Читать книгу Sophienlust Staffel 16 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 6
ОглавлениеAndrea von Lehn umarmte ihren Mann stürmisch, während drei Hunde aufgeregt bellend ihren heimgekehrten Herrn umsprangen. Etwas im Hintergrund wartete das Hausmädchen Marianne, das den Kronprinzen der jungen glücklichen Familie, das Peterle, an der Hand hielt.
»Vier Tage Trennung, das ist einfach zu lange für mich«, sagte der Tierarzt Dr. Hans-Joachim von Lehn zu seiner Frau und küsste sie rasch noch einmal, ehe er sie freigab und die Hunde summarisch mit ein paar freundlich-beruhigenden Worten begrüßte. Die mächtige schwarze Dogge Severin sowie Munko, ein Schäferhund, waren sogleich still, während der Dackel Waldi unbekümmert weiterkläffte, um der Freude über das Wiedersehen lautstark Ausdruck zu verleihen.
Es dauerte auf diese Weise eine Weile, ehe die gewohnte Ordnung im Haus wieder einkehrte, denn selbstverständlich wollte auch Janosch, der alte Tierpfleger, seinen Doktor begrüßen.
Endlich trug der Heimkehrer sein Söhnchen, das trotz der vorgerückten Abendstunde noch nicht ins Bett wollte, ins Kinderzimmer. Andrea und Marianne hatten alle Hände voll zu tun, um den kleinen Wildfang zu bändigen und schlafen zu legen.
Verspätet setzten sich Dr. von Lehn und seine Frau zum Essen, und nun konnte endlich die Gemütlichkeit zu ihrem Recht kommen, auf die der Tierarzt sich während der langen Autofahrt schon gefreut hatte.
»War die Tagung interessant, Hans-Joachim?«, erkundigte sich Andrea und rückte die Salatschüssel in Reichweite ihres Mannes.
»Ja, sowohl die Vorträge als auch die verschiedenen Diskussionen. Zwar hast du mir wahnsinnig gefehlt, aber ich möchte das, was ich hinzugelernt habe, keinesfalls missen, kleine Andrea. Übrigens habe ich Martin Brixen getroffen. Du erinnerst dich?«
»Gewiss, er war doch mit deinen Eltern befreundet. Einmal habe ich ihn persönlich kennengelernt. Sonst weiß ich nur vom Hörensagen etwas über ihn. Er hat eine schöne Frau, nicht wahr?«
Hans-Joachim nickte. »Schön, anspruchsvoll und extravagant. Sie hat ihren Mann begleitet. Ich hatte den Eindruck, dass sie nur mitgekommen war, weil sie sich in dem kleinen Nest auf der Schwäbischen Alb, wo Martin seine Tierarztpraxis hat, sträflich langweilt.«
»Sind Kinder da?«, wollte Andrea wissen und meinte dabei, den großen breitschultrigen Dr. Martin Brixen leibhaftig vor sich zu sehen.
»Sie haben eine fünfjährige Tochter. Martin hängt sehr an dem Kind. Er rief jeden Tag zu Hause an, was die Mutter übertrieben fand. Senta Brixen macht sich offenbar nur wenig aus dem kleinen Mädchen, von dem Martin mir reizende Bilder zeigte.«
»Und wie ist die Ehe?«, warf Andrea ahnungsvoll ein. »Das alles klingt so, als sei da nicht gerade schönste Harmonie und Eintracht zu finden.«
»Martin sprach sich nicht offen darüber aus, aber ich konnte deutlich spüren, dass zwischen ihm und seiner Frau eine starke Spannung besteht. Es tut mir wahnsinnig leid um ihn. Er hätte wahrhaftig eine andere Frau verdient.«
Andrea sah ihren Mann mit ihren ausdrucksvollen blauen Augen an. »Da kannst du wieder einmal sehen, was für ein Glückspilz du bist«, kam es mit gut gespieltem Ernst über ihre Lippen. »So ein Prachtexemplar wie ich ist absolut einmalig.«
Hans-Joachim lachte. »Soll ich dir gestehen, dass das die reine Wahrheit ist, du entzückendes, größenwahnsinniges Weib? Ich hatte nicht den Mut, dem armen Martin allzu viel von hier zu erzählen. Als ich unser Tierheim Waldi & Co. erwähnte, packte ihn regelrecht der Neid. Gar zu gern würde er auch so etwas auf die Beine stellen, aber seine Frau duldet nicht einmal ein Kätzchen oder einen Hund im Haus. Mit der Praxis mag sie auch keinen Kontakt haben. Außerdem stört es sie, dass ihr Töchterchen die Zuneigung zu Tieren vom Vater geerbt hat. Der Beruf ihres Mannes ist für diese Frau nur eine Einnahmequelle.«
»Warum hat er sie dann überhaupt geheiratet?«, fragte Andrea etwas verständnislos. »Es ist doch wichtig, dass man sich in der Ehe auf allen Gebieten versteht.«
Hans-Joachim lächelte und hob die Schultern. »Manchmal macht eine erste stürmische Leidenschaft blind. Ich muss auch sagen, dass Senta Brixen eine Frau ist, an der kaum ein Mann vorübergehen würde, ohne sich wenigstens einmal nach ihr umzuschauen.«
»Du auch?«, rief die gertenschlanke junge Hausfrau leise aus. »Hast du mir etwa ein Geständnis zu machen?«
»Was willst du jetzt hören, Andrea? Soll ich dir von meinen Abenteuern am Rande der Tagung berichten? Natürlich habe ich mich nur in Nachtbars aufgehalten und dein Haushaltsgeld für die nächsten beiden Monate mit leichtsinnigen Mädchen durchgebracht. Peterle muss jetzt trockenes Brot essen.«
Andrea lachte hellauf. »Kann ich mir lebhaft vorstellen«, behauptete sie strahlend. »Ich kenne dich ja, du schwarze Seele.«
Hans-Joachim von Lehn stand auf und küsste seine temperamentvolle Frau. »Scherz beiseite, Andrea. Manchmal weiß ich nicht, was ich tun soll, um unser Glück festzuhalten. Ein Verhältnis wie das zwischen dir und mir ist ja keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Geschenk des Himmels. Martin Brixen mochte ich gar nicht erzählen, wie erfüllt und harmonisch für uns jeder einzige Tag ist.«
Die beiden schauten einander an und wussten um ihre große Liebe. Nach dem Essen unternahmen sie Arm in Arm einen Rundgang durch den großen Garten, auf dem sich auch das Tierheim befand, dessen Chef und Namenspatron der Dackel Waldi war. Im eingezäunten Freigehege sahen sie das Reh Bambi, das sofort ans Gitter kam.
»Was für eine friedvolle Welt«, sagte Hans-Joachim leise. »Waren deine Eltern einmal hier in den letzten Tagen, Andrea?«
»Ja, am Sonntag. Sie brachten Nick, Henrik und noch einen Trupp Kinder aus Sophienlust mit – wie gewöhnlich. Langweilig ist es mir nicht geworden. Trotzdem hast du mir gefehlt.«
Der junge Mann zog seine Frau näher zu sich heran. »Jetzt bin ich wieder hier, Andrea. Und gar so bald werde ich auch nicht von Neuem verreisen müssen. Ein Tierarzt auf dem Land ist ja im Allgemeinen kaum abkömmlich.«
»Stimmt. Es war allerlei los während deiner Abwesenheit. Das Telefon klingelte pausenlos. Drüben in der Praxis liegt eine ganze Liste von Fällen, um die du dich gleich morgen früh kümmern sollst.«
»Ist etwas Eiliges dabei? Muss ich noch heute Besuche machen?«, erkundigte sich Hans-Joachim ohne sonderliche Begeisterung.
»Nein, ich habe alles an deinen Vertreter weitergeleitet und den Leuten klargemacht, dass du erst morgen wieder da bist.« Andrea lachte. »Wenigstens diesen Abend wollte ich dich für mich allein haben«, fügte sie zärtlich und verliebt hinzu.
Später, als sie wieder im Haus waren, kam die Rede noch einmal auf Dr. Martin Brixen und dessen Frau.
»Martin tut mir aufrichtig leid«, meinte Hans-Joachim. »Er behandelt seine Frau mit Höflichkeit und Nachsicht. Aber sie geht über ihn hinweg, als wäre er ein dummer Junge. Es war manchmal beinahe peinlich. Ohne sich zu genieren, flirtete sie mit den jüngeren Kollegen, die an der Tagung teilnahmen. Eine sehr patente Kollegin nannte sie die Tigerin. Ich gebe zu, dass das eine ganz treffende Bezeichnung ist.«
»Armer Dr. Brixen«, erwiderte Andrea halb im Scherz, halb im Ernst. »Tiger sind selbst dann noch unberechenbar, wenn man meint, dass man sie gezähmt hat.«
»Es mag zum Teil daran liegen, dass sie sehr reich ist. Sie hat von ihrem Vater ein beträchtliches Vermögen geerbt und lässt ihren Mann ständig fühlen, dass sie auf seine Einkünfte als Tierarzt durchaus nicht angewiesen ist.«
»Wenn sie finanziell unabhängig ist, könnte er sie doch an die frische Frühlingsluft setzen – seine Tigerin«, schlug Andrea vor.
»Du vergisst das Kind.«
»Ja, richtig, das Töchterchen. Außerdem soll es ja vorkommen, dass ein Mann gerade die Frau liebt, die ihn miserabel behandelt.«
Hans-Joachim schüttelte den Kopf. »Was du so alles weißt!«
»Ich bin kein Schulkind mehr, mein Lieber. Nach und nach bin sogar ich erwachsen geworden. Wer weiß, was für eine unselige Beziehung zwischen Dr. Brixen und seiner Frau in Wahrheit besteht. Grübeln wir nicht länger darüber nach, sondern gehen wir endlich schlafen. Ich bin müde, und du musst ebenfalls ziemlich angestrengt sein nach der langen Fahrt im Wagen.«
Der Tierarzt leerte sein Weinglas und verschloss die Haustür. Ein letzter kurzer Besuch des Ehepaares galt dem schlafenden Jungen in seinem Kinderbett. Der kleine Blondkopf seufzte einmal im Schlaf, und Andrea zog die Bettdecke liebevoll glatt.
Etwa eine Viertelstunde später erlosch auch im Schlafzimmer des Tierarztes das Licht. Die Nacht sank über das Anwesen. Mensch und Tier hatten sich zur Ruhe gelegt.
*
Senta Brixen saß am Steuer des aufwendigen Sportwagens und fuhr diesen, wo immer sich eine Möglichkeit ergab, voll aus. Dr. Martin Brixen lehnte etwas ermüdet neben ihr im Beifahrersitz. Seine Hand spielte nervös mit dem Sicherheitsgurt. Er war mit der Fahrweise seiner Frau nicht einverstanden, weil sie zu viel riskierte. Doch da er keinen Streit wollte, schwieg er.
»Die Tagung war langweilig«, stellte die schöne Frau jetzt geringschätzig fest. »Warum so etwas veranstaltet wird, ist mir schleierhaft.«
»Für mich und die Kollegen waren die Vorträge aufschlussreich und interessant. Die Wissenschaft schreitet ständig fort. Man muss sich auf dem Laufenden halten.«
»Als ob die Tiermedizin von so großer Bedeutung wäre«, spöttelte Senta. »Ist es denn wichtig, ob ein Kanarienvogel oder eine Kuh die Masern übersteht oder nicht? Ich weiß natürlich nicht, ob Vögel und Kühe Masern bekommen können. Es soll nur ein Beispiel sein.«
Der Tierarzt strich sich über die Stirn. »Es hat keinen Zweck, wenn wir darüber diskutieren, Senta. Du hältst meinen Beruf für überflüssig und nutzlos. Es wird mir auch heute nicht gelingen, dich vom Gegenteil zu überzeugen. Tiere bedeuten dir nichts. Du wirst niemals einsehen, dass sie einen wichtigen Platz in unserer Weltordnung haben, nicht anders als Menschen, Blumen, Wasser und Luft.«
»Tiere sind meistens schmutzig, riechen schlecht und übertragen ansteckende Krankheiten«, dozierte Senta ungerührt. »Na, lassen wir das. Es ist nun einmal dein Hobby, und du wirst dich nicht ändern. Wenigstens habe ich mir während der Tagung einmal ein bisschen Großstadtluft um die Nase wehen lassen können. In unserem armseligen Nest versauert man nach und nach gänzlich.«
Das war Sentas ständiges Klagelied. Sie konnte sich auch nach sechsjähriger Ehe nicht damit abfinden, dass sie mit ihrem Mann in einem kleinen ländlichen Ort lebte, wie es die ausgedehnte Landpraxis ihres Mannes nun einmal mit sich brachte.
Martin Brixen hatte sich angewöhnt, nichts zu entgegnen, wenn Senta in einer solchen Stimmung war. Er litt darunter, dass seine Ehe mit dieser bildschönen Frau nicht glücklich geworden war. Ihre Unzufriedenheit quälte ihn, und ihre Vorwürfe verletzten ihn mehr, als er vor sich selber zugeben mochte.
Senta war von ihrem Vater sehr verwöhnt worden. Alles, was sie sich gewünscht hatte, hatte sie von dem verwitweten Fabrikanten erhalten. Nach dessen Tod hatte sie sehr viel Geld geerbt. Für Martin Brixen war es wie ein Wunder gewesen, dass das exzentrische Mädchen seine Zuneigung erwiderte und ihn allen anderen Verehrern vorgezogen hatte. Manche Leute hatten allerdings genau wissen wollen, dass Senta unberechenbar, unstet und für eine Ehe völlig ungeeignet sei. Doch der zu dieser Zeit schon mehr als dreißig Jahre alte Tierarzt hatte sich nicht warnen lassen. Er war felsenfest überzeugt gewesen, dass er in Senta die Frau seines Lebens gefunden habe. Sie war zärtlich und verspielt gewesen wie eine junge Katze, hatte seinen Beruf romantisch gefunden und sich dafür begeistert, auf dem Land zu leben. Sie hatte ihm versichert, dass sie die Großstadt mit ihrem hektischen Getriebe hasse und von einer Idylle an der Natur träume. Damals hatte sie wohl selbst geglaubt, dass dies alles die Wahrheit sei.
Verlobung und Hochzeit waren rasch aufeinandergefolgt. Senta – leidenschaftlich verliebt – war mit einer Trauung in aller Stille einverstanden gewesen und hatte sich in den ersten Monaten ihrer Ehe intensiv damit beschäftigt, aus dem schlicht eingerichteten Haus Martin Brixens ein Domizil im englischen Landhausstil zu machen. Sie hatte antike Möbel gekauft, mit Innenarchitekten verhandelt, kostbare Gardinenstoffe bestellt und war glücklich gewesen, als sich ein Zimmer nach dem anderen nach ihren Vorstellungen verwandelt hatte. Dabei hatte sie wirklich einen guten Geschmack bewiesen. Das Innere des Doktorhauses war bildschön geworden, und ihr Mann war mit allem, was sie unternommen hatte, voll und ganz einverstanden gewesen.
Ein wenig verwundert hatte er dann festgestellt, dass Senta nicht an ein Kinderzimmer gedacht hatte. Ja, sie war ein wenig bestürzt gewesen, als sich die ersten Anzeichen einer Schwangerschaft schon bald bemerkbar gemacht hatten.
Heute musste sich Martin Brixen eingestehen, dass seiner Frau das Töchterchen unerwünscht gewesen war. Nur zögernd und ungern hatte sie einen kleinen Raum im oberen Stockwerk des Hauses als Kinderzimmer hergerichtet. Und als Maja zur Welt gekommen war, hatte sie das Baby der alten Hermine Steiner überlassen, die neben der Küche zwei kleine Zimmer bewohnte und den Haushalt des Doktors seit vielen Jahren gewissenhaft betreute.
»Jetzt haben wir es bald«, erklang Sentas Stimme in die Gedanken des Tierarztes hinein. »Hoffentlich hat Hermine alles in Ordnung gebracht und für das Abendessen gesorgt. Findest du nicht, dass sie allmählich etwas zu alt wird, Martin?«
»Wo sollte die gute Hermine hingehen, wenn wir sie nicht bei uns behalten, Senta? Vielleicht müssten wir daran denken, ihr eine Stundenhilfe zur Unterstützung zu verschaffen. Trennen möchte ich mich von Hermine nicht. Das wäre auch für Maja ziemlich einschneidend. Das Kind hängt mit großer Liebe an ihr.«
»Maja würde sich auch an eine andere Wirtschafterin gewöhnen. Bei dir dreht sich immer alles um das Kind.« Senta sagte es in vorwurfsvollem Ton.
»Lassen wir es, wie es ist«, entgegnete Martin Brixen mit Bestimmtheit. »Hermine versteht sich mit Tieren ganz gut. Sie geht mir ab und zu in der Praxis zur Hand. Ich kann auf ihre Hilfe nicht verzichten. Sie ist ja auch erst sechzig Jahre alt.«
»Meine Wünsche sind dir wieder einmal höchst gleichgültig«, stellte Senta kühl fest. »Aber ich füge mich natürlich.«
Wieder war die Spannung zwischen den Ehepartnern fast mit den Händen zu greifen. Senta presste die Lippen aufeinander und nahm die Abfahrt von der Autobahn in einer so scharfen Kurve, dass die Reifen auf dem Beton quietschten.
Martin Brixen gab sich Mühe, seinen aufwallenden Ärger zu unterdrücken, denn er wollte sich nun auf das Wiedersehen mit seinem Töchterchen einstellen.
Die letzten acht Kilometer der Fahrt legten die beiden zurück, ohne noch ein Wort miteinander zu wechseln. Dann tauchte das Haus des Landarztes zwischen dicht belaubten Bäumen auf. Ein kleines Mädchen mit schulterlangem Haar und großen grauen Augen rannte dem Wagen entgegen.
Senta Brixen bremste scharf. »Pass doch auf«, schalt sie. »Ich hätte dich überfahren können.«
Majas feines Gesicht umschattete sich. Ihre Unterlippe zitterte verräterisch.
»Ich …, ich habe mich so gefreut, dass ihr kommt, Mutti«, kam es unsicher aus dem Kindermund.
»Trotzdem kannst du dich vernünftig wie ein großes Mädchen benehmen«, äußerte die Mutter ungerührt. »Wir waren doch nur fünf Tage weg.«
»Es war sehr lange, Mutti«, seufzte das Kind und ging auf die andere Seite des Wagens, um seinen Vater zu begrüßen.
Martin Brixen stieg aus und hob Maja auf seine Arme. »Recht hast du, Majalein«, antwortete er zärtlich. »Mir ist die Zeit auch schrecklich lang geworden. Du hast mir sehr gefehlt.«
Maja schlang die weichen Ärmchen um den Hals ihres Vaters. »Telefonieren ist ganz schön«, meinte sie. »Aber mir gefällt es besser, wenn ihr ganz bei mir seid. Du, Vati, ich war bei Herrn Brauner und habe nach dem kranken Pferd geschaut. Es geht ihm schon viel besser. Aber du sollst morgen noch einmal vorbeikommen, weil das Pferd nicht richtig frisst.«
»Hast du mich würdig vertreten?«, erkundigte sich Martin Brixen und stellte Maja wieder auf ihre festen Beinchen.
»Das kann ich nicht, Vati«, entgegnete das Kind ernsthaft. »Aber ich wollte wissen, wie es dem Pferd jetzt geht.«
»Maja sollte sich nicht immer in fremden Ställen herumtreiben«, schalt Senta. »Solche Krankheiten können ansteckend sein.«
Ihr Mann wollte etwas einwenden, doch nun erschien Hermine Steiner vor dem Haus.
Die Haushälterin war eine zierliche Frau mit grauem Haar und lebhaften gütigen Augen von erstaunlicher Klarheit. »Willkommen daheim«, sagte sie mit einer gewissen Feierlichkeit.
Martin Brixen reichte ihr die Hand, während Senta ihr nur zunickte. »Ja, es ist gut, wieder hier zu sein«, meinte der Tierarzt zufrieden. »Nein, nein, die Koffer dürfen Sie nicht tragen, Hermine. Das ist meine Angelegenheit.«
»Wollen Sie mich schon zum alten Eisen tun, Herr Doktor?«, fragte Hermine und zwinkerte dazu mit den Augen.
Der Doktor überließ ihr die schweren Koffer trotzdem nicht, sondern transportierte sie selbst ins Innere des Hauses. Seine Frau fuhr den Wagen in die Garage, in der sich noch ein zweites Auto befand, ein robuster Mittelklassewagen. In diesem pflegte Martin Brixen seine Fahrten über Land auszuführen, während seine Frau den Sportwagen benutzte, mit dem sie auch oft weite Ausflüge unternahm.
Maja wich nicht von der Seite ihres Vaters. Sie jubelte in kindlicher Freude auf, als er ihr ein Mitbringsel überreichte.
»Herr Dr. Friedrich hat alle kranken Tiere behandelt, solange du weg warst«, sagte sie altklug. »Aber Herr Brauner ist froh, dass du nun wieder da bist. Und ich bin auch froh.«
»Der Kollege Friedrich war so nett, mich zu vertreten. Er hatte einen ziemlich weiten Weg und musste doppelt so viel arbeiten während meiner Abwesenheit, Majalein. Vielleicht hat er sich bei Herrn Brauner nicht so viel Zeit genommen wie ich. Aber das darf man ihm wirklich nicht übel nehmen.«
Maja legte ein Fingerchen an die niedliche Nase. »Wir müssten auch so ein hübsches Pferd haben wie Herr Brauner«, äußerte sie etwas unvermittelt. »Es gibt doch den unbenutzten Stall im Garten. Für ein Pferd oder für ein Pony wäre sicherlich Platz darin.«
Martin Brixen legte die Hand auf Majas Schulter. »Mutti würde wahrscheinlich nicht einverstanden sein«, erklärte er mit gesenkter Stimme.
»Pferde sind sehr sauber«, behauptete Maja mit hellem Stimmchen. »Mutti mag bloß schmutzige Tiere nicht.«
»Du kannst sie ja fragen, Kind. Aber du musst auch bedenken, dass ein Pferd eine Menge Arbeit macht. Es muss gut versorgt werden.«
Maja holte tief Atem. »Ich würde mein liebes Pferd bestimmt immer füttern«, versicherte sie.
Martin Brixen wechselte rasch das Thema. Er kannte Sentas Antwort im Voraus und wollte Maja die Enttäuschung ersparen.
Geschäftig lief Hermine hin und her, um letzte Hand an den Abendbrottisch zu legen. Sie hatte eine Wildpastete vorbereitet, zu der sie einen leckeren Salat reichen wollte. Es war auch für Maja mit aufgedeckt, was Senta zu einer kritischen Bemerkung veranlasste.
»Es ist viel zu spät für Maja, Hermine.«
»Aber ich habe mittags geschlafen, Mutti«, bettelte das Kind scheu.
»Meinetwegen«, entschied die Mutter missmutig. »Irgendetwas musst du ja essen, ehe du ins Bett gehst. Aber ich bitte mir aus, dass du dann sofort gute Nacht sagst. Sonst bist du morgen früh unausstehlich.«
Maja nickte eifrig. »Ja, Mutti, gleich nach Tisch gehe ich nach oben.«
Der Hausherr holte eine Flasche Wein aus dem Keller. Dann begann die erste Mahlzeit in den eigenen vier Wänden. In dem stilvoll eingerichteten Esszimmer mit den schönen Mahagonimöbeln saßen die Eltern mit ihrem entzückenden Töchterchen beisammen. Doch das Glück fehlte.
Dr. Martin Brixen fragte sich insgeheim, ob sein Freund Dr. von Lehn wohl bemerkt habe, wie es um seine Ehe stand. Würde Senta denn nie zur Ruhe kommen?
»Darf ich einen ganz kleinen Schluck von deinem Wein kosten, Vati?«, bettelte Maja. »Er sieht so schön dunkelrot aus.«
»Einen winzigen Schluck, Maja. Aber nicht mehr. Der Wein wird dir wahrscheinlich gar nicht schmecken.«
Maja ergriff das Glas und nahm ein Schlückchen. »Nein«, stellte sie enttäuscht fest, »er schmeckt nicht gut.«
»Was für ein Unsinn«, mischte sich Senta ein und zog die Brauen ärgerlich zusammen. »Du hast doch deinen Orangensaft, Maja. Immer musst du etwas Besonderes verlangen. Und Vati geht auch noch darauf ein. Dass Wein nichts für Kinder ist, sollte sogar ein Tierarzt wissen.«
»Maja hat ja nun ausprobiert, dass Fruchtsaft besser schmeckt als Wein«, erklärte Martin geduldig und sich zur Freundlichkeit zwingend. »In manchen Dingen ist es am besten, wenn man seine eigenen Erfahrungen sammelt.«
»Deine Erziehungsprinzipien sind haarsträubend«, rief Senta gereizt aus. »Bist du jetzt endlich fertig, Maja? Es ist viel zu spät für dich.«
Maja verzehrte eilig den Rest ihres Salats und trank ihren Saft aus. Dann stand sie auf, ging zum Stuhl ihrer Mutter und streckte die Arme aus.
»Gute Nacht, Mutti. Kommst du noch nach oben zum Beten?«
»Ich bin heute zu müde, Kind. Hermine kann mit dir beten.« Senta strich flüchtig über Majas Haar und nahm von der liebevollen Geste des kleinen Mädchens, das die Mutter umarmen wollte, keine Notiz.
»Ich finde, du solltest doch hinaufgehen, Senta«, sagte Martin. »Maja hat sich auf dich und mich gefreut.« Er wandte sich an das Kind. »Falls Mutti wirklich zu müde sein sollte, werde ich zu dir kommen, Majalein.«
Die Augen der Kleinen leuchteten auf. Sie trat zum Stuhl ihres Vaters, der sich zu ihr niederbeugte, sodass sie ihn umarmen und küssen konnte.
»Gute Nacht, kleine Maus. Schlaf gut und träume etwas Süßes.«
Maja lief in die Küche, um Hermine abzuholen, die ihr das Wasser in die Wanne einlaufen lassen und sie gründlich abseifen sollte.
»Wir sollten wenigstens vor dem Kind der gleichen Meinung sein«, sagte Senta ärgerlich. »Du nimmst niemals Rücksicht auf das, was ich für richtig halte.«
Der Tierarzt füllte sein Glas neu und leerte es auf einen Zug. Er fand, dass es sinnlos war, auf diesen Vorwurf zu antworten. Musste Maja nicht ohnehin fühlen, dass die Ehe ihrer Eltern nur noch auf dem Papier existierte?
Senta hob die Tafel auf und sah achselzuckend zu, wie ihr Mann Teller und Gläser in die Küche trug, um Hermine auf diese Weise ein wenig zu helfen. Sie selbst fand das unnötig und übertrieben. Stattdessen ging sie ins Wohnzimmer und schaltete den Fernseher ein.
Nach Verlauf einer Viertelstunde fragte Martin, ob sie nun bereit sei, zu Maja hinaufzugehen.
»Nein, Martin. Störe mich jetzt bitte nicht.«
Die eindeutige Ablehnung wirkte auf den Mann fast wie ein körperlicher Schmerz. Er wusste, Senta liebte ihr Kind nicht. Ein Fernsehfilm war ihr wichtiger als ein Gutenachtkuss von den weichen Lippen der kleinen Maja. Er musste es hinnehmen und sich damit abfinden. Hatte er denn erwartet, dass sich innerhalb von fünf Tagen etwas ändern würde?
Mit seltsam schweren Knien stieg er die Treppe hinauf. Maja kletterte eben ins Bett. Hermine war dabei, im Bad für Ordnung zu sorgen, denn der kleine Wildfang hatte tüchtig geplanscht.
»Ist Mutti müde?«, fragte Maja leise.
»Ja, sie hat das Auto die ganze Zeit selbst gefahren. Jetzt möchte sie sich ausruhen. Sie lässt dich schön grüßen, Majalein.«
»Kannst du sie fragen, ob ich ein Pferd haben darf?«
Das hatte Maja also nicht vergessen.
»Ich bin sicher, dass Mutti es nicht möchte, Maja«, erwiderte der Tierarzt schweren Herzens. »Es ist besser, wenn wir gar nicht erst darüber sprechen. Sie ärgert sich bloß.«
»Oder ein Pony?«, versuchte Maja es noch einmal. »Auf dem Gut, wo du die Ferkel impfen musstest, hatten die Kinder sogar zwei Ponys und einen kleinen Kutschwagen dazu. Aber mir würde eins genügen. Bestimmt.«
»Es lässt sich nun einmal bei uns schwer einrichten, Maja«, gab der Vater leise zurück. »Du musst auch bedenken, dass unsere Hermine nicht mehr die Jüngste ist. Wir können ihr nicht zumuten, auch noch für ein Pony zu sorgen.«
»Bin ich zu klein, um es selber zu tun, Vati?«
»Ja, ein bisschen größer müsstest du schon sein, Maja. Mit fünf Jahren kann man noch keinen schweren Wassereimer tragen. Auch könntest du das Pony nicht halten, falls es einmal weglaufen wollte.«
»Schade, dass Mutti keine Tiere leiden mag«, seufzte Maja auf. »Aber es lässt sich halt nicht ändern. Vielleicht kriege ich doch einmal ein Pony oder ein Pferd, wenn ich groß bin.«
»Vielleicht, mein Kleines. Wenn man sich etwas so recht von Herzen wünscht, geht es am Ende auch in Erfüllung. Nur Geduld muss man haben. Viel, viel Geduld. Und jetzt falte deine Händchen, damit wir beten können.«
Maja legte die Finger zusammen und sprach ihr Abendgebet. Martin Brixen wurde das Herz weit. Aus ganzer Seele betete er mit. Wie eine Erleuchtung kam der Entschluss über ihn, um des Kindes willen zu versuchen, seine verfahrene Ehe aufrechtzuerhalten.
»Amen, gute Nacht. Und gib Mutti einen Kuss von mir«, schloss Maja unbekümmert.
»Ja, Kleines, das will ich tun. Schlaf recht gut. Es ist ziemlich spät heute geworden.«
»Ich bin trotzdem nicht müde, Vati. Weil ich mich nämlich freue, dass ihr endlich wieder zu Hause seid.«
Martin Brixen küsste die klare Stirn des Kindes und atmete den Duft von Gesundheit und Unschuld wie etwas besonders Köstliches ein. Als er ins Wohnzimmer zurückkehrte, war der Fernseher ausgeschaltet und Senta legte eben den Telefonhörer auf.
»War es ein Anruf für mich?«, fragte er.
Senta schüttelte den Kopf. »Es war – eine falsche Verbindung«, kam es etwas zögernd über ihre Lippen. »Dass die Leute immer nicht richtig wählen können.« Sie kehrte zum Fernseher zurück, um ihn von Neuem einzuschalten.
Martin Brixen beobachtete seine Frau mit einer ihn selbst befremdenden wachen Aufmerksamkeit. Er sah ihr schönes, eigenwilliges Profil, die hinreißende Linie ihres Nackens und erkannte, dass er ihr noch immer zugetan war.
Ich werde niemals von ihr loskommen, dachte er betroffen. Sie quält mich, und sie lebt ein eigenes Leben, von dem ich nichts weiß. Maja ist für sie nur ein lästiges Anhängsel, aber trotzdem wird sie von dem Kind geliebt. Wie soll das weitergehen? Der Tag, an dem Maja nachzudenken beginnen und mich fragen wird, warum ihre Mutter sie nicht liebt, wird kommen.
Martin nahm auf die flimmernden Bilder auf dem Bildschirm keine Rücksicht und sagte ziemlich laut: »Maja hat mir liebe Grüße an dich aufgetragen, Senta. Sie ist glücklich, dass sie uns wieder zu Hause hat.«
Senta gab keine Antwort, sondern griff nach einer Zigarette aus dem stets bereitstehenden Silberkasten. Höflich versorgte Martin sie mit Feuer. Er bemerkte, dass ihre Hand zitterte. War es noch die Anstrengung der langen Autofahrt, oder hatte ihre heimliche Erregung etwas mit jenem Telefongespräch zu tun?
*
Die kleine Maja lebte trotz der Schwierigkeiten in der Ehe ihrer Eltern in einer heilen Welt. Die Mutter kümmerte sich zwar nur wenig um das Kind, aber Maja war von der getreuen Hermine Steiner stets liebevoll umsorgt. Außerdem ließ Martin Brixen sein Töchterchen weitgehend an seiner segensreichen Arbeit als Tierarzt teilnehmen. Die Kleine durfte oft in der Praxis zuschauen, wenn kleinere Eingriffe durchgeführt wurden oder wenn ein erkranktes Tier mit Salben, Verbänden, Injektionen und Bestrahlungen behandelt werden musste. Das Kind hatte die Liebe zu den Tieren vom Vater geerbt und fand zu jedem der Patienten auf dem glatten, weißen Untersuchungstisch sofort ein vertrauensvolles Verhältnis. Mit sanfter Stimme redete es einem ängstlich piepsenden Meerschweinchen tröstlich zu und streichelte mit vorsichtigem Fingerchen das gesträubte Fell einer verschreckten Katze, die meinte, es solle ihr ans Leben gehen. Auch durfte Maja ihren Vater häufig auf seinen Fahrten zu den Höfen und Gütern in der Umgebung begleiten und zusehen, wenn er das erkrankte Vieh untersuchte und behandelte.
Für Martin Brixen war Maja auf diese Weise zu einer kleinen Kameradin geworden, mit der er manchen Fall ernsthaft diskutierte und deren Meinung er sogar hin und wieder einholte.
Dass die Mutter für ihr Kind nicht viel übrig hatte, bemerkte Maja nicht. Sie öffnete Senta immer wieder ihr Herz und war überzeugt, dass ihre gläubige Kinderliebe von der Mutter erwidert werde. Noch war es Martin Brixen gelungen, diese Fiktion aufrechtzuerhalten, denn auch die alte Hermine enthielt sich weise jeder Kritik an ihrer Herrin.
Es war an einem etwas trüben Morgen, als Senta und Maja ziemlich verspätet gemeinsam am Frühstückstisch saßen. Martin war schon vor sechs Uhr weggerufen worden. Ein Rennstallbesitzer hatte den Tierarzt alarmiert, weil eines seiner wertvollsten Pferde an lebensgefährlichen Koliken litt.
»Noch ein Brötchen, Maja?«, fragte Senta, indem sie für sich selbst ein zweites aus dem Korb nahm.
»Ja, bitte, Mutti. Ich habe heute Hunger.«
Senta schnitt ihrer kleinen Tochter das knusprige Brötchen auf und bestrich es mit Butter und Honig.
»Danke, Mutti. Glaubst du, dass Vati das kranke Rennpferd gesund machen kann? Koliken können sehr gefährlich sein.«
»Davon verstehe ich rein gar nichts, Maja. Aber ich denke schon, dass Vati die richtige Medizin für das Pferd weiß. Sag mal, willst du heute mit mir in die Stadt fahren? Ich möchte mir ein neues Kleid kaufen, und du könntest auch etwas gebrauchen.«
»Au fein, Mutti. Ich fahre gern mit deinem schicken Auto. Am liebsten möchte ich Jeans haben. Kaufst du mir hellblaue?«
Senta zog ein unzufriedenes Gesicht. »Dass du immer in Hosen herumlaufen willst wie ein wilder Junge. Einmal muss doch ein richtiges Mädchen aus dir werden.«
»Ein Junge bin ich nicht«, widersprach Maja der Mutter fröhlich. »Aber ich mag Jeans, weil man darin gut klettern und toben kann.«
»Wir werden sehen, Maja. Du sollst auch ein paar Kleidchen anprobieren. Vielleicht gefallen sie dir, wenn du dich im Spiegel siehst.«
Maja zog einen winzigen Flunsch. »Na ja – anschauen können wir die Kleider ja. Aber du darfst nicht böse sein, wenn ich sie dann doch nicht mag. Gehen wir auch in eine Konditorei Eis essen?«
»Dazu wird sich wohl auch noch Zeit finden. Ich denke, dass wir sogar über Mittag in der Stadt bleiben. Es ist schon ziemlich spät, und wir wollen doch alle Schaufenster in Ruhe anschauen.«
Maja strahlte. »Ich freue mich, Mutti. Es ist schrecklich lange her, dass du mich einmal mitgenommen hast.«
Das kleine Mädchen verzehrte in glücklichster Stimmung sein Brötchen und trank dazu Kakao. Senta beendete das Frühstück etwas schneller als das Kind und zündete sich zum Abschluss eine ihrer starken englischen Zigaretten an, ohne die sie nicht existieren konnte.
Das Telefon unterbrach Majas unbekümmertes Geplauder. Senta sprang auf und eilte mit langen Schritten ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen.
Ein wenig betroffen blieb Maja am Tisch sitzen. Sie hörte von nebenan gedämpft die Stimme ihrer Mutter, die froh und aufgeregt klang.
»Also – in einer halben Stunde. Für dich habe ich immer Zeit.« Das war so laut, dass Maja es verstehen konnte.
Nun erschien die Mutter wieder im Esszimmer. Ihre großen Augen leuchteten. Es war, als sei sie plötzlich verwandelt.
»Wir fahren heute nicht in die Stadt«, erklärte Senta. »Mir ist etwas dazwischengekommen. Geh nach oben in dein Zimmer und spiele.«
Maja war bitter enttäuscht. Ihre Unterlippe schob sich nach vorn und zitterte verräterisch. »Du hast mir doch versprochen, dass du mit mir fährst, Mutti«, bettelte sie mit unglücklichem Gesichtchen.
»Ich wollte ja auch. Aber nun geht es leider nicht. Daran ist nichts zu ändern. Mache bitte kein großes Theater deswegen. Du hast doch das Telefon gehört, nicht wahr? Ich muss jetzt etwas erledigen.«
Maja schluckte mehrmals. »Ich …, ich nehme auch ein Kleid, wenn du es willst, Mutti«, verlegte sie sich auf einen Handel.
»Wir fahren nicht. Nun quengele bitte nicht herum wie ein Baby. Du hast oben die schönsten Spielsachen, und du kannst später auch bei Hermine in der Küche zusehen, wie sie kocht.«
»Aber wir wollten in der Stadt zu Mittag essen«, wandte Maja ein, die noch immer hoffte, ihre Mutter umstimmen zu können.
»Du bist richtig dumm«, fuhr Senta ungeduldig auf. »Wenn wir nicht fahren, können wir auch nicht in der Stadt essen. Ich will jetzt nichts mehr davon hören, sonst darfst du überhaupt nicht mehr mitkommen. Ich kann deine Sachen auch ohne dich aussuchen.«
Maja senkte das Köpfchen und schwieg. Ihre Mutter verließ den Raum und lief die Treppe hinauf ins Schlafzimmer, wo sie ihren Schrank aufriss und sich für ein dunkelrotes Leinenkleid entschied, das ihre aparte Erscheinung auffällig unterstrich.
Obwohl Senta erst vor einer knappen Stunde aus dem Bad gekommen war, unterzog sie ihrer Frisur und ihrem Make-up jetzt einer genauen Kontrolle. Um ihren Mund spielte dabei ein Lächeln. An ihr Töchterchen verschwendete sie keinen einzigen Gedanken mehr.
Wegen des trüben Wetters nahm Senta ein leichtes Kopftuch und ihren hellen Regenmantel. Im Vorbeigehen teilte sie Hermine mit, dass sie ein wenig spazieren gehen wolle.
»Das Essen wie immer um ein Uhr, Hermine.«
»Ja, Frau Brixen. Es könnte übrigens Regen geben«, antwortete die Haushälterin ruhig. »Nehmen Sie lieber einen Schirm mit.«
»Das wollte ich sowieso. Maja spielt in ihrem Zimmer. Auf Wiedersehen, Hermine.«
Wohin sie nur so eilig gehen will, fragte sich die lebenskluge alte Frau in Gedanken. Es war die gleiche Frage, mit der sich auch Maja beschäftigte. Das Kind stand am Fenster des Wohnzimmers und sah die Mutter aus dem Haus gehen. Nein, das Auto holte sie nicht aus der Garage. Komisch, sonst fuhr sie doch immer mit dem Wagen.
Wenn sie spazieren gehen will, könnte sie mich doch mitnehmen, überlegte die Kleine weiter und fasste einen Entschluss. Sie schenkte dem verhangenen Himmel keine Beachtung, sondern huschte geräuschlos durch die Haustür ins Freie, als ihre Mutter eben den schmalen Weg zum Gemeindewäldchen einschlug.
Maja hatte gerade in diesem Gelände ihr bevorzugtes Spielrevier. Sie überlegte eine Sekunde, dann lief sie um das Haus herum, um die Abkürzung durch den Ort zu benutzen. Sie wollte herausfinden, wohin ihre Mutter ging und warum die versprochene Fahrt in die Stadt so plötzlich unterbleiben musste.
Vielleicht ist es ein Geheimnis, dachte Maja, während sie so schnell wie möglich die Straße entlanglief. An der Schule musste sie links abbiegen und dann über den Hof von Bauer Brauner gehen, dessen Viehkoppel unmittelbar an das Gemeindewäldchen angrenzte. Ein paar erste Tropfen fielen, doch Maja achtete nicht darauf.
»Hallo, Maja. Willst du zu mir?«, fragte Herr Brauner von der offenen Tenne her.
»Nein, in den Wald«, rief Maja zurück und rannte weiter.
Wenig später schob sie sich zwischen den Gatterstäben der Viehkoppel hindurch. Schon von der Wiese her, wo sie von den weidenden Kühen ebenso wenig Notiz nahm wie diese von ihr, sah sie das rote Auto. Da dürfen doch gar keine Autos fahren, stellte sie bei sich fest. Jemand von hier ist das bestimmt nicht.
Nun erreichte Maja das zweite Gatter. Das fremde rote Auto parkte nur wenige Meter entfernt davon. Die Kleine wollte sich eben durch die Lücken zwischen den verwitterten Holzstangen gleiten lassen, als sie jäh erstarrte.
In dem roten Wagen saßen zwei Personen. Ihre Mutti und ein fremder Mann. Der Mann hatte dunkles Haar und trug eine graue Jacke. Mehr konnte Maja nicht erkennen, denn der Mann wandte ihr den Rücken zu. Was sie jedoch zutiefst erschreckte, war die wilde, ungezügelte Zärtlichkeit, mit der ihre Mutter und der Fremde einander umarmten und küssten.
Maja wagte kaum zu atmen. Vorsichtig trat sie ein wenig beiseite und verbarg sich hinter einem der mächtigen Pfosten des Gatters. Sie war zwar erst fünf Jahre alt, doch sie wusste sehr genau, dass hier etwas Verbotenes, Heimliches und Böses vor sich ging. Hass gegen den Fremden in dem roten Auto wallte in dem Kinderherzen auf. Zugleich aber konnte Maja die Blicke nicht von dem Paar wenden, denn die liebevollen Gesten ihrer Mutter übten eine unwiderstehliche Anziehungskraft auf sie aus.
Zu mir ist sie nie so gut, dachte das Kind auf seinem Lauscherposten. Wie sie lächelt! Wenn sie Vati anschaut, sieht sie ganz anders aus.
Die instinktive Erkenntnis, dass ihre Mutter den fremden Mann liebte, bedeutete für die kleine Maja ein unendlich erschreckendes, schmerzliches Erlebnis. Sie konnte die geflüsterten Worte nicht verstehen, die die Liebenden miteinander sprachen, aber sie spürte, dass da drüben in dem roten Auto etwas vorging, was ihr Leben veränderte.
Es begann jetzt in Strömen zu regnen. Doch das Kind achtete nicht darauf, sondern blickte wie gebannt auf die beiden Menschen in dem roten Wagen. Erst als der Fremde und ihre Mutter sich voneinander lösten, weil es Zeit zum Aufbruch wurde, wurde Maja bewusst, dass sie am Viehgatter des Bauern Brauner stand und nun schnell nach Hause laufen musste.
Plötzlich rannen Tränen über Majas Bäckchen und vermischten sich mit den schweren Tropfen des Sommerregens. Die Kleine gönnte dem roten Wagen keinen Blick mehr, sondern hastete durch das nasse Gras der Koppel. Sie wollte heim, zu ihrem Vati, dem sie ihr kleines übervolles Herz ausschütten wollte.
Es stand für das verstörte Kind fest, dass der geliebte Vati das, was soeben im Gemeindewäldchen geschehen war, sogleich erfahren müsste.
Hermine war in der Diele und schlug die Hände über dem Kopf zusammen, als Maja kam. »Aber Kindchen, warum bist du denn nicht im Haus geblieben?«, rief sie aus. »Du siehst aus, als wärst du in den Bach gefallen.«
»Ich zieh mir gleich etwas Trockenes an, Hermine«, stieß Maja außer Atem hervor. »Erst muss ich zu Vati in die Praxis.«
»Nicht so pitschenass«, wandte Hermine besorgt ein.
»Es macht nichts«, behauptete Maja keuchend und huschte durch die rückwärtige Dielentür davon. Auf diesem Weg erreichte man die von den übrigen Räumen des Hauses streng abgegrenzte Praxis des Tierarztes mit dem Wartezimmer und den beiden gut eingerichteten Behandlungsräumen.
*
Dr. Martin Brixen hatte soeben einen äußerst nervösen Rassehund behandelt, der einen verletzten Lauf hatte. Die Wunde war durch einen unglücklichen Zufall infiziert worden. Nun blieb nichts anderes übrig, als den angesammelten Eiter durch einen Schnitt abfließen zu lassen. Der kleine Eingriff war fast schmerzlos. Doch das ängstliche Tier zitterte am ganzen Leib, und seine Besitzerin trug es mit mitleidigen, tröstenden Worten hinaus.
»Kommen Sie bitte auf alle Fälle morgen noch einmal vorbei, Frau Jellinger«, sagte der Doktor freundlich. Dann fiel sein Blick auf Maja, die sich an der Hundebesitzerin vorbeidrängte und mit weit ausgebreiteten Ärmchen auf ihn zustürzte.
Dr. Brixen erschrak ein wenig. Er schenkte Frau Jellinger und dem Hund keine weitere Beachtung mehr und wandte sich Maja zu. »Was ist passiert, mein Kleines?«, fragte er liebevoll und legte die Gummischürze ab, damit er sein nasses Kind in die Arme nehmen konnte. »Bist du bei diesem Wetter unterwegs gewesen? Mutti wollte doch mit dir in die Stadt fahren.«
Maja begann haltlos zu schluchzen. Der Kinderkörper zuckte und bebte.
»Aber Kind, so schlimm kann es doch nicht sein. Bist du gefallen? Hast du dir wehgetan?«
Keine Antwort. Immer noch weinte und jammerte das Mädchen verzweifelt an der Brust des Vaters.
»Du kannst immer zu mir kommen, wenn du Ärger hast, Maja. Aber wenn du mir nicht verrätst, was nun eigentlich los ist, kann ich dir beim besten Willen nicht helfen, mein Liebling. Lass mal sehen.« Er hielt Maja ein wenig von sich ab und inspizierte das verregnete kleine Ding mit aufmerksamem Blick. »Nein, gefallen bist du nicht«, stellte er dann fest. »Hast du dich vielleicht am Kopf gestoßen? Tut es sehr weh?«
»N-n-ein …, gestoßen gar nicht. Es ist nur …«
»Was denn, Kindchen? Schau, da drüben wartet noch ein Herr mit einem kranken Zwergkaninchen auf mich. Dann ist die Sprechstunde zu Ende, und wir können essen. Du musst mir jetzt ganz rasch sagen, warum du so sehr weinst, Majalein.«
Die Tränen der Kleinen versiegten. Eben wollte sie zu einem Bericht ansetzen, da hastete draußen vor dem Fenster der Praxis Senta Brixen unter ihrem aufgespannten Regenschirm vorüber.
Vater und Tochter sahen gleichzeitig hinaus.
»Dann ist Mutti also nicht mit dir in die Stadt gefahren«, sagte der Doktor leise.
Maja hob das Köpfchen. »Nein, Vati, sie wollte nicht. Es ist etwas dazwischengekommen. Deswegen bin ich ja so …, so traurig.«
Martin Brixen war einigermaßen überrascht. Eine fast dramatische Szene wegen einer ausgefallenen Fahrt in die Stadt?
»Und warum bist du völlig durchnässt?«, erkundige er sich freundlich.
Maja sah ihn aus verweinten Augen an. »Weil ich zu lange im Regen war, Vati. Ich …, ich …«
Mit dem kleinen Mädchen war in dem Augenblick, als draußen die Mutter vorbeigegangen war, eine Wandlung geschehen. Mit einer weit über ihre fünf Jahre hinausgehenden Hellsichtigkeit erkannte Maja beim Anblick der eilig und verstohlen heimkehrenden Mutter, dass der Vater von dem, was da draußen im Wäldchen geschehen war, nichts erfahren durfte. Die Kinderlippen bewahrten plötzlich das böse Geheimnis.
»Du hättest zu Hause bleiben sollen, Majalein. Hatte Hermine dir denn erlaubt, fortzulaufen?«
»Ich habe vergessen, sie zu fragen«, gestand Maja und schluchzte dabei noch einmal auf. »Jetzt geh ich nach oben, Vati.«
Martin Brixen sah sein Töchterchen etwas ratlos an. »Ist nun alles wieder gut?«, wollte er wissen.
Maja senkte die Lider. »Ja, Vati, es ist wieder gut«, flüsterte sie.
»Was bist du für ein wunderliches kleines Mädchen«, sagte der Tierarzt mit zärtlichem Vorwurf. »Überlege doch einmal ganz genau, ob du nicht etwas anderes erzählen wolltest.«
Das Kind schüttelte den Kopf. »Nein, Vati. Nur …, nur das …« Mit müden Schritten ging Maja hinaus, auf dem Fußboden noch immer deutliche Schmutzspuren hinterlassend.
Dr. Brixen sah ihr nach. Bis jetzt hatte er sein geliebtes kleines Mädchen immer verstehen können. Doch nun kam Maja ihm auf eine unerklärliche Weise entrückt vor. Vertraute sie ihm nicht mehr voll und ganz? Kam sie schon jetzt in das Alter, in dem auch Kinder ihre Geheimnisse bewahren und den Erwachsenen nicht mehr vollen Einblick gewähren wollten?
Kleine süße Maja. Du sahst so verzweifelt aus, und ich wollte dir so gerne helfen. Hast du mir etwas verschwiegen, dachte der Tierarzt. Es wurde ihm nicht leicht, sich nun auf den Zwerghasen zu konzentrieren, der ihm als letzter Patient des Vormittags vorgeführt wurde. Er stellte fest, dass das hübsche Tierchen total falsch ernährt worden war, und gab dem Besitzer genaue Anweisungen, wie er es in Zukunft zu füttern habe.
Eine halbe Stunde später vereinigte sich die kleine Familie um den Mittagstisch. Hermine trug das Essen auf wie an jedem anderen Tag. Majas Haar war noch feucht. Sie hatte sich umgezogen und saß still auf ihrem Platz.
Senta wirkte lebhaft und heiter. Ihr rotes Kleid ließ den Regen vor den Fenstern fast vergessen. Ihre Augen hatten einen fast fieberhaften Glanz.
»Ich habe keinen Hunger«, sagte Maja leise.
Sentas Stirn umwölkte sich sofort. »Das gibt es nicht«, erklärte sie streng. »Du magst wohl keine Möhren?«
»Doch, Mutti. Sonst schon, aber heute kann ich nichts essen.«
»Lass sie«, legte sich Martin ins Mittel. Er konnte sich vorstellen, dass das Kind durch die Aufregung keinen Appetit hatte. »Man soll Kinder und Tiere nicht zum Essen zwingen.«
»Maja wird wenigstens eine Kleinigkeit essen, und damit basta«, entschied die Mutter und legte etwas auf den Teller des Kindes. Hilfesuchend blickte Maja zu ihrem Vater, doch dieser tat, als bemerke er die stumme Bitte nicht, denn er wollte eine Auseinandersetzung vermeiden.
Das Kind stocherte auf dem Teller herum und steckte ab und zu einen winzigen Bissen in den Mund. Wieder einmal herrschte jene gespannte Stimmung, die Martin Brixen so sehr fürchtete. Hatte es zwischen seiner Frau und Maja Streit gegeben, fragte er sich. Fühlte Maja sich zurückgesetzt und ungerecht behandelt, weil der Ausflug in die Stadt unterblieben war?
»Ihr seid also nicht weggefahren«, meinte er mit betonter Beiläufigkeit an Senta gewandt.
Die schöne Frau hob die Schultern. »Nein, das Wetter war mir gar zu miserabel. Außerdem hatte ich Kopfweh und wollte lieber ein Stück zu Fuß gehen. So wichtig waren die Besorgungen nicht.«
»Maja war ein bisschen enttäuscht, wie es scheint«, fuhr der Doktor fort.
»Es geht nicht immer alles nach ihrer Nase«, erwiderte Senta scharf. »Dass es keinen Spaß macht, bei einem solchen Wetter in der Stadt herumzuspazieren, musst du doch einsehen, Maja.«
Das Kind beschäftigte sich mit einem Stück Fleisch auf seinem Teller und blickte nicht auf.
»Dafür ist unsere kleine Tochter nun hier im Regen unterwegs gewesen«, äußerte Martin sich besorgt. »Hoffentlich hast du dir bei der Gelegenheit keinen Schnupfen geholt, Majalein.«
»Du warst draußen?«, rief Senta aus und sah Maja durchdringend an. »Ich hatte doch ausdrücklich gesagt, dass du im Kinderzimmer spielen sollst. Kannst du denn niemals gehorchen?«
»Es war gar nicht sehr kalt«, verteidigte sich Maja unsicher. »Ich bin längst wieder trocken. Hermine hat die nassen Sachen schon weggeräumt und überhaupt nicht gezankt.«
»Wenn du krank werden solltest, bin ich bestimmt sehr böse auf dich«, drohte die Mutter.
Hermine kam herein, um die Teller zu wechseln und die süße Grießspeise zu servieren. Selbst von dieser wollte Maja nichts haben, und diesmal ließ die Mutter sie gewähren, denn von der Hauptmahlzeit war das meiste auf dem Teller des Kindes zurückgeblieben.
Martin Brixen unterdrückte einen Seufzer und bemühte sich, die gedrückte Stimmung durch eine kleine Episode aus der Praxis aufzuhellen. Doch weder Senta noch Maja hörten allzu aufmerksam zu.
Schließlich sah er auf seine Uhr und stellte fest, dass er sich beeilen musste, wenn er die anstehenden Besuche auf den umliegenden Höfen noch erledigen wollte.
»Möchtest du mit mir fahren, Maja?«, wandte er sich an sein Töchterchen. »Es wird allerdings ein bisschen langweilig für dich werden, weil es überall zeitraubende Behandlungen gibt. Und bei dem Wetter müsstest du meistens im Auto auf mich warten. Aber wenn du Lust hast, nehme ich dich mit.«
Für gewöhnlich gab es nichts, was Maja daran hindern konnte, ihren Vati auf seinen Fahrten zu begleiten. Sie streifte leidenschaftlich gern auf den Gutshöfen umher, kannte sich in den Stallungen aus und schaute mit wacher Aufmerksamkeit zu, wenn ihr Vater kraftvoll und geschickt mit den Tieren umging. So wirkte die Absage des heute so verschlossenen Kindes denn auch recht überraschend auf den Doktor.
»Ich bleibe lieber zu Hause, Vati. Es regnet ja so sehr.«
»Wie du willst, Kleines. Vielleicht ist es wirklich vernünftiger. Leb wohl, Senta. Ich hole mir eben noch eine Tasse Kaffee bei Hermine in der Küche und packe meine Siebensachen zusammen.«
Maja und ihre Mutter blieben allein.
»Bist du fertig? Willst du wirklich keinen Pudding haben?«, fragte Senta, ohne recht bei der Sache zu sein.
»Nein, ich mag nichts.« Die Kinderstimme schwankte von unterdrückten Tränen.
»Dann steh auf, und geh in dein Zimmer. Oder nein, du sollst mir erst erzählen, wo du heute Vormittag warst. Hast du im Regen im Garten gespielt?«
Maja begann zu weinen.
»Was ist los?«, herrschte die Mutter sie an. »Es ist doch kein Grund zu Tränen vorhanden. Du warst ungehorsam und bist durch und durch nass geworden, wie mir scheint. An deinen Haaren kann man es noch sehen.«
Maja schaute auf die Tür, die zur Küche führte. Sie hoffte, dass Hermine hereinkommen und das Gespräch unterbrechen würde. Doch Hermine war damit beschäftigt, für den Hausherrn Kaffee zu machen. So blieb das Kind den drängenden Fragen der Mutter hilflos ausgeliefert.
»Muss ich die Wahrheit sagen?«, stammelte Maja ängstlich.
»Selbstverständlich. Das muss man immer. Ich fürchte, du hast wieder einmal etwas Dummes angestellt. Sag es lieber gleich, ehe wir es von anderer Seite erfahren.«
Maja stand wie eine ertappte Sünderin vor der schönen Frau in dem grellroten Kleid, dessen Farbton dem des fremden Autos glich.
»Nun – was ist? Wo hast du gesteckt?«
»Ich …, ich wollte wissen, wo du bist, Mutti.«
Sentas Wangen färbten sich dunkler. Sie war zornig und sehr erschrocken.
»Bist du hinter mir hergeschlichen?«, fuhr sie auf.
»Nein, Mutti, ich bin durch den Ort gegangen und dann über Brauners Viehkoppel. Ich …, ich habe dich gesehen …, in dem roten Auto und mit dem fremden Mann.«
Der Schlag kam unerwartet und war sehr hart. Maja stieß einen Schrei aus. »Nein, Mutti, bitte nicht!«, flehte die verängstigte Kinderstimme.
Senta schlug noch zweimal zu. Sie war völlig außer sich.
»Damit du dir ein für alle Mal merkst, dass du nicht hinter mir herzuspionieren hast, du ungezogenes kleines Biest. Jetzt wirst du wohl zu Vati gehen und ihm erzählen, ich hätte mich mit einem Freund getroffen. Du bist noch viel zu klein, um zu verstehen, was das alles bedeutet. Weil es niemanden etwas angeht, habe ich nichts davon gesagt. Aber du musst dich natürlich anschleichen und mich belauschen. Schämst du dich denn gar nicht?«
Maja barg das Gesicht in den Händen. Sie war noch nie von ihrer Mutter geschlagen worden und stand nun unter einem regelrechten Schock.
»Ich …, ich wollte gleich zu Vati«, brachte das Kind stockend hervor. »Aber dann konnte ich auf einmal nicht darüber reden. Meinst du nicht, dass er furchtbar traurig wäre?«
»Ach wo, das ist Unsinn. Ich kenne diesen Herrn von früher. Wir hatten einander sehr lange nicht mehr gesehen und freuten uns. Das ist alles, Maja.«
Maja nahm die Hände vom Gesicht. »Ich dachte, du hast ihn sehr lieb, Mutti«, flüsterte sie, kaum verständlich. »Viel lieber als Vati und mich. Du hast so fröhlich ausgesehen. Und du hast ihn geküsst.«
»Das stimmt nicht«, stieß Senta hastig hervor.
In diesem Moment kam der Doktor wieder ins Esszimmer. Er trug seine Bereitschaftstasche schon in der Hand.
»Ich wollte meinen Notizzettel … Ja, was ist denn das? Maja weint? Heute scheinen wir recht nahe am Wasser gebaut zu haben, mein Kleines. Komm einmal zu deinem Vati und sag ihm ins Ohr, wo dich der Schuh drückt.«
Maja schüttelte den Kopf und blieb dort, wo sie war.
Sentas Atem ging sehr rasch. Sie konnte ihre Erregung nicht ganz verbergen.
»Das ist eine Sache, die Maja und ich unter uns auszumachen haben, Martin«, äußerte sie mit Heftigkeit. »Maja war ungezogen.«
»Hast du Mutti um Verzeihung gebeten?«, fragte er sanft und in dem Bemühen, sich nicht gegen Senta zu stellen.
Nun schaute Maja ihn an. In den Kinderaugen stand grenzenloser Schmerz.
»Die Sache ist erledigt«, antwortete Senta an Majas Stelle kühl und mit erzwungener Ruhe. »Wir haben ausgemacht, dass nicht mehr darüber geredet wird. Nicht wahr, Maja?«
Das Kind nickte wortlos.
Martin Brixen hatte den Eindruck, dass er Maja mit weiteren Fragen nur quälen würde. Deshalb nahm er seinen vergessenen Merkzettel vom Esstisch, verabschiedete sich und verließ das Zimmer.
Unmittelbar darauf trat Hermine ein, um abzuräumen. Sie entschuldigte sich, dass es damit so spät geworden war. Maja nutzte die Gelegenheit und huschte wie ein Schatten hinaus.
Senta strich sich über die Stirn und beschloss, noch ein Wort mit Maja zu reden. Sie stieg die Treppe hinauf und fand das kleine Mädchen mit seiner Lieblingspuppe beschäftigt. Scheu blickten die braunen Kinderaugen die Mutter an.
»Du wirst nicht mehr darüber reden?«, fragte Senta leise.
»Nein, Mutti – weil du es nicht willst.«
»Dann ist es gut. Vati würde sich vielleicht aufregen.«
»Ich sage ihm nichts, Mutti. Das verspreche ich dir.«
Senta strich über das noch immer etwas feuchte Haar ihrer kleinen Tochter. »Sind wir wieder Freunde?«, fragte sie etwas burschikos und so, als habe es sich nur um eine Kleinigkeit gehandelt.
Maja nickte, doch über ihre Lippen kam kein weiteres Wort mehr.
*
Tilo Olden wohnte nicht allzu weit von der Tierarztvilla entfernt. Er hatte sich in einem teuren Hotel eingemietet, nachdem es ihm mit einiger Mühe gelungen war, die Verbindung zu Senta Brixen wieder herzustellen. Er kannte sie von früher. Damals hatte ihr Vater noch gelebt, und Tilo war in dessen Haus ein und aus gegangen.
Der gut aussehende junge Mann besaß damals Sentas ganze Zuneigung und ihr volles Vertrauen. Es stand für die noch nicht Zwanzigjährige fest, dass sie diesen und keinen anderen Mann heiraten würde. Doch ihr Vater zog Erkundigungen über Tilo Olden ein und erhielt wenig erfreuliche Auskünfte. Die großspurigen Angaben, die Tilo über seine Tätigkeit als Wirtschaftsmanager gemacht hatte, entbehrten jeder Grundlage. Er hatte eine kaufmännische Ausbildung vorzeitig abgebrochen und spielte den Playboy, weil ihm von einer verstorbenen Großtante ein kleines Vermögen zugefallen war. Es lag auf der Hand, dass er es in erster Linie auf Sentas Mitgift und das später zu erwartende Geld ihres Vaters abgesehen hatte.
Es gab heiße Tränen vonseiten der Zwanzigjährigen und eine Abreise ohne Abschied vonseiten des Bewerbers. Tilo, der seine Felle davonschwimmen sah, ging ins Ausland und ließ nichts mehr von sich hören. Senta trauerte eine Weile um ihn und wendete sich dann anderen Verehrern zu, verlobte sich mehrmals und heiratete schließlich Martin Brixen.
Als der Freund längst vergangener Tage nach so vielen Jahren unerwartet wieder anrief, war es für Senta, als werde das Rad der Zeit zurückgedreht. Sie wusste sofort, dass zwischen ihm und ihr alles noch so war wie früher. Tilo war ihre große Liebe gewesen und würde es bis an ihr Lebensende bleiben.
Sein Anruf hatte Senta veranlasst, sich augenblicklich mit ihm im Wäldchen zu treffen. Weder der drohende Regen noch die bereits getroffene Verabredung mit Maja hatte sie davon abhalten können. Bei der Begegnung in seinem roten Wagen waren dann Worte heißer Zärtlichkeit zwischen Tilo und ihr gefallen.
Wie recht hatte Maja mit ihrer kindlichen Frage, ob sie diesen Fremden mehr liebe als ihre Familie, dachte Senta nun. Dennoch war sie sich bis jetzt nicht darüber im Klaren, welche Zukunftspläne Tilo hatte. Bei der kurzen Begegnung war für nichts anderes Raum gewesen als für das unverhoffte Glück, einander wiederzusehen. Tilo hatte sie geküsst und ihr versichert, dass sie noch genauso jung sei wie damals. Er hatte ihr auch erzählt, dass er in Übersee hart gearbeitet und Erfolg gehabt habe. In der gemeinsamen Heimatstadt habe er dann erfahren, dass sie verheiratet sei. Trotzdem habe er sie wiedersehen wollen. Denn in all den Jahren habe er sie niemals vergessen.
Senta war glücklich. Ihre Ruhelosigkeit hatte endlich ein neues Ziel: Tilo Olden, der sie liebte und immer noch auf sie wartete. Dass sie Martin Brixen auf diese Weise hinterging und sein selbstverständliches Vertrauen missbrauchte, bereitete ihr keine Kopfschmerzen. Ihre Zuneigung zu ihm war längst erloschen wie ein armseliges Strohfeuer. Sie hasste das eingeengte Dasein in dem kleinen Ort, ekelte sich vor den Tieren, ob sie nun krank oder gesund sein mochten, und empfand die Aufgabe, sich Maja zu widmen, als Last.
Bereits nach dem ersten heimlichen Treffen mit Tilo gab Senta sich der Hoffnung hin, dass mit seiner Rückkehr endlich die große Wende in ihrem Leben eintreten werde. Sie wollte frei sein und das Glück, das ihr die Hand hinstreckte, festhalten und in vollen Zügen auskosten.
Senta Brixen suchte an diesem Nachmittag ihr stilvoll eingerichtetes Damenzimmer auf und versuchte Ordnung in ihre Gedanken zu bringen. Tilos Umarmungen und Küsse hatten sie verwirrt. Majas Eingeständnis, dass sie die Liebesszene im Auto belauscht hatte, war ziemlich erschreckend für sie gewesen. Wenigstens für den Anfang durfte Martin nichts erfahren. Sie musste erst herausfinden, ob Tilo sie wirklich so sehr liebte, dass er sie zu seiner Frau machen wollte.
Ich habe ihn nicht einmal gefragt, ob er verheiratet ist, ging es Senta durch den Sinn. Alles schien klar und einfach zwischen uns, aber in Wirklichkeit sind volle zwölf Jahre verstrichen.
Als das Telefon läutete, wusste Senta, dass es nur Tilo sein konnte. Sie sprang auf und lief ins Wohnzimmer, um den Hörer abzunehmen.
»Ja, hier Frau Brixen«, meldete sie sich atemlos.
»Ich bin es, Senta. Störe ich? Der Anruf erscheint mir etwas riskant, weil die Praxis deines Mannes über denselben Anschluss zu erreichen ist.«
»Die Leute wissen, dass mein Mann um diese Zeit unterwegs ist. Wenn es sich nicht gerade um dringende Fälle handelt, rufen sie während der offiziellen Sprechstunden an. Übrigens habe ich gleich gespürt, dass du am Telefon sein musst, Tilo.«
Sein Lachen war wie eine Zärtlichkeit. »Wann sehen wir uns, Senta?«, fragte er drängend. »Die Stunde heute Vormittag im Auto war viel zu kurz. Kannst du mich nicht hier im Hotel besuchen? Es gibt sehr vieles, das wir zu besprechen haben.«
Senta atmete rascher. »Es ist sicher leichtfertig, Tilo, aber ich komme. Mein Mann ist während des ganzen Nachmittags unterwegs.«
»Wir sind erwachsene Menschen, Senta. Ich muss dir hundert Fragen stellen. Niemand darf uns verbieten, uns über die Vergangenheit zu unterhalten.«
Senta lauschte dem raschen Schlag ihres Herzens. Was wollte er sie fragen? Wie stellte er sich die Zukunft vor?
Die schöne Frau, die ständig in dem Glauben lebte, dass sie in der Ehe mit Martin Brixen ihr Glück versäumt habe, eilte ins Schlafzimmer, um das rote Kleid mit einem weißen zu vertauschen. Im Vorbeigehen informierte sie Hermine.
»Ich fahre zu einer Bekannten, Hermine. Achten Sie auf Maja. Zum Abendessen bin ich pünktlich zurück.«
Hermine neigte den Kopf. »Ja, Frau Brixen.« Die treue Haushälterin machte sich über diese Ausfahrt ihrer Herrin keine besonderen Gedanken, denn Senta war ohnehin nur selten daheim. Dass sie jetzt im Begriff stand, Mann und Kind im Stich zu lassen, ahnte Hermine nicht.
Senta holte ihren Wagen aus der Garage und lenkte ihn in zügiger Fahrt in den Kurort, in dem Tilo Olden Quartier genommen hatte. Der Regen peitschte gegen die Windschutzscheibe, doch der einsamen Fahrerin machte das Wetter nichts aus.
Tilo erwartete sie in der Halle des Hotels und küsste ihr beide Hände.
»Nicht«, sagte Senta ein wenig verlegen. »Wir müssen vorsichtig sein. Durch den Beruf meines Mannes bin ich ziemlich bekannt.«
»Sei nicht so ängstlich«, erwiderte er lachend. »Ich muss doch meiner Freude irgendwie Ausdruck verleihen. Gehen wir nach oben in mein Zimmer?«
Senta zögerte einen Augenblick, dann nickte sie. »Warum sollte uns ausgerechnet heute Nachmittag jemand sehen?«
Sie benutzten den Lift. In dem eleganten Zimmer waren sie dann zum ersten Mal seit etwas mehr als zwölf Jahren allein. Tilo zog die schöne Frau in seine Arme und küsste sie lange. Senta wollte jetzt nicht daran denken, dass sie verheiratet war und zu Hause ein Kind hatte. Ihr war, als gebe es auf der ganzen weiten Welt nur Tilo Olden und sie selbst.
»Ich liebe dich, Senta«, raunte der Mann ihr ins Ohr. »Es war immer mein Ziel, dich am Ende doch noch zu gewinnen.«
»Du hast dich nicht verheiratet?«
»Nein. Ich blieb allein, weil ich immer an dich dachte. Eine Frau wie dich vergisst man nicht.« Zärtlich glitten seine Finger durch ihr Haar. »Nicht wahr, du liebst mich auch?«, fragte er drängend.
Senta legte die Stirn an seine Schulter. »Ja, Tilo, ich liebe dich. Wenn du willst, gehe ich mit dir bis ans Ende der Welt.« Sie sah nicht den verlebten Zug um den etwas schlaffen Mund des Mannes. Auch den Ausdruck angespannter Wachsamkeit in seinen Augen bemerkte sie nicht.
Tilo legte den Arm um ihre Schultern und führte sie zu einem Fenstertisch, der für zwei Personen gedeckt war. »Ich habe Tee und Gebäck bestellt«, sagte er leise. »Wir werden jetzt sehr vernünftig sein und über unsere Zukunft reden.«
Senta fühlte ihren Puls klopfen. Vor dem Spiegel im angrenzenden Bad ordnete sie ihr Haar. Ein Mädchen schob einen Servierwagen ins Zimmer und entfernte sich sofort wieder mit höflichem Gruß.
»Wenn wir erst verheiratet sind, werden wir auch so beisammensitzen, Senta«, meinte Tilo lächelnd. »Willst du mir die Tasse füllen? Danke, das ist lieb von dir.«
Sentas Hand zitterte. Sie war sehr aufgeregt und glücklich.
»Zuerst brauche ich die Scheidung, Tilo«, erinnerte sie ihn.
»Du hast mir bis jetzt kein Wort über deinen Mann verraten, Senta. Wird er dir Schwierigkeiten machen? Hält er eine Ehe für unauflöslich?«
Sie machte eine gleichgültige Bewegung. »Martin und ich haben uns völlig auseinandergelebt, Tilo. Wir verstehen uns nicht. Es war der größte Fehler meines Lebens, dass ich ihn geheiratet habe. Ich glaube, dass er mir keinen Stein in den Weg legen wird. Selbstverständlich bin ich bereit, auf das Kind zu verzichten.«
Er lachte ein wenig. »Du hast ein Kind? Das kann ich mir kaum vorstellen. Es passt einfach nicht zu dir, die gute Mutter zu spielen.«
»Damit hast du recht. Ich habe mich auch gegen diese Rolle von Anfang an zur Wehr gesetzt. Maja ist zwar ein niedliches Ding, aber ich mache mir nun einmal nichts aus Kindern. Übrigens hat meine fünfjährige Tochter uns heute Vormittag belauscht.«
»Als wir uns im Wald trafen? Das ist doch nicht möglich.«
»Sie wollte wissen, wohin ich ging. Es hat mich einige Mühe gekostet, sie dazu zu bringen, dass sie ihrem Vater nichts erzählt. Ich habe keine Lust, mir Ärger einzuhandeln.«
Tilo amüsierte sich köstlich. »Ziemlich spannend, finde ich«, stellte er fest. »Jedenfalls würde ich dir raten, die Aussprache mit deinem Mann nicht zu lange hinauszuzögern, sonst nimmt dir das Kind diese Arbeit am Ende doch noch ab, und die Geschichte geht anders aus, als du es dir wünscht.«
Senta nahm einen Schluck aus ihrer Tasse.
»Ich war so wütend auf das kleine Biest«, gestand sie. »Aber vielleicht hat es auch sein Gutes. Ich werde möglichst noch heute oder morgen mit Martin reden.«
Tilo war einverstanden. »Man kriegt heutzutage eine Scheidung im gegenseitigen Einverständnis sehr schnell über die Bühne«, erklärte er. »Ich kann dir einen ausgezeichneten Anwalt in Stuttgart empfehlen. Komplikationen könnten sich höchstes in finanzieller Hinsicht ergeben. Bist du da ausreichend abgesichert?«
Auch jetzt entging es Senta, mit welcher Aufmerksamkeit er sie ansah.
»Martin hat mit meinem persönlichen Vermögen nichts zu tun«, erklärte sie rasch. »Er wollte es so. Es widerstrebte ihm, in irgendeiner Weise von meinem Geld abhängig zu sein.«
»Umso besser. Dann kannst du das, was dir gehört, mitnehmen und brauchst nicht erst einen Krieg darum zu führen.«
»Einen Krieg wird es mit Martin sicherlich nicht geben«, erwiderte Senta. »Er ist nicht der Typ. Das einzige Hindernis könnte Maja sein. Aber da ich ihm von vornherein sagen werde, dass ich auf das Kind in aller Form verzichten werde, wird er Ja und Amen sagen.«
»Du bist fest entschlossen, Senta?«, fragte Tilo und griff nach ihrer Hand. »Heute erst haben wir uns wiedergesehen nach so langer Zeit, und schon willst du aus deinem bisherigen Leben aussteigen, um mit mir zu gehen? Vielleicht ist das alles nur eine verliebte Laune von dir. So schnell kannst du dich doch gar nicht entscheiden.«
Sie lächelte. »Ich glaube, ich habe immer nur auf diesen Tag gewartet, Tilo«, entgegnete sie versonnen. »Ich war schrecklich unglücklich in dem kleinen Nest. Wie in einem Gefängnis kam ich mir vor. Seit Jahren hatte ich jede Hoffnung aufgegeben, dass sich für mich noch einmal etwas ändern könnte. Allmählich begann ich mich damit abzufinden, dass ich mein Leben verfehlt hatte. Aber heute ist alles anders geworden. Soll ich dir gestehen, dass ich Angst hatte, du könntest verheiratet sein?«
Um Tilos Mund zuckte es spöttisch. »Du bist selbst nicht frei, Senta. Daran denkst du wohl nicht?«
»Ein Mädchen kann es sich nicht leisten, unverheiratet zu bleiben, Tilo«, entgegnete sie achselzuckend. »Du bist damals fortgegangen und hast nie mehr etwas von dir hören lassen.«
Tilo sah sie an. »Ich konnte dir nichts versprechen, Senta. Ich habe es nicht einmal gewagt, darauf zu hoffen, dass du noch etwas für mich übrig haben könntest. Nicht jede Liebe wird erwidert im Leben.«
Senta schöpfte tief Atem. »Ich glaube an die große Liebe, Tilo. Von heute an weiß ich, warum ich lebe. Ich möchte alles Vergangene hinter mir lassen und einen neuen Anfang machen – gemeinsam mit dir, wie ich es mir wünschte, als wir beide noch jung waren.«
Tilo nickte. Mit seiner faszinierenden, etwas rauen Stimme erzählte er ihr von seiner umfangreichen geschäftlichen Tätigkeit, die ihn rund um die ganze Welt geführt habe. Jetzt wolle er allerdings in Europa bleiben, denn hier sehe er eine große Zukunft für sich.
Senta begriff zwar nicht ganz, um welche Art von Geschäften es sich bei ihm handelte, doch sie war überzeugt, dass sie kein Wagnis eingehe, wenn sie sich von Martin Brixen trenne und ihr Glück vertrauensvoll in die Hände Tilo Oldens lege. Sie war wie mit Blindheit geschlagen und erkannte in der von Zärtlichkeit übersonnten Nachmittagsstunde nicht, dass Tilo Olden der Alte geblieben war. Er besaß in Wahrheit nur ein bescheidenes Bankkonto und keine feste Tätigkeit, dafür aber bei einigen großen internationalen Firmen einen ausgesprochen schlechten Ruf. Hinter ihm lagen zwei gescheiterte Ehen in Amerika, beide nur um des Geldes willen von ihm geschlossen und beide auf Betreiben der enttäuschten Frauen wieder geschieden. Sein Anruf bei Senta an diesem Morgen war nichts als ein Versuch gewesen. Nun erlebte er, dass sich seine kühnsten Erwartungen sozusagen von selbst erfüllten. Vielleicht glaubte er an diesem Nachmittag tatsächlich daran, dass es ihm gelingen würde, mit Sentas Vermögen eine Existenz zu gründen. Gewiss würde Senta, mit ihren einunddreißig Jahren noch immer eine Schönheit, ihm Glück bringen und ihm die richtigen Türen öffnen.
Senta blieb, solange es ihr möglich war.
»Ich bin wahnsinnig glücklich«, sagte Tilo Olden beim Abschied. Und das war die reine Wahrheit. Er wusste nun, seine Rückkehr nach Europa hatte sich gelohnt.
*
Andrea von Lehn überreichte ihrem Mann einen umfangreichen Brief, der eben mit der Post gekommen war. »Dr. Brixen will die alte Freundschaft offenbar auffrischen«, sagte sie. »Er hat an dich geschrieben.«
Hans-Joachim öffnete den Umschlag mit einiger Verwunderung. »Vielleicht schickt er mir Unterlagen von der Tagung«, mutmaßte er. Doch dann fand er nur drei eng mit der Hand beschriftete Bogen, offenbar einen ausführlichen persönlichen Bericht.
»Entschuldige, Liebling. Darf ich das gleich lesen?«
»Natürlich. Ich kümmere mich inzwischen um Peterle. Marianne kommt augenblicklich zu rein gar nichts im Haushalt, weil der Junge ständig etwas anstellt.«
Kurz darauf erfuhr Andrea, was Dr. Brixen geschrieben hatte. Ihr Mann erzählte ihr mit betrübter Miene davon.
»Eigentlich war etwas Derartiges zu erwarten«, erklärte Hans-Joachim. »Die schöne Senta Brixen hat ihre Jugendliebe wiedergetroffen und Hals über Kopf die Scheidung von ihrem Mann gefordert. Martin hat vergeblich versucht, sie von ihrem Vorhaben abzubringen. Er wollte die Ehe wegen des Kindes unter allen Umständen retten. Seine Frau ließ sich jedoch nicht halten, packte ihre Koffer und reiste ab. Der arme Martin scheint darunter sehr zu leiden. Zwischen den Zeilen ist zu lesen, dass er noch immer an Senta hängt. Doch sie scheint fest entschlossen zu sein, den anderen Mann so schnell wie möglich zu heiraten.«
Andrea, die aufmerksam zugehört hatte, neigte den hübschen Kopf. »Armer Dr. Brixen, armes kleines Mädchen. Schreibt er an dich, weil er sein Herz ausschütten möchte oder weil er mit Sophienlust in Verbindung treten möchte?«
Hans-Joachim lächelte. »Du ahnst es wieder einmal, holdes Weib. Martin erkundigt sich nach Sophienlust. Noch schwankt er, ob es richtig wäre, sich von dem Kind zu trennen. Aber es sieht so aus, als müsste er selbst erst einmal mit dem einschneidenden Erlebnis fertig werden und Abstand gewinnen. Eigentlich ist es mir unbegreiflich, dass ein so kluger Mann wie er einer treulosen Frau so verfallen kann. Aber in der Liebe spielt bekanntlich der Verstand keine Rolle. Er sollte Senta laufen lassen und nicht mehr an sie denken. Die schöne Tigerin wird sicherlich auch dem anderen Mann allerlei Schwierigkeiten einbrocken.«
»Das Kind ist also beim Vater?«, schaltete Andrea ein. »Eine Frau, die ihren Mann und ihr kleines Mädchen ohne jeden Skrupel allein lässt. Nicht zu fassen!«
»Es wird am besten sein, du sprichst mit deiner Mutter darüber. Martin hat mir freie Hand gelassen. Nimm seinen Brief am besten mit.«
Hans-Joachim trank seinen Kaffee aus und erhob sich, denn er musste zu einem Großbauern fahren, dessen Milchkühe erkrankt waren.
Andrea stellte telefonisch fest, ob sie ihre Mutter daheim auf Gut Schoeneich oder in Sophienlust antreffen würde. Schon wenige Minuten nach ihrem Mann verließ auch sie das Haus.
Denise von Schoenecker erwartete ihre Stieftochter schon. Im Biedermeierzimmer des alten Herrenhauses von Sophienlust, das durch sie zu einer Stätte der Geborgenheit für verlassene und in Not geratene Kinder geworden war, saß sie am Kirschbaumsekretär. Sie legte ihre Schreibarbeit jedoch sogleich beiseite, als Andrea eintrat.
»Wo stecken denn die Kinder?«, fragte die junge Frau. »Die Auffahrt ist wie ausgestorben, und auch hier im Haus hört man keinen Mucks.«
»Sie sind samt und sonders mit Schwester Regine an den See gegangen, Andrea. Dieses herrliche Wetter muss ausgenutzt werden.«
»Ach so – ich hätte mir denken können, dass an einem solchen Tag hier etwas unternommen wird. Umso besser! Auf diese Weise kannst du diesen Brief in Ruhe lesen und überlegen, was in der Sache getan werden sollte. Hans-Joachim und ich sind überzeugt, dass dir das Richtige einfallen wird.«
Denise von Schoenecker nahm den Brief Dr. Brixens, um ihn zu lesen. Andrea beobachtete ihre Stiefmutter mit liebevollem Blick.
Wie jung Mutti noch immer aussieht, dachte sie. Sie wird nicht älter, weil sie mit Vati glücklich ist und weil der Umgang mit den Sophienluster Kindern wie ein Quell ewiger Jugend zu wirken scheint.
»Nun, was denkst du, Mutti?«, fragte Andrea, sobald Denise das letzte Blatt sinken ließ.
»Es ist nicht leicht, sich ein Urteil zu bilden. Ich erinnere mich an Dr. Brixen. Er ist ruhig, besonnen, sympathisch. Jedenfalls hat er diesen Eindruck auf mich gemacht. Es spricht für ihn, dass er sich aus der Ehe nicht bedenkenlos lösen möchte. Schon manche Scheidung ist verhindert worden, weil einer der Partner Besonnenheit und Geduld bewahrte. Um des Kindes willen wäre es sicherlich zu begrüßen, wenn die Mutter zur Besinnung käme.«
Andrea schüttelte den Kopf. »Hans-Joachim hat das Ehepaar während der tiermedizinischen Tagung erlebt, Mutti. Diese Frau ist völlig unmöglich. Dr. Brixen sollte froh sein, dass er sie endlich los ist.«
»Meine kleine impulsive Andrea«, meinte Denise lächelnd. »Du bist immer für schnelle endgültige Lösungen. Aber das Leben formt und entwickelt sich allmählich. Manchmal erkennt man nach Ablauf von ein paar Monaten oder gar Jahren, dass der Weg in eine völlig andere Richtung führte und dass das gut war.«
»Aber man darf nicht zu lange warten. Dr. Brixen ist offenbar ziemlich verzweifelt.«
»Ja, wir müssen versuchen, ihm erst einmal behilflich zu sein. Später wird man sehen, wie sich die Dinge entwickeln.«
»Was schlägst du vor, Mutti?«
»Hans-Joachim soll ihn wissen lassen, dass hier in Sophienlust jederzeit ein Platz für die kleine Maja frei ist. Die Entscheidung, ob er er uns das Kind anvertrauen will, müssen wir ihm allerdings selbst überlassen. Ich kann von hier aus nicht beurteilen, ob es für ihn und sein Töchterchen ratsam wäre, für eine Weile getrennt zu sein oder nicht.«
Andrea seufzte. »Am liebsten würde ich die Kleine persönlich zu euch ins Kinderheim bringen und dem Vater so schnell wie möglich eine andere Frau verschaffen. Aber leider darf und kann man nicht Schicksal spielen.«
»Nein, man muss abwarten und die Hand erst dann ausstrecken, wenn Hilfe nötig ist.«
Die junge Frau nahm den Brief zurück. »Hans-Joachim soll Martin Brixen anrufen, damit nicht zu viel Zeit verloren geht. Außerdem kann man manches mündlich leichter und besser ausdrücken, mein Liebes. Weißt du, es bedrückt mich jedes Mal, wenn von einer gescheiterten Ehe die Rede ist. Wie viel Leid kommt dadurch in die Welt.«
»Wenn man so schattenlos glücklich verheiratet ist wie du und ich, Mutti, dann kann man sich einfach nicht vorstellen, dass es auch andere Ehen gibt. Manchmal frage ich mich wahrhaftig, womit man Glück und Liebe verdient.«
»Glück und Liebe«, meinte Denise gedankenvoll, »verdient man nicht. Es sind Geschenke, die wir dankbar annehmen und sorgsam bewahren sollen. Jeden Tag muss man sich bewusst machen, dass aus dem augenblicklichen Glück auch die Kraft erwachsen muss, späteres Leid ungebrochen zu ertragen.«
Andrea antwortete nicht. Sie war jung und wünschte sich aus ganzem Herzen, dass niemals ein Schatten auf ihr Glück fallen möge.
Als Andrea sich verabschiedete, kamen eben die Kinder zurück.
»Grüß dich, Schwesterherz«, ließ sich Nick jovial vernehmen, als er Andrea entdeckte. »Gibt’s etwas Neues?«
»Nein, augenblicklich nicht«, antwortete Andrea. »War es schön am See?«
»Prima war es«, rief Henrik dazwischen. »Das Wasser ist so warm wie in einer Badewanne.«
Pünktchen, Angelika, Vicky, Irmela und die anderen Kinder umringten Andrea. Alle redeten fröhlich durcheinander, sodass Andrea kaum die Möglichkeit hatte, auch die sympathische blonde Schwester Regine zu begrüßen.
»Hier ist wenigstens immer etwas los«, rief Andrea heiter aus. »Es kam mir richtig unheimlich vor, als ich vorhin das Haus leer antraf.«
»Na, bei euch ist es auch nicht gerade ruhig, Andrea«, erwiderte Nick. »Die Hunde machen einen ganz schönen Lärm, und im Tierheim kribbelt und krabbelt sowieso ständig etwas herum.«
»Ein bisschen Leben muss schon sein«, meinte die große Schwester. »Ich weiß übrigens, was Magda zum Abendbrot macht. Aber ich verrate es nicht.«
»Sag’s doch«, drängte Henrik und leckte sich unwillkürlich die Lippen.
Andrea schüttelte den Kopf. »Ich kann schweigen, Brüderlein. Jetzt muss ich zurück nach Bachenau, denn mein Sohn wartet auf mich.« Sie stieg in ihren Wagen ein und winkte der Kindergruppe zu.
»Wiedersehen, Andrea. Schöne Grüße an Waldi, Severin, Muko und alle anderen.«
»Wir kommen bald wieder einmal ins Tierheim, Tante Andrea.«
»Sag Janosch, dass er sich eine schöne Geschichte ausdenken soll.«
So klang es durcheinander, sodass Andrea sich lachend die Hände über die Ohren legte. Als sie abfuhr, winkten ihr die großen und kleinen Bewohner von Sophienlust begeistert nach, bis von ihrem Auto nichts mehr zu sehen war.
*
Hans-Joachim von Lehn führte noch am gleichen Abend ein längeres Telefongespräch mit seinem Freund Dr. Brixen.
Andrea hatte zuerst das Peterle zu Bett gebracht und war dann zum Tierheim hinübergewandert, um dort nach dem Rechten zu sehen. Sie fand den alten Janosch noch beschäftigt. Eben versorgte er den jungen Schimpansen Mogli mit einer letzten Banane. Der intelligente Affe stammte aus einem Privatzoo und war von zwei Kindern zurückgelassen worden, die für kurze Zeit Aufnahme in Sophienlust gefunden hatten.
»Du solltest Schluss machen für heute, Janosch«, wandte sich die junge Frau an den weißhaarigen Tierpfleger mit den buschigen Brauen und den lebhaften dunklen Augen.
»Bin gleich fertig, Frau von Lehn«, antwortete Janosch in seinem etwas harten Deutsch. »Musste heute Nachmittag dem Herrn Doktor in der Praxis helfen. Hatten eine Operation. Ging aber alles gut. Der Herr Doktor versteht es.«
»War mein Mann denn nicht außerhalb beschäftigt, Janosch?«
»Der Herr Doktor kam wieder zurück. Dann brachte eine Dame ein krankes Kätzchen, das operiert werden musste. Ein dringender Fall.«
»Ich verstehe. Und du hast bei der Operation assistiert?«
»Nur Kätzchen gehalten. Es hatte gar keine Angst. Aber die Dame!« Janosch rollte mit den Augen.
Andrea lachte. »Du mit deinen Geschichten. Die Dame wurde doch nicht operiert.«
Janosch stimmte in das Lachen ein. »Na ja, sie hatte eben trotzdem Angst, die Dame. Sie war froh, dass sie das Kätzchen gleich wieder mitnehmen konnte.«
Andrea klopfte Fortunas Hals.
»Ist sonst alles in Ordnung hier, Janosch?«, fragte sie.
»Alles in Ordnung, Frau von Lehn«, erwiderte der alte Mann stramm wie ein Soldat. »Ich schließe jetzt zu, gehe in meine schöne Wohnung und denke an die schönen Zeiten, als der Rosshof noch stand. Ist doch ein Jammer, dass er abbrennen musste. Aber nicht zu ändern, und ich bin jetzt hier auch sehr glücklich im Tierheim Waldi & Co.«
»Wir kämen gar nicht mehr ohne dich aus, Janosch«, versicherte Andrea. »Was hätten wir denn anfangen sollen, als Helmut Koster uns verlassen hatte?«
Janosch nickte mehrmals. »Ist schon recht so. Wäre viel zu viel Arbeit für Sie allein mit den Tieren hier im Heim und beim Herrn Doktor in der Praxis.«
Andrea erzählte Janosch noch von ihrem Besuch in Sophienlust und richtete die Grüße der Kinder aus.
»Ja, die Kinderchen«, versetzte Janosch mit strahlendem Lächeln. »Es ist ein Glück, dass wir die Tiere und die Kinderchen haben. Sonst wäre das Leben doch für einen alten Mann wie den Janosch zu einsam, nicht wahr?«
Andrea reichte ihm die Hand. »Recht hast du, Janosch. Eine gute Nacht wünsche ich dir.«
Sie verließ das Tierheim und warf noch einen Blick auf das von den Kindern gemalte Schild über dem Eingang: Waldi & Co. – das Heim der glücklichen Tiere. Janosch hatte sein berühmtes goldenes Hufeisen als Glücksbringer darüber sorgsam verankert, sodass es ganz gewiss nicht entwendet werden konnte.
Begleitet von der schwarzen Dogge Severin kehrte Andrea zum Wohnhaus zurück. Ihr Mann legte eben den Hörer auf, als sie ins Wohnzimmer trat.
»Martin Brixen wird deine Mutter aufsuchen und alles mit ihr persönlich besprechen«, berichtete Hans-Joachim aufatmend. »Es war nicht ganz einfach, ihn davon zu überzeugen, dass es richtig ist, wenn er persönlich nach Sophienlust kommt. Aber nun ist er dazu entschlossen. Er hat es mir auch nicht verübelt, dass ich sowohl dich als auch deine Mutter ins Vertrauen gezogen habe.«
Andrea schmiegte sich in den Arm ihres Mannes. »Mutti hat noch Hoffnung, dass sich die Ehe zwischen Dr. Brixen und der schönen Tigerin leimen lässt«, meinte sie. »Aber ich fürchte, hier irrt unsere kluge Mutter einmal. Selbst wenn der Doktor bereit wäre, einen neuen Versuch zu unternehmen, seine Frau will einfach nicht mehr. Mag ja sein, dass ihr wirklich die ganz große Liebe über den Weg gelaufen ist. Wer kann das aus der Entfernung beurteilen?«
Hans-Joachim von Lehn streifte Andreas dunkles Haar zärtlich mit den Lippen. »Mir ist die große Liebe bestimmt über den Weg gelaufen«, flüsterte er seiner Frau ins Ohr. »Es war eine Gymnasiastin auf einem Gut namens Schoeneich, und ich habe sie von der Schulbank weg zu meiner Frau gemacht.«
Marianne brachte das verspätete Abendessen. Andrea schickte sie zu Bett. »Ich räume dann schon in der Küche auf, Marianne. Heute geht hier alles ein bisschen durcheinander.«
Das junge Mädchen lachte. »Es macht mir wirklich nichts aus, noch ein bisschen warten zu müssen, Frau von Lehn. Ich bin nicht müde.«
»Nun, unser Peterle ist ganz schön anstrengend zurzeit«, wandte Andrea ein. »Er lässt Ihnen keine Minute Ruhe.«
»Es macht mir Spaß, mich mit dem Jungen zu beschäftigen, Frau von Lehn.«
»Gut und schön. Trotzdem erlaube ich nicht, dass Sie heute Abend noch etwas tun. Jetzt ist Feierabend.«
Marianne wünschte eine gute Nacht und ging hinaus.
»Ein Segen, dass wir Marianne jetzt im Haus haben«, versetzte Hans-Joachim. »Als Betti wegging, zweifelte ich, dass wir für sie jemals Ersatz finden würden. Um ehrlich zu sein, ich war ein bisschen bestürzt, als sie heiratete. Aber man musste ihr das Glück schließlich gönnen.«
»Inzwischen ist es so, als wäre Marianne schon immer bei uns gewesen, Hans-Joachim.«
Später kam das Ehepaar noch einmal auf Dr. Brixen und dessen Probleme zu sprechen.
»Mutti wird das Kind wohl nach Sophienlust nehmen«, sagte Andrea nachdenklich. »Dann braucht die Kleine wenigstens nicht allzu sehr unter den Verhältnissen zu leiden. Für den Vater ist es freilich schlimm. Er wird dann ganz allein sein.«
*
Maja saß im Wohnzimmer in einem Sessel und baumelte mit den nackten Beinen. Sie war in ein ernsthaftes Gespräch mit ihrem Vater vertieft. Ihre Gedanken arbeiteten so intensiv, dass sich auf ihrer hohen Kinderstirn eine steile Falte bildete.
»Eine Scheidung ist also das, was unsere Mutti jetzt möchte«, sagte Maja traurig. »Sie hat uns nicht mehr lieb und will nicht mehr bei uns bleiben.«
»Wir haben uns ganz freundschaftlich darüber geeinigt, Maja. Mutti möchte die Frau eines anderen Mannes werden, den sie von ganz früher her kennt und der plötzlich aus Amerika zurückkam.«
Maja seufzte auf. »Ich habe gleich gewusst, dass sie ihn lieb hat«, stieß sie hervor. »Nun kommt sie nie mehr wieder.« Die Kinderstimme schwankte. »Kannst du verstehen, dass Mutti mich einfach nicht mag, Vati?«
»Sie hat dich noch immer lieb, Kleines«, widersprach Martin Brixen seiner Tochter, aber ohne rechte Überzeugungskraft. »Wir wollen ihr nicht böse sein und ihr ihren Willen lassen.«
»Aber es ist hier gar nicht mehr schön, Vati. Du bist in der Praxis oder unterwegs, und am Abend muss ich immer schon ins Bett. Ich finde, dass Mutti wiederkommen muss.«
»Möchtest du vielleicht auch für eine Zeit lang verreisen, Maja?«, fragte der Tierarzt behutsam.
»Ich kann doch nicht allein fahren, Vati. Weg von hier möchte ich schon, wenn du es erlaubst. Sie fragen mich alle im Dorf nach Mutti, und ich mag das von der dummen Scheidung einfach nicht sagen.«
»Wollen wir am Wochenende zusammen nach Sophienlust fahren, damit wir es uns einmal anschauen?«
»Sophienlust? Was ist das? Ist es lustig dort?«
»Es ist ein Gutshaus, in dem eine ganze Anzahl von Kindern wohnt. Ich habe durch gute Freunde mit der Dame, die das Heim gegründet hat, Verbindung aufgenommen. Sie hat uns beide für das Wochenende eingeladen. Wenn es dir dort gefällt, sollst du in Sophienlust bleiben. Aber wenn du lieber hierbleiben willst, nehme ich dich wieder mit. Du darfst selbst entscheiden. Bist du damit einverstanden?«
»Wenn es ein Gutshaus ist, gibt es gewiss auch Tiere dort, nicht wahr?«, erkundigte sich Maja und vergaß ihren Kummer um die Mutter ein wenig.
»Gewiss gibt es Tiere. Sie haben sogar Ponys für die Kinder. Du könntest dort reiten lernen.«
Majas Augen wurden blank. »Ponys? Das muss wirklich lustig sein. Du weißt doch, dass ich mir schon lange ein Pony wünsche.«
Der Doktor lächelte, obwohl ihm schmerzlich genug ums Herz war. Wie schnell ein Kind sich tröstete! Gewiss würde Maja in Sophienlust wieder das Lachen lernen. Dass ihm selbst der Gedanke an eine längere Trennung von seinem kleinen Mädchen fast unerträglich war, durfte dabei keine Rolle spielen.
»Dann ist es also abgemacht, Maja. Wir fahren am Samstag. Ich werde gleich noch einmal in Sophienlust anrufen und fest zusagen.«
Maja rutschte vom Sessel. Sie kam zu ihrem Vater und schlang die Ärmchen um seinen Hals. »Ist es sehr weit weg von hier?«, fragte sie leise. »Kannst du mich oft besuchen, wenn ich dortbleibe bei den Kindern und den Ponys? Wenn es gar zu weit weg ist, möchte ich doch lieber nicht hingehen.«
Der Vater strich über Majas weiches Haar. »Ich werde dich gewiss besuchen, mein Kleines. Es ist nicht allzu weit entfernt. Du wirst es sehen, wenn wir am Samstag zum ersten Mal hinfahren.«
Nun war das kleine Mädchen zufrieden. »Fein, Vati. Dann kannst du doch auch einmal zugucken, wenn ich auf einem Pony reite.«
»Ja, Maja, darauf freue ich mich schon. Jetzt musst du aber ins Bett gehen, sonst wird es zu spät für dich. Wir vergessen ganz und gar die Zeit, wenn wir uns hier so schön unterhalten.«
Maja küsste ihren Vati und erbettelte sich das Versprechen, dass er später zu ihr kommen und mit ihr beten werde. Die Beziehung zwischen Martin Brixen und dem Kind war durch Sentas Abreise noch inniger geworden.
Der Tierarzt blieb mit müdem, mutlosem Gesicht im Wohnzimmer zurück. Sowie er allein war, konnte er sich wenigstens gehen lassen und brauchte sich nicht zu verstellen. Sentas Eröffnung, dass sie ihn und Maja verlassen wolle, um Tilo Oldens Frau zu werden, hatte ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Seine Hoffnung, dass seine Ehe um des Kindes willen noch zu retten sei, war zerronnen. Seine Beschwörungen, wenigstens eine Bedenkfrist verstreichen zu lassen, waren bei Senta auf eisernen Widerstand gestoßen. Kühl und sachlich hatte sie ihm auseinandergesetzt, dass sie beide erwachsene Menschen seien. Man könne sich ohne Zank und Streit trennen, und sie sei selbstverständlich unter den gegebenen Umständen bereit, auf Maja zu verzichten. Dann hatte sie ihre Koffer gepackt, war in den großen Wagen eingestiegen und abgefahren. Von Hermine Steiner hatte sie sich nicht einmal verabschiedet, sondern Martin gebeten, der Haushälterin die Lage mit ein paar passenden Worten zu erklären.
Der Tierarzt legte sich nun zum hundertsten Male die Frage vor, ob er versagt habe. Hätte es ihm gelingen müssen, Senta zu der Frau zu machen, die er in ihr gesehen hatte, als er sie kennen- und lieben gelernt hatte? War alles falsch gewesen, was er getan und versucht hatte?
Wenigstens ist Maja da, dachte er schließlich und besann sich, dass das Kind oben auf ihn wartete.
*
Am Samstag packte Hermine Majas Koffer. Die alte Wirtschafterin umarmte ihren kleinen Liebling zärtlich. »Wenn es schön dort ist, Maja, sollst du bleiben«, sagte sie leise. »Du wirst Vati und mir natürlich fehlen, aber es ist besser für dich, wenn du mit fröhlichen Kindern beisammen bist. Später kommst du ja wieder zu uns nach Hause.«
Maja schaute Hermine forschend an. »Bist du auch traurig, Hermine?«, fragte sie unsicher. »Mutti hätte nicht weggehen dürfen.«
Hermine antwortete nicht, sondern faltete Majas Wäsche sorgsam zusammen, als sei das die wichtigste Beschäftigung der Welt.
Pünktlich zur verabredeten Zeit setzte sich Martin Brixen ans Steuer seines Wagens, während Maja auf den Rücksitz des Autos kletterte.
»Vielleicht gefällt es mir in Sophienlust, Hermine«, rief sie unbekümmert zum Abschied.
Die treue Haushälterin winkte und schwieg. Sie sorgte sich um die Zukunft der zerstörten kleinen Familie, doch sie sprach nicht darüber, wie es nun einmal ihre Art war.
Die Fahrt von Vater und Töchterchen verlief bei herrlichstem Wetter ohne Zwischenfall. In Bachenau kamen die beiden am Grundstück der Familie von Lehn vorüber, und Martin Brixen erzählte Maja, dass hier gute Freunde wohnten und dass es hier ein Tierheim gebe, das Maja gewiss einmal besichtigen dürfe.
Wenig später tauchten am Straßenrand lustige Wegweiser auf, die anzeigten, dass man hier zum Kinderheim Sophienlust gelangte. Endlich wurde das alte Herrenhaus sichtbar.
»Es ist sehr groß, Vati«, stellte Maja andächtig fest. »Man könnte denken, es ist ein Schloss.«
»Nun, es war früher ein Gutshaus, mein Kleines.«
Henrik von Schoenecker, Pünktchen, Angelika und Vicky sowie einige andere Kinder warteten schon vor dem Portal, um die Gäste willkommen zu heißen. Der lang aufgeschossene Nick kam wie von ungefähr von den Ställen herübergeschlendert und übernahm es, Dr. Brixen ins Haus zu seiner Mutter zu geleiten.
Maja sah sich sogleich in den Kreis der Kinder aufgenommen und stellte deshalb sofort die Frage, die ihr am meisten am Herzen lag.
»Darf ich die Ponys angucken?«, fragte sie aufgeregt. »Es stimmt doch, dass es hier welche gibt?«
»Natürlich«, erwiderte Henrik mit Stolz. »Wenn du möchtest, gehen wir gleich einmal hin und schauen sie uns an. Wir können alle schon reiten. Du auch?«
»Nein, aber ich möchte es sehr gern lernen«, sagte das kleine Mädchen eifrig. »Eigentlich wünsche ich mir nämlich schon lange ein Pony. Wir hätten sogar einen Stall in unserem Garten, aber es ging leider trotzdem nicht …« Maja stockte. Dass ihre Mutti es nicht erlaubt hatte, mochte sie nicht gern zugeben.
»Hier gibt es viele Tiere, nicht nur Ponys«, ließ sich Vicky vernehmen. »Richtige große Pferde, Kühe, Schweine und natürlich auch Hühner.«
»So viele Tiere?«, freute sich Maja. »Ich mag nämlich Tiere sehr gut leiden. Mein Vati ist ein Tierdoktor und macht kranke Tiere gesund.«
Die Kinder nahmen das mit Zufriedenheit zur Kenntnis. Sie sprachen von Dr. von Lehn, von Andrea und vor allem vom Tierheim Waldi & Co.
»Ja, daran sind wir vorbeigefahren. Mein Vati kennt den Doktor und das Tierheim«, plauderte Maja.
Wie so oft waren die Sophienluster Kinder die allerbesten Diplomaten und machten es Maja leicht, den Anfang zu finden. Sie führten das kleine Mädchen zu den Stallungen, wo Justus, der ehemalige Gutsverwalter, der nun ein verschworener Kamerad der jungen Bewohner des Herrenhauses war, Maja zu deren grenzenlosem Entzücken ohne viele Worte auf ein Reitpony hob.
*
Zur gleichen Zeit saß Denise von Schoenecker Dr. Brixen im Biedermeierzimmer gegenüber. Hier war alles noch so, wie es zu Lebzeiten von Sophie von Wellentin gewesen war. Der Raum strahlte Ruhe aus und vermittelte zugleich eine Ahnung von jener Geborgenheit, die Sophienlust so vielen Kindern und gelegentlich auch Erwachsenen gab.
Hatte der Tierarzt zuvor noch Bedenken gehabt, ob es ihm möglich sein würde, sich Denise gegenüber auszusprechen, so erkannte er nun, dass man dieser schönen gütigen Frau mit den dunklen Augen rückhaltloses Vertrauen schenken konnte.
Es tat ihm wohl, über das, was ihn bedrückte, offen zu reden. Er berichtete mit leiser Stimme von dem Scheitern seiner Ehe und vor allem von seiner augenblicklichen Lage. »Ich weiß nicht, ob Sie mich verstehen können, gnädige Frau. Mir ist, als bleibe mir nur ein Scherbenhaufen. Ich stehe des Morgens auf, tue meine Arbeit, sehe nicht links noch rechts und kann doch meine Gedanken nicht davon ablenken, dass ich allein bin. Für das Kind ist das gewiss nicht das Richtige. Maja spürt meine innere Zerrissenheit und leidet darunter. Obgleich ich mir große Mühe gebe, Maja gegenüber gelassen und heiter zu sein, gelingt mir das nur unvollkommen. Meine alte Haushälterin ist selbst betrübt über die Entwicklung der Dinge und bringt nicht die Kraft auf, dem Kind zu helfen. So erschien mir das Wiedersehen mit Ihrem Schwiegersohn auf der tiermedizinischen Tagung nachträglich wie ein Fingerzweig des Schicksals. Ich erinnerte mich an Sophienlust und schrieb Hans-Joachim. Zwar würde mir der Abschied von Maja schwerfallen, doch glaube ich, dass wenigstens das Kind wieder Lachen und Fröhlichkeit um sich haben sollte. Außerdem möchte ich Maja die taktlosen und neugierigen Fragen, die die Leute in unserem kleinen Ort oft stellen, ersparen.«
Denise hatte aufmerksam zugehört und den Tierarzt nicht unterbrochen. Jetzt äußerte sie in ihrer besonnenen Art ihre Meinung. »Ich verstehe Sie gut, Dr. Brixen. Zwei verheiratete Menschen gehen nicht auseinander, ohne dass seelische Wunden entstehen. Sie brauchen Zeit, sich mit den veränderten Verhältnissen auszusöhnen. Im Allgemeinen trifft es mich jedes Mal schmerzlich, wenn ich von einer Scheidung erfahre. Doch es gibt sicherlich Fälle, in denen nichts anderes übrig bleibt, als die Dinge so hinzunehmen, wie sie nun einmal sind. Ihre kleine Maja soll uns hier in Sophienlust herzlich willkommen sein. Wir werden uns bemühen, ihr erfreuliche Eindrücke zu vermitteln und ihr zu helfen, das traurige Erlebnis zu überwinden. So hart und nüchtern sich das jetzt auch für Sie anhören mag, Dr. Brixen – da Majas Mutter bedenkenlos auf ihr Kind verzichtet hat, ist es am besten, wenn Maja möglichst bald aufhört, sich zu grämen und die Rückkehr ihrer Mutter herbeizusehen, die doch nicht erfolgen wird.«
Martin Brixen atmete rascher. »Sie haben wohl recht, gnädige Frau. Senta hat uns endgültig verlassen. Es wäre sinnlos, jetzt noch auf eine Wendung zu hoffen.«
Denise fand behutsame, tröstende Worte für den Tierarzt, der sich zunächst mit dem, was geschehen war, nicht abfinden konnte. Sie erzählte auch von dem Leben in Sophienlust, von den Möglichkeiten, die den Kindern in diesem einzigartigen Heim geboten wurden, und schilderte die Grundsätze, nach denen sie sich mit ihren Mitarbeitern darum bemühte, aus den ihr anvertrauten Kindern Menschen heranzubilden, die niemals den Blick für das Wohl und Wehe anderer verlieren würden. Schließlich meinte sie: »Die Entscheidung, ob Sie Maja bei uns lassen wollen, lieber Doktor, müssen Sie allerdings wohl oder übel selbst treffen. Maja wird vielleicht auch ein Wörtchen mitzureden haben.«
Martin Brixen nickte zustimmend. »Ich habe ihr versprochen, dass ich mich nach ihrem Wunsch richten werde. Sie wären doch damit einverstanden, dass ich mein Töchterchen öfters besuche?«
»Ganz gewiss, Dr. Brixen. Wir freuen uns stets über lieben Besuch. Außerdem darf Maja auf keinen Fall den engen Kontakt mit Ihnen verlieren. Es soll doch nur eine Übergangslösung sein, nicht wahr?«
»Ja, für alle Zeit möchte ich mich keinesfalls von Maja trennen. Aber erst einmal muss ich meinen eigenen Platz im Leben wiederfinden …«
Denise erhob sich und schlug einen Rundgang durch das Haus vor. Sie zeigte dem Besucher das nette Zimmer im ersten Stockwerk, das schon für Maja hergerichtet worden war. Auch durch den Park ging sie mit dem Tierarzt und zu den Ställen, wo sie Maja mit heißen Wangen auf einem Pony im Zirkel umherreiten sahen. Auch einige andere Kinder saßen im Sattel. Martin Brixen nahm das hübsche Bild dankbar in sich auf.
»Vati, schau nur, ich kann schon ganz gut reiten«, jubelte Maja. »Justus hat es mir gleich erlaubt, weil ich überhaupt keine Angst vor den Ponys habe.«
Der Tierarzt tauschte einen Blick mit seiner schönen Begleiterin. »Die Würfel sind wahrscheinlich schon gefallen«, sagte er sehr leise. »So fröhlich ist Maja nicht mehr gewesen, seit wir allein sind.«
Wie nicht anders zu erwarten gewesen war, entschied sich Maja aus vollem Herzen dafür, im Haus der glücklichen Kinder zu bleiben. Dr. Brixen verbrachte die Nacht bei Hans-Joachim und Andrea von Lehn, deren Gastlichkeit er dankbar angenommen hatte.
Maja bezog ihr neues Zimmer und fügte sich mit verblüffender Selbstverständlichkeit in die Gemeinschaft ein. Es war, als sei das Kind erleichtert, der bedrückenden Atmosphäre des Vaterhauses entronnen zu sein.
Denise nahm sich die Zeit, dem kleinen Neuling am ersten Abend selbst eine gute Nacht zu wünschen. Maja hielt einen Teddy im Arm und lächelte unbekümmert und glücklich.
»Hoffentlich wird es dir immer bei uns gefallen, Maja«, sagte Denise und setzte sich neben das Bett des Kindes.
»Bestimmt gefällt es mir, Tante Isi«, antwortete Maja mit heller Stimme. »Weil Tiere und Kinder hier sind, weil alle so furchtbar lieb zu mir sind, weil Magda so gut kocht und überhaupt …«
»Morgen darfst du das Tierheim Waldi & Co. in Bachenau bei Tante Andrea anschauen.«
»Das ist da, wo mein Vati schläft, nicht wahr? Er hat mir auf der Fahrt den großen Garten und das Haus schon gezeigt.«
»Es gibt ein Reh dort, ein Pferd, einen Esel, zwei Schimpansen, Hunde und noch ein paar andere Tiere.«
»Beinahe wie ein Zoo«, meinte Maja anerkennend. »Ich freue mich schon auf morgen, Tante Isi.«
Denise faltete ihre Hände über denen des Kindes. Gemeinsam sprachen die beiden das Abendgebet. Dann ging Denise leise hinaus. Maja schloss sogleich die Augen. Es war ein langer Tag für das Kind gewesen.
*
Alexander von Schoenecker sah seine Frau forschend an. Das Ehepaar saß ausnahmsweise einmal allein und ungestört beim Tee in Schoeneich. Es war ein verregneter Sonntag, und man hatte nichts Besonderes vor.
»Du machst dir über irgendetwas Gedanken, Isi«, sagte der Gutsherr etwas besorgt. »Ich sehe es an deinen Augen.«
Denise erwiderte seinen Blick mit warmer Innigkeit. »Du kennst mich so gut, dass ich dir nichts verheimlichen kann.«
»Worum geht es, Liebste? Glaubst du, dass ich dir helfen könnte? Hast du Schwierigkeiten mit Sophienlust? Ich hatte gerade in diesen Tagen den Eindruck, dass das Leben der Kinder besonders harmonisch und glücklich verläuft. Die kleine Maja hat sich in der kurzen Zeit vollständig aklimatisiert und entwickelt sich zu einer perfekten Ponyreiterin. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit fährt sie mit nach Bachenau zu Andrea und tyrannisiert den guten Janosch nach Herzenslust. Man muss dieses entzückende Persönchen einfach gernhaben. Den Kummer um die davongelaufene Mutter scheint Maja von Tag zu Tag gründlicher zu vergessen. Ein Segen, dass Kinder noch die Gabe besitzen, Vergangenes hinter sich zu lassen.«
»Es handelt sich nicht um die Kinder, Alexander«, gab Denise zögernd zurück. »Ich dachte an Dr. Brixen.«
»Willst du ihn auch in Sophienlust aufnehmen und betreuen?«, scherzte ihr Mann. »Er hat seinen Beruf und muss mit seinem Schicksal fertig werden. Natürlich ist es für einen Mann enttäuschend, wenn er so wie Dr. Brixen von seiner Frau im Stich gelassen wird. Aber ich bin ganz sicher, dass er das Erlebnis überwinden kann. Hans-Joachim und Andrea halten große Stücke auf ihn.«
»Dr. Brixen ist innerlich verzweifelt, Alexander. Er kommt mit seinem veränderten Leben nicht zurecht. Sein Haus ist plötzlich still und leer. Er hat nur noch seine Arbeit. Doch die Beschäftigung mit den Tieren kann ihm den Kontakt mit geliebten Menschen nicht ersetzen. Er ließ Maja in Sophienlust, weil er hoffte, zu sich selbst zu finden. Doch ich habe nicht den Eindruck, dass ihm das bis jetzt gelungen ist. Im Gegenteil, er quält sich, und es wird nicht besser, sondern schlimmer für ihn.«
»Hat er sich dir gegenüber ausgesprochen?«
»Nein, aber ich sehe und fühle es. Möglicherweise war es für den Vater nicht gut, dass er sich nun auch noch die Trennung von dem Kind auferlegte. Ich frage mich, ob es richtig war, Maja in Sophienlust zu behalten. Vielleicht wären die beiden gemeinsam schließlich auf ihre Art mit der Situation fertig geworden. Gewiss, Maja ist jetzt ein fröhliches kleines Mädchen und gehört schon völlig zu unserer Gemeinschaft. Doch Dr. Brixen ist isoliert und hat wahrscheinlich keine Menschenseele, mit der er sich einmal über seine Probleme unterhalten kann.«
Alexander von Schoenecker nahm einen Schluck aus seiner Tasse. »Du bist gar zu gewissenhaft, Isi. Ihr helft dem Kind. Das ist doch schon sehr viel. Dem Doktor können wir nicht helfen, auch wenn wir sehen, dass er es bitter schwer hat.«
»Ich fürchte, dass er in Gefahr ist, sich zu verlieren, Alexander. In nächster Zeit wird er seinen Urlaub nehmen. Das war von langer Hand geplant. Ein Kollege aus der Umgebung soll ihn dann vertreten. Am liebsten würde ich Andrea und Hans-Joachim bitten, Dr. Brixen für die Urlaubswochen zu sich einzuladen, damit er ständig mit Maja beisammen sein kann. Das Kind ist für ihn jetzt der wichtigste Mensch. Er braucht Maja, und Maja braucht ihn.«
»Nun ja, warum sollten Andrea und Hans-Joachim ihn nicht einladen? Es wäre sicherlich keine schlechte Lösung, zumal Maja sowieso bei Andrea aus und ein geht, als gehöre sie mit zur Familie.«
»Es wird nicht ganz einfach sein. Dr. Brixen ist sehr empfindlich. Er scheut jede Andeutung von Mitleid, und er würde bei einer derartigen Einladung natürlich sofort die Absicht erkennen.«
»Dann solltest du Maja während des Urlaubs nach Hause zu ihrem Vater schicken. Wäre das nicht ein Vorschlag, der sich verwirklichen ließe? Solange er sich nicht um seine Praxis zu kümmern braucht, findet er genügend Zeit, sich dem Kind zu widmen. Vater und Tochter könnten allerlei zusammen unternehmen und sozusagen das Leben ohne die Mutter einmal erproben, ohne dass das Ganze schon den Stempel der Endgültigkeit trägt.«
Denise war überrascht. »Das ist eine ausgezeichnete Idee, Alexander. Ich muss gestehen, dass ich nicht darauf gekommen wäre. Wie gut, dass ich meine Probleme immer mit dir besprechen kann. Natürlich müsste Dr. Brixen damit einverstanden sein und Maja auch. Aber ich denke, dass es in dieser Hinsicht keine Schwierigkeiten geben wird. Mir gefällt die Vorstellung, dass das Kind auf diese Weise nach Hause kommen kann. Falls es tatsächlich ein Fehler war, Maja nach Sophienlust zu nehmen, so würde es sich doch wohl bei dieser Gelegenheit zeigen.«
»Erwarte nur nicht zu viel, Liebste. Wahrscheinlich muss man in erster Linie Geduld haben. Dr. Brixen wird nach und nach erkennen, dass die Erziehung seines Töchterchens nunmehr seine schönste und wichtigste Aufgabe sein muss. Ist er erst wieder so weit, hat er vielleicht auch die Möglichkeit, sich einer anderen Frau zuzuwenden.«
»Vorläufig sieht das noch nicht so aus, Alexander. Seine Enttäuschung ist zu tief.«
»Nun ja, eine große Liebe fällt auch manchmal vom Himmel, Isi. Wir haben im Zusammenhang mit unseren Sophienluster Kindern doch schon die seltsamsten Dinge erlebt. Dr. Brixen ist jung, sieht gut aus und könnte ein Mädchen sehr glücklich machen.«
Denise lächelte. »Nicht immer findet eine traurige Geschichte ihr gutes Ende, Alexander.«
*
Martin Brixen hatte am Nachmittag in Sophienlust Kaffee getrunken und dem Wettessen der Kinder zugesehen, die Magdas herrlich gelungenen Kuchen in erstaunlichen Mengen verzehrt hatten. Der Abschied von Maja fiel ihm nun schwer, doch er bemühte sich, das kleine Mädchen davon nichts spüren zu lassen.
»Leb wohl, Majalein. Ich werde im Lauf der Woche wieder einmal anrufen. Soll ich Hermine von dir grüßen?«
Maja küsste ihren Vater, der sich zu ihr niederbeugte. »Du musst Hermine erzählen, dass ich schon reiten kann, Vati. Sag ihr auch, wie gut es mir hier schmeckt. Ich esse meinen Teller immer leer. Und von meinem Namensbäumchen im Märchenwald soll sie auch etwas hören.«
Dr. Brixen versprach, alles getreulich auszurichten. Majas Namensbäumchen in einer Schonung hatte er mit eigenen Augen bewundert. Die Anpflanzung befand sich auf einer weiten Lichtung, die vor Jahren durch einen Waldbrand entstanden war. Seitdem hatte sich in Sophienlust die Sitte eingebürgert, dass jedes neue Kind einen Baum pflanzen durfte, an dem ein Schild mit seinem Namen befestigt wurde.
Da der Tierarzt mittlerweile mit allen Bewohnern des Hauses der glücklichen Kinder gut Freund war, musste er sich langatmig verabschieden. Umringt von den Kindern gaben ihm Frau Rennert, die Heimleiterin, und Schwester Regine das Geleit. Die fröhliche Gruppe winkte ihm nach, als er langsam in Richtung Bachenau davonfuhr.
Das Gesicht des Tierarztes wurde ernst, sobald er sich unbeobachtet wusste. Er scheute die Rückkehr in sein verlassenes Haus. Solange er mit Maja beisammen war, konnte er seinen trübseligen Alltag ein wenig vergessen. Doch nun lag wieder die graue hoffnungslose Woche vor ihm, und er wusste nicht, woher er die Kraft nehmen sollte, immer weiterzuschaffen, obwohl ihm sein Tun merkwürdig sinnlos erschien.
Doch noch lag ein kurzer Besuch bei Hans-Joachim und Andrea vor ihm, eine letzte erfreuliche Einkehr vor dem endgültigen Aufbruch.
Das Ehepaar von Lehn erwartete ihn bereits. Andrea wollte ihm einen Imbiss anbieten, doch er lehnte mit einem scherzhaften Hinweis auf Magdas Kuchenberge dankend ab.
»Es war wieder einmal ein Wochenende der Erholung für mich«, sagte er herzlich. »Ich möchte mich bei Ihnen bedanken, Frau von Lehn. Auf die Dauer sollte ich Ihre Gastfreundschaft wohl nicht in Anspruch nehmen. Maja macht Ihnen ohnehin schon genügend Umstände, weil sie so schrecklich gern drüben im Tierheim bei Janosch ist.«
Andrea hob die Hände. »Warum machen Sie sich darüber Gedanken, Dr. Brixen?«, rief sie aus. »Wir haben Platz im Haus, und wir freuen uns, wenn Sie bei uns sind. Dass Maja sich gern mitnehmen lässt, sobald sich eine Fahrgelegenheit von Sophienlust hierher ergibt, braucht Ihnen auch kein Kopfzerbrechen zu bereiten. Maja und ich verstehen uns nämlich großartig, weil wir beide echte Tiernarren sind. Unser alter Janosch behauptet, Maja habe einen Pferdeverstand. Und da Pferde für ihn beinahe heilige Tiere sind, liebt er Maja wie eine kleine Enkelin. Mein Mann und ich haben unsere Freude an diesem freundschaftlichen Verhältnis der beiden. Mühe macht Maja uns durchaus nicht. Im Gegenteil, sie spielt oft genug sehr lieb und geduldig mit unserem kleinen Sohn. Das weiß besonders Marianne sehr zu schätzen.«
»Sie machen es mir viel zu leicht, Frau von Lehn«, widersprach Martin Brixen.
Der Hausherr schüttelte den Kopf. »Mach doch nicht so viele Umstände, Martin. Wir sind gute Freunde, und deine kleine Tochter ist in Sophienlust. Also ist es völlig selbstverständlich, dass du bei uns sozusagen zur Familie gehörst. Komm recht bald wieder, und vergiss nicht, mir die Veröffentlichung über den tiermedizinischen Kongress in Philadelphia mitzubringen.«
»Ich denke daran«, versicherte der Gast. »Es freut mich, wenn ich dir auch einmal einen kleinen Gefallen erweisen kann.«
Martin Brixen holte seinen Koffer aus dem Gästezimmer und verstaute ihn im Wagen. Als er vom Grundstück fuhr, standen Hans-Joachim und Andrea Arm in Arm vor der Einfahrt und winkten, solange das Auto zu sehen war.
»Er ist ein armer Bursche, unser guter Martin«, meinte Hans-Joachim etwas bedrückt. »Hast du gemerkt, dass er am liebsten hiergeblieben wäre?«
»Nun ja, erfreulich ist es daheim sicherlich nicht für ihn. Aber damit muss er sich halt auseinandersetzen. Dass er seiner Tigerin immer noch nachtrauert, kann ich wirklich nicht verstehen.«
Auch Martin Brixen beschäftigte sich in Gedanken noch immer mit den Freunden. Die heitere Atmosphäre in dem lebhaften Haushalt mit den vielen Tieren hatte ihn erfrischt und zugleich betrübt. Der Kontrast zu seinem eigenen Leben erschien ihm besonders hart. Am Abend würde er wieder in seinem elegant eingerichteten Wohnzimmer sitzen, Wein trinken und einsam sein. Morgen früh würde dann die Praxis wie gewohnt beginnen, falls nicht noch am Abend oder gar in der Nacht ein dringender Anruf kommen würde. Mit Hermine konnte er sich nicht aussprechen. Die getreue Haushälterin versorgte ihn zwar tadellos, litt aber unter den veränderten Verhältnissen kaum weniger als er selbst.
Ich bin überall ein Fremder, ein Gast, den man freundlich duldet, stellte der Tierarzt in Gedanken voller Bitterkeit fest. Vielleicht sollte ich das Haus verkaufen und die Praxis ebenfalls. Ob es möglich ist, einen ganz neuen Anfang in einer anderen Gegend zu machen, in der man mich nicht kennt und nichts von Senta weiß?
Martin Brixen fand keine Antwort auf diese Frage, doch er spürte, dass er die in langen Jahren aufgebaute Praxis nicht im Stich lassen konnte. Ich muss es durchstehen, hielt er sich vor. In einem Jahr sieht vielleicht alles anders und besser aus. Dann werde ich meine kleine Maja heimholen.
Solange der Tierarzt seine Aufmerksamkeit auf den sonntäglichen Verkehr konzentrieren musste, war er beschäftigt und konnte die Vorstellung von seinem stillen Haus, in dem jeder Raum Sentas Handschrift aufwies, noch verdrängen. Doch je näher er seinem Heimatort kam, desto trostloser erschien ihm die unvermeidliche Rückkehr.
Etwa vier Kilometer von seinem Ziel entfernt tat Martin Brixen etwas, was er in letzter Zeit schon öfter als Ausweg gewählt hatte. Er hielt vor einer Wirtschaft an, um einzukehren. Mit den Männern, die an der Theke standen, unterhielt es sich gut, ob man sie nun kannte oder nicht. Sie redeten ein bisschen vom Wetter, ein bisschen von der Politik und natürlich auch vom Fußball. Er selbst stand mitten unter ihnen, hörte ihnen zu und war zufrieden, dass er nicht allein in seinem Wohnzimmer sitzen musste.
Nach einer guten Stunde zahlte Martin Brixen und ging. Er fühlte sich nun etwas besser, denn der Alkohol hatte seiner Stimmung Aufschwung gegeben. Trotzdem fand er auch jetzt noch nicht nach Hause, sondern lenkte seinen Wagen zu einem abseits gelegenen Dorf, wo er sich im dortigen Gasthof wiederum mit anderen Männern an die Theke stellte.
So war es jedes Mal. Wenn er erst einmal mit dem Trinken angefangen hatte, konnte er kein Ende finden. Da er sich in den kleinen Ortschaften und Dörfern genau auskannte, klapperte er die verschiedenen Wirtschaften in unregelmäßiger Folge ab, ohne dass den Leuten auffiel, wie viel er tatsächlich trank. Denn er musste natürlich sorgsam darauf bedacht sein, dass sich das nicht herumredete.
Der Abend war auf diese Weise schon weit vorgerückt, als er seinen Wagen schließlich doch heimwärts lenkte. Er grüßte einen Polizisten und dachte triumphierend, dass dieser ihn gewiss nicht zur Blutprobe bitten werde, weil er dem Herrn Doktor eine solche Fahrlässigkeit einfach nicht zutraute.
Aber ich werde es nicht wieder tun, nahm er sich vor, denn sein Gewissen schlug nun doch.
Hermine hatte etwas zu essen vorbereitet und schwieg, wie es ihre Gewohnheit war. Doch Martin Brixen konnte in ihrem faltenreichen klugen Gesicht lesen, dass sie genau Bescheid wusste und dass sie sein Tun durchaus nicht billigte.
Seine Zunge war schwer, als er ihr mit etwas zu lauter Stimme von seinem Besuch in Sophienlust berichtete. Hermine hörte ihm zu und ließ sich schließlich doch zu einer Bemerkung herbei.
»Ein Segen, dass Maja jetzt dort sein kann, Herr Doktor«, stellte sie mit einem Seufzer fest.
Martin Brixen presste die Lippen fest aufeinander. Was ging es Hermine an, dass er bei den Männern an den Theken Vergessen suchte?
*
Es kam ein Wochenende, an dem Majas Vater den angekündigten Besuch in Sophienlust kurzfristig absagte. Er begründete seine Verhinderung mit dringenden Fällen in der Praxis, doch in Wahrheit hatte er am Freitagabend so viel Alkohol getrunken, dass er mit schwerem Kopfweh im Bett lag und sich zu der langen Autofahrt nicht fähig fühlte.
Obwohl Denise von Schoenecker nicht genau wissen konnte, in welcher Lage Dr. Brixen sich nunmehr befand, so erkannte sie doch, dass es an der Zeit war, ihm den Vorschlag ihres Mannes zu übermitteln. Sie vertröstete Maja, die sich auf den Besuch ihres Vaters gefreut hatte, und sorgte dafür, dass das kleine Mädchen zu einem besonderen Vergnügen kam. Nick und Henrik sollten Maja wieder einmal nach Bachenau mitnehmen, wo es bei Andrea Kuchen und Kakao gab. Heidi Holsten und zwei andere Kinder durften ebenfalls mit in den Kleinbus einsteigen.
»Aber schade ist es doch, dass mein Vati nicht da ist«, seufzte Maja.
Denise besprach ihr Anliegen noch einmal in aller Ausführlichkeit mit der lebensklugen Frau Rennert. Am Samstagabend rief sie dann bei Dr. Brixen an und schlug ihm vor, sein Töchterchen für die Zeit seines geplanten Urlaubs zu sich nach Hause zu holen.
Martin Brixen stimmte sofort zu. Mit nicht ganz fester Stimme sprach er redselig davon, dass sein Kind ihm nun stärker fehle als seine treulose Frau. Es wurde ein schier endloses Telefongespräch, und Denise war einigermaßen bestürzt, als sie den Hörer wieder auflegte.
Erst zu späterer Stunde fand sie Gelegenheit, sich ihrem Mann anzuvertrauen.
»Ich habe mit Majas Vater ausführlich telefoniert, Alexander. Leider hatte ich bei dem Gespräch den Eindruck, dass er zu viel getrunken hatte. Er redete ununterbrochen und faselte sogar ein bisschen. Jetzt frage ich mich, ob man Maja unter diesen Umständen zu ihm nach Hause schicken kann.«
Alexander war gleichfalls betroffen. »Du hast immer befürchtet, dass er den Halt verlieren könnte, Isi. Jetzt kann man eigentlich nur hoffen, dass das Kind ihm hilft, das Trinken so schnell wie möglich aufzugeben. Vielleicht greift er nur zur Flasche, weil er allein ist. Es kann ja auch reiner Zufall gewesen sein, dass er nicht ganz nüchtern war. Auf einem Bauernhof muss der Tierarzt manchmal kräftig mithalten, wenn etwas Scharfes angeboten wird.«
»Nun ja, dass er ein notorischer Trinker ist, glaube ich auch nicht«, räumte Denise mit einiger Zuversicht ein. »Auch liebt er Maja über alles. Ihr wird er gewiss nicht betrunken gegenübertreten wollen.«
Am folgenden Tag erfuhr Maja, dass sie schon in zwei Wochen ihren Vater besuchen sollte. Das kleine Mädchen freute sich darüber, erklärte jedoch gleichzeitig, dass es sich von den Tieren, insbesondere von den Ponys, nur sehr ungern trenne.
»Weißt du, Tante Isi, ich werde meinen Vater bitten, mir ein Pony zu schenken«, verriet Maja mit glänzenden Augen. »In unserem Garten ist ein Stall. Es würde bestimmt möglich sein.«
Denise umarmte das kleine Mädchen und strich ihm übers Haar. »Frage deinen Vati nur, Kleines. Ob es sich allerdings für die kurze Zeit des Urlaubs lohnen würde, ist nicht gewiss. Vielleicht musst du noch ein Weilchen warten – bis du wieder für immer nach Hause zu deinem Vater gehen kannst.«
Maja schaute ihre geliebte Tante Isi nachdenklich an. »Man müsste eben eine Mutti haben«, meinte sie sehr leise. »Aber wir haben nun einmal keine mehr, weil sie nicht zurückkommen will.«
Denise küsste Majas klare Stirn. Wie gern hätte sie dem Kind etwas Tröstliches gesagt!
*
Am folgenden Wochenende kam Dr. Brixen, und Denise stellte trotz aller Wachsamkeit keinerlei Neigung zum Alkohol bei ihm fest. Er beschäftigte sich intensiv mit seinem Töchterchen und ging auch auf die anderen Kinder und deren Vorschläge bereitwillig ein. Die Vorfreude auf Majas Urlaubsbesuch war ihm deutlich anzumerken.
Sogar zu dem Versprechen, seinem Töchterchen ein Pony in den kleinen Stall zu stellen, ließ er sich herbei. Maja führte einen Freudentanz auf und konnte nun die Zeit des Urlaubs kaum noch erwarten, wenn sie auch keinen Zweifel daran ließ, dass sie später unbedingt nach Sophienlust zurückkommen wolle. Zu Hause sei es nur dann richtig schön, wenn ihr Vati für sie Zeit habe, meinte sie mit großer Bestimmtheit.
So schien alles recht und gut, und Denise konnte sich sagen, dass ihre Bedenken wohl doch übertrieben gewesen seien. Dass Martin Brixen auf dem Rückweg auch diesmal wieder in mehreren Wirtschaften einkehrte und mehr trank, als für ihn gut war, erfuhr sie nicht.
*
Der Kollege aus dem nächsten größeren Ort übernahm die Vertretung Dr. Brixens, und über das weiße Schild vor der Tür wurde ein Streifen geklebt, auf dem zu lesen stand, dass der Tierarzt für drei Wochen in Urlaub sei.
Hermine machte Kuchen und bezog Majas Bett. Martin Brixen fuhr mit dem Wagen nach Sophienlust, um sein Töchterchen nach Hause zu holen. In dem kleinen Stall stand bereits ein besonders hübsches schwarzbraunes Pony und wartete auf seine Reiterin.
Mit leuchtenden Augen hielt Maja Einzug in ihrem Vaterhaus. Hermine bekam einen dicken Kuss, und der Jubel über das Pony kannte keine Grenzen. »Es soll Jonathan heißen, Vati«, beschloss Maja. »Ist es schon geritten worden? Darf ich probieren, ob Jonathan mich mag?«
Dr. Brixen legte dem kleinen Pferd den funkelnagelneuen Sattel auf. »Jonathan kommt aus einem Ponyreitstall und ist sehr brav, Maja. Du brauchst keine Angst zu haben.«
Maja lachte. »Ich habe sowieso keine Angst, Vati. Es ist lieb von dir, dass du mir ein Pony geschenkt hast.«
Hermine und der Doktor schauten zu, wie Maja mit großem Geschick ihre Reitkünste vorführte. Die Freude über den schwarzbraunen Jonathan überstrahlte alles, und die Erinnerung an die Mutter schien darüber zu verblassen. Maja streifte durchs Haus und unternahm einen Spaziergang mit ihrem Vater. Gemeinsam statteten sie dem Bauer Brauner einen Besuch ab, und die Spielkameraden riefen Maja fröhliche Grüße zu, als sie sie auf der Dorfstraße entdeckten.
Dem Doktor kam das Haus wie mit neuem Leben erfüllt vor. Der Tisch war nun wenigstens für zwei gedeckt, und Hermines liebevoll zubereitetes Essen schmeckte ihm ausgezeichnet, während er es in den vergangenen Wochen aus reiner Höflichkeit verzehrt hatte.
Als es für Maja Schlafenszeit wurde, ließ es sich der Vater nicht nehmen, sein Töchterchen höchstpersönlich in die Badewanne zu stecken, wo Maja herumspritzte und tobte, bis der Fußboden gründlich unter Wasser stand.
Erst zu späterer Stunde überfiel den Doktor die Einsamkeit wieder wie ein böses Tier, das in einer Ecke gelauert hatte. Obwohl ihm das Gewissen schlug, stahl er sich auch an diesem ersten Abend aus dem Haus, um noch in einer Wirtschaft einzukehren.
Nur für ein oder zwei Gläser, nahm er sich vor. Doch es war lange nach Mitternacht, als er endlich heimkehrte. Hermine sah von ihrem Fenster aus, dass er nicht mehr fest auf den Beinen gehen oder stehen konnte, als er aus dem Wagen stieg.
»Wenn das nur nicht zu einem Unglück führt«, murmelte die Haushälterin sorgenvoll. »Ich hatte gehofft, dass er das schreckliche Trinken lassen würde, wenn Maja hier sein würde. So kann es doch nicht weitergehen mit ihm.«
Niemand hörte Hermines geflüsterte Worte, und Martin Brixen hätte ihren Beschwörungen ohnehin keine Beachtung geschenkt. Am Morgen saß er mit Maja am Frühstückstisch und fühlte sich miserabel. Er trank nur schwarzen Kaffee und war wütend auf sich selbst.
»Wo bist du gewesen, Vati?«, fragte Maja mit ihrem hellen Stimmchen in völliger Harmlosigkeit. »Die Praxis ist doch geschlossen. Trotzdem warst du fort in der Nacht.«
Der Tierarzt erschrak. Damit, dass Maja etwas von seinem späten Ausflug bemerken könnte, hatte er nicht gerechnet. Er konnte den Blick der klaren braunen Augen nicht ertragen und senkte die Lider.
»Da war noch etwas zu erledigen, Maja. Hast du denn nicht geschlafen?«
»Ich bin aufgewacht, weil ich dein Auto hörte, Vati. Da habe ich aus dem Fenster geschaut und dich wegfahren sehen. Aber ich habe nichts gemerkt, als du zurückkamst.«
»Umso besser, Majalein.«
»Musst du oft weg in der Nacht? In Sophienlust sind immer alle daheim, wenn es dunkel wird. Ich mag es nicht, dass du fortfährst und mich allein lässt«, schmollte das kleine Mädchen.
»Hermine ist doch im Haus. Du bist nicht allein.«
»Hermine schläft unten. Oben war ich ganz allein«, beharrte Maja auf ihrer Meinung. »Nicht wahr, du bleibst jetzt immer bei mir, Vati?«
Martin Brixen fühlte sein Herz heftig schlagen. Das Kind ahnte nichts und forderte dennoch von ihm das Versprechen, das er sich selbst schon so oft gegeben hatte, um es immer wieder zu brechen.
Er zwang sich zu einem Lächeln. »Ehrenwort, Maja. Von jetzt ab werde ich zu Hause bleiben und schlafen gehen. Du hast völlig recht. Mein Vertreter soll sich um die Fälle kümmern. Ich bin in Urlaub und will meine Ruhe haben, solange meine liebe kleine Tochter bei mir ist.«
Maja nickte zustimmend. »Wenn du mir dein Ehrenwort gibst, dann musst du es auch halten«, antwortete sie. »Wollen wir gleich nach dem Frühstück zu Jonathan in den Stall gehen und ihn versorgen? Ich weiß ganz genau, wie Justus das in Sophienlust macht. Aber du musst mir ein bisschen dabei helfen.«
Martin Brixen war mit dem Vorschlag einverstanden. Zu Majas Entzücken durfte das Pony im Garten nach Herzenslust grasen. Jonathan schien sich in der neuen Umgebung bereits heimisch zu fühlen und stupste Maja mit seiner weichen Nase an der Schulter, weil er um Zucker betteln wollte.
Im Verlauf des Tages unternahmen Vater und Tochter einen weiten Ausflug mit dem Wagen, und der Doktor gab sich alle Mühe, ein fröhlicher, verständnisvoller Kamerad zu sein. Er dachte sich Geschichten aus und war stolz, als Maja sie fast so gut fand wie die Erzählungen des alten Janosch. Er verwöhnte seine Tochter mit Eis und anderen Leckereien und besuchte am Nachmittag in der näheren Umgebung einen Kirmesplatz, wo Maja nach Herzenslust Karussell fahren durfte.
»So müsste es immer sein, Vati«, stellte Maja am Abend glückselig fest.
Dr. Brixen küsste das kleine Mädchen zur guten Nacht. »Wir wollen sehen, dass wir uns schöne Ferien machen, mein Kleines«, versprach er. »Es hat mir auch viel Spaß gemacht heute.«
Aber dann saß er doch wieder allein und unruhig im Sessel und schaute auf die Uhr. Als es von der Kirche zehn geschlagen hatte, ertrug er es nicht länger. Er stand auf und schlich auf Zehenspitzen die Treppe hinauf, um sich zu überzeugen, dass Maja fest schlief. Das Kind war sehr müde gewesen. Gewiss würde es diesmal nicht aufwachen, wenn er den Wagen aus der Garage holte.
Als der Tierarzt auf Maja niederblickte, die im Schlaf zu lächeln schien, fiel ihm sein Versprechen ein. Er kämpfte einen stummen Kampf, doch der sehnliche Wunsch nach dem tröstlichen Vergessen, das der Alkohol für ein paar Stunden zu schenken vermochte, war stärker als die Stimme seines Gewissens. Sie wird nichts merken, beschwichtigte er sich selbst.
Obwohl er sich bemüht hatte, kein Geräusch zu verursachen, war Hermine in der Diele, als er wieder herunterkam. Es fiel ihm schwer, dem fragenden Blick ihrer klugen Augen standzuhalten.
»Ich fahre noch einmal weg, Hermine«, flüsterte er. »Es wird nicht lange dauern.«
Die Haushälterin hob die verarbeitete Hand. »Muss es denn sein, Herr Doktor?«, fragte sie.
»Ja«, erwiderte er mit harter Stimme und ziemlich laut. Dann verließ er das Haus, holte den Wagen aus der Garage und fuhr davon.
Hermine stand noch immer in der Diele, als am oberen Treppenabsatz eine kleine Gestalt im Schlafanzug sichtbar wurde. Auf bloßen Füßchen kam Maja herunter und kauerte sich auf die letzte Stufe.
»Du solltest schlafen, Maja«, sagte Hermine sanft. »Es ist spät, und du musst müde sein.«
»Jemand hat laut gesprochen. Davon bin ich aufgewacht. Jetzt ist Vati weggefahren.« Maja schluchzte auf. »Er hat mir sein Ehrenwort gegeben, dass er es nicht mehr tun wird. Ich mag nämlich nicht allein bleiben.«
Hermine streichelte Majas Köpfchen. »Musst nicht weinen, Maja. Dein Vati wäre lieber hiergeblieben. Er kommt ja bald heim und legt sich ins Bett.«
»Besucht er ein krankes Tier?«, wollte Maja wissen.
Hermine schluckte einmal, ehe sie sich zu einer Antwort entschloss. »Ja, es muss wohl so etwas sein, Maja«, sagte sie zögernd, denn wie hätte sie dem Kind eingestehen können, dass der Vater weggefahren war, um sich zu betrinken?
Maja stand auf und wischte sich mit dem Handrücken die Augen trocken. »Ich will auf ihn warten, Hermine. Wenn er nicht zu Hause ist, mag ich nicht schlafen.«
»Das ist Unsinn, Maja. Du musst jetzt ins Bett und die Äuglein zumachen. Dann kommt der Schlaf von selbst.«
Das Kind schob die Unterlippe ein wenig nach vorn. Ich werde doch auf ihn warten, beschloss es bei sich. Hermine merkt ja nicht, ob ich schlafe oder wach bleibe.
Die Haushälterin brachte Maja fürsorglich wieder nach oben und deckte sie liebevoll zu. Dann suchte sie ihr eigenes Schlafzimmer im Erdgeschoss auf und war überzeugt, dass Maja bald wieder von Müdigkeit überwältigt sein würde.
Doch Maja war hellwach. Sie saß aufrecht in ihrem Bett und schlang die Ärmchen um die angezogenen Knie. Unter keinen Umständen wollte sie einschlafen. Sie wollte ihren Vati fragen, warum er trotz des Ehrenwortes heimlich weggefahren war.
*
Dr. Brixen stand an der Theke und trank. Er hörte den Gesprächen der Männer zu, aber seine Gedanken waren bei Maja. Ich habe ihr versprochen, zu Hause zu bleiben, und bin doch wieder fortgefahren, dachte er bedrückt. Habe ich denn nicht die Kraft, einen einzigen einsamen Abend zu überstehen, obwohl ich weiß, dass oben das Kind schläft? Was ist nur aus mir geworden?
Obwohl ihm der Alkohol an diesem Abend nicht schmeckte, bestellte er nach und leerte in einer gewissen Hast mehrere Gläser. Plötzlich torkelte ein schwer betrunkener Bauer herein und fing grundlosen Streit mit den anderen an. Es war eine hässliche, unerfreuliche Szene. Die Männer lachten über den Betrunkenen und amüsierten sich auf seine Kosten, ohne dass dieser noch in der Lage gewesen wäre, das zu registrieren.
Martin Brixen schloss die Augen, um das Bild nicht länger sehen zu müssen. Würde es mit ihm auch so weit kommen, dass er die Kontrolle über sich selbst verlor und zum Gespött anderer Leute wurde?
Mit einer jähen Bewegung schob er sein noch halb volles Glas über die Theke zurück. »Ich will zahlen«, wandte er sich an den Wirt.
»Wollen Sie nicht wenigstens austrinken, Herr Doktor?«, meinte der Wirt und zählte die Striche auf dem Bierdeckel zusammen.
»Danke, ich habe genug. Was macht es bitte?«
Der Wirt nannte ihm die Summe, und der Doktor wunderte sich, dass es in der kurzen Zeit doch wieder eine ganz beachtliche Zeche geworden war.
Es war das letzte Mal, nahm er sich vor. Es darf nicht so weitergehen.
Sein Hirn war ein wenig umnebelt, als er die rauchige Gaststube verließ. Der Streit der Männer war zu Ende, und der Betrunkene hockte mit stierem Blick an einem der Tische. Martin Brixen fand den Anblick abstoßend und erschreckend. Er schämte sich vor sich selber, dass er die Gesellschaft solcher Menschen gesucht hatte.
»Der Viehdoktor hat aber auch mehr getrunken, als ein Autofahrer trinken dürfte«, hörte Martin jemanden ziemlich laut sagen, als er die Hand auf die Türklinke legte. Doch er schüttelte die Worte ab wie Regentropfen. Es war heute nicht so viel wie sonst, beschwichtigte er sich selbst. Außerdem ist um diese Zeit sowieso kaum jemand unterwegs. Und die Polizei wird mich auch nicht anhalten.
Er atmete ein paarmal tief durch und spürte den genossenen Alkohol nun kaum noch.
Als er dann hinter dem Steuer seines Wagens saß, fühlte er sich absolut sicher.
Zum letzten Mal, wiederholte er in Gedanken das Versprechen, das er sich selber gegeben hatte. Ich schulde es Maja, und ich schulde es auch mir selber. Es muss eine andere Möglichkeit geben, die Einsamkeit im Wohnzimmer zu besiegen.
Als er sein Haus im Licht der Scheinwerfer auftauchen sah, fühlte er sich grenzenlos erleichtert. Er spürte, dass der Gedanke an sein Kind ihm neue Kraft gab. Morgen würde er nicht heimlich wegfahren – nein, morgen nicht!
Die schmale Gestalt schien aus dem Nichts zu kommen. Die junge Frau stolperte ihm genau vor den Wagen.
Martin reagierte sofort und bremste scharf. Bereits Sekunden später beugte er sich über die Verunglückte. Er stellte erleichtert fest, dass sie mit seinem Wagen nicht in Berührung gekommen war. Es waren noch etwa zehn Zentimeter Zwischenraum geblieben. Trotzdem hatte das Mädchen das Bewusstsein verloren. Eine mittelgroße Reisetasche lag ein paar Schritte weiter auf dem Weg.
Der Tierarzt war nun völlig nüchtern. Während er eine erste tüchtige Untersuchung anstellte, arbeiteten die Gedanken hinter seiner Stirn klar und präzise wie ein Uhrwerk. Wenn ich die Polizei einschalte, wird es Ärger geben, überlegte er. Immerhin habe ich getrunken, und die Leute im Gasthof wissen es.
Die junge Frau schien nicht schwer verletzt zu sein. Als er den Versuch machte, die Verletzte aufzuheben, öffnete sie die Augen und sah ihn erschrocken an.
»Es ist nicht viel passiert«, bemühte er sich, sie zu beruhigen. »Am besten nehme ich Sie erst einmal mit in mein Haus, wenn Sie einverstanden sind.«
Sie kämpfte mit den Tränen. Behutsam richtete er sie auf. Ihre Knie war abgeschürft, und auch an der Hand hatte sie eine Wunde.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen.« Er stützte sie fürsorglich, und sie erhob keinen Einwand. Sie ließ sich die wenigen Schritte bis zum Haus führen. Er gewann den Eindruck, dass sie von dem Sturz benommen sei.
Als er in der Diele das Licht einschaltete, fiel sein erschrockener Blick auf Maja, die eben mit leichtem Schritt die Treppe herunterkam.
»Vati, ich habe gewartet …«
»Wir reden später darüber, Maja. Jetzt wollen wir die Dame ins Gästezimmer bringen. Sie ist hingefallen, und ich möchte ihr helfen.«
Maja stellte keine Fragen. Sie blickte der Fremden ins Gesicht und streckte ihr die kleine Hand hin.
»Warten Sie«, stieß Martin Brixen hervor. »Ich werde Sie hinauftragen. Er hob sie auf seine kräftigen Arme, als wöge sie rein gar nichts. Maja lief voraus und öffnete die Tür des Gastzimmers, wo ihr Vater die Fremde behutsam auf das Bett gleiten ließ.
»Bleib bei ihr, Maja«, forderte der Doktor das Kind auf. »Ich muss noch einmal hinaus, um den Wagen zu holen. Sie hatte auch eine Tasche.«
»Ja, Vati.«
Die fremde Frau lag mit geschlossenen Lidern auf dem Bett.
»Tut es arg weh?«, fragte Maja mütterlich. »Mein Vati kann ein Pflaster auf dein Knie tun. Es ist vielleicht gar nicht so schlimm.«
Dann warteten die beiden schweigend auf die Rückkehr Dr. Brixens, der die Tasche brachte und aus seiner Praxis Jod und Verbandszeug.
»Sie sind Arzt?«, fragte die junge Frau leise und unsicher.
»Tierarzt. Mein Name ist Dr. Brixen. Die Wundversorgung ist bei einem verletzten Tier auch nicht anders als bei einem Menschen.«
Sie sah ihn an. »Es war nicht Ihre Schuld«, stammelte sie. »Ich bin in der Dunkelheit gestolpert.«
Er nickte. »Ich weiß es. Glücklicherweise konnte ich den Wagen noch rechtzeitig zum Stehen bringen, sonst hätte die Sache für Sie schlimm ausgehen können. Wohin wollten Sie so spät?«
»Ich hatte den letzten Bus verpasst. Wenn ich Ihnen nicht zur Last falle, bleibe ich wenigstens bis zum Morgen.«
Martin Brixen lächelte ein wenig. Sie wirkte auf ihn wie ein scheues gehetztes Reh. »Natürlich bleiben Sie. Wollen Sie Maja und mir auch verraten, wie Sie heißen? Oder ist das ein Geheimnis?«
Ihr Atem ging ein wenig rascher. Es war, als falle es ihr schwer, ihren Namen zu nennen. »Jessica Clausen«, kam es dann sehr leise über ihre blassen Lippen.
»Jessica«, wiederholte Maja langsam. »So einen Namen habe ich noch nie gehört. Jessica – das gefällt mir wirklich.«
Der Doktor sah nun, dass sie etwa Mitte der Zwanzig sein mochte. Sie hatte helles Haar. Ihre braunen Augen bildeten dazu einen interessanten Kontrast.
»Möchten Sie etwas zu trinken haben, Jessica?«, fragte er, weil auch er ihren Namen gut leiden mochte.
»Ein bisschen Wasser vielleicht. Sonst brauche ich nichts.«
Martin ging in die Küche. Als er ein Glas aus dem Schrank nahm, erschien Hermine in einem roten Schlafrock und fragte mit vorwurfsvoller Stimme, was es denn jetzt gebe.
»Eine Verunglückte, Hermine. Ich habe sie oben im Gästezimmer untergebracht und will eben etwas Wasser für sie holen.«
»Ist es mit dem Auto passiert?«, erkundigte sich die Haushälterin entsetzt. »Ich habe kommen sehen, dass das nicht gut geht.«
Martin Brixen schüttelte den Kopf. »Nein, Hermine – sie ist gestürzt. Sonst gar nichts. Wir werden uns ein bisschen um sie kümmern.«
Hermine ließ sich nicht so leicht täuschen. »Ich verstehe«, brummelte sie. »Weil Sie nichts mit der Polizei zu tun haben möchten, auch dann nicht, wenn es nicht Ihre Schuld war. Dass Sie aus der Wirtschaft kamen und sich dann ans Steuer setzten, lässt sich ja wohl kaum leugnen.«
Der Doktor warf ihr einen zornigen Blick zu, weil sie den Nagel auf den Kopf getroffen hatte.
»Es war das letzte Mal. Es wird nicht wieder vorkommen, Hermine«, erklärte er mit fester Stimme. »Sie können sich darauf verlassen.«
Hermine raffte ihren roten Schlafrock zusammen und verließ schweigend die Küche. Dass sie der Versicherung des Doktors keinen Glauben schenkte, war nicht zu übersehen.
Martin Brixen unterdrückte mühsam seinen jäh aufwallenden Zorn. Du wirst es erleben, Hermine, dachte er. Ich werde den Beweis antreten.
Mit dem Wasserglas in der Hand kehrte er zu Jessica Clausen und Maja zurück. Gerührt sah er, dass Maja sanft über das verletzte Knie der jungen Frau strich.
Jessica richtete sich mit seiner Hilfe etwas auf und trank einige Schlucke. »Danke, das tut gut. Darf ich wirklich über Nacht hierbleiben? Es macht doch sicherlich Umstände?«
»Gar nicht, Jessica. Das Zimmer steht leer. Morgen früh können Maja und ich Sie in meinem Wagen an Ihr Ziel bringen.«
Jessica Clausen gab keine Antwort. Dr. Brixen wartete einige Sekunden und fragte sie dann, ob sie glaube, dass sie schlafen könne.
»Ja, ich denke schon«, erwiderte sie leise. »Ich bin noch aufgeregt von dem Unfall, aber allmählich werde ich sicherlich ruhiger werden. Es ist gut, dass ich jetzt ein Dach über dem Kopf habe.«
Woher mag sie kommen, und wohin wollte sie, fragte sich Martin Brixen stumm. Doch es widerstrebte ihm, sie zu bedrängen.
»Du kannst bleiben«, sagte Maja unvermittelt mit ihrem hellen Stimmchen. »Hier wohnt sonst keiner. Nur unsere Hermine. Und ich habe ein Pony draußen im Stall. Mein Vati hat es mir geschenkt. Es heißt Jonathan.«
Jessica lächelte nicht über die spontane kindliche Einladung. Ihr feines Gesicht wurde eher abweisend und verschlossen. »So einfach ist das nicht, Maja«, erklärte sie nur.
Der Doktor griff nach Jessicas Handgelenk und prüfte gewissenhaft ihren Puls. Eine leichte Gehirnerschütterung war nicht unbedingt auszuschließen.
»Versuchen Sie zu schlafen«, riet er ihr. »Das Bad ist genau gegenüber. Sie können mich jederzeit rufen, falls Ihnen übel werden sollte oder falls Sie etwas brauchen sollten. Ich habe einen leichten Schlaf und werde die Tür offen lassen.«
Hilflos schlug sie die Augen nieder.
»Danke«, flüsterte sie. »Ich werde sicherlich nichts brauchen.«
Martin Brixen nahm Majas Händchen. »Komm, Majalein, nun musst du auch wieder ins Bett.«
Maja nickte Jessica zu wie einer guten Freundin. »Gleich wirst du einschlafen, Jessica. Morgen früh tut es bestimmt nicht mehr weh.«
Der Doktor hob sein Töchterchen auf die Arme und trug es ins Kinderzimmer. »Du bist eiskalt geworden, Maja«, stellte er besorgt fest. »Nicht einmal Pantoffeln hast du an.«
»Ich kriege schon keinen Schnupfen, Vati«, behauptete Maja zuversichtlich. »Barfußlaufen ist doch gesund.«
Martin Brixen verbarg sein Lächeln. Er küsste Majas Wange. »Wie kam es, dass du aufgewacht bist, Kleines?«, fragte er liebevoll.
»Ich hatte dich wegfahren hören, Vati, genau wie gestern. Hermine sagte, dass es nicht zu ändern war. Aber ich wollte dich fragen, warum du es getan hast. Ein Ehrenwort muss man doch halten, Vati.«
»Es tut mir leid, Maja. Ich hätte vielleicht zu Hause bleiben sollen. Von jetzt ab kannst du dich darauf verlassen, dass ich mein Wort halte.«
Maja rieb sich nachdenklich die Stirn. »Wenn du nicht weggefahren wärst, hättest du die arme Jessica nicht gefunden«, meinte sie schließlich aufatmend.
Der Doktor war über diese Schlussfolgerung ein wenig betroffen. Doch ehe er etwas entgegnen konnte, fuhr das Kind eifrig fort: »Sie sieht lieb aus, Vati. Wir wollen sie morgen früh fragen, ob sie länger bleiben möchte. Oder glaubst du, dass es ihr bei uns nicht gefällt?«
Der Vater strich über Majas Haar. »Wenn du willst, werden wir sie fragen. Vielleicht braucht sie sowieso ein paar Tage, um sich zu erholen.«
»Hermine muss ihr Tee kochen. Den bringe ich ihr ans Bett«, malte sich Maja die Zukunft aus. »Und wenn ihr noch etwas weht tut, dann musst du ihr einen feinen Verband machen, Vati.«
Es verging eine ganze Weile, ehe Maja sich allmählich beruhigte. Martin Brixen blieb bei der Kleinen, bis sie sich müde zurücklegte und einschlief, den Namen Jessica noch auf den Lippen.
Behutsam stand der Doktor vom Bettrand auf und löschte das Licht. Er fühlte sich erleichtert, dass Maja ihm den Bruch des Ehrenwortes auf so sonderbare Weise verziehen hatte. Sein Entschluss, in Zukunft keine Wirtschaft mehr zu betreten, stand nun noch fester.
Martin suchte sein Schlafzimmer auf, kleidete sich aus, ging ins Bad und trat schließlich noch einmal an die Tür des Gästezimmers. Von drinnen war kein Laut zu vernehmen. Ob Jessica Clausen wohl eingeschlafen war?
Wer mag sie sein?, überlegte er. Warum war sie so spät noch mit ihrer Reisetasche unterwegs? Gibt es eine Familie, die auf sie wartet? Gibt es in ihrem Leben einen Mann, dem sie etwas bedeutet, den sie liebt?
Der einsame Lauscher vor der Tür wusste nicht, ob er jemals Antwort auf seine Fragen erhalten würde. Er wandte sich um und ging in sein Zimmer, die Tür hinter sich offen lassend, wie er es versprochen hatte.
Martin Brixen konnte nicht schlafen in dieser Nacht. Er stand noch mehrmals auf, um an der Tür von Jessicas Zimmer zu lauschen. Ich habe Glück gehabt, sagte er sich dabei und erlebte die Schrecksekunde, als das Mädchen vor seinem Wagen auftauchte, noch einmal. Ein guter Schicksalsstern hat Jessica vor einem schlimmen Unfall bewahrt, und mir eine große Schuld erspart, überlegte er.
*
Maja erwachte am nächsten Morgen sehr früh und erinnerte sich sofort an das, was in der Nacht geschehen war. Wieder einmal schlüpfte sie auf bloßen Füßen aus dem Bett und huschte zu ihrem Vater hinüber, der bereits beim Ankleiden war.
»Ob Jessica geschlafen hat?«, fragte die Kleine aufgeregt. »Darf ich zu ihr gehen?«
»Willst du dich nicht erst anziehen, Maja? Es ist noch ziemlich zeitig. Hermine hat unten gerade erst die Läden hochgezogen.«
»Wir müssen Hermine erzählen, dass Jessica jetzt bei uns wohnt, Vati.«
»Hermine ist nachts in die Küche gekommen, als ich Wasser holte, Kleines. Sie weiß schon Bescheid.«
»Das ist gut. Dann kann sie für Jessica ein feines Frühstück zurechtmachen. Ich ziehe mich jetzt an, Vati.«
Maja verzichtete auf Wasser und Seife. Eilig und geschickt schlüpfte sie in ihre Sachen und war auf diese Weise in wenigen Augenblicken fertig. Ein zweites Mal suchte sie ihren Vater nicht auf, sondern ging schnurstracks zum Gästezimmer, klopfte leise an und öffnete die Tür, ohne auf die Aufforderung zum Eintreten zu warten.
Jessica hatte sich ausgekleidet und trug einen Pyjama. Ihre Sachen lagen ordentlich auf einem Stuhl. Sie blickte dem kleinen Mädchen etwas unsicher entgegen.
Maja nahm davon keine Notiz. »Guten Morgen, Jessica«, sagte sie fröhlich. »Hast du gut geschlafen? Tut dir noch etwas weh? Möchtest du ein feines Frühstück haben?«
Das junge Mädchen unterdrückte einen Seufzer. »Viel geschlafen habe ich nicht, Maja. Mein Kopf tut noch weh. Ich glaube, ich bin gestern Nacht auf den Kopf gefallen.«
»Da müssen wir Vati fragen. Gewiss kann er dir eine Medizin geben. Oder möchtest du ein nasses Tuch für die Stirn haben? Meine Mutti hat das so gemacht, wenn sie Kopfweh hatte.«
»Danke, Maja. Du bist sehr freundlich zu mir. Ein nasses Tuch wäre wirklich gut, glaube ich.«
Maja war zufrieden, dass sie etwas für die Kranke tun konnte. Eilig lief sie ins Zimmer ihres Vaters und holte ohne Erklärung eines seiner großen weißen Taschentücher aus dem Schrank.
»Wozu brauchst du das?«, erkundigte sich Martin Brixen mit krauser Stirn, denn er liebte es nicht, wenn man in seinen Sachen herumkramte.
»Für Jessica, weil sie Kopfschmerzen hat, Vati.«
»Ach so. Sag ihr schon einen Gruß. Ich komme dann gleich zu ihr, wenn es ihr recht ist.«
Maja nickte und ging ins Bad, um das Taschentuch unter dem Wasserhahn anzufeuchten. Dann kehrte sie zu Jessica zurück und bestand darauf, ihr das Tuch selber auf die Stirn zu legen.
»Danke, Maja«, sagte das Mädchen leise.
Das Kind sah sie aufmerksam und besorgt an. »Jetzt wird es bestimmt bald besser, Jessica. Mein Vati kommt nachher zu dir. Weißt du, ich bin froh, dass er gestern Abend draußen war, als du gefallen bist. Eigentlich wollte er nämlich zu Hause bleiben, weil ich nicht gern allein bin, wenn es dunkel ist.«
»Dein Vati ist sehr freundlich zu mir gewesen, Maja. Ich hätte besser auf den Weg achten müssen. Aber ich war sehr müde. Es hätte ein Unglück passieren können.«
Maja lächelte sorglos. »Es ist ja gut ausgegangen, Jessica. Wenn du magst, kannst du bei uns bleiben. Meine Mutti ist nämlich weg.«
Jessica Clausen sah das Kind traurig an. »Wann kommt sie denn zurück, deine Mutti?«, fragte sie.
»Gar nicht mehr. Sie hat uns nicht mehr lieb und will mit einem anderen Mann verheiratet sein«, erklärte Maja trotzig. »Deshalb bin ich nach Sophienlust geschickt worden. Dort sind viele Kinder. Aber zu Hause ist es schöner. Mein Vati hat jetzt Ferien, und ich besuche ihn. Wenn du bleibst, brauche ich vielleicht gar nicht mehr nach Sophienlust zurückzufahren.«
»So einfach ist das sicherlich nicht, mein Kleines. Gefällt es dir denn nicht in Sophienlust?«
»Doch, Jessica, es ist wunderschön dort. Sie haben viele Tiere, und bei Tante Andrea in Bachenau sind noch mehrere Tiere. Ich habe reiten gelernt bei Justus. Und Janosch erzählt uns ganz wunderbare Geschichten.«
»Dann kannst du doch auch wieder hinfahren, wenn dein Vater keinen Urlaub mehr hat, Maja.«
Das kleine Mädchen schob wieder einmal die Unterlippe nach vorn.
»Wenn du hierbleibst, wäre es nicht nötig, weil dann immer jemand Zeit für mich hätte. Ich habe ja jetzt auch mein Pony Jonathan, auf dem ich reiten kann. Magst du Tiere gut leiden, Jessica?«
»Sehr gut sogar.«
»Na, siehst du, darum können wir uns immer gut verstehen«, stellte Maja befriedigt fest. Es hörte sich an, als seien damit alle anstehenden Probleme aus der Welt geschafft.
An der Tür klopfte es. Jessicas blasse Wangen färbten sich etwas dunkler, als sie leise »Herein!« rief.
Martin Brixen trat ein und verbeugte sich höflich. »Wie fühlen Sie sich, Jessica?«, fragte er. »Hat Maja Sie zu früh aufgeweckt?«
»Nein, Vati, Jessica war schon wach«, antwortete Maja an des Mädchens Stelle. »Sie hat nicht gut schlafen können, weil ihr der Kopf wehtut.«
Der Doktor holte sich einen freien Stuhl neben das Bett. »Sie müssen auf den Kopf gefallen sein«, versetzte er leise. »Möchten Sie, dass wir einen Arzt rufen?«
»Nein, bitte nicht«, erklärte das Mädchen hastig. »So schlimm ist es wirklich nicht. Ich würde nur gern noch ein bisschen liegen bleiben.«
»Selbstverständlich müssen Sie liegen bleiben, bis es Ihnen besser geht«, versicherte der Hausherr mit Bestimmtheit.
»Aber es stört vielleicht, Herr Dr. Brixen«, wandte Jessica schüchtern ein. »Ich mache allerlei Umstände. Das möchte ich nicht.«
»Das Gästezimmer steht bei uns meistens leer. Wir finden es richtig nett, dass jetzt einmal jemand darin wohnt, Jessica. Sie brauchen sich wirklich keine Gedanken zu machen. Hier auf dem Lande ist man ziemlich unkompliziert in solchen Dingen. Unsere gute Hermine wird Ihnen jetzt das Frühstück zurechtmachen. Sie sehen, es ist für alles gesorgt.«
Jessica sah ziemlich hilflos aus. »Ich möchte nichts essen, bitte. Nur Durst hätte ich.«
Maja war sofort bei der Sache. »Ich gehe in die Küche zu Hermine, damit sie Tee für dich kocht, Jessica. Magst du Tee?«
»Ja, sehr gern.«
Das Kind verließ mit wichtiger Miene das Zimmer. Es war offensichtlich, dass es für Maja ein echtes Anliegen bedeutete, Jessica Clausen umsorgen zu können.
Martin und Jessica blieben allein.
»Sind Sie sicher, dass Sie keinen Arzt haben möchten?«, wiederholte er seine Frage. »Immerhin bin ich nur Tiermediziner. Sie haben möglicherweise eine leichte Gehirnerschütterung von dem Sturz davongetragen.«
»Ich brauche bestimmt keinen Arzt«, widersprach Jessica mit beinahe fehlender Stimme. »Wenn es eine Gehirnerschütterung wäre, müsste ich mich schlechter fühlen. Wahrscheinlich bin ich auf den Kopf gefallen. Ist es da nicht ganz natürlich, dass er mir nun wehtut?«
»Ich werde den Doktor gewiss nicht gegen Ihren Willen rufen, Jessica«, sagte Martin Brixen und lächelte dazu. »Müssen wir jemanden benachrichtigen? Werden Sie erwartet?«
Ihr hübsches Gesicht verschloss sich jäh. »Nein, es wartet niemand auf mich«, antwortete sie leise. »Ich hatte kein festes Ziel. Eigentlich wollte ich den Bus nehmen. Aber dann fuhr er mir weg, und ich machte mich zu Fuß auf den Weg.«
Der Tierarzt drang nicht weiter in sie. Er gab sich keinem Zweifel darüber hin, dass sie ihm etwas verschwieg. Es war unwahrscheinlich und kaum vorstellbar, dass ein Mädchen wie sie spätabends allein unterwegs war und nicht einmal ein festes Ziel hatte.
»Ich möchte mir ganz gern eine Stellung suchen«, fuhr Jessica nach einer kleinen Pause fort. »Nicht wieder im Büro wie früher, sondern lieber in einem Haushalt. Glauben Sie, dass man hier in der Gegend etwas finden könnte, Herr Dr. Brixen?«
Seine Überzeugung, dass sie ein Geheimnis mit sich herumtrug, wuchs. Dennoch quälte er sie nicht mit neugierigen Fragen.
»Sicherlich lässt sich da etwas tun«, erwiderte er etwas zögernd. »Wir sprechen später noch darüber, wenn es Ihnen besser geht. Zunächst einmal bleiben Sie hier und lassen sich von Maja und Hermine ein bisschen verwöhnen.«
»Aber das kann ich nicht annehmen«, wehrte sie sich, während er in ihren Augen las, dass sie von Herzen gern bleiben wollte.
»Warum nicht? Verlangen Sie, dass ich Ihnen gestehe, warum ich mich verpflichtet fühle, Sie in meinem Haus zu behalten?« Martin Brixen hatte plötzlich das Gefühl, dass er diesem fremden Mädchen Offenheit schuldete. Es sollte in ihm nicht den selbstlosen Wohltäter erblicken, der er gar nicht war.
»Was für einen besonderen Grund könnten Sie haben?«, fragte sie.
»Sehen Sie, es fällt mir nicht leicht, es Ihnen zu sagen. Aber es wird für Sie dann leichter sein, unsere Gastfreundschaft für eine Weile anzunehmen.«
»Wenn Sie nicht davon sprechen möchten, so sollten Sie es nicht tun«, erwiderte Jessica.
Er schüttelte den Kopf. »Ich war mit dem Auto unterwegs, obwohl ich eine Menge Alkohol getrunken hatte. Es wäre für mich als Tierarzt eine schlimme Geschichte geworden, wenn die Polizei sich eingeschaltet hätte. Deshalb war mein erster Gedanke, dass ich Sie ins Haus bringen und Ihnen helfen wollte. So, nun wissen Sie es und können ziemlich schlecht über mich denken, Jessica.«
Sie tat einen tiefen Atemzug. »Ich bin gefallen, und mit Ihrem Wagen hatte das Ganze nichts zu tun, Herr Dr. Brixen«, meinte sie dann. »Sie brauchten die Polizei nicht zu fürchten. Ich finde nicht, dass Sie sich einen Vorwurf zu machen haben.«
»Ich war in einer Wirtschaft, und die Bauern haben genau gewusst, dass ich mehr getrunken hatte, als gut war.«
Ihre Augen schienen etwas dunkler zu werden. »Das sollten Sie nicht tun, Herr Dr. Brixen«, kam es leise über ihre Lippen.
»Es wird auch gewiss nicht wieder vorkommen, Jessica. Ich habe es Maja fest versprochen und wiederhole mein Versprechen jetzt Ihnen gegenüber. Man schafft seine Probleme nicht mit Alkohol aus der Welt. Allmählich beginne ich das einzusehen.«
Zu seiner Verwunderung schien sie ihn gut zu verstehen. »Wenn man nicht mehr weiter weiß, möchte man weglaufen«, erklärte sie traurig. »Aber die Schwierigkeiten kommen am Ende doch immer mit.«
»Wollten Sie auch davonlaufen vor irgendetwas, Jessica?«, wagte er nun doch zu fragen.
Sie senkte die Lider und schwieg. Ihre hübsche Unterlippe schob sich dabei ein wenig wie in kindlichem Trotz nach vorn. Wie Maja, dachte der Doktor und empfand so etwas wie Rührung.
In diesem Augenblick erschienen Maja und Hermine.
Die Haushälterin trug das Tablett. »Guten Morgen«, grüßte sie freundlich. »Hier kommt Ihr Tee, Jessica. Ich darf Sie doch hoffentlich gleich so nennen? Maja hat mir erzählt, dass Sie Jessica heißen. Ich bin die Hermine.«
Martin Brixen war überrascht, mit welcher Aufgeschlossenheit die sonst so zurückhaltende Hermine die ihr völlig Unbekannte willkommen hieß.
»Guten Morgen, Hermine«, antwortete Jessica. »Hoffentlich macht es Ihnen nicht zu viel Mühe, dass ich jetzt hier bin.«
Hermine schmunzelte. »Wir haben gern einmal Besuch, nicht wahr, Maja?«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Maja fröhlich. »Hermine hat dir ganz besonders guten Tee gemacht, Jessica. Aber sie wollte das Tablett lieber selbst die Treppe herauftragen, damit nichts passiert mit der heißen Kanne. Deshalb ist sie mitgekommen.«
Geschäftig rückte Maja einen kleinen Tisch neben das Bett, und Hermine stellte das Tablett darauf.
»Und jetzt lassen wir Jessica allein mit ihrem Tee«, verkündete die Haushälterin mit Bestimmtheit. »Es ist viel zu anstrengend, wenn wir hier zu dritt um das Bett herumstehen.«
Vater und Tochter blieb nichts anderes übrig, als sich Hermines Anordnung zu fügen.
»Unten steht das Frühstück auf dem Tisch«, fuhr Hermine fort. »Es wäre schade, wenn der Kaffee kalt würde.«
Martin Brixen lächelte Jessica zu und ergriff Majas kleine Hand. Hermine übernahm es, die Tür zu öffnen und wieder zu schließen.
Am Frühstückstisch drehte sich die Unterhaltung begreiflicherweise nur um Jessica.
Maja äußerte noch einmal mit Nachdruck ihre Meinung.
»Du musst Jessica bitten, dass sie bei uns bleibt«, forderte sie ihren Vater auf. »Wir brauchen doch jemanden.«
»Vielleicht hat sie etwas anderes vor, Kind«, wandte der Doktor ein.
»Wenn wir sie schön bitten, lässt sie das andere und bleibt hier, Vati. Ich mag sie sehr gut leiden. Sie kann mit mir spielen und Hermine ein bisschen helfen. Tiere hat sie auch sehr gern. Das ist gut wegen Jonathan. Außerdem könnte sie dir ein bisschen in der Praxis helfen. Hermine wird das oft zu viel.«
Der Doktor lachte. »Du denkst, das ginge so einfach, Majalein. Jessica möchte vielleicht gar nicht bei uns bleiben.«
Maja sah ihren Vater zuversichtlich an.
»Doch, Vati, sie möchte bleiben«, versetzte sie mit hellem Stimmchen. »Du hast sie hereingebracht, und nun wohnt sie eben bei uns.«
Martin Brixen trank einen Schluck von Hermines ausgezeichnetem Kaffee. »Vielleicht ist es wirklich so, Majalein«, sagte er nachdenklich. »Ich werde es mit Jessica besprechen, wenn sie sich besser fühlt. Wir müssen ein bisschen Geduld haben.«
Hermine kam herein und stellte die Tassen und Teller zusammen.
»Findest du auch, dass Jessica am besten bei uns bleiben soll?«, fragte Maja altklug.
Der Doktor empfand eine gewisse Verlegenheit. Eben wollte er eine einschränkende Erklärung abgeben, da sagte die Haushälterin in der ihr eigenen gelassenen Art, dass Majas Vorschlag gut sei.
»Wenn Jessica bei uns bliebe, wären Sie am Abend nicht mehr allein, Herr Doktor. Das sollte mich freuen«, fügte sie hinzu.
Martin verstand Hermine sehr genau. Sie wollte andeuten, dass er dann keine Gelegenheit mehr haben würde, in die Wirtschaft zu fahren.
Maja war begeistert. »Siehst du, Vati, Hermine will es genauso wie ich. Jessica muss einfach hierbleiben. Soll ich gleich zu ihr gehen?«
»Nein, Kleines, wir wollen sie jetzt in Ruhe lassen. Wir haben vor dem Frühstück schon viel zu viel auf sie eingeredet«, dämpfte der Vater ihren Eifer. »Du wolltest doch, dass ich es mit ihr bespreche. So wollen wir es auch halten.«
Maja fügte sich. Ihr fiel das Pony Jonathan ein, und sie lief hinaus in den Garten, um ihrem vierbeinigen Freund einen Morgenbesuch abzustatten.
*
Drei Tage vergingen. Maja umsorgte Jessica mit Hermines Unterstützung mit Hingabe. Das Kind verbrachte manche Stunde am Bett des jungen Mädchens, und zwischen beiden festigte sich die spontan entstandene herzliche Freundschaft.
Zwar saß Martin Brixen an den langen Abenden auch jetzt allein im Wohnzimmer, doch fühlte er nicht mehr den Wunsch, wegzufahren und sich bei den Männern an der Theke über seine Verlassenheit hinwegzutrösten. Vielmehr beschäftigten sich seine Gedanken intensiv mit Jessica Clausen. Majas Wunsch, das Mädchen möge im Haus bleiben, war auch sein eigener geworden. Die Vorstellung, dass er Maja dann bei sich behalten könnte, machte ihn froh.
In seiner Schreibtischschublade befanden sich die Unterlagen von Sentas Anwalt. Senta begehrte die Scheidung und setzte sein volles Einverständnis als selbstverständlich voraus. Er hatte die Schriftsätze schon durchgelesen, konnte sich aber noch nicht zu einem klaren Ja durchringen.
Wenn Jessica bliebe, wäre es leichter, dachte er am Abend des dritten Tages. Zwar weiß ich nichts von ihr, doch ich habe zu diesem Mädchen alles Vertrauen der Welt. Ist in ihren kleinen Händen so viel Kraft, dass sie mir helfen könnte, die Vergangenheit zu überwinden und einen neuen Anfang zu wagen?
Es war, als hätten seine Gedanken sie herbeigerufen. Ein leichtes Klopfen an der Tür, und Jessica stand vor ihm. Sie trug einen einfachen Baumwollrock und an den bloßen Füßen leichte Sandalen. Ihr helles Haar lag in leichten Wellen auf ihren Schultern, und ihre braunen Augen schauten ihn ein wenig ängstlich an.
»Störe ich?«, fragte sie zögernd.
»Gar nicht, Jessica. Allerdings glaubte ich, dass Sie längst schlafen würden. Nun sind Sie aufgestanden. Ist das nicht viel zu anstrengend?« Er rückte ihr einen Sessel zurecht.
»Mir geht es wieder gut, Herr Doktor«, erwiderte sie mit einer gewissen Entschiedenheit. »Ich komme erst jetzt herunter, weil ich warten wollte, bis meine kleine Maja schläft. Im Laufe des Tages gibt es keine Möglichkeit, ungestört mit Ihnen zu sprechen.«
Er nickte ihr zu. »Das ist richtig, Jessica. Maja weicht Ihnen nicht von der Seite. Sie verstehen es großartig mit meiner Kleinen.«
»Es ist nicht schwer, mit einem Kind gut auszukommen«, erwiderte das Mädchen heiter. »Das Zusammensein mit Maja macht mich glücklich. Ich bin seit Langem nicht so sorglos gewesen wie hier bei Ihnen.«
Der Doktor sah sie an. »Auch für Maja und mich ist es erfreulich, Sie im Hause zu haben, Jessica.«
»Trotzdem möchte ich morgen aufbrechen«, erklärte sie unsicher. »Ich darf nicht länger bleiben. Schon heute hätte ich aufstehen können, aber ich blieb liegen, weil ich mich vor der Zukunft fürchtete.«
»Und jetzt fürchten Sie sich nicht mehr?«
»Doch. Aber es muss irgendwie weitergehen. Ich werde mir eine Tätigkeit hier in der Gegend suchen. Könnten Sie mir einen Rat geben?«
Martin Brixen schüttelte den Kopf. »Nein, so nicht, Jessica. Aber ich möchte Sie – zugleich in Majas Namen – bitten, bei uns zu bleiben. Wir brauchen Sie.«
»Sie haben doch Hermine, die alles besorgt.«
»Hermine ist schon ziemlich alt, und manches fällt ihr schwer. Für Maja ist sie nicht die geeignete Gefährtin, weil sie oft ernst und traurig ist. Ich will Ihnen reinen Wein einschenken, Jessica. Meine Frau hat mich verlassen. Jetzt geht es um die Scheidung.«
Jessica nickte. »Maja hat davon gesprochen.«
»Maja hat auch den Vorschlag gemacht, dass Sie hierbleiben sollen, Jessica. Für das Kind würde sich auf diese Weise die Möglichkeit ergeben, wieder bei mir zu bleiben. Zwar habe ich im Kinderheim Sophienlust einen Platz für Maja, doch fehlt mir mein Töchterchen sehr.«
»Es kommt mir vor, als wollten Sie es mir nur leicht machen, Ihre Hilfe anzunehmen.« Jessica verschränkte die Hände im Schoß und mied den bittenden Blick des Doktors.
»Manchmal ist es so, dass man sich gegenseitig braucht, Jessica«, sagte Martin Brixen herzlich. »Könnten wir es nicht wenigstens auf einen Versuch ankommen lassen? Ich habe schon früher daran gedacht, Hermine eine Hilfe zu geben. Wären Sie denn auch bereit, mir in meiner Praxis ein wenig zur Hand zu gehen?«
»Ich kann gut mit Tieren umgehen«, erklärte Jessica. »Was hätte ich bei Ihnen zu tun? Natürlich verstehe ich nichts von dem, was ein Tierarzt in seiner Praxis an Aufgaben zu erfüllen hat.«
»Oh, das lernt sich rasch. Ich brauche manchmal jemanden, der ein ängstliches Tier festhält und beruhigt. Eine Gefahr ist bestimmt nicht damit verbunden. Aber es wäre wichtig, dass Sie keine Angst haben. Denn das spüren die Tiere sofort und werden dann nervös.«
»Ich glaube, dass ich keine Angst hätte«, meinte Jessica. »Es würde mich interessieren.«
»Sehen Sie, das hört sich gut an«, freute sich Martin. »Meine gute Hermine hilft mir nur in absoluten Notfällen. Sie ist ein Goldstück, aber sie hat nun einmal kein besonders glückliches Verhältnis zu kranken Tieren, sodass ich meist allein zurechtkommen muss, was nicht einfach ist.«
Jessica überlegte eine Weile. Schließlich rang sie sich zu einem Entschluss durch. »Wären Sie damit einverstanden, dass ich zur Probe bleibe, Herr Dr. Brixen?«
»Selbstverständlich, Jessica. Ich kann kaum von Ihnen erwarten, dass Sie sich zu einer Tätigkeit fest verpflichten, die Sie nicht kennen.« Er stand auf, holte Papier und Bleistift und schrieb eine Zahl auf das Blatt, das er ihr dann reichte.
»Dies wären meine Gehaltsvorstellungen, Jessica. Könnten Sie sich damit einverstanden erklären?«
Sie errötete. »Das ist ziemlich viel, Herr Dr. Brixen«, stammelte sie. »Im Haushalt werden keine großen Summen bezahlt, und ich brauche auch nicht sehr viel.«
»Ich suche keine Hausangestellte, sondern einen Menschen, der unser Familienleben teilt, Maja betreut und erzieht, und mir außerdem bei meiner Arbeit behilflich ist, Jessica. Sie sehen, ich erwarte allerlei von Ihnen.«
»Wird Hermine denn damit einverstanden sein?«, erkundigte sich Jessica etwas verzagt. »Sie ist schon lange bei Ihnen und hat sich daran gewöhnt, allein zu regieren.«
»Hermine hat gleich am ersten Tag dafür plädiert, dass Sie hierbleiben sollen, Jessica. Haben Sie etwa den Eindruck gewonnen, dass Sie sich mit ihr nicht verstehen könnten?«
»Sie ist sehr lieb zu mir gewesen in diesen Tagen. Trotzdem werde ich oft nicht klug aus ihr, weil sie so selten etwas sagt.«
»Man muss sich an ihre Art gewöhnen, Jessica. Ich könnte mir mein Haus ohne die gute Hermine nicht mehr vorstellen.«
Jessica faltete das Blatt zusammen. »Dann wäre also abgemacht, dass ich bleibe. Ich gebe Ihnen morgen meine Papiere. Hoffentlich kann ich alles recht für Sie machen, Herr Dr. Brixen. Ich werde mir viel Mühe geben.«
»Davon bin ich überzeugt, Jessica. Es wird auch darauf ankommen, ob wir Ihre Erwartungen erfüllen. In ein paar Wochen setzen wir uns dann noch einmal zusammen und tauschen unsere Erfahrungen aus. Falls Sie von einem Tag auf den anderen von uns weggehen möchten, dann haben Sie vorerst selbstverständlich das Recht dazu.«
Sie machte eine rasche Bewegung mit der Hand.
»Das werde ich sicherlich nicht tun, Herr Doktor. Ich bin sehr gern hier und möchte bleiben.«
»Darf ich eine Frage stellen, Jessica?«, bat er.
»Ja – welche?«
Er las in ihrem Gesicht eine gewisse Unruhe. Schon tat es ihm leid, dass er das Thema berührt hatte. Dennoch sprach er das aus, was er gern wissen wollte: »Warum wollen Sie nicht mehr im Büro und in der Stadt tätig sein, Jessica? Gibt es dafür einen besonderen Grund?«
Sie senkte die Lider, sodass er ihre Augen nicht mehr sehen konnte. »Es gefiel mir nicht mehr, ständig das Gleiche zu tun. Ich fühlte mich sehr einsam unter den vielen Menschen, die mir fremd blieben. So gab ich alles auf und wollte etwas gänzlich anderes beginnen«, entgegnete sie mit stockender Stimme.
Martin Brixen war ein wenig betroffen, denn er hörte aus jedem ihrer Worte, dass dies nicht die Wahrheit sein konnte. Es gab also einen bestimmten Grund, doch sie wollte ihn nicht nennen.
Ich müsste mich über sie erkundigen, überlegte er. Möglicherweise ist es leichtfertig, dass ich sie bei mir aufnehme und ihr Maja anvertraue. Doch er wies den Gedanken sogleich wieder von sich. Eine innere Stimme sagte ihm, dass er Jessica vertrauen dürfe.
»Haben Sie niemanden zurückgelassen?«, wandte er sich noch einmal an das Mädchen. »Sie sind jung und sehr hübsch. Es erscheint mir unvorstellbar, dass Sie keine Freunde haben, die Sie nun vermissen.«
»Ich habe zuletzt keine Bekannten und Freunde mehr gehabt. Wahrscheinlich passe ich nicht in eine Stadt wie Stuttgart.«
Sie hatte auf jede Frage eine Antwort bereit, doch er wusste mit absoluter Sicherheit, dass es nicht die richtige Antwort war.
»Nun, so müssen wir gemeinsam den neuen Anfang hier versuchen, Jessica«, erklärte er freundlich. »Maja wird sehr glücklich sein. Ich will ihr jedoch mitteilen, dass noch nicht feststeht, ob Sie für immer bleiben können.«
Jessica neigte zustimmend den blonden Kopf. »Vielleicht sollten Sie auch Majas Platz in Sophienlust nicht endgültig aufgeben«, riet sie ihm. »Falls ich wieder fortgehe …«
Martin sprang auf und trat vor sie hin. Er legte eine Hand auf ihre Schulter und rüttelte sie ein wenig. »Warum denken Sie schon daran, Jessica? Sie sollen bleiben! Ich möchte, dass Sie am Abend mit mir hier zusammensitzen, damit wir uns unterhalten können, Sie wissen nicht, wie bitter es ist, wenn man allein den Abend verbringt und von der Einsamkeit gequält wird wie von einer Krankheit.«
Sie erwiderte seinen Blick mit großem Ernst. »Doch, Dr. Brixen, ich kenne das«, flüsterte sie.
Es schien ihm, als wäre durch dieses Wort eine Kameradschaft ganz besonderer Art zwischen ihnen entstanden. Er spürte, dass dieses Mädchen ihm helfen konnte, sein Schicksal zu meistern.
Jessica stand auf. »Dann will ich jetzt schlafen gehen«, meinte sie. »Morgen fange ich an und werde mich bei Hermine erkundigen, was ich zu tun habe. Ich will auch nach Stuttgart schreiben, damit meine Koffer geschickt werden. Ich habe sie dort eingestellt.«
»Gute Nacht, Jessica. Sie müssen mir versprechen, dass Sie morgen noch nicht viel arbeiten werden. Ich werde es auch Hermine sagen. Ein paar Tage Schonung brauchen Sie noch.«
Sie lächelte. »Ich bin ganz gesund, Doktor. Es ist gut, dass ich nun weiß, wohin ich gehöre. Ich danke Ihnen, dass Sie es mit mir versuchen wollen.«
»Sie brauchen mir doch nicht zu danken, Jessica.«
Ein Abglanz ihres Lächelns blieb im Zimmer zurück, nachdem sie hinausgegangen war. Martin Brixen fühlte sich seltsam befreit. Mit einem Schlage schien die Zukunft klar vor ihm zu liegen.
Trotz der vorgerückten Stunde ging er zu seinem Schreibtisch und nahm den dicken Umschlag mit den Schriftsätzen von Sentas Anwalt heraus. Er las die sauber beschrifteten Bögen nicht mehr durch. Senta wollte die Freiheit, also war es nicht mehr als recht und billig, wenn er sich ihren Wünschen fügte. Sie verzichtete auf jegliche Rechte an Maja, und sie forderte auch sonst nichts von ihm. Das konnte sie, weil sie über das Vermögen ihres Vaters verfügte, von dem er niemals einen Cent angerührt hatte.
Martin setzte seine Unterschrift unter die Blätter, wie der Anwalt es in seinem höflichen Anschreiben von ihm erbeten hatte. Nun konnte die Angelegenheit ihren Lauf nehmen.
Mit Verwunderung stellte der Doktor fest, dass es ihm leicht geworden war, seine Einwilligung zu geben. Noch vor wenigen Tagen, bei Eintreffen des umfangreichen Schreibens, war es ihm unmöglich erschienen, mit einigen Federstrichen auf die Bindung zu verzichten, die ihm einmal unendlich viel bedeutet hatte.
Senta hat mich nie geliebt, erkannte er nun ohne sonderliche Trauer. Wäre nicht dieser Mann gekommen, hätte es auch ein anderer sein können. Wer ihre Leidenschaftlichkeit zu entflammen weiß, der gewinnt sie für sich. Wahrscheinlich wird sie nicht einmal glücklich werden.
Er schob die Papiere in einen Umschlag und schrieb die Adresse darauf. Morgen würde er die Sendung abschicken. Und morgen würde Jessica ihre Tätigkeit hier beginnen. Morgen …
*
Nick war ehrlich enttäuscht. Seine Mutter bemühte sich, Verständnis in ihm für die veränderte Lage zu wecken.
»Schau, Nick, wir haben gewusst, dass Maja nur vorübergehend zu uns kommen würde.«
Nick fand sich nicht so rasch damit ab. »Aber es war ausgemacht, dass Maja nur während des Urlaubs Ihres Vaters nach Hause fahren sollte, Mutti. Nun ist er wieder in seiner Praxis und hat dazu noch die vielen Fahrten in die Umgebung, genau wie Hans-Joachim. Da kann er sich doch bestimmt nicht richtig um Maja kümmern.«
Für Nick, den Erben von Sophienlust, stand nun einmal fest, dass es keinen besseren Platz auf der Welt geben könne als das schöne alte Herrenhaus seiner Urgroßmutter.
Denise hatte am Morgen einen Brief von Dr. Brixen erhalten, in dem er ihr mitgeteilt hatte, dass er ein junges Mädchen eingestellt habe und Maja deshalb nun bei sich behalten könne. Denise fand die neue Lösung erfreulich, denn sie wusste ja, wie sehr dem Doktor das Kind gefehlt hatte. Falls er auf diese Weise die Möglichkeit fand, seine Schwierigkeiten zu meistern, so war die Aufgabe, die Sophienlust zufiel, bereits gelöst.
Die Familie von Schoenecker saß im Moment in Schoeneich um den Abendbrottisch. Henrik verspeiste mit Behagen die dritte Portion Bratkartoffeln mit Ei, während Nick vor lauter Anteilnahme das Essen vergaß.
»Maja hat doch ihren Vater«, warf Alexander von Schoenecker begütigend ein. »Sie steht schließlich nicht allein auf der Welt wie Pünktchen oder die Langenbach Geschwister.«
Nick schüttelte unzufrieden den Kopf mit den dunklen Locken. »Es wäre etwas anderes, wenn Majas Vater wieder heiraten wollte. Dann hätte Maja richtige Eltern und brauchte Sophienlust nicht mehr. Aber so … Das ist nichts Halbes und nichts Ganzes.«
»Dr. Brixen hat darum gebeten, Maja einen Platz freizuhalten, falls sein Experiment mit dem jungen Mädchen nicht glücken sollte«, berichtete Denise. »Es kann also gar nichts passieren, Nick.«
»Sie dürfen Maja nicht hin und her schubsen«, äußerte Nick vorwurfsvoll. »Am Ende weiß sie gar nicht mehr, wohin sie gehört.«
Denise nickte ihrem Sohn zu. »Hoffen wir, dass die neue Regelung sich für Maja als Segen erweist, Nick. Wir wollen doch niemanden mit Gewalt in Sophienlust festhalten.«
»Na ja, das natürlich nicht«, räumte Nick ein. »Aber ob das Mädchen es richtig mit Kindern versteht, weiß doch kein Mensch.«
»Ich denke, Dr. Brixen wird sich die Sache gründlich überlegt haben, Nick«, beruhigte seine Mutter ihn.
»Wenn du meinst …« Nick war noch nicht überzeugt. »Wird man denn wenigstens erfahren, ob es klappt mit dem Mädchen und so?«
»Wir werden versuchen, mit Dr. Brixen in Verbindung zu bleiben, Nick. Er würde Maja wohl ohnehin noch einmal zu uns bringen, wenn es nötig werden sollte.«
*
Jessica hatte sich im Doktorhaus in kürzester Zeit eingelebt und in ihren neuen Aufgabenbereich hineingefunden. Sie übernahm die Hälfte aller Hausarbeit und vor allem das ziemlich anstrengende Putzen der Praxis. Sie kümmerte sich außerdem um Maja und sorgte in aufopfernder Weise dafür, dass das kleine Mädchen jederzeit zu seinem Recht kam.
Martin Brixen hatte nun nicht mehr das Gefühl, dass sein Haus leer und verödet sei, wenn er von seinen Fahrten heimkehrte. Oft genug saß sein Töchterchen hinter ihm im Wagen, und daheim wartete Jessica auf sie beide. Jessica stand des Morgens als Erste auf und hatte meist schon eine Menge getan, wenn Hermine erschien. Jessica stellte auch frische Blumen auf den Tisch, sorgte für das Pony Jonathan und hatte des Abends Zeit für den Doktor, wenn er sich mit ihr unterhalten wollte. Sie hatte eine Menge gelesen und gab sich große Mühe, sich über alles, was zu einer tierärztlichen Praxis gehörte, ausreichende Kenntnisse zu verschaffen.
Maja hing mit besonderer Liebe an der neuen Hausgenossin. Hin und wieder verzichtete die Kleine sogar auf eine Ausfahrt mit dem Vater, weil sie es noch schöner fand, mit Jessica Einkäufe zu machen oder ihr zuzuschauen, wenn sie mit geschickten Händen im Garten arbeitete. Dabei konnte Jessica Geschichten von verzauberten Prinzen und zarten Waldfeelein erzählen, die Maja faszinierend fand. Natürlich waren diese Geschichten ganz anders als die des guten Janosch in Bachenau, doch sie übten einen besonderen Reiz auf Maja aus, die nicht müde wurde, Jessica zuzuhören.
Des Abends war es nun Jessicas Amt geworden, mit dem Kind zu beten. Meist sang sie dann noch mit ihrer klaren Stimme ein Lied vom Mond und den goldenen Sternen am Himmel, ehe sie Maja einen Kuss gab und leise hinausging.
Der Versuch mit Jessica war also voll und ganz gelungen. Trotzdem verschob Martin Brixen ein endgültiges Gespräch mit Jessica von einem Tag zum anderen, von einer Woche zur nächsten. Vielleicht würde Jessica das Thema von sich aus aufgreifen – oder sie hatte sich möglicherweise noch nicht entschieden. Denn es gab einiges in Jessicas Leben, worüber der Doktor nichts erfahren konnte. Sie erhielt Post, die sie so hastig an sich nahm, dass niemand Gelegenheit bekam, auch nur einen Blick darauf zu werfen. Zweimal war ein telefonischer Anruf für sie gekommen. Beide Male hatte der Doktor zuerst mit dem Anrufer gesprochen. Kein Zweifel, dass es sich um einen Mann gehandelt hatte.
Es war beunruhigend für Majas Vater, dass er mit Jessica über alles und jedes offen reden konnte – nur nicht über ihr persönliches Leben. Noch immer wusste er so gut wie nichts über sie. Doch es widerstrebte ihm nach wie vor, sie mit Fragen in die Enge zu treiben.
Nicht aus Neugier interessierte er sich für ihr Schicksal und gewiss nicht, weil er misstrauisch gegen sie war. Vielmehr hätte er herzlich gern an dem, was sie beschäftigte, Anteil genommen, um ihr möglicherweise mit Rat und Tat zur Seite zu stehen oder ihr anderweitig zu helfen. Denn seine Zuneigung zu dem Mädchen wuchs von Tag zu Tag. Unmerklich gewann in ihm die Vorstellung Raum, dass er Jessica eines Tages zu seiner Frau machen würde. Er wagte es zwar nicht, sich diesen Wunsch voll einzugestehen, doch er träumte von dem blonden Mädchen mit den braunen Augen. Sein Herz schlug rascher, sobald er Jessica sah oder ihre Stimme hörte.
Auch Maja liebte Jessica aus ganzem Herzen. Sie machte ihr kleine Geschenke und bewies ihr jeden Tag aufs Neue, wie glücklich sie darüber war, dass sie nun zu Hause sein konnte.
»Du darfst nie mehr fortgehen, Jessica«, sagte Maja oft. Dann pflegte Jessica das Kind in die Arme zu nehmen und ihm ins Ohr zu flüstern, dass sie nicht wisse, ob sie für immer bleiben könne.
*
Es kam eine schwüle Gewitternacht, in der Maja aufwachte und sich ein wenig fürchtete. Sie kuschelte sich unter der Decke zusammen und versuchte wieder einzuschlafen. Doch der Wind rüttelte am Fenster, und die grellen Blitze erhellten das Zimmer so, dass Maja es auch bei geschlossenen Augen bemerkte.
»Ich gehe jetzt zu Jessica«, sagte die Kleine halblaut, um sich selbst Mut zu machen. »Ich mag nicht allein sein.«
Auf nackten Füßen kletterte sie aus ihrem Bett und lief auf den Flur. Erschrocken blieb sie stehen, denn an dem Fenster, das zum Garten blickte, sah sie eine Gestalt. Maja wollte aufschreien, aber die Angst schnürte ihr die Kehle zu.
Ein neuer Blitz zuckte auf. Nun erkannte Maja Jessica. Trotz des Sturmes hatte diese das Fenster geöffnet und rief leise etwas hinaus. Dann warf sie ein Päckchen hinunter.
»Okay«, erklang eine gedämpfte Männerstimme.
Jessica schloss das Fenster und wandte sich um. Nun bemerkte sie das erschrockene Kind, das beide Händchen vor den Mund presste.
»Jessica – oh, Jessica, ich fürchte mich so sehr.«
Jessica hob Maja auf die Arme und trug sie in ihr Zimmer, wo sie sie mit in ihr Bett nahm. »Du brauchst doch keine Angst zu haben«, tröstete sie das zitternde Kind. »Es ist nur ein Gewitter. Davon bist du wahrscheinlich wach geworden.«
Maja schluckte ein paarmal, ehe sie sprechen konnte. »Warum war ein Mann im Garten, Jessica?«, fragte sie scheu. »Was hast du ihm zugeworfen?«
Jessica strich über Majas Haar. »Kindchen – du hast geträumt«, sagte sie beschwichtigend. »Ich war im Flur, weil das Fenster offen stand. Im Garten war niemand.«
»Aber ich habe seine Stimme gehört, Jessica«, beharrte Maja auf ihrer Meinung.
»Das war der Donner, Kleines. Jetzt bist du hier bei mir und brauchst dich nicht zu fürchten.«
Allmählich wurde Maja ruhiger. Sie legte sich in Jessicas Bett zurecht und schloss die Augen. »Kann man denn so etwas nur träumen, Jessica?«, fragte sie schläfrig.
»Man träumt die seltsamsten Dinge, mein Kleines«, erwiderte Jessica sanft. »Denke nicht mehr daran, und versuche zu schlafen. Du darfst hierbleiben bis zum Morgen. Dann bin ich gleich bei dir, falls du noch einmal träumen solltest.«
Maja wurde müde und schlief ein. Sie schlief so fest, dass sie das Gewitter nicht mehr hörte und auch von den Blitzen nicht mehr gestört wurde. Doch neben ihr lag Jessica wach und lauschte dem viel zu raschen Schlag ihres Herzens. Er darf nicht noch einmal hierherkommen, dachte sie, von banger Sorge erfüllt. Was soll ich nur tun?
Am Morgen schien die Sonne, und der Garten war vom Gewitterregen herrlich erfrischt. Maja lief zu ihrem Pony in den Stall und fragte es, ob es sich bei dem Gewitter gefürchtet habe, so allein. Doch Jonathan schnaubte fröhlich und bettelte wie gewohnt um Zucker.
Beim Frühstück berichtete Maja von ihrem seltsamen Traum.
»Gut, dass Jessica dich geholt hat, Majalein«, erklärte Martin Brixen und bedachte das junge Mädchen mit einem dankbaren Blick. »Ich habe fest geschlafen und von Blitz und Donner nichts bemerkt.«
Jessica trank einen Schluck Kaffee. Ihre Hand zitterte so sehr, dass sie etwas Kaffee verschüttete.
»Es war kein guter Traum«, meinte Maja leise. »Ich will nicht, dass jemand zu dir kommt, Jessica.«
»Niemand wird kommen, Kleines«, sagte Jessica hastig. »Träume sind keine Wirklichkeit. Man muss sie so schnell wir möglich vergessen.«
Später stand Jessica neben dem Doktor am Behandlungstisch in der Praxis und reichte ihm einige Instrumente für einen einfachen Eingriff. Hatte er es am Frühstückstisch noch übersehen, so bemerkte er nun, dass ihre Hand nicht ruhig war.
»Sie haben schlecht geschlafen wegen des Kindes?«, fragte er mitleidig.
Jessica hielt die Lider beharrlich gesenkt.
»Es macht nichts«, erwiderte sie so leise, dass er sie kaum verstehen konnte.
Schweigend beendeten sie ihre Arbeit. Jessica betreute den Dackel auf dem Behandlungstisch so freundlich und liebevoll, wie sie das immer tat. Erst zu einem späteren Zeitpunkt sollte sich Martin Brixen an Majas Traum und Jessicas Nervosität wieder erinnern.
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Maja war beim Bauern Brauner gewesen und hatte ihm im Auftrag ihres Vaters Medizin für ein Kälbchen gebracht. Sie war sehr stolz, dass sie einen so wichtigen Auftrag erhalten hatte, hielt sich aber gegen ihre Gewohnheit nicht sonderlich lange bei Herrn Brauner auf.
»Willst du nicht ein Glas Saft trinken in der Küche?«, fragte der kinderfreundliche Bauer verwundert. »Warum hast du es denn so eilig?«
»Weil ich Jessica entgegengehen will, Herr Brauner. Sie wollte etwas einkaufen, aber ich konnte nicht mit ihr gehen, weil ich mit der Medizin zu Ihnen sollte.«
»Jessica ist vorhin hier vorübergekommen, Maja. Ich glaube, sie wollte über die Koppel zum Wäldchen. Ich habe sie zufällig gesehen. Sie hatte es genauso eilig wie du jetzt.«
Maja sah den Bauern ungläubig an. »Aber im Wäldchen kann man nichts kaufen, Herr Brauner«, wandte sie ein.
»Lauf doch hinterher!« Der Bauer lachte gutmütig. »Über die Koppel ist sie gegangen. Darauf kannst du dich verlassen.«
Maja rannte grußlos davon. Eine dumpfe Erinnerung überkam sie. Schon einmal war sie über die Koppel zum Gemeindewäldchen gelaufen und hatte dann ihre Mutter mit dem fremden Mann im Auto gesehen. Aber Jessica hatte sicher zum Förster gewollt.
Das Kind schlüpfte durch das Gatter und dachte noch einmal, sicherlich wollte sie zum Förster. Die Kühe weideten unbekümmert und wandten ihre schweren Köpfe nicht. Maja durchquerte die Koppel und kletterte schließlich durch das andere Gatter. Heftig atmend stand sie auf dem schmalen Waldweg und schlug die Richtung zum Forsthaus ein.
Schon nach hundert Metern entdeckte sie Jessica. Rasch drückte sie sich gegen einen Baumstamm und stand ganz still.
Ja, dort ging Jessica mit einem Mann. Dass es nicht der Förster war, konnte Maja deutlich erkennen. Jessica redete mit dem Fremden und gab ihm etwas in die ausgestreckte Hand.
Wird er sie jetzt küssen, wie der Mann im Auto meine Mutti geküsst hat, dachte das verschreckte Kind.
Doch nichts dergleichen geschah. Jessica sprach noch eine Weile mit dem Unbekannten, dann wandte sich dieser um und schritt eilig davon.
Maja presste sich eng an den rauen Stamm, als der Unbekannte unmittelbar an ihr vorüberkam. Nein, sie hatte ihn gewiss noch nie gesehen. Wer mochte es sein?
Maja hielt vorsichtig Ausschau. Nun kam Jessica näher. Sie ging sehr viel langsamer als der Fremde, und ihr Gesicht sah unendlich traurig aus.
Das Kind wollte auf sie zulaufen und sie fragen, was dies alles zu bedeuten habe, da begann Jessica plötzlich zu weinen. Große Tränen rannen über ihre Wangen. Nun scheute sich Maja, sie anzusprechen. Sie verbarg sich genauso vor ihr, wie sie sich vor dem Fremden versteckt hatte. Atemlos wartete sie, bis Jessica ein Stück weitergegangen war. Dann hastete sie zur Koppel zurück. Als sie bemerkte, dass Jessica eben diesen Weg nehmen wollte, entschied sie sich für den anderen, denn sie wollte Jessica nun unter keinen Umständen begegnen.
Es war, als wiederhole sich alles, was schon einmal geschehen war. Maja schaute nicht rechts noch links und stürmte zu ihrem Vater in die Praxis.
Dr. Brixen untersuchte eben einen Kanarienvogel.
»Vati, ich …«, stieß Maja hervor.
Der Tierarzt hob beschwichtigend die Hand. »Warte, Maja. Erst muss ich hier fertig sein.«
Maja blieb an der Tür stehen, bis die alte Dame mit ihrem gefiederten Liebling hinausgegangen war. Dann warf sie sich schluchzend an die Brust ihres Vaters.
Behutsam tröstete Martin Brixen das tief erregte Kind. Es dauerte ein Weilchen, ehe Maja sprechen konnte. Diesmal verschwieg sie ihr Erlebnis nicht.
»Jessica war mit einem fremden Mann im Wald, Vati. Damals in der Nacht war der Mann auch da. Ich habe es nicht geträumt. Sie gibt ihm jedes Mal etwas. Vati, Jessica hat uns nicht lieb! Sie will fort wie unsere Mutti.«
Enttäuschung und Zorn wallten in Martin auf. Er dachte an die geheimnisvollen Telefonanrufe für Jessica, an ihre Post und vor allem daran, dass sie beharrlich über ihr persönliches Leben schwieg.
»Wir werden nicht warten, bis sie weggeht, Maja«, erklärte er hart. »Ich spreche mit ihr. Sie soll noch heute fort.«
Maja weinte bitterlich. »Aber ich habe sie lieb, Vati. Was soll denn werden, wenn sie nicht mehr bei uns ist? Dann mag ich auch nicht zu Hause bleiben.«
Der Doktor unterdrückte einen Seufzer. »Möchtest du wieder nach Sophienlust, mein Liebes?«, fragte er.
»Ja, Vati, ich will zu Tante Isi, zu Nick, Henrik und allen anderen Kindern zurück. Es …, es war so schrecklich, als ich Jessica im Wäldchen sah. Warum hat sie mich denn nicht mehr lieb?«
Martin Brixen gab sich alle Mühe, sein Töchterchen zu beruhigen. Für ihn selbst bedeutete die Erkenntnis, dass Jessica Heimlichkeiten dieser Art hatte, eine Enttäuschung. Er musste sich eingestehen, dass er dem Mädchen zu Unrecht vertraut hatte. Am wenigsten verzieh er Jessica die Verzweiflung, in die Maja durch das Erlebnis gestürzt worden war.
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Die Auseinandersetzung zwischen Dr. Martin Brixen und Jessica Clausen war heftig und unerfreulich. Der Tierarzt machte dem jungen Mädchen bittere Vorwürfe wegen seiner Unaufrichtigkeit und erklärte das gegenseitige Beschäftigungsverhältnis unter Berufung auf die vereinbarte Probezeit als beendet. Da er nicht kleinlich sein wollte, händigte er Jessica das volle Gehalt für zwei Monate aus, bestand aber darauf, dass sie sofort ihre Sachen packte und das Haus verließ.
Jessica ließ die Anklagen und Vorwürfe des Doktors über sich ergehen und unternahm keinen Versuch, sich zu rechtfertigen. Je lauter Martin Brixen auf sie einredete, desto scheuer und ängstlicher stand sie ihm gegenüber, fast wie ein Kind, das sich vor Schlägen fürchtete. Vergeblich versuchte der Doktor, sie aus ihrer Reserve herauszulocken. Sie schien entschlossen, ihr Geheimnis zu hüten und mitzunehmen.
Maja versteckte sich in der Küche bei Hermine. Als ein Taxi vorfuhr und Jessica das Haus verließ, verbarg das Kind das Gesicht in den Händen und weinte laut auf.
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Dr. Brixen telefonierte mit Denise von Schoenecker. Ohne Einzelheiten zu nennen, teilte er ihr mit, dass der Versuch mit der neuen Hausgenossin leider ein Fehlschlag geworden sei.
Selbstverständlich erklärte sich Denise bereit, Maja wieder in Sophienlust aufzunehmen. Sie plagte den Tierarzt auch nicht mit überflüssigen Fragen, sondern betonte, dass es ja so vereinbart gewesen sei. Majas Zimmer warte auf die Kleine, und die anderen Kinder würden sich freuen, die mutige kleine Ponyreiterin wiederzusehen.
So kehrte Maja noch einmal ins Haus der glücklichen Kinder zurück, doch sie war jetzt nicht so unbeschwert fröhlich wie früher. Zwar sprach sie nicht über die Enttäuschung, die sie erlebt hatte, doch konnte man deutlich merken, dass das Erlebnis ihr Gemüt überschattete. Nicht einmal ihre gelegentlichen Besuche bei Andrea von Lehn im Tierheim Waldi & Co. heiterten sie auf. Und wenn der alte Janosch seine herrlichen Geschichten erzählte, dann machte Maja ein Gesicht, als höre sie gar nicht zu und denke an etwas anderes.
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Dr. Brixen litt nicht weniger als sein Töchterchen unter dem, was geschehen war. Er ging seinem Beruf nach, aber er fürchtete die Heimkehr von seinen Fahrten, denn auch die alte Hermine schlich bedrückt durchs Haus und redete noch weniger als sonst.
Der Versuchung, wieder im Alkohol zeitweiliges Vergessen zu suchen, widerstand Martin allerdings. Er dachte an das feste Versprechen, das er Maja gegeben hatte. Dieses Wort wollte er unter keinen Umständen brechen, auch wenn es ihm noch so schwerfallen mochte.
So saß er wieder allein in seinem Wohnzimmer und grübelte darüber nach, warum nun alles zu Ende war. Schloss er die Augen, so meinte er, Jessica vor sich zu sehen. Er sehnte sich nach ihrer Nähe, nach ihrer Stimme, nach den vielen kleinen Dingen, die sie Tag für Tag getan hatte, ohne dass man es recht bemerkt hatte.
Ich habe sie geliebt, gestand er sich ein. Aber ich werde niemals Glück in der Liebe haben. Senta ging fort, und Jessica traf sich hinter meinem Rücken mit einem anderen Mann.
Er bemühte sich, Jessica zu vergessen, doch es wollte ihm nicht gelingen. Seine Stimmung war so niedergedrückt, dass er sich an den Wochenenden nicht einmal zu einem Besuch in Sophienlust aufraffen konnte.
Gerade in diesen Tagen kam dann die Benachrichtigung über seinen Scheidungstermin. Von seinem Anwalt wusste er, dass es sich nur noch um eine Formsache handelte. Er musste nach Stuttgart fahren und persönlich erscheinen. Eine letzte Begegnung mit Senta, dann würden ihre Wege für immer getrennt sein.
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Am festgesetzten Tag schloss Dr. Brixen die Praxis und fuhr nach Stuttgart. Er hatte Hermine nichts über den Zweck seiner Fahrt gesagt, doch er glaubte zu spüren, dass die getreue Haushälterin wieder einmal genau Bescheid wusste.
Er selbst empfand keinerlei Trauer oder Bedauern. Sein Herz war wie von einem eisernen Panzer umschlossen. Es berührte ihn kaum, als er Senta sah. Sie lächelte ihm zu, doch er blieb ernst. Es gab keine Brücke der Verständigung mehr zwischen ihr und ihm. Senta gehörte längst zu dem anderen Mann.
Genau eine Viertelstunde dauerte es, dann war seine Ehe rechtskräftig geschieden, und Senta hatte auf ihr Töchterchen verzichtet. Es wirkte ernüchternd, wie eilig und sachlich der Fall abgehandelt worden war.
Senta entfernte sich hastig an der Seite ihres Anwalts. Sein eigener Rechtsvertreter drückte ihm die Hand und verabschiedete sich. Etwas verloren blieb Martin im Gang des Gerichtsgebäudes zurück. Er las die Ankündigungen weiterer Verhandlungstermine, wobei ihm bewusst wurde, dass seine eigene Angelegenheit nur eine unter vielen gewesen war.
Plötzlich stutzte er. Der Name Clausen, gesperrt gedruckt, zog magisch seine Aufmerksamkeit auf sich. Obwohl er sich sagen musste, dass der Name nicht selten sei, überkam ihn die seltsame Gewissheit, dass die nur eine halbe Stunde später anberaumte Verhandlung für ihn von Bedeutung sei.
Martin wartete die Zeit ab und mischte sich unter die wenigen Zuhörer, die in den Saal gingen, als die Türen geöffnet wurden. Der Angeklagte, Benno Clausen, war wiederholt straffällig geworden. Er hatte sich Unterschlagungen, Scheckfälschungen und andere Delikte zuschulden kommen lassen. Es bedeutete für Martin Brixen kaum eine Überraschung, als Jessica Clausen als Zeugin aufgerufen wurde. Jessica, Benno Clausens Schwester, hatte in früheren Verhandlungen von ihrem Recht der Aussageverweigerung Gebrauch gemacht. Doch jetzt war sie bereit, alles zu Protokoll zu geben, was sie wusste.
Mit angehaltenem Atem lauschte Martin Brixen der geliebten Stimme, die mutlos und traurig durch den nüchternen Saal klang. »Ich habe früher mit meinem Bruder einen gemeinsamen Haushalt geführt«, berichtete sie, ohne zu ahnen, dass Martin unter den Zuhörern saß. »Meine Versuche, ihn auf den rechten Weg zu bringen, blieben vergeblich. Er nahm mir mein Geld weg und forderte von mir, dass ich ihn decken sollte. Schließlich brach ich alle Zelte hinter mir ab und suchte mir eine Tätigkeit auf dem Land, um endlich Ruhe zu haben. Doch mein Bruder spürte mir nach und bedrängte mich mit Geldforderungen. Er drohte, meinem Arbeitgeber mitzuteilen, welche Vorstrafen er habe. Natürlich wollte er es so darstellen, als sei ich an seinen Vergehen beteiligt gewesen. Wie hätte ich das Gegenteil beweisen sollen?« Sie hielt inne, fuhr jedoch sogleich wieder fort: »Mein Bruder tauchte in der Nähe des Hauses meines Arbeitgebers auf und wurde gesehen. Auf Grund eines Missverständnisses verlor ich daraufhin meine Anstellung. Deshalb habe ich nun keine Veranlassung mehr, meinen Bruder durch Schweigen zu schützen. Ich glaube vielmehr, dass er bestraft werden muss, damit er zur Besinnung kommt und später einen neuen, guten Anfang finden kann.«
Am liebsten wäre der Tierarzt aufgesprungen, um Jessica sofort um Verzeihung zu bitten. Doch das war in diesem Augenblick nicht möglich. Zäh und langatmig rollte die Verhandlung gegen Benno Clausen ab. Nach anderthalb Stunden wurde sie auf einen späteren Termin vertagt.
Martin Brixen verließ unter den ersten Zuhörern den Raum und vertrat Jessica, die sehr schnell davongehen wollte, den Weg.
»Jessica, warum hast du mir nicht gesagt, dass es dein Bruder war?«, fragte er, ohne zu merken, dass er du zu ihr sagte.
Seine Hände umklammerten die ihren so fest, dass es in ihrem blassen Gesicht schmerzlich zuckte.
»Ich …, ich hatte Angst«, antwortete sie stockend. »Wie kommt es, dass Sie …«
Martin Brixen war es, als werde er im dämmerigen Korridor des Gerichtsgebäudes von einem strahlend hellen Licht geblendet. Er kümmerte sich nicht um die fremden Menschen, sondern zog das Mädchen, das er liebte, in seine Arme, als wären sie beide ganz allein hier.
»Ich war so hässlich zu dir, Jessica«, flüsterte er an ihrem Ohr. »Du musst mir verzeihen. Willst du mit mir zurückkommen, tapfere Jessica?«
Sie schaute zu ihm auf, und er konnte in ihren Augen lesen, dass sie seine Liebe erwiderte.
»Ich schäme mich so«, kam es zögernd über ihre Lippen. »Aber ich habe alles versucht, Benno zu ändern …«
Die Leute wurden aufmerksam, und Martin zog Jessica mit sich fort. In einem stillen Café wiederholte er seine Frage.
»Willst du meine Frau werden, Jessica? Willst du Majas Mutter sein? Wir haben uns beide so nach dir gesehnt. Wir brauchen dich und deine Liebe.«
Jessica legte ihre kleine Hand in die seine. »Ich habe dich sehr lieb, Martin«, antwortete sie.
Leise erzählte er ihr, dass ihn der Scheidungstermin an diesem Tag ins Gerichtsgebäude geführt und der Name Clausen seine Aufmerksamkeit geweckt habe.
»So habe ich es also Benno zu danken«, erwiderte Jessica bewegt. »Gerade ihm, der mir so viel Kummer gemacht hat. Die Wege unseres Schicksals scheinen oft unbegreiflich.«
»Du sorgst dich um ihn?«
»Er ist mein Bruder, Martin. Darüber kann ich nicht hinweggehen.«
Der Doktor nickte ihr zu. »Wir werden gemeinsam versuchen, für ihn eine Existenz zu finden, sobald die Strafe verbüßt ist. Du kannst auf mich zählen, Jessica.«
Ihre Augen leuchteten dankbar auf. »Mir erscheint nun alles so leicht und einfach, nachdem du endlich die Wahrheit kennst.«
»Du hättest mir von Anfang an sagen sollen, warum du auf der Flucht warst, Jessica. Das schlimme Missverständnis zwischen uns wäre auf diese Weise vermieden worden, und Maja hätte nicht so viel zu weinen brauchen.«
»Arme kleine Maja. Ist sie wieder in Sophienlust?«
Er nickte und lächelte. »Wir werden gemeinsam hinfahren, um unser Kind abzuholen, Jessica. Ich möchte, dass Frau von Schoenecker dich kennenlernt. Auch mit meinen Freunden, Hans-Joachim und Andrea von Lehn, sollst du zusammentreffen.«
»Ach, Martin, ich wage noch nicht daran zu glauben, dass es so viel Glück für mich gibt.«
»Wir wollen unser Glück mit beiden Händen festhalten, Jessica«, gab er leise zurück. »Auch ich hatte zuletzt die Hoffnung verloren.«
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Majas zweiter Abschied von Sophienlust wurde turbulent und heiter. Es gab ein Verlobungsfest, an dem alle Kinder teilnahmen und zu dem sogar der alte Janosch erschien, um seine Glückwünsche in wohlgesetzten Worten darzubringen.
Denise von Schoenecker tauschte mit ihrem Mann einen warmen Blick des Einverständnisses. Jessica Clausen war gewiss die richtige Mutter für Maja. Daran konnte es keinen Zweifel geben. Man brauchte nur das glückselige Gesicht des wie durch Zauberkraft verwandelten Kindes anzuschauen.
»Ist Jonathan noch im Stall, Vati?«, fragte Maja in das fröhliche Durcheinander hinein. »Was hat mein Pony die ganze Zeit ohne mich angefangen?«
»Jonathan steht bei Herrn Brauner, damit er ein bisschen Gesellschaft hat. Aber wir werden ihn zurückholen, damit du wieder reiten kannst wie in Sophienlust.«
Maja wandte sich Jessica zu. »Ich freue mich, dass du uns lieb hast, Jessica«, sagte sie in ihrer kindlichen Offenheit. »Jetzt darfst du nie mehr von uns fortgehen.«
»Ich verspreche es, Maja«, gab die junge Frau feierlich zurück.
Maja stand auf und trat dicht neben Jessicas Stuhl. Sie schlang die Ärmchen um Jessicas Hals und flüsterte ihr etwas ins Ohr, was sonst niemand verstand. Doch Martin Brixen ahnte, dass sein Töchterchen nach dem Fremden gefragt hatte.
Jessica strich über Majas Haar und antwortete mit gesenkter Stimme. Am Lächeln seines Kindes konnte der Doktor erkennen, dass Maja nun an das neue Glück zu glauben vermochte, nicht anders als er selbst.
Endlich kam die Stunde des Aufbruchs. Majas Koffer wurde in den Wagen gelegt, und die Kinder sangen ein Abschiedslied.
»Komm uns einmal besuchen, Martin«, rief Hans-Joachim von Lehn aus, der mit Andrea ebenfalls anwesend war. »Wir wollen einander nicht wieder gänzlich aus den Augen verlieren.«
»Ja, wir kommen gern einmal«, versprach Dr. Brixen. »Und ihr solltet euch mein Haus auch bei Gelegenheit anschauen.«
Das Auto setzte sich nun langsam in Bewegung.
Nick trat neben seine Mutter. »Jetzt bin ich zufrieden, Mutti«, erklärte er. »Diesmal wird Maja sicherlich nicht wiederkommen, denn nun hat sie eine neue Mutter gefunden.«
Denise zog ihren großen Jungen näher an sich.
»Ich bin auch glücklich, dass Maja nicht mehr traurig zu sein braucht«, erwiderte sie.
»Weißt du, warum Frau Clausen erst weggegangen und dann wieder zurückgekehrt ist, Mutti?«, erkundigte sich Nick, der es nun einmal liebte, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Denise von Schoenecker schüttelte den Kopf. »Nein, Nick, darüber hat Dr. Brixen nicht gesprochen. Man muss nicht unbedingt alles wissen.«
Nick seufzte. »Es hätte mich aber wahnsinnig interessiert, Mutti«, gestand er freimütig.