch nicht glauben, daß Omama dir böse ist, wenn wir sie so empfangen!« beruhigte Elena sie.

Emma konnte nicht sprechen vor Rührung, sie schüttelte nur den Kopf.

»Aber«, fiel es ihr zuletzt noch ein, »was ist mit euren Eltern?«

Die sechs sahen sich an, zuckten die Achseln, und Alexander sagte schließlich:

»Was soll mit ihnen sein? Wenn sie wollen – kommen sie, wenn nicht – feiern wir eben ohne sie.«

Ekatarina stieß ihn an.

»Denkst du denn, daß deine Eltern auch nicht kommen?«

Er grinste.

»Doch, die kommen sicher.«

»Tja, das muß ich aber schon wissen.« Emma wurde plötzlich ganz aufgeregt. »Werden noch andere Gäste eingeladen – oder bloß die engste Familie? Wegen des Büfetts! Oder habt ihr an ein gesetztes Essen gedacht?«

Die sechs sahen sich an.

»Nein«, beschloß Ekatarina schließlich. »Ich würde sagen: nur die engste Familie – und selbstverständlich die Angestellten von Schloß, Betrieb und Kavaliershaus. Ein kaltes Büfett – aber vom Feinsten!« fand sie. »Die beiden sind wahrscheinlich doch auch müde von der Fahrt und haben sicher nichts erwartet. Emma: schwöre, daß du ihnen nichts verrätst!«

»Ich schwöre es!« versicherte die und hob feierlich die Rechte.

»Jetzt mußt du uns nur mehr verraten, wann sie ankommen. Gib zu: wir können sonst wirklich nichts vorbereiten!« drängte Aribo.

Emma seufzte schwer.

»Na, schön. Ihr habt recht. Und es wäre wirklich unpassend, wenn unsere Frau Gräfin so sang- und klanglos nach ihrer Hochzeit hier einziehen würde: also, sie kommen nächstes Wochenende!«

»Du lieber Himmel, da bleibt uns wirklich nicht viel Zeit!« fand Ekatarina.

*

Weder die drei Sturmecks noch Alexander Schönhausen noch die beiden Wenden-Kinder hatten große Erfahrungen mit den Vorbereitungen eines Empfanges von der Größe, wie sie ihn für ihre Großeltern angemessen fanden. Es blieb ihnen gar nichts anderes übrig, als alle möglichen Leute einzuweihen.

Als erste suchten sie den Schloßgärtner auf und besprachen mit ihm den Blumenschmuck: üppige Sträuße in alle Zimmer, Girlanden über die Türen und entlang der Treppengeländer.

Der Chef-Gärtner hörte sich alles an, nickte, machte sich ein paar Notizen und fragte schließlich:

»Und der Herr Graf weiß Bescheid?« Er betrachtete seine jugendlichen Auftraggeber. »Aha«, brummte er, als keine Antwort erfolgte.

»Es ist, weil…«, begann Ursula nervös.

»Pst, wir sollen doch nichts verraten!« unterbrach Aribo sie.

»Ja, wenn ich nichts weiß, dann…« Der Gärtner runzelte die Stirne.

»Gräfin Auguste Sturmeck hat geheiratet«, platzte nun Alexander heraus. »Und wir Enkel sind darüber sehr glücklich. Nur unsere Eltern nicht… Aber wir finden…«

»Aha«, brummte der Gärtner wieder, der natürlich auch schon etwas gehört hatte. Dann schmunzelte er: für die alte Frau Gräfin würde ich selbstverständlich alles schön schmücken! Das war er auch dem verstorbenen Herrn Grafen schuldig, der immer so verständnisvoll gewesen war. »Sie können sich darauf verlassen: alles wird pünktlich und auf das Schönste geschmückt werden!« versprach er.

»Und kein Wort zu unseren Eltern!« mahnte Elena.

»Ich will es versuchen…«, gab er zur Antwort und zog eine verschwörerische Grimasse.

Als nächste suchten die sechs Enkel die Hausdame der Sturmecks auf. Die war um einiges vorsichtiger als der alte Gärtner. Ohne das Einverständnis der Frau Gräfin Eliane…

»Nun, wenn Sie es nicht verantworten können«, bemerkte Alexander, ganz Erbprinz, hochmütig, »dann werde ich unsere Hausdame bitten, das kalte Büfett anzurichten und mit dem notwendigen Personal herüber zu bringen.«

Die Hausdame wand sich.

»Ich glaube nicht, daß unsere Angestellten erfreut sind, wenn nicht sie Omama begrüßen dürfen«, fügte Ekatarina hinzu, gleichfalls nicht mehr Komteß Sturmeck, was den Ton anging, sondern ganz Erbprinzessin Schönhausen.

»Ich weiß nicht«, sagte die Hausdame verzweifelt, »wie ich es vor der Frau Gräfin verheimlichen soll!«

»Überhaupt nicht! Wenn sie etwas bemerkt, dann sagen Sie, daß Sie in unserem Auftrag handeln. Und selbstverständlich bezahlen wir es von unserem Taschengeld – falls unsere Mutter diesbezüglich sich aufregen sollte.«

Ursula und Jakob schluckten vor Schreck – zum Glück bemerkte Aribo es.

»Es ist immer die Familie der Braut, die eine Hochzeit ausrichtet!« sagte er beiläufig, woraufhin die beiden sich wieder entspannten.

»Dann sage ich vorläufig nichts in Schönhausen.« Prinz Alexander sah die Hausdame abwartend an.

»Nein, nein, um Himmels willen! Wir machen das ja sehr gerne für die Frau Gräfin Mutter«, versicherte die Hausdame. »Wir alle schätzen sie doch ganz besonders!«

»Gut! Wir verlassen uns auf Sie!«

»Und jetzt?« fragte Ursula aufgeregt, nachdem sie das Schloß wieder verlassen hatten.

»Jetzt gehen wir zu unserem Forstmeister wegen der Jagdhornbläser!« erklärte Aribo.

»Toll!« freute sich Ursula. »Ach, so eine Hochzeit möchte ich auch einmal haben!«

»Dich nimmt sowieso keiner!« meinte ihr Bruder, woraufhin sie sich auf ihn stürzte und er lachend davonlief.

Der Forstmeister war sofort begeistert. Er hielt nicht so viel von der neuen Herrschaft. Graf Gotthard ging selbst überhaupt nicht zur Jagd! Höchste Zeit, daß Aribo endlich seinen Jagdschein machte, erwähnte er bei dieser Gelegenheit.

»Nach dem Abi«, seufzte der. »Meine Noten…«

Der Forstmeister lachte. Doch dann erinnerte er:

»Nur zwei unserer Jäger blasen das Jagdhorn. Wir haben früher immer Jäger unserer Jagdgäste eingeladen, wenn eine große Jagd war.«

»Ich denke, ich kann aushelfen«, versprach Alexander. »Ich sorge dafür, daß unser Forstmeister sich mit Ihnen in Verbindung setzt!«

»So. Das wäre es!« stellte Ekatarina fest und setzte sich auf die Stufen, die zum Eingang des Kavalierhauses führten. »Ich bin ganz erschöpft!«

»Warum?« fragte Ursula überrascht. »Wir haben doch eigentlich gar nichts getan? Sollen wir selbst denn überhaupt nichts tun?«

Alexander begann zu lachen. Er fand die Bemerkung herrlich.

»Du hast recht! Wir haben nur delegiert! So ist das eben. Aber irgend etwas sollten wir auch tun. Die Frage ist nur: was?«

»Ein Gedicht aufsagen«, schlug Ursula vor.

»Das ist etwas für dich«, fand Alexander.

»Könnt ihr denn gar nichts?« erkundigte sich Jakob. »Irgendein Instrument spielen, zum Beispiel?«

»Wir haben doch die Jagdhornbläser«, erinnerte ihn Ekatarina.

»Nein, wir können gar nichts«, Alexander mußte wieder lachen. Es war ja eigentlich wirklich komisch. »Nur delegieren!«

Jetzt platzten auch die drei Sturmecks heraus. Sie lachten, bis ihnen die Tränen über die Wangen liefen. Jakob und Ursula verstanden das nicht. Sie fanden es irgendwie blöde. Aber vielleicht war das eben so, wenn man sehr vornehm und sehr reich war!

»Wir sagen ein Gedicht auf«, beharrte Ursula. »Wir finden schon ein passendes, gelt, Jakob?«

»Hm«, machte der. Er haßte es, Gedichte vorzutragen – aber für Opa mußte man schon so etwas auf sich nehmen.

Als die Wenden-Kinder sich auf ihre Fahrrräder schwangen, um nach Hause zu fahren, kam vom Gut herüber ein Mann gelaufen, der sich als der Gutsverwalter, Herr Lehmann, entpuppte.

»Halt, halt! Moment!« rief er schon von weitem.

Was war jetzt das? Die jungen Leute wechselten mißtrauische Blicke.

»Gut, daß ich Sie noch erwische«, keuchte der wohlbeleibte, nicht mehr ganz junge Mann. »Ich habe eben gehört…«

»Du liebe Zeit! Wer weiß eigentlich noch nicht Bescheid?« Ekatarina lachte.

»Eigentlich bin ich gekränkt, Komteß«, sagte Lehmann, nun wieder einigermaßen bei Puste. »Wieso wird die Landwirtschaft übergangen?«

»Aber Sie werden doch nicht übergangen!« beeilte sich Elena zu versichern. »Selbstverständlich erwarten wir, daß Sie auch alle dabei sind!«

»Ja, schon. Aber wir wollen auch aktiv mitwirken!« erklärte Lehmann.

Tja. Aber wie?

»Ich habe auch schon eine Idee!« sagte er nun eifrig, da die jungen Herrschaften offensichtlich keine hatten. »Wir holen die Frau Gräfin und den Herrn Doktor vierspännig ein!«

»Toll!« schrie Jakob sogleich begeistert.

»Und wie haben Sie sich das vorgestellt?« erkundigte sich Alexander vorsichtig.

»Am Ortsausgang, wo von der Bundesstraße die kleine Privatstraße zu unsere Betrieb abbiegt, warten wir mit dem Wagen. Da soll das Brautpaar umsteigen…«

»Und jetzt habe ich auch eine Idee, was wir machen können!« unterbrach Aribo jubelnd: »Wir reiten neben der Kutsche her! Wir drei und Alexander!«

»Mensch, ja! Toll!« riefen alle begeistert, nur Jakob zog ein bekümmertes Gesicht: Reiten konnte er nicht – Gedichteaufsagen war wirklich nur etwas für kleine Mädchen. Aber Herr Lehmann wußte Rat:

»Du überreichst der Frau Gräfin einen Blumenstrauß und sitzt dann neben mir auf dem Kutschbock!«

Klar war Jakob begeistert – aber jetzt jammerte Ursula. Sie wollte auch mit in der Kutsche fahren!

»Du kannst ja das Gedicht aufsagen, wenn die beiden umsteigen«, schlug Aribo vor, »und dann überreichst du deinen Blumenstrauß deinem Großvater und sitzt bei ihnen in der Kutsche!«

Großartig! Jetzt war auch Ursula zufrieden.

»Und selbstverständlich tragen wir dem Wagen die Standarte mit dem Wappen von unserer Omama voraus!« fiel es Elena noch ein.

»Das Sturmecksche Wappen?« fragte Jakob beeindruckt.

»Nö, das von Omama: sie ist eine geborene Baronin Greifenstein.«

»Opa hat kein Wappen«, bedauerte Ursula.

»Doch! Hat er!« behauptete Alexander Schönhausen lachend. »Wir besorgen für ihn eine Standarte mit dem Äskulap-Stab!«

»Hurra!« schrien die Wenden-Kinder nun begeistert, und alle bedankten sich bei Herrn Lehmann für die hervorragende Idee mit der Kutsche.

*

Endlich brach der große Tag an. Wie bestellt versprach er ein herrlicher Sommertag zu werden. Die Schwalben stiegen hoch am tiefblauen Himmel, das Grün der Bäume und Büsche schien heute besonders tief und saftig, und die Blumen sahen aus, als hätten sie sich im Morgentau gebadet, damit ihre Farben extra strahlend leuchteten.

Da man die genaue Ankunftszeit nicht wußte, hatte man einen »Späher« an den Ortseingang gestellt, der mittels Handy sofort Nachricht geben mußte. Die geschmückte Kutsche stand bereits am vorgesehenen Platz, und die festlich gekleideten Angestellten konnten es auch kaum mehr erwarten. Jeden Augenblick mußte das »junge, alte Paar« eintreffen!

Alexander und die drei Sturmecks tummelten ihre blumengeschmückten Pferde, damit die hochgezüchteten Tiere nicht ungeduldig wurden. Jakob und Ursula sahen beeindruckt zu. Sie waren fest entschlossen, auch reiten zu lernen! Die Reiter trugen weiße Hosen, schwarze Sakkos und Stiefel, die jungen Herren Reitzylinder, wie für Dressur-Reiten üblich, die beiden Mädchen hatten sich Blumen in das Haar gesteckt.

Ursula hatte ihr weißes Firmkleid an und gleichfalls einen Blumenkranz aus bunten Wiesenblumen auf dem Kopf, Jakob fühlte sich in seinem Anzug nicht recht wohl, aber er hatte eingesehen, daß er zu so einem festlichen Anlaß wirklich nicht in Jeans auftauchen konnte.

Da ertönte das verabredete Signal: sie kamen!

*

Gräfin Eliane war erbost. Wo steckten heute nur alle? Kein Mensch war zu sehen! Niemand kam auf ihr wütendes Klingeln! Endlich hörte sie Schritte. Sie lief zur Tür des kleinen Speisesaals, in dem sie und Gotthard gefrühstückt hatten, und riß sie gereizt auf – nur, um mit ihrem Mann zusammenzustoßen, der außer Atem ankam.

»Wo sind denn alle?« fragte sie zornig. »Ich läute hier…«

»Mama kommt heim, und die Kinder haben einen Riesenempfang für sie vorbereitet!« keuchte er.

»Was?« schrie sie mit sich überschlagender Stimme.

»Wir müssen sofort hin!« stieß er noch immer atemlos hervor.

»Fällt mir nicht im Traum ein!« fauchte Eliane.

»Dann gehe ich alleine!« schrie er zurück. »Die Schönhausens sind auch da!«

»Die Schönhausens…?« Sie war fassungslos.

»Jawohl!« Gotthard war schon auf der Treppe. »Wir müssen uns entsprechend umziehen!«

»Wir werden die letzten sein!« klagte Eliane, die nun hinter ihm her lief, endlich davon überzeugt, daß sie bei diesem Anlaß unmöglich fehlen durfte.

»Besser spät, als überhaupt nicht!« stieß er hervor. Verflixt, wo waren nur der Cut und all das Zeug!? Natürlich hatte der Diener nichts für ihn vorbereitet!

Atemlos kamen die beiden Sturmecks gerade noch rechtzeitig vor dem Kavaliershaus an…

*

»Die Kinder schwänzen heute die Schule!« sagte Dr. Peter Wenden zu Ilse.

»Ja«, erwiderte sie verkniffen. »Sie haben einen großen Empfang für deinen Vater und die Gräfin arrangiert.«

»Findest du nicht, daß wir eigentlich hingehen müßten?« überlegte ihr Mann.

»Das fällt dir reichlich spät ein! Was ist mit deinen Patienten?« fuhr sie ihn an. Ein Empfang im Schloß – und sie hatten verpaßt, dabei zu sein!

»Für eine Stunde kann ich mich frei machen«, beschloß Wenden.

Er sagte seiner Praxishilfe Bescheid: »Ein Notfall. Es wird ungefähr eine Stunde dauern…« Zehn Minuten später verließen er und Ilse, feierlich gekleidet, das Haus.

Etwas verlegen standen sie vor dem Kavaliershaus herum, bis Fürst Schönhausen von der tüchtigen Emma darauf aufmerksam gemacht wurde, um wen es sich bei dem Paar handelte.

Liebenswürdig ging er auf sie zu, stellte sich vor und machte sie dann mit seiner Gemahlin bekannt. So waren sie bereits im Gespräch mit dem Fürstenpaar, als die Sturmecks wahrhaft stürmisch eintrafen.

»Sie kommen!« schrie jemand.

Und da bog die Kutsche um die Ecke…

*

»Was ist denn da vorne los?« fragte Dr. Andreas Wenden und schaltete den Wagen herunter. Sie waren auf der Straße hinter der Ortschaft, und er hatte gerade etwas Gas gegeben, bevor er in die Abzweigung zu Schloß und Gut Sturmeck einbog.

»Das ist – das ist – oh, Andreas! Halt an!« rief Auguste, jetzige Frau Wenden. »Das ist für uns! Oh, Andreas! Sie erwarten uns! Welche Freude! Wie lieb von ihnen!« Ganz aufgeregt packte sie ihn am Arm.

Jetzt erkannte auch Wenden das feierliche Begrüßungskommitée bestehend aus seinen Enkeln und den Sturmecks, hoch zu Roß. Kaum hatte sie angehalten, als Jakob und Ursula herbeiliefen und die Autotüren aufrissen.

»Opa! Omama Auguste! Aussteigen!« riefen sie aufgeregt.

Die beiden folgten natürlich, gerührt von der Überraschung, die ihre Enkel vorbereitet hatten. Waren sie eben noch müde gewesen? Alle Erschöpfung war verflogen!

Jakob zog sie neben die festlich geschmückte, vierspännige Kutsche.

»Jetzt geht es los!« verkündete er strahlend.

Ursula trat vor und begann ihr Gedicht aufzusagen. Zuerst war ihre Stimme noch ein wenig dünn, doch zuletzt betonte sie alles ganz richtig und blieb auch kein einziges Mal hängen!

Nachdem sie geendet hatte, überreichte sie ihrem Opa einen Strauß aus bunten Sommerblumen und Jakob der neuen Omama einen Zweig Schmetterlingsorchideen. Andreas Wenden amüsierte sich köstlich über den feinen Unterschied. Dann half Jakob galant Auguste in den Wagen und schwang sich selbst auf den Kutschbock neben Herrn Lehmann. Ursula setzte sich gegenüber von dem Hochzeitspaar. Links neben der Kutsche ritten Elena und Aribo, rechts Ekatarina und Alexander.

»Habt ihr gesehn?« Jakob drehte sich auf dem Sitz um, als die Pferde in stolzem Trab die Straße entlang Richtung Schloß trabten. »Die Standarten!«

»Was bedeuten sie?« fragte Andreas Wenden leise seine Frau.

»Ich bin, wie du ja inzwischen weißt, eine geborene Greifenstein, und das ist mein Wappen. Und das andere…«

»Aber Opa! Das ist dein Wappen!« rief Ursula aufgeregt. »Der Äskulap-Stab! Das kennst du doch!«

Andreas beugte sich vor und tätschelte ihr das Knie. Er konnte nichts sagen, er war zu gerührt.

»Das war Alexanders Idee!« gestand Ursula. Sie wollte sich nicht mit fremden Federn schmücken. Daraufhin streichelte auch Auguste ihre Hand.

Nun fuhren sie durch das blumenbekränzte Parktor – und jetzt bog die Kutsche in den schmalen Weg ein, der zum Kavaliershaus führte.

Eine Fanfare ertönte – und dann bliesen die fürstlichen und gräflichen Jagdhornbläser zur Begrüßung. Entlang am Weg standen auf einer Seite aufgereiht die Hausangestellten, auf der anderen die Angehörigen des land- und forstwirtschaftlichen Betriebs.

Und vor dem Eingang des Kavalierhauses standen in schönster Eintracht die Sturmecks, die Schönhausens und das Ehepaar Wenden!

»Hurra! Hurra! Hurra!« erscholl es, als die Bläser aussetzten.

Herr Lehmann hielt die Pferde genau vor den Stufen. Sie standen perfekt, und er selbst saß wie aus Erz gegossen: endlich konnte er seine beachtliche Fahrkünste vorführen!

Gotthard Sturmeck eilte an die Kutsche, öffnete den Schlag und half seiner Mutter heraus.

»Willkommen zu Hause, Mama!« sagte er. Er hatte Tränen in den Augen. »Bitte, verzeih…«

»Ich weiß nicht, wovon du sprichst«, unterbrach Auguste ihn großmütig und umarmte und küßte erst ihn und dann auch die etwas zögernd herzutretende Eliane.

Inzwischen hatten Peter und Ilse Wenden ihren Vater und Schwiegervater begrüßt.

»Es tut uns leid, wenn es Mißverständnisse gegeben hat«, begann auch Peter etwas gequält.

»Alles vergessen!« unterbrach ihn Auguste und umarmte beide. Als nächste gratulierten die Schönhausens und dann natürlich Emma! Auguste bedankte sich bei allen und unter den Klängen der Jagdhörner zogen alle in das Kavaliershaus, um dem verführerisch hergerichteten Büfett die gebührende Ehre anzutun.

Alexander hielt Ekatarina ein wenig zurück.

»Meinst du, sie denken, unsere Eltern haben das alles arrangiert?«

»Ganz bestimmt nicht«, erwiderte Ekatarina lachend. »Aber es ist für die doch so schon peinlich genug. Da tun Omama und Opa Wenden eben so. Die wissen genau, wer sich das ausgedacht hat.« Sie wollte ins Haus, doch wieder hielt er sie am Arm fest.

»Willst du auch einmal so eine Hochzeit?« fragte er.

»Unsere wird noch viel schöner sein«, erwiderte sie zärtlich, »schon weil es vorher nicht so schrecklich häßliche Aufregungen gibt.« Wieder hielt er sie zurück, als sie hineingehen wollte.

»Schnell ein Kuß!« bat er. »Du siehst so umwerfend aus im Reitdreß!«

Ekatarina legte ihm die Arme um den Hals, sah ihm verliebt in die Augen – und dann küßten sie sich – zur Freude der Umstehenden.

Und die Jagdhornbläser belohnten sie mit einem langen Tusch.

Fürstenkrone Staffel 10 – Adelsroman

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