Читать книгу Sophienlust Staffel 16 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 9
Оглавление»Was ist los?«, fragte Michael Langenbach, als Sascha von Schoenecker den kleinen Wagen rechts heranfuhr und langsam abbremste.
»Merkst du das denn nicht?«, erwiderte der lang aufgeschossene Student und zog eine Grimasse. »Der linke Hinterreifen ist hin.«
Auf dem Rücksitz des hochbetagten Autos saß zwischen Koffern und Taschen Hella Graff, die ebenfalls in Heidelberg studierte.
»Hoffentlich bin ich nicht schuld«, sagte Hella besorgt. »Mit mir und meinem Gepäck ist dein Rolls Royce bestimmt überfordert.«
Sascha drehte sich zu ihr um und schüttelte den Kopf. »Mit deinem Fliegengewicht hat das nichts zu tun, Hella.Wahrscheinlich lag etwas auf der Straße. Das wird sich noch herausstellen. Jetzt heißt es vorerst: Ärmel hoch und Rad wechseln. Davon sind die anwesenden Damen natürlich ausgenommen.«
»Ich helfe aber gern, wenn ich mich nützlich machen kann«, erbot sich die blonde Studentin.
»Wir zwei Männer schaffen das schon«, versicherte Michael und warf seiner bildhübschen Freundin einen verliebten Blick zu, ehe er ausstieg. Sascha war bereits dabei, den Kofferraum auszuräumen, denn das Reserverad und die Werkzeugtasche befanden sich zuunterst.
Auch Hella kletterte aus dem Auto. Da sie nichts tun konnte, setzte sie sich am Straßenrand ins Gras. Sie war klug genug, die beiden Freunde jetzt nicht durch Zwischenfragen zu stören. Man sah Sascha an, dass die Panne ihn nicht gerade in die rosigste Laune versetzte. Michael dagegen nahm den Zwischenfall von der heiteren Seite.
Aufmerksam schaute Hella zu, wie Sascha und Michael zu Werke gingen. Sie würde nun noch etwas Geduld aufbringen müssen, bis sie Schoeneich und Sophienlust kennenlernen konnte. Ein verträumtes Lächeln umspielte ihren hübschen Mund.
Michael Langenbach hatte die Idee gehabt. Hella wusste, dass seine jüngeren Schwestern Angelika und Vicky im Kinderheim Sophienlust lebten. Nach dem tragischen Tod ihrer Eltern bei einem Lawinenunglück hatten die drei Geschwister im ›Haus der glücklichen Kinder‹ eine neue Heimat gefunden. Sascha und Michael hatten gemeinsam das Abitur bestanden und studierten nun zusammen in Heidelberg. Seine Ferien verbrachte Michael stets bei den Eltern seines Freundes. Auf diese Weise blieb die Verbindung zu seinen Schwestern erhalten.
Michael hatte Hella oft von Sophienlust erzählt. Als sich herausstellte, dass Hella nicht wusste, was sie in den Semesterferien machen sollte, hatte er die Gelegenheit sofort ergriffen. Er hatte die Sache mit seinem Freund besprochen und dann einen Brief an Denise von Schoenecker geschrieben. Da das Schreiben nicht gerade Michaels starke Seite war, musste sie ihm das besonders hoch anrechnen. Übrigens hatten die beiden Freunde ihr vorher kein Wort von dem Plan verraten.
Deshalb bedeutete es für Hella eine Überraschung, als sie von Saschas Mutter einen herzlich gehaltenen Brief erhielt. Denise von Schoenecker sprach darin eine Einladung für die Semesterferien aus. Hella könne Unterkunft im Kinderheim Sophienlust finden und sich dort nützlich machen. Gerade während der Urlaubszeit der Angestellten sei eine zusätzliche Kraft willkommen.
Nun befand sie sich also mit Sascha und Michael auf dem Weg nach Sophienlust. Die beiden Freunde sollten auf Gut Schoeneich, dem Wohnsitz von Saschas Eltern Unterkunft finden.
»Reifenpanne?«, erklang plötzlich dicht neben ihr eine Jugendstimme.
Hella fuhr zusammen. Sie hatte nicht bemerkt, dass sich ein weiterer Zuschauer zu ihr gesellt hatte. Ein Bub lag neben ihr im Gras und hatte die Ellbogen aufgestützt. Er trug einen ziemlich verwaschenen Jeansanzug und dazu einen passenden Schlapphut, der ihm ein verwegenes Aussehen verlieh.
»Wo kommst du her?«, fragte sie verwundert.
Der Junge lachte verschmitzt. »Das hast du gar nicht gehört, nicht wahr? So machen es die Indianer.«
Hella nickte mit ernster Miene. »Wohnst du hier in der Nähe?«, fragte sie. Sie schätzte den Knirps auf fünf oder sechs Jahre. Er hatte ein ausdrucksvolles Gesicht mit intelligenten Augen, in denen sie heimliche Trauer zu entdecken glaubte.
»Nein. Ich wohne woanders.«
»So? Dann bist du wohl auch mit dem Auto da?« Unwillkürlich blickte sich Hella suchend um.
»Ein Mann hat mich ein Stück mitgenommen«, berichtete der Junge treuherzig. »Kann ich mit euch weiterfahren?«
Hella schien es sonnenklar, dass hier etwas nicht stimmte. Sie griff in ihre Handtasche und holte eine Tafel Schokolade hervor.
»Magst du?«
Mit seinen schmutzigen Fingern stopfte der Junge sich drei Stücke auf einmal in den Mund. Er war offensichtlich hungrig.
»Sagst du mir, wie du heißt?«, fragte Hella vorsichtig.
»Dirk Möller«, antwortete der Junge mit vollem Mund.
»Weißt du auch, wo du wohnst?«
»Klar – in Stuttgart. Aber da wollte ich nicht mehr bleiben. Deshalb bin ich weggegangen.«
»Wohin willst du denn?«
»Zu meinem Vati natürlich. Ich mag nicht mehr bei Tante Jo und Onkel Friedrich bleiben. Weißt du, sie zanken sich immer. Tante Jo hat mich bloß genommen, weil sie meinem Vati einen Gefallen tun wollte. Eigentlich sind Kinder eine schwere Last. Verstehst du das? Ich bin zwar schon ziemlich groß, aber doch lange nicht so schwer wie Onkel Friedrich.«
Hella verkniff sich das Lachen. »Deine Tante meint, dass man mit Kindern eine Menge Arbeit hat.«
»Ich glaube, sie mag mich nicht. Aber egal, ich gehe einfach zu meinem Vati.«
Hella bot ihm noch mehr Schokolade an. Diesmal bedankte er sich dafür.
»Wer bist du eigentlich?«, erkundigte er sich, ehe er das nächste Stück in den Mund schob.
»Ich heiße Hella Graff.«
»Fahrt ihr vielleicht nach Afrika?«
Hella lachte. »Nein, Dirk, nach Afrika bestimmt nicht. Das wäre für das kleine Auto viel zu weit. Außerdem muss man zwischendurch übers Wasser. Was willst du denn in Afrika?«
»Mein Vati ist doch in Afrika.« Das hörte sich beinahe vorwurfsvoll an. Musste seine neue Freundin nicht wissen, wo sein Vater sich aufhielt?
»Ich verstehe«, sagte Hella. »Weißt du die genaue Adresse? Afrika ist ziemlich groß.«
»Das Land heißt Ghana. Ich werde es schon finden.«
»Vielleicht wäre es besser, wenn wir deinem Vater schreiben, damit er dich holt. Am schnellsten kommt man dorthin mit einem Flugzeug.«
Dirks Augen leuchteten auf. »Mit dem Flugzeug würde ich gern zu ihm reisen. Aber ich glaube, das kostet ziemlich viel Geld. Ich habe bloß einen Euro.«
So weit waren sie in ihrer Unterhaltung gekommen, als Sascha und Michael mit verschmierten Händen herantraten, um zu melden, dass der Wagen wieder startklar sei. Sie waren so intensiv beschäftigt gewesen, dass der Knirps ihnen bis jetzt nicht aufgefallen war.
Michael räusperte sich. »So schnell bandelst du also mit fremden Herren an, Hella!«, scherzte er.
Die Studentin zauberte aus ihrer Tasche zwei Erfrischungstücher hervor und reichte sie den beiden erfolgreichen Handwerkern. »Hier, putzt euch erst einmal ab.«
Sie blickte Dirk an und zog ein drittes Tuch hervor. »Dir kann es auch nichts schaden, wenn du deine Hände abwischst«, meinte sie und riss die kleine Packung auf.
»Willst du uns deinen Freund nicht vorstellen?«, fragte Sascha.
»Natürlich, er heißt Dirk Möller und befindet sich unterwegs nach Afrika.«
Sascha stieß einen langgezogenen Pfiff aus.
»Da hast du dir allerlei vorgenommen, Dirk«, erklärte er.
Hella überging Saschas Bemerkung. Sie wandte sich an den Knirps, der mit Hingabe seine Hände abrieb und dabei immer wieder an dem Tüchlein schnupperte.
»Sie heißen Sascha und Michael, Dirk«, sagte sie freundlich. »Wenn wir sie schön bitten, nehmen sie dich bestimmt ein Stück mit. Zufällig fahren wir nämlich zum Haus der glücklichen Kinder. Dort könntest du vielleicht über Nacht bleiben oder auch noch länger, bis wir mit deinem Vati in Verbindung treten können.«
»Was ist das – das Haus der glücklichen Kinder?« Dirk sah misstrauisch aus.
»Schau dir’s doch an«, munterte ihn Sascha auf. »Es hat bis jetzt noch jedem gefallen, der dort gewesen ist.«
Sascha und Michael hatten auch ohne lange Erklärungen sofort begriffen, dass es sich bei Dirk um einen kleinen Ausreißer handelte. Was lag näher, als ihn mitzunehmen? Von Sophienlust aus würde man gewiss die erforderlichen Nachforschungen anstellen können. Dass Kinder im Allgemeinen nur dann wegliefen, wenn sie dafür einen Grund hatten, wussten Michael und Sascha sehr wohl. Oft genug war der Anlass für solch eine Flucht ins Ungewisse recht traurig.
Wenigstens sah Dirk Möller gut ernährt aus. Auch machte er nicht den Eindruck eines misshandelten Kindes. Aber es stand für die drei Studenten fest, dass sie Dirk mitnehmen und der Obhut Denise Schoeneckers anvertrauen mussten.
»Es gibt Ponys, auf denen die Kinder reiten dürfen«, sagte Michael. »Das würde dir bestimmt Spaß machen.«
Dirk nickte. »Ich bin schon einmal geritten. Aber das ist lange her.«
»Man kann im Park spielen, im See baden, sich die Tiere ansehen. Obst gibt es aus dem Garten, und man ist nie allein, weil eine Menge Kinder da sind«, fuhr Michael fort. »Ich zum Beispiel war auch dort, als ich noch zur Schule musste.«
»Sophienlust – das hört sich lustig an«, meinte Dirk.
»Es ist auch lustig dort«, bekräftigte Sascha. »Hella will ihre Ferien in Sophienlust verleben. Sie kennt es auch noch nicht. Aber sie freut sich schon darauf.«
Dirk blinzelte Hella zu. »Ehrlich? Bleibst du in Sophienlust bei den Kindern?«
»Ja, Dirk«, erwiderte Hella. »Ich bin eingeladen worden. Wenn du mitkommst, könnten wir uns noch eine Menge erzählen.«
Dirk stand auf. »Ich möchte mit dir fahren, Hella«, sagte er mit Entschiedenheit. Seine Augen waren vertrauensvoll auf die blonde Studentin gerichtet und seine kleine Hand griff nach der ihren.
»Da könnte man glatt eifersüchtig werden«, rief Michael vergnügt aus.
»Was hat er damit gemeint?«, fragte Dirk unsicher.
Hella rückte ihm den blauen Schlapphut gerade. »Michael hat nur Spaß gemacht, Dirk. Wir freuen uns alle drei, dass du mitfahren willst. In Sophienlust werden sie bestimmt staunen.«
Sascha machte eine beruhigende Handbewegung. »Über so etwas wundert sich in Sophienlust niemand, Hella. Jetzt bin ich eigentlich froh über die Reifenpanne. Wie hätten wir Dirk sonst treffen können?«
»Da hast du allerdings recht«, pflichtete Hella ihm bei. »Wer weiß, wer ihn an unserer Stelle mitgenommen hätte!«
Dirk mischte sich mit unschuldvoller Miene ein. »Jemand wäre bestimmt gekommen«, behauptete er voller Zuversicht. »Der Mann, mit dem ich zuerst gefahren bin, war sehr nett zu mir. Aber dann hat ihm eine Dame zugewinkt. Die wollte auch mitfahren. Es war wirklich genug Platz in seinem großen Auto. Trotzdem musste ich aussteigen. Er sagte, ich würde bestimmt ein anderes Auto zum Weiterfahren finden.«
Die drei Studenten tauschten stumme Blicke.
»Packen wir’s also«, ermunterte Sascha dann die Reisegesellschaft. »Wir haben noch ein ganzes Stück zu fahren. Wie wär’s jetzt mit deiner Schokolade, Hella? Ich hab ein bisschen Hunger.«
Hella hob die Schultern. »Tut mir leid, Sascha. Dirk hat alles aufgegessen. Er war ziemlich hungrig.«
Michael schüttelte den Kopf. »So was!«, schalt er gutmütig. »Will mir die Freundin ausspannen und isst uns die Schokolade weg.«
»Ist er jetzt böse?«, erkundigte sich Dirk besorgt.
»Aber nein, Dirk, das war nur Spaß«, beruhigte ihn Michael.
Sie stiegen ein. Es war nicht ganz einfach, zwischen dem Gepäck auf dem Rücksitz ein Plätzchen für Dirk zu schaffen. Ganz eng kuschelte der Bub sich an seine neue Freundin.
»Euer Auto ist zwar viel kleiner und gar nicht so schön wie das von dem Mann heute früh«, sagte Dirk. »Aber ich finde es bei euch viel gemütlicher.«
»Umso besser.« Sascha lachte. »Ich wäre nämlich beleidigt, wenn dir mein Wagen nicht gefiele, Dirk.«
Endlich konnte die Fahrt fortgesetzt werden. Unterwegs erzählte Hella Graff dem Buben die Geschichte von Sophienlust. Gespannt hörte Dirk ihr zu.
»Weißt du, da war einmal eine nette alte Dame. Ihr gehörte das Landgut Sophienlust und das schöne große Haus. Als sie starb, fiel dieser herrliche Besitz an einen Jungen, der so alt war wie du.«
»Ich bin fünf und werde sechs«, schaltete Dirk sofort ein.
»Nick war genau fünf«, rief Sascha über die Schulter zurück.
»Wie kann ein kleiner Bub ein Haus und ein Landgut bekommen?«, fragte Dirk mit runden Augen.
»Die alte Dame war seine Urgroßmutter. Sie wollte, dass aus dem Haus ein Kinderheim werden sollte. Nicks Mutter kam also mit dem Jungen nach Sophienlust und machte daraus ein Heim für Kinder, die keine Eltern mehr haben.«
»Ich habe keine Mutti mehr. Aber mein Vati ist in Afrika.«
»Für Kinder wie dich ist Sophienlust auch da«, meldete sich Michael zum Wort.
»Wenn es schön dort ist, bleibe ich ein bisschen«, antwortete Dirk bedächtig. »Wenn jemand an meinen Vati schreiben würde, wie es mit Tante Jo und Onkel Friedrich ist, dann kommt er vielleicht und holt mich nach Afrika. Erzähl noch ein bisschen, Hella.«
»Nun ja, so viel ist gar nicht mehr zu berichten, Dirk. Nicks Mutti war sehr einsam, weil Nicks Vater nicht mehr lebte. Nach einer Weile lernte sie Saschas Vater kennen, der ganz in der Nähe ein Gut hat. Sascha und seine Schwester Andrea hatten damals keine Mutti mehr, genau wie du.«
Dirk war ganz bei der Sache. »Haben sie dann Hochzeit gemacht?«, rief er begeistert aus.
»Erraten.« Hella lachte. »Sie hatten sich lieb und heirateten.«
»Wie der Prinz und die Prinzessin in meinem Märchenbuch!«
»Ja, Dirk, genauso. Nun hatte Nick wieder einen Vati.«
»Und Sascha und seine Schwester bekamen eine neue Mutti. Da haben sich natürlich alle gefreut.«
»Sehr, Dirk«, bestätigte Sascha. »Ich musste nämlich in eine Internatsschule gehen, meine Schwester auch. Nur in den Ferien konnten wir zu Hause sein. Das gefiel uns gar nicht. Sobald wir wieder eine Mutti hatten, durften wir daheimbleiben. Übrigens haben wir etwas später noch einen kleinen Bruder bekommen. Er heißt Henrik. Du wirst ihn ja kennenlernen.«
»Nick auch – dem das Haus gehört?«
»Ja, gewiss, auch Nick. Er ist jetzt schon sehr groß und sieht beinahe erwachsen aus.«
»Dann ist es schon lange her?«
»Ja, Dirk, schon ziemlich lange.«
»Schade«, seufzte Dirk. »Ich hatte mich gerade ein bisschen gefreut, dass mein Vati vielleicht auch eine neue Mutti für mich finden könnte. Aber es war eben bloß in eurer Geschichte so. Jetzt passiert so etwas nicht mehr.«
Hella zog den kleinen Burschen unwillkürlich fester an sich. »Wissen kann man so etwas nie«, flüsterte sie ihm ins Ohr.
Nick, Pünktchen, Angelika, Vicky und einige andere Kinder saßen auf den flachen Stufen vor dem Portal des Herrenhauses von Sophienlust und langweilten sich. Seit mehr als einer Stunde warteten sie auf die Ankunft der Heidelberger Studenten. Angelika und Vicky waren besonders ungeduldig, weil sie ihren großen Bruder nun schon recht lange nicht mehr gesehen hatten. Nick war gespannt auf die Studentin, die in Sophienlust für die Dauer der Semesterferien Einzug halten sollte. Mit seiner besonderen Vertrauten Pünktchen hatte er im Flüsterton Mutmaßungen darüber angestellt, ob Michael sich mit Hella Graff wohl verloben werde.
»Immer noch nicht?« Frau Rennert, die Heimleiterin, steckte den Kopf aus dem Fenster. »Wo sie nur bleiben?«
»Bestimmt ist Saschas Auto unterwegs stehen geblieben«, erklärte Nick sorglos. »Man wundert sich, dass das Ding überhaupt noch fährt.«
Angelika bekam ängstliche Augen. »Wenn aber was passiert ist«, rief sie aus.
»Bestimmt nicht«, tröstete Frau Rennert. »Ihr solltet euch etwas vornehmen. Es hat doch keinen Zweck, dass ihr hier wie angewachsen sitzt.«
»Sie wären bestimmt enttäuscht, wenn wir sie nicht richtig empfangen, Tante Ma«, behauptete Vicky. »Mir würde es jetzt gar keinen Spaß machen, etwas zu spielen. Wir haben schon so lange gewartet, nun bleiben wir auch hier.«
Die Geduld der Kinder wurde glücklicherweise nicht mehr lange auf die Probe gestellt. Plötzlich schoss Henrik von Schoenecker wie eine Rakete um die Ecke des Gebäudes. Er hatte von einem Baum im Park aus wie ein Späher Ausschau gehalten.
»Sie kommen«, keuchte er atemlos. »Es sind aber vier im Wagen. Sie bringen ein Kind mit.«
»Ein Kind!«
»Sitzt hinten neben der Studentin«, berichtete Henrik mit wichtiger Miene.
»Vielleicht ist es das Kind der Studentin«, überlegte Nick. »Macht nichts. Wir haben genug Platz. Aber sie hätte Mutti wenigstens vorher schreiben sollen, dass sie ihr Kind mitbringen will.«
Für weitere Vermutungen blieb keine Zeit, denn schon bog der kleine Wagen in die Allee ein, um schließlich in unmittelbarer Nähe der Kinder zu halten. Die Sophienluster riefen Hurra und Willkommen. Michael umarmte seine Schwestern und hob Vicky sogar auf den Arm, obwohl sie dazu eigentlich längst zu groß war.
Sascha begrüßte Nick und Henrik. Die Brüder schüttelten sich nur die Hände. Ihr Verhältnis war von Zuneigung und Kameradschaft geprägt, aber für Zärtlichkeiten hatten sie nicht viel Sinn.
Es war Nick, der sich auf seine Pflicht als Hausherr besann. Er wandte sich Hella Graff zu, die eben ausgestiegen war. Dirk stand neben ihr und hielt ihre Hand.
»Herzlich willkommen in Sophienlust, Frau Graff«, sagte Nick höflich. »Frau Rennert erwartet Sie schon. Meine Mutti kommt etwas später, um Sie zu begrüßen.«
Hella reichte dem Gymnasiasten die Hand. Ihre blauen Augen suchten den Blick seiner dunklen. »Ich nehme an, du bist Nick«, antwortete sie. »Oder muss ich Sie sagen?«
»Immer noch du«, erwiderte Nick vergnügt. »Haben Sie Ihren Sohn mitgebracht?«
Hella, Sascha und Michael lachten schallend. Nick blickte sie der Reihe nach an. Er fand die drei etwas albern.
»Nein, Nick, wir haben Dirk Möller unterwegs getroffen und mitgenommen«, erklärte Sascha schließlich. »Er war unterwegs zu seinem Vati. Da schlugen wir ihm vor, zunächst in Sophienlust Station zu machen.«
Nick biss sich auf die Unterlippe. Er schaute Hella verlegen an. »Entschuldigen Sie bitte«, stotterte er.
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Ich wäre stolz, wenn ich einen Jungen wie Dirk hätte«, versicherte Hella fröhlich. »Wir verstehen uns nämlich großartig. Nicht wahr, Dirk?«
Dirk antwortete nicht, doch er sah sie mit strahlendem Blick an. Das sagte mehr als viele Worte.
Henrik ergriff Dirks Hand. »Fein, dass du jetzt bei uns bist.«
Dirk ließ sich von Henrik in den Kreis der Kinder ziehen, die ihm ihre Namen nannten. Als Dirk nach den Ponys fragte, brachen sie gemeinsam mit dem Jungen in Richtung zu den Ställen auf.
Frau Rennert trat aus dem Portal. Noch einmal gab es eine herzliche Begrüßung. Da Dirk nicht mehr dabei war, konnte Sascha ihr ganz offen sagen, dass sie einen kleinen Ausreißer mitgebracht hätten, der nach Stuttgart zu gehören scheine, dort aber Schwierigkeiten mit seinem Onkel und seiner Tante habe.
Tante Ma seufzte ein bisschen. »Da werden wir gleich mit der Polizei Verbindung aufnehmen müssen, Sascha. So etwas bringt eine Menge Wirbel mit sich. Aber es ist ein Glück, dass ihr den Jungen mitgebracht habt. Wer weiß, was ihm zustoßen hätte können!« Sie wandte sich Hella zu.
»Ihr Zimmer ist schon fertig, Frau Graff. Ich hoffe, dass es Ihnen bei uns in Sophienlust gefallen wird.«
Hella nickte. »Bis jetzt finde ich es wunderschön, Frau Rennert. So groß und imposant hatte ich mir das Herrenhaus nicht vorgestellt. Hoffentlich kann ich mich wirklich nützlich machen.«
»Keine Sorge. Wir haben immer alle Hände voll zu tun und freuen uns, wenn wir Hilfe bekommen können. Sie werden sich über Mangel an Beschäftigung nicht zu beklagen haben.«
Sascha und Michael bemächtigten sich Hellas Gepäcks und trugen es ins Haus. Dann verabschiedeten sie sich von Hella, um nach Schoeneich weiterfahren zu können.
Hella blieb mit Frau Rennert zurück.
»Ist es weit nach Schoeneich?«, erkundigte sich die Studentin.
»Gar nicht. Eine private Verbindungsstraße führt von hier unmittelbar nach Schoeneich. Sie werden also oft genug mit Sascha und Michael beisammen sein.«
Hella errötete ein wenig. »Deshalb nicht, Frau Rennert. Es interessierte mich ganz allgemein. Sascha und Michael sehe ich an der Uni jeden Tag.«
Frau Rennert besann sich. »Packen Sie doch inzwischen aus, Frau Graff. Ich muss mich um ein Bett für den kleinen Buben kümmern, den Sie mitgebracht haben.«
»Das Auspacken hat bis später Zeit, Frau Rennert. Wenn es Ihnen recht ist, helfe ich gleich ein bisschen. Auf diese Weise bekomme ich schnell einen Einblick.«
»Wenn Sie wollen, Frau Graff.«
»Sagen Sie bitte Hella zu mir, Frau Rennert.«
Hella ließ sich von Frau Rennert das Zimmer zeigen, das Dirk zugedacht war.
Es war ein schmaler Raum mit eingebautem Schrank, einem Bett, sowie ein paar kindergerechten Möbelstücken. Lustige Motive auf der Tapete und zwei hübsche Bilder sorgten für eine freundliche Atmosphäre, und das Fenster blickte auf den Park hinunter. Frau Rennert brachte Bettwäsche herbei.
»So, Hella, jetzt bleibt uns nichts übrig, als Ihren kleinen Freund gründlich auszufragen, damit wir seine Verwandten oder die Polizei benachrichtigen können.«
Die Studentin erklärte sich sofort bereit, Dirk herbeizuholen.
»Halb rechts geht der Weg zu den Ponystallungen. Sie können ihn nicht verfehlen. Dort sind die Kinder bestimmt zu finden.«
Hella machte sich auf den Weg. Sie fühlte sich bereits heimisch in Sophienlust, obwohl sie noch nicht einmal ihre Koffer aufgemacht hatte.
Wenig später sah sie Dirk Möller mit hochroten Wangen auf dem Rücken eines Ponys, das von Nick sorgsam am Zügel geführt wurde. Es tat ihr leid, dass sie den Jungen stören musste.
Es kostete ein wenig Geduld und Überredungskunst, bis er mit ihr kam. Doch die Neugier auf sein Zimmer siegte schließlich.
»Weißt du«, sagte er fröhlich, »ich würde ganz gern hierbleiben, Hella. Du bist ja auch hier. Ich könnte jeden Tag reiten. Nick hat mir versprochen, dass er es mir beibringen will.«
»Mir gefällt es auch, Dirk. Aber wir müssen mit deinem Vati und deinem Onkel Verbindung aufnehmen, damit sich keiner um dich Sorgen macht.«
Dirk schob die Unterlippe bemerkenswert weit nach vorn. »Vati schon«, antwortete er verdrossen, »aber Onkel Friedrich und Tante Jo brauchen nicht zu wissen, wo ich bin. Sie sind ganz bestimmt froh, dass ich endlich fort bin.«
»Nein, Dirk, das glaube ich nicht. Sie werden sich wahrscheinlich schon mit der Polizei in Verbindung gesetzt haben.«
»Na ja, wenn du meinst …« Restlos überzeugt war Dirk nicht.
Trotzdem gelang es Frau Rennert und Hella ohne besondere Schwierigkeiten, den vollen Namen und die genaue Adresse von Dirk zu erfahren. Frau Rennert atmete erleichtert auf.
Während Hella gemeinsam mit dem Jungen einen Entdeckungsausflug durch das Haus unternahm, ermittelte die umsichtige Heimleiterin durch die Auskunft die Telefonnummer der Familie Hermann in Stuttgart. Sie verständigte dann Denise von Schoenecker, die sich in Schoeneich aufhielt, vom Ergebnis ihrer Nachforschungen. Sie wollte es Denise überlassen, sich persönlich mit Dirks Verwandten in Verbindung zu setzen. Es war ja nicht abzusehen, wie sie reagieren würden. Frau Rennert wusste, dass Denise in ihrer sanften, geschickten Art sehr diplomatisch vorgehen konnte.
Hella lernte Saschas Mutter noch am ersten Abend kennen, denn Denise kam in ihrem kleinen Wagen von Schoeneich herüber, um Dirk und die Studentin zu begrüßen.
Die schlanke Frau mit den ausdrucksvollen dunklen Augen wirkte auf Hella überraschend jugendlich. Die Ähnlichkeit Nicks mit seiner Mutter war unverkennbar.
»Willkommen, Frau Graff. Darf ich Sie Hella nennen? Sascha und Michael haben schon so viel von Ihnen erzählt, dass Sie mir bereits vertraut sind.«
Hella ergriff Denises Hand und dankte ihr für die Einladung. Sie versprach, dass sie sich Mühe geben werde, eine nützliche Helferin zu sein.
Denise lächelte. »Sie haben sich gleich gut bei uns eingeführt, indem Sie uns Dirk Möller brachten, Hella. Nun brauche ich Ihnen nicht umständlich zu erklären, wo wir die Aufgabe des Hauses sehen.«
»Ich fürchte, Dirk ist bei seinen Verwandten nicht glücklich, Frau von Schoenecker«, antwortete Hella. »Das Ehepaar scheint zerstritten zu sein. Der Junge hat mir vorhin allerlei erzählt. Es wäre für Dirk wahrscheinlich viel besser, wenn er in Sophienlust bleiben könnte. Er ist von sich aus dazu bereit.«
»Herr und Frau Hermann sind nicht mit Dirk verwandt«, sagte Denise. »Ich habe ein langes Telefongespräch mit Frau Hermann geführt. Sie wollten sich eben an die Polizei wenden und eine Vermisstenanzeige aufgeben. Es lässt sich denken, dass sie in großer Angst um den Jungen waren.«
Frau Rennert und Schwester Regine, die bewährte Kinderschwester des Hauses, gesellten sich zu ihnen. Hella hatte Schwester Regine schon vorher kennengelernt. Nun berichtete Denise ausführlich, was sie in Erfahrung gebracht hatte.
Dirks Vater war verwitwet und befand sich im Auftrag seiner Firma seit längerer Zeit in Afrika, wo er als leitender Ingenieur an einem großen Bauprojekt mitwirkte. Frau Johanna Hermann – Dirks Tante Jo also – war eine Jugendfreundin von Torsten Möller. Sie hatte ihm angeboten, den Jungen zu sich zu nehmen.«
»Sonst hat mir Frau Hermann nicht viel gesagt«, schloss Denise ihren Bericht.
»Sie war in erster Linie erleichtert, dass Dirk in Sicherheit ist. Schon morgen will sie hierherkommen. Es kam mir so vor, als habe sie noch einiges auf dem Herzen.«
»Hoffen wir, dass sie uns Dirk lässt«, warf die warmherzige Schwester Regine ein. »Der Bub hat so ernste, nachdenkliche Augen. Man sieht, dass es ihm an Liebe gemangelt hat.«
»Wir müssen abwarten, was Frau Hermann mir zu sagen hat«, sagte Denise. »Manchmal ist schwer herauszufinden, was für ein Kind die beste Lösung ist.«
Die kleine Konferenz fand ihr Ende, weil Henrik die Tür aufriss, ohne anzuklopfen. Er hielt Dirk bei der Hand. »So, hier hast du sie – unsere Mutti«, verkündete er strahlend.
Denise breitete die Arme aus und drückte das fremde Kind fest ans Herz. »Ich bin Tante Isi, Dirk. Wir alle freuen uns, dass du jetzt bei uns bist. Deine Tante Jo weiß schon Bescheid und wird uns morgen besuchen. Sie hat Angst um dich ausgestanden, denn niemand wusste, wo du geblieben bist.«
Dirk hob den Blick zu ihr auf. »Sie mag mich nicht, Tante Isi«, sagte er. »Ich glaube nicht, dass sie mich holen will. Ein Kind ist eine Last, sagt sie.«
»Das werde ich morgen mit ihr in aller Ruhe besprechen, Dirk. Ich bin froh, dass es dir bei uns gefällt.«
»Es gefällt mir gut, Tante Isi. Bei Nick kann ich reiten lernen, und Henrik hat versprochen, dass er mein Freund sein will.«
»Siehst du, das ist ein guter Anfang, Dirk. Warst du denn auch schon in der Küche bei unserer Magda?«
Dirk nickte eifrig. »Sie ist die allerbeste Köchin auf der Welt und hat Kinder sehr lieb. Heute Abend gab es Pfannkuchen mit Obst. Es hat prima geschmeckt.«
»Nun, dann bist du schon ganz zu Hause in Sophienlust.«
»Ich habe mir alles angeschaut, Tante Isi. Nicks Papagei drüben im Wintergarten ist schrecklich komisch. Er sagt so freche Sachen.«
Denise lachte. »Ja, die hat Nick ihm früher beigebracht. Jetzt kann man ihm die Schimpfwörter natürlich nicht mehr abgewöhnen.«
Dirk berichtete mit Eifer, was er sonst noch an diesem ersten Tag gesehen und erlebt hatte. Dass er sich eigentlich unterwegs nach Afrika befand, schien er vor lauter Begeisterung vergessen zu haben.
Als Schwester Regine daran erinnerte, dass es für Dirk längst Bettzeit sei, ergriff der Junge zutraulich Hellas Hand. »Kommst du mit, Hella?«, bettelte er.
Hella strich ihm übers Haar. »Gern, Dirk. Jetzt müssen wir nur zusehen, dass wir einen Schlafanzug und eine Zahnbürste für dich finden.«
Schwester Regine beruhigte Hella. »Wir sind auf solche Ereignisse eingerichtet. Ich komme gleich mit hinauf, damit wir passende Sachen für Dirk zusammensuchen können.«
Gemeinsam umsorgten Hella und Schwester Regine den kleinen Jungen. Als er endlich frisch gebadet in seinem Bett lag, war er so müde, dass ihm beim Nachtgebet die Augen zufielen.
Hella zog ihm liebevoll die Decke glatt. »Schlaf gut, kleiner Freund«, flüsterte sie ihm zu.
Regine seufzte. »Hoffentlich gibt es morgen keinen Ärger mit der Dame aus Stuttgart. Wir haben allerlei trübe Erfahrungen gesammelt im Laufe der Jahre.«
»Vielleicht ist sie wirklich froh, Dirk auf diese Weise loszuwerden«, meinte Hella, als sie leise die Tür von Dirks Zimmer schloss. »Frau von Schoenecker wird es schon richtig anfangen.«
Johanna Hermann parkte ihren Wagen pünktlich zur verabredeten Zeit vor dem Herrenhaus von Sophienlust.
Hella Graff war gerade in der Halle und trat vor das Portal, um die Besucherin willkommen zu heißen.
»Frau Hermann?«, fragte sie höflich.
»Ja, die bin ich.« Eine aparte Erscheinung mit stahlgrauen Augen und tiefschwarzem Haar, das im Nacken zu einem schweren Knoten aufgesteckt war. »Ich bin mit Frau von Schoenecker verabredet«, fügte sie hinzu.
Hella nickte. »Frau von Schoenecker erwartet Sie. Darf ich Sie gleich zu ihr führen?«
»Dafür wäre ich Ihnen dankbar.«
Hella geleitete die Besucherin in das Biedermeierzimmer. Hier erledigte Denise an dem alten Kirschbaumsekretär ihre schriftlichen Arbeiten.
Sie ging Johanna Hermann mit ausgestreckten Händen entgegen. »Wie schön, dass Sie da sind, Frau Hermann. Hoffentlich hatten Sie eine gute Fahrt. Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Ich bin sehr durstig. Für eine Tasse Tee wäre ich dankbar.«
Hella entfernte sich, um bei Magda in der Küche für Tee und ein paar belegte Schnittchen zu sorgen.
»Dirk spielt mit den anderen Kindern im Park«, eröffnete Denise das Gespräch. »Möchten Sie ihn sofort sehen? Es geht ihm gut. Man muss dankbar sein, dass ihm nichts zugestoßen ist.«
Johanna Hermann seufzte. »Zu all meinen Sorgen auch noch die um den Jungen! Ich dachte gestern, ich verliere meinen Verstand. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie Dirk bei sich aufgenommen haben. Man kann sich nur wundern, wie weit so ein kleiner Kerl kommt. Ich hätte gewiss nur in der Umgebung unserer Wohnung gesucht.«
Denise erzählte ihr, dass Dirk von einem Unbekannten eine große Strecke mitgenommen worden war. Johanna Hermann machte eine theatralische Geste und äußerte ihre Empörung über die Gewissenlosigkeit dieses Fremden.
»Dirk hat einen guten Schutzengel gehabt, Frau Hermann«, meinte Denise sanft. »Mein Sohn war mit einem Freund und einer Studentin hierher unterwegs. So ergab es sich von selbst, dass sie Dirk mitnahmen.«
»Ja, es ist ein großes Glück, Frau von Schoenecker. Wie ich eben schon andeutete, habe ich eine Menge Schwierigkeiten. Ich fürchte, der Junge hat davon einiges mitbekommen. Das lässt sich leider nicht ganz vermeiden, wenn eine Ehe im Begriff ist, endgültig zu scheitern.«
Denise von Schoenecker schwieg. Ihre dunklen Augen waren mit freundlicher Aufmerksamkeit auf ihre Besucherin gerichtet. Die Freimütigkeit, mit der Johanna Hermann über ihre persönlichen Probleme sprach, wirkte auf Denise etwas befremdlich. Welchen Zweck verfolgte Frau Hermann damit? Sie erweckte durchaus nicht den Eindruck der Hilflosigkeit, sondern trat vielmehr außerordentlich selbstsicher auf.
»Ich habe meinem Freund Torsten Möller seinerzeit angeboten, Dirk zu mir zu nehmen, weil es keinen anderen Ausweg gab«, fuhr Johanna Hermann fort. »Dirks Mutter starb ganz plötzlich. Wenig später musste Torsten im Auftrag seiner Firma nach Afrika gehen. Was sollte aus Dirk werden? Torsten war mir sehr dankbar für mein Angebot. Ich habe es selbstverständlich gern getan. Aber mein Mann war nicht einverstanden. Unsere Ehe war schon immer problematisch gewesen. Ich versprach mir eigentlich von der Anwesenheit des Jungen eine heilsame Wirkung. Leider ist das Gegenteil der Fall. Ich sehe heute keine Möglichkeit mehr, unsere Ehe länger aufrechtzuerhalten.«
»Das ist freilich für ein Kind eine schwierige Situation«, versetzte Denise.
»Vor allem ist es für mich schwer, verehrte Frau von Schoenecker. Ich reibe mich in dem ständigen Kleinkrieg mit meinem Mann auf und fühle mich dabei verpflichtet, auch dem Jungen gerecht zu werden. Meine Nerven sind allmählich am Ende. Das können Sie mir glauben.«
Es klopfte, und Hella Graff brachte ein Tablett mit Tee und belegten Brötchen.
»Vielen Dank«, sagte Johanna Hermann, sobald Hella wieder hinausgegangen war. »Dieses Haus scheint erstklassig geführt zu sein. Man stellt sich unter einem Kinderheim eigentlich etwas ganz anderes vor.«
Denise wies auf das Bildnis an der Wand. »Diese alte Dame, die Urgroßmutter meines Sohnes Dominik, hat es dem Jungen hinterlassen und in ihrem Testament bestimmt, dass das Haus in ein Heim für in Not geratene Kinder umgewandelt werden soll. Da mein Sohn damals erst fünf Jahre alt war, habe ich diese Aufgabe übernommen. Wir bemühen uns, den uns anvertrauten Kindern Geborgenheit zu geben. Sie wachsen hier in der ländlichen Umgebung frei und gesund auf. Wenn es Sie interessiert, zeige ich Ihnen gern das ganze Haus, den Park, die Ställe und alles, was zu unserm lieben Sophienlust gehört.«
»Sicherlich haben Sie keine Plätze frei.«
Denise lächelte. »Das ist der Vorteil eines großen alten Hauses. Bei uns lässt sich immer noch ein Eckchen finden, wenn es nötig wird.«
»Sie könnten – rein theoretisch einmal – Dirk für eine Weile aufnehmen?«
Es fiel Denise nicht leicht, ihre Befriedigung über diese Wendung des Gesprächs zu verbergen.
»Das könnten wir, Frau Hermann. Dirk bewohnt ein Zimmer, das ohnehin frei war. Wir behalten ihn herzlich gern. Ich habe sogar den Eindruck gewonnen, dass er selbst den Wunsch hat, zu bleiben.«
Johanna Hermann schlug die Augen wirkungsvoll auf. Sie besaß eine schauspielerische Begabung. Daran war nicht zu zweifeln. »Dirk hat wohl bis zu einem gewissen Grad unter unserem Konflikt leiden müssen, Frau von Schoenecker.«
Denise neigte den Kopf. »Das trifft sicherlich zu. Ich habe aus den Äußerungen des Jungen entnommen, dass er sich nicht mehr glücklich fühlte. Deshalb lief er fort. Er wollte zu seinem Vater, ohne zu wissen, dass der Weg nach Afrika viel zu weit ist.«
»Hat er das gesagt?« Johanna Hermann presste die Hand aufs Herz. »Er liebt seinen Vater sehr.« Sie lächelte. »Nun ja, vielleicht war es einfach Abenteuerlust, dass er weggelaufen ist. Das bekommt man aus einem so kleinen Kerl nicht mit Sicherheit heraus. Dirk besitzt eine lebhafte Fantasie.«
»Ich meine trotzdem, dass wir seinen Vater verständigen müssen, Frau Hermann. Wollen Sie das übernehmen oder soll ich es tun? Wir benötigen sein Einverständnis. Er ist doch der Vormund?«
»Ja, natürlich. Ich werde noch heute an Torsten schreiben und ihm genau berichten, was geschehen ist. Ich bin sicher, er wird damit einverstanden sein, dass Dirk zunächst hier in Sophienlust bleibt. Dass der Junge hier blendend aufgehoben ist, sehe ich ja mit eigenen Augen. Wegen der Kosten brauchen Sie sich keine Gedanken zu machen. Sie spielen für Torsten Möller keine Rolle.«
Denise setzte eine kühle Miene auf. Die Art dieser Dame missfiel ihr immer mehr, je länger sie sich mit ihr unterhielt.
»Die Geldfrage spielt auch für uns keine Rolle, Frau Hermann«, antwortete sie.
»Wir haben gar nicht danach gefragt, als wir Dirk hier aufnahmen. Glücklicherweise sind wir durch die mit Sophienlust verbundene Stiftung in der Lage, auch für solche Kinder zu sorgen, die mittellos sind.«
»Dirks Vater wird alles bezahlen. Es wäre ihm sicherlich nicht recht, Mittel aus einer Stiftung anzunehmen.«
»Umso besser, Frau Hermann. Es gibt andere Kinder, die umso dringender unserer Hilfe bedürfen.«
Johanna Hermann versicherte, dass die Unterbringung im Heim nicht für alle Zeit gedacht sei, sondern dass es sich nur um eine vorübergehende Maßnahme handeln solle.
»Ich liebe den Buben«, sagte sie und unterstrich diese Worte mit einer großartigen Bewegung. »Schon um seiner verstorbenen Mutter willen werde ich immer für ihn da sein. Aber ich brauche jetzt etwas Zeit und Ruhe. Vielleicht verstehen Sie das.«
»Sophienlust ist dazu da, in einer solchen Situation zu helfen, Frau Hermann«, versetzte Denise. »Wollen Sie mir für alle Fälle die Anschrift von Dirks Vater hierlassen?«
Johanna Hermann bat um ein Blatt Papier und schrieb die Anschrift in Blockbuchstaben auf. »Torsten wird sich wahrscheinlich sowieso mit Ihnen in Verbindung setzen, sobald ich ihm geschrieben habe«, meinte sie.
»Trotzdem bin ich Ihnen dankbar für die Adresse. Es kann immer einmal etwas Unvorhergesehenes geschehen.«
»In dringenden Fällen wenden Sie sich bitte stets an mich, Frau von Schoenecker. Torsten Möller hat mir die Verantwortung für sein Kind übertragen.«
Denise lächelte. »Solange Herr Möller uns keine entsprechenden Anweisungen gibt, müssen wir uns an ihn als den Vormund wenden.«
»Na ja, machen Sie das, wie Sie es für richtig halten, Frau von Schoenecker. Ich muss mich ziemlich beeilen, wenn ich noch beizeiten nach Stuttgart zurückkommen will. Dirks Sachen werde ich Ihnen zuschicken.«
»Das wäre nett von Ihnen, Frau Hermann. Für den Anfang haben wir ihn hier aus unseren Beständen ausgestattet. Soll ich Dirk rufen lassen?«
Johanna Hermann schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Es gäbe möglicherweise nur eine Szene mit Tränen. Das wäre zu viel für meine strapazierten Nerven. Sagen Sie Dirk bitte viele Grüße. Er soll schön brav sein.«
»Wie Sie meinen, Frau Hermann. Glauben Sie nicht, dass Dirk enttäuscht sein könnte, wenn Sie abfahren, ohne ihn gesehen zu haben?«
»Das macht ihm bestimmt nichts aus.«
Weitere Versuche unternahm Denise nicht. Sie begleitete Johanna Hermann zu ihrem Wagen und wiederholte das Angebot, ihr Sophienlust zu zeigen, nicht. Diese aparte Frau mit den kalten Augen war im Augenblick nur daran interessiert, Dirk loszuwerden.
»Vielen Dank für Ihren Besuch, Frau Hermann. Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt.«
»Ich danke Ihnen auch, Frau von Schoenecker. Wenigstens brauche ich mich jetzt um den Jungen nicht mehr zu ängstigen.«
Warum sie überhaupt hergefahren ist, fragte sich Denise, während sie dem Wagen nachblickte. Ob wir Dirk für eine Weile behalten wollen, hätte sie mich auch am Telefon fragen können. Sie gestand sich ein, dass Johanna Hermann ihr herzlich unsympathisch war. Sicherlich hatte Dirk sich unter der Obhut dieser Frau nicht glücklich gefühlt.
Denise ging um das Haus herum und hielt Ausschau nach den Kindern. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Dirk spielte mit Heidi Holsten und der kleinen schwarzen Peggy im Sand beim Pavillon. Sie rief den Jungen zu sich.
»Was soll ich, Tante Isi?«, fragte er hastig. »Wir müssen nämlich einen Tunnel durch unseren Sandberg graben. Ich habe keine Zeit.«
Denise strich ihm liebevoll übers Haar. Er war voll Sand und restlos von der Wichtigkeit seines Spiels erfüllt.
»Du kannst gleich weitermachen, Dirk. Ich möchte dir nur schnell viele Grüße von deiner Tante Jo ausrichten. Sie war hier.«
Dirks Bubengesicht verdüsterte sich. »Was wollte sie denn, Tante Isi?«, erkundigte er sich misstrauisch.
»Sie hat sich mit mir unterhalten und erlaubt, dass du bei uns bleiben darfst.«
Nun leuchteten Dirks Augen auf. »Prima, Tante Isi. Ich habe gleich gewusst, dass sie froh ist, mich loszuwerden.«
»Sie wird an deinen Vati schreiben. Er wird dann zu bestimmen haben, ob du nach Afrika reisen oder weiterhin bei uns wohnen sollst.«
Dirk nickte. »Klar, mein Vati muss ja auch wissen, wo ich jetzt bin.« Der Bub sauste grußlos wieder zu den anderen Kindern, die inzwischen weitergebuddelt hatten.
Johanna Hermann war freudig überrascht, als sie aus heiterem Himmel Torsten Möllers Anruf erhielt. Schon für den nächsten Nachmittag kündigte er ihr seinen Besuch an. Sie erwartete ihn voll Ungeduld. Dass er wegen des Jungen nach Deutschland kommen werde, hatte sie sich nicht träumen lassen.
Pünktlich zur verabredeten Zeit läutete es an der Tür. Die schlanke Frau mit dem dunklen Haarknoten öffnete und ließ den von der Tropensonne gebräunten Freund eintreten.
»Willkommen in der Heimat, Torsten! Ich bin sehr erleichtert, dass du hier bist!« Sie umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen.
»Es ließ sich mit einem dienstlichen Auftrag verbinden, Jo. Dein Brief hat mich ziemlich besorgt gemacht. Ich bin hier, um von dir zu erfahren, ob es einen bestimmten Grund für deine Dispositionen gibt. Hat Dirk dir Schwierigkeiten verursacht? Du hast niemals eine derartige Andeutung in deinen Briefen gemacht.«
»Komm erst einmal herein. Möchtest du Tee oder Kaffee trinken? Jetzt wollen wir es uns gemütlich machen und in aller Ruhe über die Sache reden. In fünf Minuten ist das nicht getan.«
»Ist Friedrich nicht zu Hause?«, erkundigte sich Torsten. »Er hat wohl sehr viel zu tun?«
»Nun, ich will nicht länger um die Geschichte herumreden, Torsten. Friedrich und ich haben uns getrennt. Es ging schon lange nicht mehr. Wir passen einfach nicht zueinander. Friedrich lebt nur für seinen Beruf. Er hat sehr viele Erfolge gehabt und verdient einen Haufen Geld. Aber er kann nie genug bekommen. Dass er verheiratet ist und eine Frau hat, bedeutet ihm nichts. Jetzt wohnt er am anderen Ende der Stadt, und wahrscheinlich fällt es ihm kaum auf, dass er nun allein lebt. Wenn er zu Hause war, haben wir uns nur noch gestritten. Es war unerträglich.«
Torsten war ehrlich betroffen.
»Davon hatte ich keine Ahnung, Jo. Es tut mir leid für euch beide. Hast du Dirks Unterbringung im Kinderheim aus diesem Grund in die Wege geleitet?«
»Ja, Torsten. Ich war schrecklich nervös. Im Augenblick ist es bestimmt besser für den Jungen, wenn er unter fröhlichen Kindern sein kann. Sophienlust scheint ein gut geführtes Institut zu sein.«
»Ich werde selbstverständlich hinfahren, um mir das Heim anzusehen.«
»Ja, ich verstehe das. Ich bin auch dort gewesen. Du wirst sehen, dass Dirk es gut hat.«
»Es bedrückt mich, dass du zu deinen persönlichen Problemen noch mit der Sorge für Dirk belastet gewesen bist. Warum hast du mir nichts davon geschrieben, Jo? Es war nicht meine Absicht, deine Hilfsbereitschaft zu strapazieren.«
Johanna lächelte. Ihre grauen Augen waren fest auf Torsten gerichtet. »Ich habe nicht gewusst, dass es wirklich zu einer Trennung kommen würde, Torsten. Der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, kam sozusagen über Nacht. Lange genug habe ich mir Mühe gegeben, unsere Ehe zu retten. Aber mit Friedrich war das einfach nicht möglich. Dabei tauge ich überhaupt nicht dazu, allein zu sein. Ich fühle mich überflüssig auf der Welt, und mache mir ständig Vorwürfe, dass alles nur meine Schuld war.«
»Du solltest dich nicht mit Selbstanklagen quälen, Jo. Man muss sich mit den Tatsachen abfinden. Das Leben geht weiter. Geldsorgen hast du hoffentlich nicht?«
Sie schüttelte den Kopf. »Bei Friedrich machen ein paar Tausender nichts aus. Ich bekomme von ihm, was ich haben will. Kleinlich ist er nicht.« Sie griff nach Torstens Hand. »Es tut mir gut, dass ich jetzt mit dir darüber sprechen kann, Torsten. Mir ist viel leichter ums Herz.«
»Vielleicht solltest du dir eine Tätigkeit suchen, Jo. Du kannst doch ausgezeichnet Englisch, wenn ich mich recht erinnere.«
»Das stimmt. Ehe ich heiratete, habe ich als Dolmetscherin gearbeitet. Aber ich weiß nicht, ob mich eine solche Tätigkeit heute noch reizen könnte.«
»Es lohnt sicherlich, darüber nachzudenken, Jo. Ich habe mich über Grits Tod nur einigermaßen hinwegtrösten können, indem ich mir so viel Arbeit auflud, dass zum Nachdenken keine Minute Zeit blieb.«
»Du bist ein Mensch, der mit jeder Lebenslage fertigzuwerden weiß, Torsten. Ich sollte mir wohl ein Beispiel an dir nehmen.« Sie seufzte.
Torsten nickte ihr zu. »Ich bin noch acht bis zehn Tage in Deutschland, Jo. Wirst du mich auf der Fahrt in das Kinderheim begleiten? Dafür wäre ich dir dankbar.«
»Natürlich, Torsten. Wann willst du fahren?«
»Mir bleibt nur das Wochenende und vielleicht ein zusätzlicher Tag. Ich habe eine Menge zu tun, und ich muss so schnell wie möglich zurückfliegen. Jetzt muss ich mich auch gleich auf den Weg machen, denn ich habe für den Abend eine dringende Verabredung.«
»Schade, Torsten. Ich hatte mich auf einen gemütlichen Abend mit dir gefreut. Schließlich kennen wir uns, seit wir uns zurückerinnern können. So etwas verbindet.«
»Wir werden uns noch sehen, Jo. Zunächst bleibt es dabei, dass ich dich am Freitagnachmittag hier abhole. Du tust mir einen Gefallen, wenn du uns bei der Heimleitung anmeldest. Wenn möglich, möchte man uns für die kurze Zeit bis Montag eine Unterkunft besorgen.«
»Das nehme ich gern in die Hand, Torsten. Du brauchst dich um nichts zu kümmern.«
Er stand auf. »Ich danke dir, Jo. Bis Freitag also.«
Sie kam mit ihm bis an die Tür. »Kannst du dich für den Abend wirklich nicht frei machen?«, fragte sie und legte die Arme um ihn.
»Ich habe einen dienstlichen Auftrag zu erledigen. Es hängt viel davon ab, dass wir die neuen Maschinen pünktlich nach Afrika bekommen. Zum Vergnügen habe ich mich mit den beiden Direktoren unserer Firma nicht verabredet.«
Sie ließ die Arme sinken. »Ich wünsche guten Erfolg, Torsten. Gib mir auf alle Fälle die Telefonnummer deines Hotels, damit ich dich erreichen kann.«
Er nannte ihr den Namen des Hotels. Dann war er wieder weg, und Johanna Hermann fühlte sich verlassener denn je.
Dirk war so aufgeregt, dass er in der Nacht zum Freitag mehrmals aufwachte und Schwester Regine fragte, ob es denn immer noch nicht Morgen sei. Gleich nach dem Frühstück nahm er seinen Warteposten vor dem Portal des Hauses ein, obwohl man ihm klarzumachen versuchte, dass sein Vater und Tante Jo nicht vor dem Abend kommen konnten. Es gab sogar Schwierigkeiten, ihn wenigstens zum Mittagessen ins Haus zu holen. Er aß hastig seinen Teller leer und fragte dann, ob er aufstehen und wieder draußen auf seinen Vati warten dürfe. Frau Rennert ließ ihn gewähren.
Hella, die Wäsche weggelegt und in einigen Schränken für Ordnung gesorgt hatte, gesellte sich gegen Abend zu dem Jungen. Seite an Seite saßen sie auf den Stufen.
»Wird dir die Zeit nicht zu lang, Dirk?«, fragte Hella.
»Nein. Jetzt muss er wirklich gleich da sein, mein Vati.«
Es dauerte aber immer noch eine Stunde. Dann endlich wurde Dirks Geduld belohnt. Ein großer Wagen kam an und hielt genau vor dem Portal. Da es im gleichen Augenblick zum Essen gongte, waren die übrigen Kinder ausnahmsweise nicht versammelt.
»Muss ich zu Tisch gehen, Hella?«, fragte Dirk.
»Nein, jetzt bleibst du hier. Schau, da kommt dein Vater.«
Torsten Möller stieg aus, war Johanna Hermann behilflich und fing dann seinen Sohn auf, der sich jubelnd in seine Arme stürzte. Es dauerte eine ganze Weile, ehe der Gast aus dem fernen Afrika Zeit fand, sich Hella zuzuwenden, die inzwischen Frau Hermann begrüßt hatte.
»Es gibt gerade Abendessen«, sagte Hella und reichte Torsten Möller die Hand.
»Ich habe den Auftrag, Sie einzuladen, Herr und Frau von Schoenecker erwarten Sie beide dann später in Schoeneich, wenn es Ihnen recht ist.«
»Sollen wir mit den vielen Kindern am Tisch sitzen?«, fragte Johanna Hermann. »Das stelle ich mir ziemlich turbulent vor. Wollen wir nicht lieber im Gasthof in Wildmoos unsere Zimmer ansehen und etwas essen, Torsten?«
Torsten lächelte und sah bei seiner Antwort Hella an. »Ich finde es sehr freundlich, gnädige Frau. Auf diese Weise gewinne ich doch gleich einen Eindruck von Sophienlust.«
»Sophienlust ist das Haus der glücklichen Kinder, Vati«, mischte sich Dirk ein. »Bestimmt schmeckt es dir bei uns viel besser als im Gasthof. Unsere Magda ist nämlich die beste Köchin der Welt.«
Dass die Begrüßung zwischen Dirk und seiner Tante Jo oberflächlich und kühl ausfiel, war kaum zu übersehen. Hella bemerkte es wohl, doch Torsten Möller achtete nicht darauf.
Wenige Minuten später nahmen sie an der langen Tafel Platz, wo man bereits für sie gedeckt hatte. Frau Rennert begrüßte die Gäste. Selbstverständlich saß Dirk neben seinem Vater. Wie so oft, waren auch Nick und Henrik zum Essen in Sophienlust geblieben. Sie wollten sich Dirks Vater gern ansehen. Ein Mann, der in Afrika lebte, war für die Jungen eine interessante Persönlichkeit.
Johanna Hermann saß etwas verloren zwischen Frau Rennert und Schwester Regine. Ihre Blicke wichen nicht von Torsten Möller, und sie verfolgte dessen Gespräche mit Dirk und den übrigen Kindern mit wacher Aufmerksamkeit. Doch sie konnte es nicht verhindern, dass Dirks eigenmächtiger Aufbruch in Richtung Afrika zur Sprache kam. Dirk selber berichtete davon, wie er sich heimlich neben Hella ins Gras gelegt habe. Die ganze Geschichte wurde erzählt, und Johanna musste es geschehen lassen.
»Was für ein Glück, dass Frau Graff und die beiden anderen Studenten dich mitgenommen haben«, äußerte Torsten Möller mit ernstem Gesicht.
Dirk lachte unbekümmert. »Du musst Hella sagen, Vati. Niemand nennt sie Frau Graff. Das klingt richtig komisch.«
Hella errötete, als Torsten sie fragte, ob sie damit einverstanden sei. Natürlich hatte sie nichts dagegen.
Im Anschluss an das Abendbrot suchte Johanna vergeblich mit Torsten zu sprechen. Dirk wich nicht von seines Vaters Seite und bestand darauf, ihm sogleich das Haus, den Park, die Stallungen und alle übrigen Sehenswürdigkeiten von Sophienlust vorzuführen. Es wurde acht Uhr, ehe es Hella gelang, den aufgeregten Jungen dazu zu bringen, dass er ins Bett ging. Es war seit dem ersten Tag Dirks verbrieftes Recht, abends von Hella versorgt zu werden. Heute nun stand sein Vater mit am Bett, als sie das Nachtgebet sprach.«
»Schlaf gut, Dirk.« Sie beugte sich nieder und küsste den Jungen auf die Stirn.
Auch der Vater umarmte und küsste seinen Sohn.
»Soll Tante Jo auch noch kommen?«, fragte Torsten Möller.
»Nicht nötig, Vati.«
»Ich werde sie von dir grüßen.«
Sie verließen Dirks kleines Zimmer und schlossen leise die Tür. Unten in der Halle wartete Johanna Hermann mit allen Zeichen der Ungeduld.
»Müssen wir jetzt wirklich noch nach Schoeneich, Torsten?«, rief sie aus, sobald sie ihn und Hella erblickte. »Ich finde, für heute ist es genug. Lass uns ins Hotel fahren.«
Torsten lächelte höflich. »Ich bin gern bereit, dich in den Gasthof zu bringen und bei Herrn und Frau von Schoenecker zu entschuldigen, liebe Jo. Ich für meinen Teil möchte der liebenswürdigen Einladung unter allen Umständen folgen.«
»Na schön, ich bin kein Spielverderber. Selbstverständlich begleite ich dich.«
Hella fragte, ob Herr Möller sie in seinem Wagen mit nach Schoeneich nehmen könne. Auch sie sei aufgefordert, den Abend drüben zu verbringen. Nick und Henrik waren bereits mit ihren Fahrrädern aufgebrochen.
»Mit Vergnügen, Hella«, sagte der Ingenieur. »Dirks guten Engel fahre ich bis ans Ende der Welt, wenn es nötig sein sollte.«
Das junge Mädchen lachte ihn an. »Es ist glücklicherweise nicht so weit nach Schoeneich.«
Wieder zerschlug sich Johannas Hoffnung, Torsten eine plausible Erklärung dafür zu geben, warum Dirk ausgerissen war und sie dem Freund bisher davon nichts gesagt hatte.
In Schoeneich wurden die Gäste freundlich begrüßt. Alexander von Schoenecker hatte guten Wein aus dem Keller geholt und füllte sogleich die Gläser. Sascha und Michael wollten Hella auf einen Spaziergang entführen, doch behauptete Hella, sie sei heute müde.
Michael Langenbach verbarg seine Enttäuschung nicht. Es gab nicht allzu viele Gelegenheiten des ungestörten Beisammenseins mit Hella für ihn. Sascha war ein verlässlicher Kamerad. Er hätte sich gewiss verzogen und ihn mit Hella ein Weilchen allein gelassen. Aber da saß Hella nun und hatte nur Augen für den Vater ihres Findelkindes Dirk. Um ihren Mund spielte ein unbewusstes Lächeln, und sie sah wunderschön aus. Michael hätte blind sein müssen, um nicht zu bemerken, dass seine Freundin von dem weitgereisten Ingenieur fasziniert war.
Das Gespräch drehte sich anfangs um Dirk. Denise von Schoenecker vermied geschickt jede Erwähnung peinlicher Dinge. Dass Dirk seinen Pflegeeltern davongelaufen war, kam nicht zur Sprache. Torsten Möller stellte auch keine diesbezügliche Frage, weil er Jo nicht in Verlegenheit bringen wollte.
»Sie müssen selbst entscheiden, ob Sie uns Ihren Sohn für längere Zeit anvertrauen wollen, Herr Möller«, erklärte Denise. »Ich freue mich, dass Sie bis zum Montag hierbleiben wollen. Auf diese Weise können Sie sich am besten einen Einblick verschaffen. Wir behalten Dirk von Herzen gern. Er hat sofort Kontakt zu den übrigen Kindern gefunden und fügt sich großartig in unsere Gemeinschaft ein.«
Torsten Möller sah seine Gastgeberin an. »Ich bin bereits jetzt davon überzeugt, dass mein Junge bei Ihnen in den besten Händen ist, Frau von Schoenecker. Leider sehe ich keine Möglichkeit, ihn mit nach Afrika zu nehmen. Vor Ablauf von drei bis vier Jahren kann ich nicht damit rechnen, wieder in der Heimat eingesetzt zu werden. Deshalb bin ich für Ihr Angebot, Dirk weiterhin zu betreuen, sehr dankbar.«
»Er braucht ja nicht für alle Zeit zu sein«, warf Johanna Hermann ein. »Doch zunächst einmal ist es gewiss eine gute Lösung.«
Der Ingenieur nickte ihr zu. »Du hast recht, Jo. Vielleicht könnte ich Dirk zu mir nehmen, wenn er zur Schule muss. Er wäre dann wenigstens für den halben Tag untergebracht. Möglicherweise ließ sich eine Erzieherin oder Haushälterin finden, die uns begleiten würde. Aber welche patente Frau will schon gern in unser abgelegenes Camp kommen? Wir leben praktisch mitten im Busch und müssen auf vieles verzichten, was hier selbstverständlich ist.«
Hella, die bis dahin geschwiegen hatte, hob den Kopf. »Jemand, der Dirk wirklich lieb hat, müsste es sein, Herr Möller«, sagte sie leise.
Torsten erwiderte den klaren Blick ihrer blauen Augen. »Ja, Hella«, sagte er, »das ist wohl das Entscheidende.«
Es wurde ziemlich spät, ehe man sich trennte. Um sicherzugehen, dass die Besucher noch Einlass im Gasthof fanden, rief Alexander von Schoenecker dort an.
»Dürfen wir Sie nach Sophienlust zurückbringen, Hella?«, erbot sich Torsten Möller und kam mit dieser Aufforderung Michael zuvor, der nur darauf gewartet hatte, seine Freundin wenigstens in Saschas Wagen fahren zu können.
Hella nahm die Aufforderung dankbar an. Dass sie Michael damit ziemlich unglücklich machte, wurde ihr nicht bewusst. Das verträumte Lächeln war während des ganzen Abends nicht von ihrem Gesicht gewichen.
»Du musst mir glauben, dass es nicht meine Schuld war«, stieß Johanna hervor, sobald Hella den Wagen in Sophienlust verlassen hatte. »Friedrich hat sich einfach unmöglich benommen und deinen Jungen ständig angebrüllt. Ich wollte eigentlich nicht darüber sprechen. Aber nun hast du es doch erfahren. Hoffentlich bist du mir nicht böse, Torsten.«
»Dirk wollte tatsächlich auf eigene Faust zu mir nach Afrika?«, fragte der Ingenieur.
»Jedenfalls hat er das hinterher behauptet. Ich bin nicht einmal sicher, ob er nur ein abenteuerliches Spiel spielen wollte. Dirk besitzt viel Einbildungskraft. Man kann bei ihm auf die sonderbarsten Dinge gefasst sein. Aber es ist auch möglich, dass er unter unseren ehelichen Schwierigkeiten zu leiden hatte.«
»Du brauchst dir keine Vorwürfe zu machen, Jo. Dem Jungen ist nichts passiert. Das ist die Hauptsache.«
Sie berührte seine Wange mit den Fingerspitzen. »Danke, Torsten. Du bist immer fair und großzügig gewesen.«
»Ich kann dich nicht dafür verantwortlich machen, dass mein Sohn plötzlich vom Fernweh gepackt wurde, Jo. Wir wollen dankbar sein, dass er in Sophienlust gelandet ist.«
Er steuerte den Wagen, den er sich für seinen Deutschlandaufenthalt geliehen hatte, zum Gasthof in Wildmoos, wo der Wirt sie persönlich einließ und ihnen ihre Zimmer zeigte.
Johanna Hermann zögerte vor ihrer Tür. Doch Torsten Möller wünschte ihr freundlich eine gute Nacht und verschwand in seinem Zimmer. Sie musste sich eingestehen, dass er ihre Zuneigung bisher nicht beachtet hatte. Er gab sich ihr gegenüber kameradschaftlich, wie eh und je. Dass sie mehr erhoffte, entging ihm offenbar. Er beschäftigte sich allzu intensiv mit seinem kleinen Jungen.
Ich darf nicht zu viel verlangen, machte sie sich selbst Mut, während sie ihren Koffer öffnete, um ihr Nachtzeug herauszunehmen. Torsten muss sich erst an den Gedanken gewöhnen, dass ich bald frei bin. Eines Tages wird er mich zu sich nach Afrika holen.
Zur gleichen Stunde schlüpfte Hella in Sophienlust in ihr Bett. Sie hatte einen Schlüssel mitgehabt und war ohne Schwierigkeit ins Haus gelangt. Obwohl ein langer arbeitsreicher Tag hinter ihr lag, fühlte sie keine Müdigkeit. Ihre Pulse klopften viel zu schnell, und ihre Gedanken beschäftigten sich mit Dirks Vater.
Ehe sie Torsten Möller sah, hatte sie sich keinerlei Vorstellung von ihm gemacht – ein Fremder, der zufällig der Vater ihres kleinen Freundes war. Möglicherweise hatte sie ihm sogar ein wenig Misstrauen entgegengebracht. Sie war nicht sicher gewesen, ob der von Dirk so innig geliebte Vater es auch tatsächlich gut mit seinem Jungen meine.
Nun aber kannte sie Torsten Möller und wurde nur schwer mit dem Aufruhr fertig, den er in ihrem jungen Herzen verursacht hatte. Nie zuvor war ihr ein Mann wie er begegnet.
Sie legte sich im Bett zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf.
Das ist kein Mann für dich, mahnte sie sich zur Vernunft. Dirks Vater will sich gewiss mit Frau Hermann verheiraten. Dass sie sich von ihrem Mann getrennt hat, konnte sie gar nicht deutlich genug machen. Die beiden kennen einander seit der Kindheit. Frau Hermann hat Dirk bei sich aufgenommen, als die Mutter gestorben war. Es gibt tausendundeinen Grund, der dafür spricht, dass Torsten Müller seine Jugendfreundin in absehbarer Zeit zu sich nach Afrika holen wird.
Aber Dirk ist weggelaufen von dieser Frau, flüsterte eine Stimme in ihrer Brust. Er mag sie nicht. Es ist ihr nicht gelungen, seine Liebe zu gewinnen. Muss Dirk nicht sehr unglücklich werden, wenn Johanna Hermann seine Stiefmutter würde?
Hella setzte sich aufrecht hin, schlang die Arme um die angezogenen Knie und schaute ratlos in die Dunkelheit ihres Zimmers.
Ich kann nichts dagegen tun, verteidigte sie sich gegen die Anklage der geheimnisvollen Stimme. Er bleibt noch bis zum Montag, tröstete sie sich schließlich. Bis Montag ist lange Zeit.
Hella legte sich wieder hin und schloss die Augen. Es war wunderbar zu wissen, dass sie Torsten Möller morgen wiedersehen würde.
Drüben in Schoeneich waren inzwischen auch die Lichter ausgegangen. Michael Langenbach stand am Fenster des gemütlichen Gastzimmers, das er stets hier bewohnte. Er blickte in den dunklen Garten hinunter und versuchte, seinen Ärger zu vergessen.
Es ist nichts passiert, sagte sein Verstand. Hella hatte viel Arbeit im Kinderheim und war zu müde, um spazieren zu gehen. Daraus braucht man noch kein Drama zu machen.
Aber Dirks Vater hat sie dann auch noch zurückgebracht, wandte sein Herz ein. Das war nun wirklich zu viel.
Wieder fand die Vernunft eine plausible Erklärung. Der Ingenieur war ohnehin mit dem Wagen unterwegs. Der Abstecher nach Sophienlust bedeutete für ihn kaum einen Umweg.
Aber Hella war gänzlich verändert. Sie hat Dirks Vater immer nur angeschaut, erinnerte ihn das Herz.
Was habe ich eigentlich von diesen Ferien erwartet, fragte Michael sich bedrückt. Hella hat in Sophienlust einen Job gefunden. Ich sollte mir nicht zu viel darauf einbilden, dass ich ihn ihr verschafft habe. Sascha hätte das auch tun können.
Michael ballte in der Dunkelheit die Faust und schlug damit auf einen unsichtbaren Gegner ein. Hella war seine Freundin. Es machte ihn halb verrückt, dass er mit ansehen musste, wie sie sich in einen anderen Mann verliebte. Jawohl, verliebt hatte sie sich. Es war sinnlos, davor die Augen zu verschließen.
Dabei fand er Torsten Möller nicht einmal unsympathisch. Im Gegenteil, er war von seinem sportlichen Typ recht eingenommen. Bei Licht betrachtet, konnte er es Hella nicht übel nehmen, dass Dirks Vater ihr gefiel.
Ich hätte es wissen müssen, haderte er mit sich selbst. Mit dem Jungen fing es an. Er hängte sich gleich wie eine Klette an Hella.
Der Himmel wurde im Osten schon hell, als Michael endlich unter die Decke kroch. Er fror jämmerlich und war uneins mit sich und der Welt. Glücklicherweise schlief er trotzdem ein und erwachte erst am Mittag, als Sascha zu ihm hereinkam, um sich zu erkundigen, ob er krank geworden sei.
Viel zu schnell verging das Wochenende. Torsten Möller verlebte die Tage ausschließlich mit seinem Sohn, und Johanna Hermann beteiligte sich an den Unternehmungen der beiden, wenngleich eine lange Fußwanderung durch den Sophienluster Wald durchaus nicht nach ihrem Geschmack war. Dirks Vater kam dem Wunsch der Kinder nach und erzählte ihnen ein paar Geschichten aus Afrika. Er bewunderte die Reitkünste seines Sohnes und bedankte sich bei Nick, dass er ihm so erfolgreich Unterricht erteilt hatte.
Am Sonntagnachmittag veranstaltete Torsten Möller einige Wettspiele für alle Kinder und richtete es so ein, dass am Ende jedes einen Preis gewann. Diese Preise hatte er am Samstagvormittag mit Hellas Unterstützung im nahegelegenen Bachenau besorgt.
Jeden Abend aber, wenn Dirk in seinem Bett lag, hörte Torsten Möller mit gefalteten Händen zu, wie Hella das Nachtgebet für den Jungen sprach. Dabei suchten seine Blickte die ihren vergeblich, denn sie hielt die Lider gesenkt und schaute nicht ein einziges Mal zu ihm auf.
Am Montag schlug die Abschiedsstunde unwiderruflich. Dirk weinte herzzerbrechend. Hella nahm ihn liebevoll in den Arm.
»Du bist doch so gern in Sophienlust, Dirk. Es dauert auch gar nicht lange, bis dein Vati wiederkommt. Dann hat er viel mehr Zeit als diesmal.«
»Sophienlust ist schön«, schluchzte der Bub. »Aber ich bin trotzdem traurig, weil Vati nun wieder nach Afrika muss.«
Johanna Hermann legte die Hand auf Dirks Schulter. »Musst nicht weinen«, sagte sie burschikos. »Vielleicht darfst du später auch nach Afrika.«
Dirk hob das verweinte Gesicht und sah seinen Vater fragend an.
»Stimmt das, Vati? Holst du mich nach Afrika?«
Torsten Möller beugte sich nieder und strich über seines Jungen wirres Haar. »Wenn es möglich ist, werde ich es tun, Dirk. Aber ich kann es dir jetzt noch nicht versprechen.«
»Siehst du«, ließ sich Johanna wieder vernehmen. »Jetzt kannst du dich schon darauf freuen. Ein Junge heult doch nicht.«
Dirk schluckte tapfer die Tränen herunter. Noch einmal hob sein Vater ihn auf den Arm und drückte ihn fest an die Brust.
»Wenigstens bleibt meine Hella hier«, seufzte der Bub auf.
Torsten Möller sah das blonde Mädchen an. »Sie werden sich um ihn kümmern?«, fragte er leise über Dirks Kopf hinweg.
Hella antwortete ihm nicht. Sie nickte nur, doch er verstand, dass dies ein festes Versprechen war.
Die Zeit drängte. Von den Schoeneckers hatten sich Torsten und Johanna bereits am Abend zuvor verabschiedet. Jetzt waren es nur die Sophienluster Kinder und Frau Rennert, die sich zum Abschied versammelt hatten. Viele Hände winkten dem Wagen nach, während Dirk sich an Hella drängte und sich die Augen zuhielt, weil er nicht sehen wollte, wie sich sein Vati immer weiter entfernte.
»War es nicht schön, dass er dich besucht hat, dein Vati?«, fragte Hella leise.
»Doch, schön war es, Hella. Aber er hätte nicht gleich wieder wegfahren dürfen. Und Tante Jo wollte ich eigentlich gar nicht sehen.«
Hella lenkte diplomatisch auf ein anderes Thema über. Es gelang ihr, Dirks Kummer zu zerstreuen. Etwa eine halbe Stunde später war er im Stall bei Justus, dem ehemaligen Gutsverwalter. Mit heißen Wangen half er dem alten Mann, das Sattelzeug zu putzen.
Für Hella gab es eine Menge Arbeit, weil Schwester Regine nach Maibach zum Arzt gefahren war. Die Kinderschwester fühlte sich schon seit einiger Zeit nicht wohl und sollte sich auf Denises Wunsch gründlich untersuchen lassen.
Die blonde Studentin war nicht böse, dass ihr auf diese Weise keine Zeit zum Nachdenken blieb. Sie mochte sich selbst nicht eingestehen, dass sie über den Abschied von Torsten Möller kaum weniger traurig war als der kleine Dirk.
Am Nachmittag kam Michael von Schoeneich herüber, um mit seinen beiden Schwestern nach Bachenau zu radeln. Sie wollten Andrea und dem Tierheim einen Besuch abstatten.
»Hast du Zeit, uns zu begleiten, Hella?«, fragte Michael.
Das Mädchen schüttelte bedauernd den Kopf. »Tut mir leid, Michael. Ich stecke bis über die Ohren in der Arbeit. Viel Spaß.«
»Wie schaut es heute Abend aus, Hella?« So schnell gab Michael sich nicht geschlagen. »Du kannst doch nicht immer etwas zu tun haben.«
»Wenn die Kleinen im Bett sind, bin ich frei«, antwortete Hella.
»Wenigstens etwas. Ich komme dann mit dem Fahrrad herüber. Bist du einverstanden?«
Sie lächelte ihn an. »Gern, Michael. Wir können einen Spaziergang machen oder uns in den Park setzen. Bring Sascha mit, falls er Lust hat.«
Michael blieb jeden weiteren Kommentar schuldig. Hella wusste recht gut, dass er lieber ungestört mit ihr zusammen sein wollte.
Armer Michael, dachte sie. Ich kann nichts dafür. Es ist nun einmal, wie es ist. Vielleicht geht es vorüber.
Nachdenklich blickte sie den drei Geschwistern nach, die auf ihren Rädern davonfuhren. Dann kehrte sie zu ihren Pflichten zurück.
Abends weinte sich Dirk noch einmal in ihren Armen aus. Hella hatte Mühe, die eigenen Tränen zurückzuhalten. Sie blieb am Bett des Jungen sitzen, bis dieser fest eingeschlafen war.
Als sie hinunter in die Halle kam, warteten Michael und Sascha schon auf sie. »Die Pläne haben sich geändert«, verkündete Sascha munter. »Wir sind mit meinem Wagen hier und sollen dich zu Andrea nach Bachenau mitbringen. Hans-Joachim hat eine Bowle angesetzt und uns alle eingeladen.«
Hella war erleichtert, dass sie die nächsten Stunden nicht allein in Michaels Gesellschaft verbringen musste. Leichtfüßig lief sie die Treppe wieder hinauf, um ihre Jeans mit einem hübschen Sommerkleid zu vertauschen.
In Bachenau trafen sie auch die Schoeneckers an. Sogar Nick gehörte zu den Gästen. Nur Henrik hatte daheim bleiben und zu Bett gehen müssen. Für einen ausgedehnten Bowlenabend war er nun wirklich noch zu jung.
Andrea von Lehn erwies sich als bezaubernde Gastgeberin und verwöhnte ihre Gäste mit allerlei Leckerbissen. Hella erhielt endlich Gelegenheit, das berühmte Tierheim in Augenschein zu nehmen. Sie stellte fest, dass darin mehr Bewohner waren, als sie vermutet hatte. In Andreas Begleitung befand sich außer Munko, dem lahmenden Schäferhund, und Waldi, dem Namenspatron des Heims, eine mächtige schwarze Dogge. Von Sascha erfuhr sie, dass das Tier Severin hieß und früher einem Kind aus Sophienlust gehört hatte.
Später setzte sich Denise von Schoenecker zu Hella und fragte sie ein wenig nach ihren weiteren Plänen aus. Hella gestand freimütig, dass sie nicht sicher sei, ob es ihr möglich sein werde, das nächste Semester zu finanzieren. »Vielleicht muss ich mir für das kommende Halbjahr eine Stellung suchen, Frau von Schoenecker«, sagte sie ehrlich.
»Wie denken Sie darüber, bei uns zu bleiben?«, fragte Denise.
»Das wäre natürlich ideal. Aber darauf darf ich wohl kaum hoffen. Mein Aufenthalt war doch nur für die Zeit der Semesterferien gedacht.«
»Ich habe vorhin lange mit dem leitenden Arzt des Maibacher Krankenhauses telefoniert, zu dem ich Schwester Regine geschickt hatte«, berichtete Denise mit gesenkter Stimme. »Regine braucht dringend eine gründliche Erholung. Da Sie sich bei uns gut eingelebt haben, liegt es für mich nahe, Sie zu bitten, Regines Vertretung zu übernehmen.«
Hellas Augen leuchteten auf. »Ich bleibe auf jeden Fall, Frau von Schoenecker«, versicherte sie strahlend. »Schon wegen Dirk. Ich hänge sehr an dem Jungen.«
Denise nickte ihr zu. »Sie müssen es sich gründlich überlegen, Hella. Wenn es nicht unbedingt nötig ist, sollten Sie Ihr Studium nicht unterbrechen. Darauf muss ich Sie aufmerksam machen.«
Die Studentin lächelte versonnen. »Es kommt auf ein halbes Jahr gewiss nicht an, Frau von Schoenecker. Sophienlust bedeutet mir sehr viel. Ich bin als Waise aufgewachsen und habe die Geborgenheit, die man bei Ihnen findet, niemals gehabt. Das Studium mag warten.«
»Ist das eine feste Zusage?«, vergewisserte sich Denise.
»Ganz fest, Frau von Schoenecker.«
»Gut. Ich freue mich, dass Sie gern bei uns sind. Jetzt müssen wir zusehen, dass wir für unsere Regine schnell ein Sanatorium ausfindig machen, in dem sie sich auskurieren kann.«
Der Mond stand hoch am Himmel, als man aufbrach. Hella, die nur wenig Bowle getrunken hatte, übernahm das Steuer von Saschas Wagen, denn die beiden jungen Leute waren ziemlich übermütig geworden. Für ihre Fahrtüchtigkeit konnte man nicht mehr garantieren.
Unterwegs erzählte Hella den Freunden, dass sie beschlossen habe, in Sophienlust zu bleiben, um sich eine größere Summe zusammenzusparen. Sascha zeigte sich nicht sonderlich beeindruckt.
»Von Sophienlust kommt man nicht so leicht wieder weg«, meinte er nur und lachte.
Michael schien ganz befriedigt. »Das finde ich gut«, erklärte er mit schwerer Zunge. »Angelika und Vicky haben mir heute Nachmittag anvertraut, dass sie dich wahnsinnig nett finden. Wenn du bleibst, werde ich ziemlich oft kommen, um euch alle zu besuchen.«
»Nett von dir«, gab Hella zurück. »Deine Schwestern freuen sich bestimmt.«
»Und du? Würdest du dich nicht freuen, mich zu sehen?«
»Doch, ich natürlich auch, Michael!«
Sie erreichten Schoeneich, und Hella ließ die beiden Studenten aussteigen. Das letzte Stück nach Sophienlust fuhr sie allein.
Hella sah das schöne alte Herrenhaus gegen den mondhellen Himmel auftauchen und fühlte ihr Herz rascher schlagen. Die Gewissheit, dass sie noch viele Wochen hier tätig sein konnte, machte sie glücklich. Sie gestand sich ein, dass sie sich vor dem Abschied heimlich gefürchtet hatte. Warum, das wusste sie selbst nicht genau.
Johanna Hermann rief Torsten Möller täglich in seinem Hotel an und fragte nach seinen Plänen. Sie erreichte es, dass er in den letzten verbleibenden Tagen jede freie Stunde mit ihr verbrachte.
Schon auf der Rückfahrt von Sophienlust hatte sie ihn bedrängt, ihr eine Anstellung in seiner Firma zu verschaffen. Sie habe sich seinen Vorschlag überlegt und wollte ihre Fähigkeiten erproben.
Obwohl Torsten ihr in dieser Hinsicht keine Versprechungen machen konnte, zog er Erkundigungen ein und vermittelte ihr ein Gespräch mit dem Personalchef des Unternehmens. Johanna erweckte bei diesem den besten Eindruck und überzeugte ihn von ihrem Können. Da gute Kräfte stets gesucht waren, erhielt Johanna sofort einen Anstellungsvertrag.
Torstens Abreise aber ließ sich dadurch nicht verzögern. Er wickelte seine Geschäfte ab und packte seinen Koffer. Johanna brachte ihn in ihrem Wagen zum Flughafen nach Frankfurt.
»Ich habe dir viel zu verdanken, Torsten«, sagte sie, als die Maschine zum zweiten Mal ausgerufen wurde. »Leb wohl und vergiss mich nicht ganz.«
»Bestimmt nicht, Jo. Viel Glück bei deiner neuen Arbeit. Wir sind jetzt sozusagen Kollegen geworden.«
Sie sah ihn lächelnd an. »Vielleicht brauchst du einmal eine gute Dolmetscherin da unten in Afrika, Torsten.«
Er hob die Schultern.«Kann schon sein. Unsere Frau Sänger ist nicht gerade die ideale Mitarbeiterin. Wir haben schon oft über sie gestöhnt und unsere Texte lieber selbst abgefasst, als sie ihr zu überlassen.«
Ihre Augen leuchteten auf. »Ehrlich?«, fragte sie rasch.
»Klar. Aber wir wollen hier keine Luftschlösser bauen, sonst verpasse ich meinen Flug. Leb wohl, Jo.«
Sie umarmte ihn, küsste ihn mitten auf den Mund. »Alles Liebe für dich, Torsten«, flüsterte sie atemlos.
Er machte sich los und folgte den anderen Fluggästen als Letzter. Johanna wartete, bis sie die riesige Maschine hoch über sich im dunklen Nachthimmel erblickte. Wie ein Abschiedsgruß blinkten die kleinen Lampen zu ihr herab.
Nur zögernd kehrte sie zum Abstellplatz ihres Wagens zurück. Sie war sicher, dass sie ihr Ziel erreichen werde.
Während der Heimfahrt nach Stuttgart dachte sie an die Vergangenheit zurück. Noch einmal erlebte sie die bittere Enttäuschung, als Torsten sich für Grit entschied. Damals war für Johanna die Welt zusammengebrochen. Sie verschloss ihren Kummer fest im Herzen und verlobte sich bereits wenige Tage später mit Friedrich Hermann, der sie sehr verehrte. Solange Grit lebte, ahnte nicht einmal ihr Mann, dass sie sich immer noch heimlich nach Torsten sehnte und in mancher Nacht von ihm träumte. Friedrich Hermann war als Wirtschaftsprüfer außerordentlich erfolgreich und konnte seiner anspruchsvollen Frau jeden Wunsch erfüllen. Dass sie ihn nicht liebte, erkannte er erst, als Torstens Frau plötzlich starb.
Damals kümmerte sich Johanna sofort um den Witwer und seinen kleinen Jungen. Sie gab sich alle Mühe, sich unentbehrlich zu machen, was ihr auch gelang. Obwohl Friedrich Hermann nicht unbedingt damit einverstanden war, erbot sie sich, Dirk zu sich zu nehmen. Auf diese Weise gelang es ihr, eine ständige Verbindung zu Torsten aufrechtzuerhalten.
Dass ihre Ehe scheitern musste, gehörte zu ihrem Plan. Sie ließ es ihren Mann deutlich spüren, dass sie an ihm nicht länger interessiert sei. Denn sie wollte frei sein – frei, um ihren Jugendtraum endlich doch zu verwirklichen und Torstens Frau zu werden. Diesmal war sie entschlossen, ihr Schicksal fest in die Hand zu nehmen.
Spät in der Nacht erreichte sie Stuttgart. Die Fahrt hatte sie nicht angestrengt, sondern erholt. Am nächsten Morgen sollte sie ihren Posten antreten. Sie freute sich darauf, denn sie zweifelte nicht daran, dass es ihr gelingen werde, die untüchtige Dolmetscherin in Afrika auszubooten.
Während des langen Nachtfluges hatte Torsten Möller Zeit, über alles nachzudenken, was während seines kurzen Aufenthaltes in Deutschland geschehen war.
Jos leidenschaftlicher Abschiedskuss bestätigte ihm, was er ohnehin nicht hatte übersehen können. Die Jugendfreundin hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie ihm zugetan war. War es nicht vernünftig, Jo zu heiraten? Dann war es möglich, dass Dirk wieder ständig bei ihm sein konnte.
Der Ingenieur strich sich über die Stirn. Er war ehrlich gegen sich selbst und gestand sich ein, dass er für Jo keine Liebe empfand. Ein trauriges Lächeln umspielte seinen Mund. Grit – ja, das mit Grit war einmalig gewesen. Zweimal im Leben begegnete einem die ganz große Liebe wohl nicht. Trotzdem war es auf die Dauer richtig und notwendig, Dirk wieder eine Mutter zu geben. Jo hatte sich vom ersten Tag an, seitdem Grit tot war, um ihn und den Jungen gemüht.
Aber Dirk war fortgelaufen von Jo. Er hatte sich nicht glücklich gefühlt. Es war gewiss nicht Jos Verdienst gewesen, dass dem Jungen nichts zugestoßen war, sondern dass ein guter Engel ihn nach Sophienlust geführt hatte.
Torstens Gedanken schweiften ab. War nicht die blonde Studentin Hella Graff jener gute Engel? Wie innig liebte Dirk dieses junges Mädchen! Das Verhältnis seines Sohnes zu Jo war dagegen von deutlicher Zurückhaltung bestimmt.
Torsten Möller legte den Kopf gegen das Polster seines Sitzes und schloss die Augen. Die Erinnerung an gemeinsame glückliche Jugendtage mit Grit, Joe und anderen Freunden wurde wach.
Jo war stets in seinen Augen eine gute Kameradin gewesen – bis auf den heutigen Tag.
Er lächelte, und die Stewardess, die eben durch den Mittelgang kam, um Getränke anzubieten, nahm an, der Passagier schlafe bereits und träume.
Grit wäre bestimmt einverstanden, wenn ich Jo heirate, dachte Torsten im gleichen Augenblick. Doch es beruhigte ihn, dass er noch Zeit hatte für die Entscheidung. Für den Anfang war Dirk in Sophienlust glücklich. In Sophienlust, bei Hella Graff.
Michael Langenbach war diesmal von den Ferien ein wenig enttäuscht. Zwar konnte er mit Sascha allerlei unternehmen, sah seine beiden Schwestern täglich, doch die Gelegenheit zu ungestörtem Zusammensein mit Hella ergab sich so gut wie nie. Die sympathische Studentin war bei allen beliebt. Sie hatte sich in ihrem neuen Pflichtenkreis völlig eingelebt und nahm die Aufgaben, die ihr übertragen wurden, sehr ernst. Ihre besondere Zuneigung aber gehörte weiterhin dem kleinen Dirk, der seinerseits mit fast schwärmerischer Liebe an ihr hing.
Angelika neckte ihren großen Bruder hin und wieder, weil er meist einsilbig und tief in Gedanken versunken war. Dass Michaels getrübte Stimmung mit Hella im Zusammenhang stand, bemerkten Angelika und Vicky jedoch nicht.
Am Ende der Woche, zu deren Beginn Dirks Vater von Sophienlust abgefahren war, erhielt Michael Post von einem Freund, der ihn einlud, an einem Ferienkurs in Südfrankreich teilzunehmen. Es seien noch einige Plätze frei; aber er müsse sich schnell entschließen. Die Kosten waren gering und sogar die weite Reise war verbilligt, denn es sollte ein Sonderzug fahren.
Michael erschien diese Nachricht wie ein Rettungsanker. Weit wegfahren und nicht mehr jeden Tag von Neuem eine Enttäuschung erleben, das war sicherlich das Beste. Da Hella sowieso keine Zeit für ihn hatte, konnte er ebenso gut seine Ferien woanders verbringen. Es war schon lange sein Wunsch gewesen, seine mangelhaften Kenntnisse der französischen Sprache aufzubessern. Hier bot sich ihm eine einmalige Gelegenheit, die er nicht versäumen sollte.
Er zeigte Sascha den Brief.
»Was hältst du davon, Sascha? Ich möchte eigentlich gern mitfahren. Hättest du auch Lust?«
Sascha studierte den Brief.
»Tolle Sache«, meinte er, nachdem er gelesen hatte. »Teuer ist das wirklich nicht. Kaum zu fassen, dass sie noch Plätze frei haben. Wenn meine Eltern einverstanden sind, mache ich mit. So etwas darf man sich nicht entgehen lassen.«
Da Alexander und Denise nichts einzuwenden hatten, meldeten sich die beiden Freunde an dem Kurs an. Michael vergaß seinen heimlichen Kummer, denn plötzlich gab es eine Menge zu tun. Sie mussten schon am Sonntag nach Frankfurt fahren, wo sie in der Nacht zum Montag den Sonderzug besteigen würden.
»Du hast dich aber schnell entschlossen«, sagte Hella verwundert, als Michael ihr von seinem und Saschas Plan berichtete.
»Wir mussten sofort telegrafieren, wenn wir mitfahren wollten, Hella«, erwiderte Michael und mied ihren Blick. »Hoffentlich bist du nicht traurig, dass wir dich allein hier in Sophienlust lassen. Ein bisschen schlägt mir das Gewissen deinetwegen schon.«
Hella schüttelte den Kopf. »Ich fühle mich sehr wohl hier, Michael. Der Ferienkurs in Frankreich kann noch so billig sein, für mich wäre er immer noch zu teuer. Außerdem habe ich Frau von Schoenecker fest zugesagt, dass ich Schwester Regines Vertretung übernehme. Sie reist nächsten Mittwoch.«
»Nun ja, wir hätten hierbleiben können.« Michael zögerte. »Aber du bist doch meistens beschäftigt.«
Hella lachte. »Mach dir keine Gedanken, Michael. Ich habe hier den schönsten Ferienjob, den ich mir nur wünschen kann. Deshalb lasse ich euch neidlos abbrausen.«
Sie befanden sich im Nähzimmer von Sophienlust. Hella saß an der Nähmaschine und besserte Bettwäsche aus. Michael war mit dem Fahrrad zu ihr herübergefahren und hatte sie hier aufgestöbert. Hella nahm ein weiteres Laken zur Hand, um es einer gründlichen Durchsicht zu unterziehen.
Michael legte seine Hand auf ihre Schulter. »Kannst du das nicht einen Augenblick liegen lassen?«, bat er.
»Warum?«, fragte Hella. »Ich habe eine Menge auszubessern. Du kannst dir nicht vorstellen, wie die Wäsche hier strapaziert wird.«
Entschlossen ergriff er das Laken und legte es auf den Tisch. Dann beugte er sich zu Hella nieder und küsste sie. »Deshalb«, sagte er. »Ich wollte es dir zu verstehen geben, dass ich dich mag. Dazu ergibt sich hier kaum eine Chance.«
Hella stand auf. Mit sanften Fingern strich sie über Michaels Haar. »Ich mag dich auch, Michael«, antwortete sie leise. »Aber es wäre gut, wenn du nicht zu viel erwartest.«
Er zog sie an sich. Noch einmal legten sich seine Lippen auf ihren Mund. Er spürte, dass sie bei seinem Kuss nicht dasselbe empfand wie er.
»Vergiss mich nicht, Hella«, flüsterte er ein wenig traurig.
»Gewiss nicht, Michael«, gab sie zurück. »Ich würde mich freuen, wenn du mir schreibst. Aber du wirst an Angelika und Vicky sowieso eine Karte schicken. Ich werde also auf jeden Fall hören, wie es dir gefällt.«
»Du kannst dich darauf verlassen, dass ich dir schreibe, Hella.«
Sie setzte sich wieder und griff nach dem Laken. Er hinderte sie nicht daran. Mit betretener Nüchternheit schilderte er ihr die Einzelheiten des Kursprogramms.
Als Denise von Schoenecker nach einer Weile ins Nähzimmer trat, um etwas mit Hella zu besprechen, war Michael eben dabei, sich zu verabschieden.
»Hoffentlich bereuen Sie es nicht, dass Sie sich hier festgelegt haben, Hella«, äußerte Denise in ihrer verständnisvollen Art. »Sascha und Michael werden gewiss viel Schönes sehen und erleben.«
»Ich bin sowieso kein Sprachengenie«, antwortete Hella heiter. »Bei mir wäre solch ein Kursus wahrscheinlich ein kompletter Misserfolg. Ich bleibe lieber in Sophienlust, Frau von Schoenecker.«
Denise nickte ihrer jungen Helferin zu. »Umso besser, Hella. Ich wollte nur sichergehen. Schließlich haben Sascha und Michael ihre Ferienpläne ziemlich überraschend geändert. Es wäre immerhin denkbar, dass Sie Ähnliches vorhaben.«
Hella sah Denise fröhlich an. »Ich könnte mir den Kursus gar nicht leisten, Frau von Schoenecker. Für mich gibt es zurzeit nichts Schöneres, als hierzubleiben und mich nützlich zu machen, so gut ich kann.«
Michael verließ das kleine Zimmer. Denise von Schoenecker schaute ihm sinnend nach. Was sie dachte, sprach sie nicht aus. Doch es war ihr nicht entgangen, dass Michael der blonden Studentin eine starke Zuneigung entgegenbrachte. Sie ahnte, dass Michael fortging, um den ungelösten Problemen für eine Weile zu entfliehen. Sie fand das gut und richtig so. Die beiden jungen Menschen konnten auf diese Weise Abstand gewinnen und sich über ihre Gefühle klar werden.
Sie wandte sich Hella zu, um die Einkaufsliste mit ihr durchzusprechen. Der Sophienluster Alltag musste zu seinem Recht kommen. Hella sollte nach Maibach fahren, um Besorgungen zu erledigen.
Dirk hockte wie ein Häuflein Unglück in der Ecke des Pavillons, während die übrigen Kinder intensiv mit ihrem Spiel beschäftigt waren.
»Warum willst du nicht mitmachen?«, fragte Heidi Holsten vorwurfsvoll.
»Ich kann nicht«, antwortete Dirk leise.
Die Kinder spielten weiter. Sie machten sich über Dirk keine besonderen Gedanken.
Kurz vor Tisch kam Hella, um nach dem Rechten zu sehen und die Kinder ins Haus zu holen. Draußen regnete es. Deshalb hatten sich die Kinder in den Pavillon zurückgezogen, der früher einmal als Teehaus gedient hatte.
»Was ist los mit dir, Dirk?« Hella kauerte sich neben dem Jungen nieder und streckte die Arme nach ihm aus.
»Ich hab Kopfweh, Hella. Mir ist schlecht.«
»Du meine Güte, Dirk! Hoffentlich wirst du uns nicht krank.«
»Ich weiß nicht.« Ein paar dicke Tränen rollten über des Jungen Wangen.
Hella war ziemlich erschrocken. Schwester Regine, die seit ein paar Tagen im Sanatorium war, hätte sicherlich gleich gewusst, was Dirk fehlte. Sie aber verstand von Kinderkrankheiten rein gar nichts.
»Komm, Dirk, wir gehen ins Haus. Wir müssen Fieber messen. Möchtest du vorher noch Mittag essen?«
»Nein, Hella, ich habe keinen Hunger.« Das hörte sich recht kläglich an. Es schien ihm wirklich schlecht zu gehen.
Hella forderte die übrigen Kinder auf, hinüber ins Herrenhaus zu gehen und sich vor dem Essen schön die Hände zu waschen.
»Ist Dirk jetzt krank?«, fragte die kleine schwarze Peggy mitleidig.
»Kann schon sein, Peggy«, erwiderte Hella. »Aber vielleicht ist es gar nicht schlimm.«
Sie ergriff Dirks Hand, die sich trocken und heiß anfühlte. Als er sich aufrichtete, stöhnte der Junge vor Schmerzen. »Mein Kopf, Hella. Ich kann nicht …«
Hella fühlte ihr Herz angstvoll schlagen. Obgleich Dirk für seine fünf Jahre ziemlich groß war, hob sie ihn auf den Arm und trug ihn hinüber ins Herrenhaus, durch die Halle und die Treppe hinauf in sein Zimmer. Wie ein Baby ließ er sich von ihr auskleiden und zu Bett bringen.
Aus Schwester Regines Apothekenschrank holte Hella ein Thermometer. Dirk lag regungslos unter der Decke, seine Wangen glühten. Ab und zu wimmerte er. Die Kopfschmerzen mussten sehr heftig sein.
Das Thermometer zeigte 39,5 Grad, und Hella wurde ein wenig schwindlig, als sie es ablas. Sie nahm sich zusammen, um ihre Sorge nicht zu zeigen.
»Warte ein Weilchen, Dirk. Ich werde Tante Ma fragen, ob wir Frau Dr. Frey rufen müssen, damit sie dir etwas gegen dein Kopfweh gibt.«
Dirk reagierte nicht.
Hella verließ das Zimmer und hastete die Treppe hinunter. Die Kinder waren gerade dabei, sich zum Essen zu versammeln. Es gelang ihr, Frau Rennert zu informieren.
»Selbstverständlich muss Frau Dr. Frey kommen«, entschied die Heimleiterin sofort. »Die Nummer finden Sie im grünen Buch in meinem Büro. Wollen Sie gleich telefonieren, Hella? Ich wäre Ihnen dankbar. Hohes Fieber ist unter allen Umständen ein Alarmsignal.«
Hella lief in Frau Rennerts kleines Büro. Ihre Hand zitterte, als sie die Nummer suchte und die Wählscheibe drehte. Es dauerte eine Weile, bis sie die ruhige Stimme Dr. Anja Freys hörte. So gut sie es vermochte, schilderte Hella ihre Beobachtungen.
Die Ärztin stellte ein paar knappe Fragen.
»Ich komme im Lauf der nächsten halben Stunde«, erklärte sie dann. »Wir haben augenblicklich hier bei einigen Kindern einen unangenehmen Infekt mit Hirnhautreizungen. Ich möchte mir den Jungen so schnell wie möglich ansehen. Geben Sie ihm etwas zu trinken, falls er über Durst klagen sollte. Kühle Wickel um die Waden können auch nicht schaden. Ich bin bald dort.«
»Danke, Frau Doktor. Ich – ich sorge mich sehr um Dirk.«
Hella legte den Hörer auf. Sie schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass es sich bei dem kleinen Jungen nur um eine Halsentzündung oder einen ordentlichen Schnupfen handeln möge.
Dann ging sie in den Essraum und teilte Frau Rennert mit, dass die Ärztin kommen werde.
»Essen Sie rasch eine Kleinigkeit, Hella«, riet Frau Rennert mütterlich. »Sie sind gewiss hungrig.«
Hella schüttelte den Kopf »Nein, danke. Ich kann jetzt nicht essen, Frau Rennert. Ich will bei Magda etwas Saft holen, falls Dirk durstig ist. Bis Frau Dr. Frey kommt, warte ich oben bei Dirk. Ich möchte ihn nicht allein lassen.«
Wenig später saß sie neben dem Bett des Jungen. Er hatte einen einzigen Schluck Saft genommen. Sein Kopf schmerzte so stark, dass er nicht weitertrinken wollte.
Hella holte Handtücher und machte ihm einen kühlen Wickel um die Waden. Das schien er als angenehm zu empfinden. Die Wartezeit bis zur Ankunft der Ärztin erschien Hella wie eine Ewigkeit.
Als Frau Dr. Frey von Frau Rennert hereingeführt wurde, atmete Hella erleichtert auf. Die Ärztin betrachtete den Jungen, der verkrampft dalag. Sie fühlte seinen Puls, horchte ihn behutsam ab und prüfte seine Reflexe. Sie ging dabei so vorsichtig wie möglich zu Werke, weil Dirk bei der geringsten Bewegung wimmerte.
»Es sind die typischen Anzeichen«, erklärte Frau Dr. Frey, als sie sich aufrichtete. »Ich habe mir die erforderlichen Medikamente schon mitgebracht. Der Junge leidet an schlimmen Kopfschmerzen. Ich möchte deshalb von einem Transport ins Krankenhaus abraten. Es trifft sich allerdings schlecht, dass Schwester Regine jetzt nicht im Hause ist …«
Hella sah die Ärztin an. »Ich übernehme Dirks Pflege, Frau Doktor«, sagte sie entschlossen. »Wenn Sie mir genau erklären, was ich zu tun habe, kann ich das bestimmt.«
Dr. Anja Frey nickte der Studentin zu. »Wenn Sie sich das zutrauen, Frau Graff – umso besser. »Ich werde täglich kommen, um die nötigen Injektionen vorzunehmen. Es ist wichtig, dass der Junge völlige Ruhe hat. Das Fieber kann noch weiter ansteigen. Jemand muss bei ihm bleiben, damit er nicht im Fieber aus dem Bett fällt. Die Erkrankung verläuft im Allgemeinen stürmisch und verhältnismäßig schnell.«
Die Ärztin packte nun ihre Tasche aus. Ruhig und umsichtig bereitete sie die Injektion vor.
Dirk schien den Einstich nicht zu spüren. Er nahm von seiner Umgebung keine Notiz mehr. Dass er noch am Morgen vergnügt mit den anderen Kindern am Frühstückstisch gesessen hatte, erschien unvorstellbar.
»Ich werde Frau von Schoenecker selbst informieren«, versprach Frau Dr. Frey, nachdem sie Hella ausführliche Anweisungen für die Pflege des kleinen Patienten gegeben hatte.
Dann war Hella wieder allein mit ihrem Schützling.
»Dirk«, flüsterte sie. »Dirk, ich bin bei dir. Du brauchst keine Angst zu haben. In ein paar Tagen bist du hoffentlich wieder gesund.«
Das Kind hörte sie nicht. Der kleine Mund formte Worte, die sie nicht verstand. Das Fieber hatte Dirk in seiner glühenden Gewalt. Hella musste hilflos dabeisitzen und wachen. Was sie tun konnte, um dem Jungen ein wenig Erleichterung zu verschaffen, erschien ihr armselig genug.
Eine Stunde später trat Denise von Schoenecker ein. Sie war von Frau Dr. Frey verständigt worden und sofort von Schoeneich herübergekommen, wo man gerade bei Tisch gesessen hatte. Sie legte die Hand auf Dirks heiße Stirn und nickte Hella ermutigend zu.
»Ich danke Ihnen, dass Sie sich bereit erklärt haben, seine Pflege zu übernehmen, Hella«, flüsterte sie. »Bei Ihnen ist Dirk gewiss in guter Hut.«
Hella kämpfte mit den Tränen. »Ich habe Angst um ihn«, gab sie kaum hörbar zurück.
Denises Gesicht war ernst. »Ja, es ist eine gefährliche Krankheit. Ich muss seinem Vater ein Telegramm schicken. Aber wir wollen den Mut nicht verlieren, Hella. Ich will Herrn Möller nur benachrichtigen, damit er Bescheid weiß. Ihn zurückzurufen, wäre sinnlos. Er kann nicht helfen. Der Junge würde ihn nicht einmal erkennen.«
»Ich verstehe, Frau von Schoenecker.«
Denise erreichte es, dass Hella das Zimmer für eine kurze Zeit verließ. Sie sollte essen und hinterher eine Tasse Kaffee trinken. Sonst war sie als Pflegerin allzu bald erschöpft.
Hella fügte sich, weil sie einsah, dass Denise recht hatte. Bei Magda in der großen Küche stärkte sie sich und besprach mit der warmherzigen Köchin das schlimme Ereignis dieses Tages.
Magda, die dabei war, einen besonders starken Kaffee für Hella zu brauen, seufzte. »Es ist traurig, Hella. Die anderen Kinder laufen nur noch auf Zehenspitzen durchs Haus. Natürlich hat es sich gleich herumgesprochen, wie krank Dirk ist. Aber man kann sich auf unsere Frau Doktor schon verlassen. Sie schafft es bestimmt und macht Dirk wieder gesund.«
Es tat Hella wohl, dass auch Magda an Dirks Erkrankung Anteil nahm. Sie trank den Kaffee, bedankte sich und schüttelte Magdas arbeitsharte Hand.
»Sie hängen an Dirk, Hella, nicht wahr?«, fragte die lebenserfahrene Köchin.
»Sehr, Magda. Ich wage gar nicht daran zu denken, dass ihm etwas zustoßen könnte.«
In der Halle saß eine Gruppe von Kindern. Draußen regnete es noch immer. Für gewöhnlich wurden bei schlechtem Wetter während der Ferien hier Gesellschaftsspiele gespielt. Heute saßen die Kinder still beisammen und sahen bedrückt aus.
»Ich habe noch ein Bonbon«, sagte Peggy und hielt Hella ein klebriges buntes Etwas entgegen, das offenbar schon ziemlich lange in ihrer Tasche gesteckt hatte. »Willst du es mitnehmen für Dirk? Wir dürfen nicht zu ihm ins Zimmer gehen.«
Hella musste trotz ihrer Angst lächeln und strich über Peggys Krauskopf. »Dirk mag jetzt kein Bonbon, Peggy. Später, wenn es ihm besser geht, vielleicht. Es ist lieb von dir.«
Pünktchen griff nach Hellas Hand. »Irmela und ich geben auf die Kleinen acht, Hella. Das haben wir schon mit Tante Isi und Tante Ma ausgemacht.«
»Das ist nett von euch, Pünktchen.« Hella warf auch der blonden Irmela einen dankbaren Blick zu.
»Wenigstens haben wir Ferien«, erklärte Pünktchen. »Das trifft sich ganz gut.«
Hella wurde wieder einmal bewusst, dass die Sophienluster Gemeinschaft fest gefügt war wie eine Familie. Jedes Kind ordnete sich ein und bemühte sich, sein Bestes zu geben, wenn Not am Mann war.
Als sie in das stille Krankenzimmer zurückkehrte, überließ ihr Denise wieder ihren Platz am Bett. »Er ist sehr unruhig, Hella. Heute Abend wird Frau Dr. Frey noch einmal kommen. Ich schaue später wieder herein.«
Hella blieb mit ihrer Angst um Dirk allein. Ihr war das Herz schwer und die Kehle eng. Die Erinnerung an ihre erste Begegnung mit dem kleinen Jungen wurde wach. Sie meinte Dirk wieder vor sich zu sehen, wie er im Gras lag mit dem verwegenen Schlapphut. Unterwegs nach Afrika.
Sie seufzte. Gewiss hatte Frau von Schoenecker das Telegramm nun schon durchs Telefon aufgegeben. Noch heute Abend würde Dirks Vater, der so weit entfernt war, erfahren, dass sein Junge sich in ernster Gefahr befand.
Sie hatte Torsten Möller versprochen, sich seines Jungen anzunehmen. Ihre Ohnmacht wurde ihr bewusst. Zwar konnte sie ihr Bestes geben und alles tun, um Dirk zu pflegen. Aber dann war ihre Macht zu Ende. Wie sollte sie Torsten Möller je wieder in die Augen blicken, wenn Dirk diese schreckliche Krankheit nicht überlebte?
Hella faltete die Hände und betete. Würde Gott sie erhören und das Kind retten? Oder wollte er Dirk zu sich rufen nach seinem unerforschlichen Ratschluss?
Vier Tage und vier Nächte dauerte es. Hella wich kaum vom Lager des mit dem Tod ringenden Jungen. Die Einzige, der sie ihren Platz ab und zu überließ, um etwas zu essen, ein wenig zu ruhen, zu duschen und sich umzukleiden, war Denise von Schoenecker.
Über dem sonst von fröhlichem Lärm erfüllten Haus der glücklichen Kinder lagen dunkle Schatten. Die jungen Bewohner von Sophienlust bemühten sich, keinen Lärm zu verursachen. In den vielen Kinderaugen stand die bange Frage, ob Dirk wieder gesund wurde.
Frau Dr. Frey kam jeden Morgen und jeden Abend. Einmal rief Hella sie sogar mitten in der Nacht.
»Es ist bewundernswert, wie Frau Graff sich für Dirk aufopfert«, sagte die Ärztin anerkennend zu Denise. »Sie liebt dieses Kind, als wäre sie die Mutter. Wir hätten keine bessere Pflegerin finden können.«
Dennoch wohnte die bittere Sorge für vier Tage und vier Nächte mit unter dem Dach von Sophienlust.
Am fünften Morgen endlich war das Fieber wie durch ein Wunder gefallen, und Dirk erkannte Hella wieder.
Überwältigt von Freude schloss sie das Kind in die Arme und drückte es ans Herz. »Tut dir der Kopf nicht mehr weh?«, fragte sie besorgt.
»Nein, Hella, mir tut gar nichts weh. Aber gestern war es arg. Ich konnte nicht mehr mitspielen …«
Hella strich ihm übers Haar. Er glaubte, dass nur eine Nacht vergangen war seit seiner Erkrankung. Der lange bange Fiebertraum war für ihn schon in Vergessenheit versunken.
Behutsam bettete Hella das Kind wieder auf sein Kissen. Als die Ärztin gegen acht Uhr erschien, konnte sie Hellas Beobachtungen bestätigen. Die Gefahr war gebannt.
Denise von Schoenecker, die während der schlimmen Tage und Nächte in Sophienlust geblieben war, konnte ein weiteres Telegramm an Torsten Möller senden. Jeden Morgen hatte sie getreulich einen knappen Bericht an ihn gekabelt. Heute endlich war sie in der Lage, dem besorgten Vater eine gute Nachricht zu übermitteln.
Die Sophienluster Kinder durften wieder lachen und fröhlich sein. Die Sorge hatte auf einmal keinen Platz mehr im Haus.
Hella erklärte sich damit einverstanden, dass die gewissenhafte Irmela sich neben Dirks Bett setzte. Irmela wollte später Medizin studieren. Ihre Eltern lebten in Indien. Irmela aber benötigte das deutsche Abitur für ihr geplantes Studium. Sie übernahm den Platz bei Dirk gern, und Hella wusste, dass sie sich auf das intelligente Mädchen verlassen konnte.
Wie müde sie war! Hellas Glieder waren bleischwer. Sie hatte in den vergangenen Tagen und Nächten kaum geschlafen. Nun machte sich ihre Erschöpfung plötzlich bemerkbar. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten.
»Jetzt müssen Sie schlafen, Hella«, hörte sie jemand sagen. Undeutlich kam ihr zum Bewusstsein, dass dies Frau Rennerts Stimme war. Jemand schob ihr einen Arm unter den Ellbogen und führte sie in ihr Zimmer. Sie ließ sich auf ihr Bett fallen und zog nicht einmal das Kleid aus. Frau Rennert nahm ihr wenigstens die Schuhe ab.
Dann zog die Heimleiterin die Vorhänge vor und ging leise hinaus. Auch sie fühlte sich erleichtert und dankbar, dass Dirks gefährliche Krankheit über die Krise hinaus war.
Hella schlief volle vierundzwanzig Stunden durch und erwachte nicht ein einziges Mal. Dann stand sie auf, stellte verwundert fest, dass sie angekleidet im Bett gelegen hatte und wollte nicht glauben, dass inzwischen ein voller Tag und eine Nacht vergangen waren.
Als sie geduscht und sich umgezogen hatte, frühstückte sie ausgiebig und ließ sich von Frau Rennert berichten, wie viel besser es dem kleinen Patienten inzwischen ging. Er sollte zwar noch einige Tage im Bett bleiben, doch spielte er bereits, hatte etwas Appetit und fragte ständig nach seiner geliebten Hella.
»Ein Telegramm von Herrn Möller ist auch gekommen«, fuhr Frau Rennert lächelnd fort. »Dirks Vater bedankt sich für die gute Pflege seines Jungen. Das gilt Ihnen, Hella.«
Hella senkte die Lider. Ihre Wangen glühten auf einmal. »Herr Möller kann doch nicht wissen, dass ich mich um Dirk gekümmert habe«, wandte sie ein.
»Nein, das weiß er auch nicht. Aber wenn er sich für die Pflege bedankt, dann sind Sie gemeint.«
»Ach so, ich verstehe.« Hella atmete heimlich auf. Sie wollte keinen Dank. Es bedeutete für sie genug des Glücks, dass Dirk der tückischen Krankheit nicht erlegen war. »Es war nicht mein Verdienst, Frau Rennert«, fügte sie leise hinzu. »Jeder hätte für Dirk sorgen können.«
»Jeder nicht, Hella. Sie waren mit dem Herzen dabei. So etwas ist manchmal entscheidend.«
Da widersprach Hella nicht mehr. Sie war wirklich mit ihrem Herzen dabei gewesen und hatte nicht zu schlafen gewagt, weil sie befürchtete, dass der Tod ihr den kleinen Jungen entreißen könne, während sie nicht bei ihm wachte.
Sie beendete ihr Frühstück und ging hinauf zu Dirk. Er saß aufrecht im Bett und beschäftigte sich mit einem Malbuch. Die bunten Stifte hatten unverkennbare Spuren auf dem weißen Bettzeug hinterlassen.
»Endlich kommst du, Hella«, begrüßte er sie. »Warum hast du bloß so schrecklich lange geschlafen? Das gibt es doch gar nicht, dass man den ganzen Tag verschläft.«
Hella umarmte ihn. Es war überwältigend für sie, dass seine Augen sie nun klar und fieberfrei anblickten.
»Ich bin eben ein Faultier«, antwortete sie und verbarg ihre Freudentränen hinter einem Lachen. »Ich hatte einfach keine Lust zum Aufstehen.«
Dirk lachte mit. »Komisch«, meinte er. »Ich habe schon Lust. Aber Frau Dr. Frey erlaubt noch nicht, dass ich aufstehe.«
»Nur ein bisschen Geduld musst du noch haben, Dirk. Dann bist du wieder ganz gesund und kannst spielen, reiten oder zu Tante Andrea ins Tierheim fahren wie die anderen Kinder.«
»Irmela hat gesagt, dass ich sehr krank war.« Dirk schien stolz darauf zu sein.
»Nun ja, wir haben uns um dich gesorgt, Dirk.«
»Mein Vati hat sogar ein Telegramm geschickt mit Grüßen für mich. Habe ich nicht einen lieben Vati?«
Hella drückte Dirk noch fester an sich. »Ja, Dirk, einen sehr lieben Vati«, erwiderte sie.
So begann dieser Tag in Sophienlust mit einem frohen Auftakt für alle Bewohner des Hauses. Leider sollte er nicht so heiter enden.
Bereits im Lauf des Vormittags erhielt Denise einen Anruf von Johanna Hermann. Knapp und entschieden kündigte Frau Hermann ihren Besuch in Sophienlust für die frühen Nachmittagsstunden an. Erfreut war Denise nicht. Sie verspürte wenig Lust, sich mit Dirks ehemaliger Pflegemutter zu unterhalten. Doch es gab keinen Grund, der Dame den Besuch zu verweigern. Sie war gemeinsam mit Torsten Möller da gewesen. Sie nahm am Ergehen des Jungen wohl doch Anteil.
Um auf jeden Fall bei der Ankunft Johanna Hermanns anwesend zu sein, blieb Denise zum Mittag in Sophienlust. Die Kinder jubelten, dass ihre geliebte Tante Isi mit ihnen am Tisch saß. Mit etwas säuerlicher Miene fand sich schließlich auch Alexander von Schoenecker ein.
»Damit ich meine Familie mal wieder zu sehen kriege«, sagte er vorwurfsvoll. »Nick und Henrik stecken sowieso von früh bis spät hier, und seit Neuestem muss ich sogar auf dich verzichten, Isi.«
Denise legte die Hand begütigend auf die seine. »Schön, dass du gekommen bist, Alexander. Ich habe dich vermisst.«
Ihr Mann setzte sich neben sie und nickte ihr zu. »Es ist nicht so gemeint, Isi. Dass mir Sophienlust nicht weniger am Herzen liegt als dir, weißt du.«
»Gibt es denn etwas Besonderes?«, erkundigte sich Nick, der wieder einmal das Gras wachsen hörte. »Dirk ist doch nicht mehr richtig krank.«
»Ich erwarte einen Gast, Nick«, erklärte Denise. »Deshalb wollte ich nicht nach Schoeneich zum Essen fahren.«
»Kriegen wir wieder ein neues Kind?«, warf Henrik gespannt ein.
Denise schüttelte den Kopf. »Nein, Henrik, es ist nur eine Dame. Ein neues Kind bringt sie uns gewiss nicht nach Sophienlust.«
Auch die übrigen Kinder stellten neugierige Fragen. Doch Denise vermied es, Johanna Hermanns Namen zu nennen. Sie wollte vermeiden, dass die Nachricht zu Dirk gelangte, der sich auf keinen Fall aufregen sollte. Zunächst musste sie herausfinden, aus welchem Grund Frau Hermann die Fahrt hierher unternahm.
Bei einer Tasse Kaffee im Biedermeierzimmer erzählte sie Alexander, wen sie erwartete. »Ich habe kein besonders gutes Gefühl dabei«, sagte sie. »Hoffentlich irre ich mich. Diese Dame ist mir nicht sympathisch. Das mag ungerecht sein. Ich kann nichts dafür.«
Alexander von Schoenecker hob die Schultern. »Sie hat auch auf mich keinen angenehmen Eindruck gemacht. Hoffen wir, dass sie lediglich nach Dirk schauen will. Es braucht ja nicht gleich Ärger zu geben, wenn sie hier aufkreuzt. Du wirst schon mit ihr fertig werden. Oder soll ich dir helfen?«
Denise sah ihren Mann nachdenklich an.
»Ich möchte wetten, dass sie uns Schwierigkeiten machen wird. Von Anfang an hatte ich von dieser Frau den Eindruck, dass sie ein bestimmtes Ziel verfolgt. Ihre Bereitwilligkeit, uns Dirk anzuvertrauen, hatte rein persönliche Motive. Sie tat so, als schenke sie mir Vertrauen, aber sie war nicht aufrichtig. Trotzdem möchte ich allein mit ihr sprechen. Wenn du dabei bist, fühlt sie sich möglicherweise in die Enge getrieben. Zwei gegen einen – du verstehst? Ich werde hoffentlich mit ihr zurechtkommen. Meine Sorge gilt in erster Linie dem kleinen Dirk. Frau Dr. Frey hat jede Aufregung für ihn verboten.«
Alexander leerte seine Tasse und küsste Denise auf die Wange. »Du wirst dein Schiff schon durch den Sturm steuern, Isi. Ich muss jetzt zurück nach Schoeneich. Hans-Joachim wollte sich die braune Stute ansehen, die heute Morgen Koliken hatte. Ich habe ihm versprochen, dass ich ihn erwarte. Wenn du meine Hilfe nicht benötigst, möchte ich mein Wort halten.«
Denise reichte ihm die Hand. »Sag Hans-Joachim schöne Grüße. Ich glaube, er hat zurzeit sehr viel zu tun. Andrea sprach vorhin darüber, als ich mit ihr telefonierte.«
Alexander lachte. »Unser Schwiegersohn ist jung und gesund, Isi. Es wird ihm nichts schaden, wenn er mal viel Arbeit hat. Andrea wäre doch die Letzte, die den leidenden Tieren den Arzt vorenthalten wollte.«
Mit diesen Worten verließ er das Biedermeierzimmer. Vor der Tür entdeckte er Henrik, der einen roten Kopf bekam, weil er offensichtlich gelauscht hatte.
»Tut man das?«, fragte der Vater schmunzelnd.
»Ich wollte so gern rauskriegen, wer nun eigentlich kommt, Vati!«, gestand der Junge treuherzig. »Aber ich hab nichts hören können.«
»Da hast du eben Pech gehabt«, meinte Alexander. »Willst du mit mir nach Schoeneich fahren? Hans-Joachim kommt, um die braune Stute zu untersuchen.«
»O ja, da möchte ich zusehen, Vati.«
Henrik schloss sich seinem Vater an, der seinen Wagen draußen stehen hatte. Seine Neugier war vergessen.
Doch die anderen Kinder ließen sich nicht ohne Weiteres weglocken. Sie hielten sich in Sichtweite der Auffahrt auf und wollten die Ankunft des Gastes um keinen Preis versäumen. Denise entschloss sich, den Stier bei den Hörnern zu packen, und rief Nick zu sich.
»Du kannst den anderen sagen, dass Dirks Tante Johanna kommt, Nick«, eröffnete sie ihm. »Aber ich möchte nicht, dass Dirk etwas davon erfährt. Für ihn wären Unruhe und Aufregung schädlich. Frau Hermann wird zuerst eine Weile mit mir sprechen wollen, ehe sie Dirk aufsucht. Wenn es dann so weit ist, werde ich selbst hinaufgehen und Dirk Bescheid geben.«
Nick hatte verstanden. »Geht in Ordnung, Mutti«, versprach er sofort. »Man regt sich wirklich auf, wenn man auf jemand warten soll. Glaubst du eigentlich, dass Dirk sich freut, wenn Frau Hermann da ist? Besonders gern mag er sie nämlich nicht.«
Die Mutter lächelte. »Sicherlich meint es Frau Hermann sehr gut. Dirk ist doch ziemlich lange bei ihr gewesen, ehe er zu uns kam.«
»Aber er ist dort fortgelaufen, Mutti.«
»Ich bitte dich herzlich, darüber nicht mit den anderen Kindern zu diskutieren, Nick. Kann ich mich darauf verlassen?«
»Klar, Mutti. Ist auch gar nicht so wichtig. Es klang nur bei Tisch ein bisschen geheimnisvoll. Da sind wir neugierig geworden. Frau Hermann wird Dirk wohl nicht wegholen wollen?«
Denise erschrak ein wenig. Dies war eine Möglichkeit, mit der sie nicht gerechnet hatte. Aber nein, das war unmöglich! Ohne ausdrückliche Anweisung des Vaters konnte Frau Hermann nichts unternehmen.
»Nein, Nick, das wohl kaum«, entgegnete Denise nach kurzem Zögern. »Lauf jetzt hinaus, damit die anderen Bescheid wissen. Wer ist eigentlich bei Dirk?«
»Peggy und Heidi. Die drei spielen oft zusammen.«
»Nun, dann ist Dirk beschäftigt.«
Nick verzog sich. Denise trug die Kaffeetassen in die Küche. Noch während sie sich mit Magda über den Küchenzettel für die nächste Woche unterhielt, hörte man draußen einen Wagen vorfahren.
Denise eilte durch die Halle hinaus ins Freie, um die Besucherin willkommen zu heißen.
Johanna Hermann wirkte eleganter denn je. Sie trug ein teures Kostüm, blitzenden Schmuck, hochhackige Schuhe und ein perfektes Make-up. Ihre Augen blickten kühl, ihr Gesicht drückte Entschlossenheit aus.
Schwierigkeiten, fuhr es Denise durch den Sinn. Genauso sieht jemand aus, der Schwierigkeiten ins Haus bringen will.
Immerhin wartete Johanna Hermann, bis Denise sie ins Biedermeierzimmer geführt hatte, ehe sie sich äußerte.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Hermann?«, erkundigte sich Denise freundlich. »Darf ich Ihnen eine Erfrischung anbieten?«
»Nein, danke, ich habe unterwegs eine Tasse Kaffee getrunken. Ich möchte keine unnötige Zeit verlieren, sondern bin lediglich hier, um zu erfahren, wie es Dirk geht. Mein Freund Torsten Möller hat mir geschrieben; ich erhielt den Brief heute früh. Er stand ganz unter dem Eindruck Ihres Telegramms, Frau von Schoenecker. Dass sich sein Vater aus so großer Entfernung Sorgen macht, lässt sich denken. Deshalb habe ich mir den Tag freigenommen, um mich selbst zu überzeugen, was hier vorgeht.«
Denise hatte sie ausreden lassen. Der anklagende Ton, den Johanna Hermann anschlug, wirkte nicht gerade beruhigend.
»Ich kann Ihnen die erfreuliche Mitteilung machen, dass Dirk sich auf dem Weg der Besserung befindet, Frau Hermann«, sagte Denise so freundlich wie möglich. »Wir haben Herrn Möller täglich ein Telegramm geschickt, damit er auf dem Laufenden war. Er ist bereits unterrichtet, dass die Gefahr für das Kind vorüber ist. Wir sind dankbar, dass unser kleiner Dirk sich nun langsam erholt.«
Johanna hob die sorgsam nachgezogenen Brauen. »Um welche Krankheit handelt es sich eigentlich? Torsten schrieb von einem Infekt – also doch wohl eine ansteckende Krankheit. Daraus ist zu schließen, dass Sie es an der nötigen Sorgfalt haben fehlen lassen, Frau Schoenecker. Außerdem bleibt die Frage offen, warum das Kind nicht in ein Krankenhaus gebracht wurde. Sie sind doch hier draußen auf dem Land gar nicht auf eine sachgemäße Pflege eingerichtet. Ihr Verhalten erscheint mir geradezu fahrlässig.«
Es fiel Denise nicht leicht, sich zu beherrschen. »Es war ein Virusinfekt, Frau Hermann«, erklärte sie nüchtern. »Leider ist die Erkrankung in diesem Sommer mehrfach aufgetreten. Über die Art der Verbreitung ist wenig bekannt. Da kein anderes Kind in Sophienlust krank geworden ist, entbehrt Ihr Vorwurf mangelnder Sorgfalt wohl doch jeder Grundlage. Wir haben Dirk auf dringendes Anraten unserer bewährten Hausärztin Frau Dr. Frey nicht ins Krankenhaus nach Maibach transportiert, weil der Transport für den schwerkranken Jungen ein zusätzliches Risiko mit sich gebracht hätte. Frau Graff – Sie werden sich an das junge Mädchen erinnern – hat die Pflege übernommen. Unsere Ärztin hat mir versichert, dass Dirk in erster Linie Frau Graffs liebevoller Pflege seine Genesung, vielleicht sogar das Leben zu verdanken hat.«
»Ein gefährlich erkranktes Kind gehört in eine Klinik mit Fachärzten. Das ist meine Meinung, Frau von Schoenecker. Sie können von Glück sagen, dass dieses waghalsige Experiment so glatt abgelaufen ist. Wäre Dirk etwas zugestoßen, hätte ich Sie verklagt. Darauf können Sie sich verlassen.«
Denise bewahrte auch angesichts dieser Unverfrorenheit ihre Ruhe. »Hat Herr Möller Sie beauftragt, sich um Dirk zu kümmern?«, fragte sie nur. »Er hat uns in seinem Telegramm von gestern nichts dergleichen mitgeteilt.«
»Torsten hat Ihnen telegrafiert?« Darüber war die Besucherin nun doch verwundert.
»Ja, Frau Hermann. Sie können das Telegramm gern lesen. Herr Möller bedankt sich für die gute Pflege seines Jungen und schickt herzliche Grüße für Dirk. Dirk hat sich über diese Grüße natürlich sehr gefreut.«
Johanna Hermann war der Wind aus den Segeln genommen. »Ich hielt es für meine Pflicht, sofort hierherzufahren«, erklärte sie ziemlich matt. »Torstens Brief war für mich alarmierend. Natürlich ist er nun schon einige Tage alt. Von der letzten Entwicklung wusste ich nichts. Ein Segen, dass der Junge lebt!« Sie produzierte einmal wieder ihren großen Augenaufschlag, an den Denise sich noch gut erinnerte.
»Darüber sind wir nicht weniger glücklich als Sie, Frau Hermann«, sagte Denise und lächelte sogar dazu. »Sie dürfen versichert sein, dass die Maßnahmen unserer Ärztin absolut korrekt waren. Frau Dr. Frey betreut unser Haus seit Jahr und Tag. Ihre Kritik ist durch nichts gerechtfertigt. Ich muss Ihre Vorwürfe zurückweisen, denn wir tun hier Tag für Tag alles, um den Kindern ein glückliches Zuhause zu schenken und natürlich auch in bester Weise für ihre Gesundheit zu sorgen.«
Johanna Hermann hob die Hand. »Sie haben ganz einfach Glück gehabt«, entgegnete sie zornig. »Jedenfalls werde ich an Torsten schreiben und ihm berichten, was hier vorgegangen ist.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Denise mit leicht erhobener Stimme.
»Dirks Vater wird erfahren, dass sein Sohn von einer Landärztin und einer jungen Studentin betreut wurde, während er in Lebensgefahr schwebte. Und das, obwohl der Weg nach Maibach in die Klinik wahrhaftig nicht sehr weit ist. Ich beginne daran zu zweifeln, ob es der richtige Entschluss war, Ihnen Dirk anzuvertrauen.«
»Das hat Herr Möller zu entscheiden, Frau Hermann.«
»Ich versichere Ihnen, dass er etwas unternehmen wird. Sie lassen die Kinder hier ganz romantisch und idyllisch zwischen Blumen, Korn und Tieren aufwachsen. Das mag gut und schön sein. Aber Sie treiben es mit dem einfachen Leben ein bisschen zu weit. Dirk hätte in ein Krankenhaus gehört. Das lasse ich mir nicht ausreden.«
»Ein Urteil darüber, verehrte Frau Hermann, könnte wohl nur ein Arzt abgeben. Ich kann Sie nicht hindern, an Herrn Möller zu schreiben und Ihre persönliche Meinung zu äußern. Trotzdem muss ich Sie bitten, mich mit weiteren derartigen Vorwürfen zu verschonen. Ist es nicht sinnlos, wenn wir hier diskutieren, während Dirk oben höchst munter in seinem Bett sitzt und mit zwei kleinen Mädchen spielt?«
»Wer garantiert dafür, dass er keinen Rückfall erleidet?«, trumpfte Frau Hermann auf. »Ich fühle mich für Dirk auch heute noch verantwortlich. Deshalb habe ich mich von meinem Dienst beurlauben lassen, obwohl ich erst seit kurzer Zeit bei der Firma tätig bin und nur ungern ein Sonderrecht in Anspruch nehme. Glücklicherweise brachte man mir volles Verständnis entgegen.«
Denise stand auf. »Ich bin ziemlich sicher, dass Dirk keinen Rückfall haben wird«, erklärte sie. »Aber ich nehme an, Sie wollen den Jungen gern selbst sehen. Wollen wir zusammen nach oben gehen?«
Auch die Besucherin erhob sich. »Ja, sehen will ich Dirk. Nur wenn ich mich mit eigenen Augen überzeuge, kann ich glauben, dass die Gefahr vorüber ist. Hirnhautentzündung kann bleibende Schäden hinterlassen. Ich habe mich erkundigt.«
»Es handelte sich glücklicherweise nur um eine Reizung der Hirnhaut, Frau Hermann. Da die Erkrankung sofort erkannt und mit den erforderlichen Medikamenten behandelt wurde, sind alle Risiken weitgehend ausgeschaltet worden.«
Johanna Hermann zuckte die Achseln. »Wir sind in dieser Angelegenheit unterschiedlicher Meinung, Frau von Schoenecker. Bringen Sie mich jetzt bitte zu Dirk. Ich kann mich nicht lange aufhalten.«
Denise führte Johanna die Treppe hinauf. Sie öffnete Dirks Tür und musste lächeln, als sie die drei Kinder, Dirk, Heidi und die schwarze Peggy einträchtig über einem Bilderbuch vorfand.
»Dirk, deine Tante Jo ist gekommen«, sagte Denise fröhlich. »Sie hat erfahren, dass du krank gewesen bist. Nun möchte sie selbst sehen, dass es dir wieder besser geht.«
Dirk blickte Johanna verwundert entgegen. Denise schickte die beiden kleinen Mädchen für eine Weile hinaus.
»Du machst schlimme Geschichten, Dirk«, rief Johanna aus. »Ich hab mir Sorgen um dich gemacht, deshalb bin ich gleich hierher gefahren.«
»Aber ich bin schon fast gesund, Tante Jo«, antwortete Dirk. »Du hättest ruhig zu Hause bleiben können. Vati hat ein Telegramm geschickt. Er lässt mich grüßen.«
Johanna Hermann überspielte die offenkundige Gleichgültigkeit des Jungen, indem sie ihn mit einer großen Bewegung umarmte. Doch Dirk bog den Kopf zurück und machte sich stocksteif.
»Willst du deiner Tante kein Küsschen geben?«, flötete Johanna.
»Lieber nicht, Tante Jo. Küsschen finde ich blöd.«
»Du bist ziemlich ungezogen, Dirk. Lernst du das hier in Sophienlust?« Denise erhielt gleichzeitig einen vorwurfsvollen Blick.
»Ich bin gar nicht ungezogen, Tante Jo. Bloß Küsschen mag ich nicht.«
»Ich sehe, es geht dir ganz gut. Das freut mich.« Johanna wechselte rasch das Thema.
»Prima geht es mir, Tante Jo. Woher weißt du überhaupt, dass ich krank gewesen bin?«
»Vati hat mir einen Brief geschrieben.«
»Ach so. Hast du auch ein Telegramm von ihm bekommen wie wir?«
»Nein. Aber ich werde ihm jetzt schreiben, dass ich bei dir gewesen bin und dass es dir besser geht.«
»Das weiß er schon – ich meine, dass ich nicht mehr krank bin, Tante Jo.«
»Dass du immer alles besser wissen musst!« Sie nahm sich nicht einmal die Zeit, sich auf den Stuhl neben dem Bett zu setzen. Hastig blickte sie auf ihre Uhr. »Ich muss wieder fahren, Dirk. Vielleicht hole ich dich bald von hier ab.«
Dirk horchte auf.
»Warum willst du mich abholen, Tante Jo?«, fragte er. »Vati hat gesagt, dass ich hierbleiben darf. Ich möchte auch gern bleiben. Schon, weil Hella hier ist, und wegen der Ponys und der anderen schönen Sachen. In Stuttgart ist es gar nicht so lustig wie hier.«
»Dein Vati wird wahrscheinlich bald etwas anderes bestimmen, mein Junge. Inzwischen wünsche ich dir gute Besserung.«
Dirk begann zu weinen. »Ich mag aber nicht wieder zu dir und Onkel Friedrich nach Stuttgart«, schluchzte er auf. »Tante Isi, sag bitte Tante Jo, dass sie mich nicht abholen soll.«
Denise nahm den erregten Jungen in den Arm und flüsterte ihm tröstende Worte ins Ohr. Ungeduldig stand Johanna Hermann dabei.
»Ich muss fort, Frau von Schoenecker«, mahnte sie.
»Bis gleich, Dirk.« Denise lächelte dem Jungen ermutigend zu und wandte sich Johanna Hermann zu, um sie hinunterzubringen. Sie ging mit ihr bis zum Auto.
»Warum haben Sie den Jungen aufgeregt, Frau Hermann?«, fragte sie traurig. »Er ist noch schonungsbedürftig. Sie haben ihm damit nichts Gutes erwiesen.«
»Ich werde die Sache in meine Hand nehmen«, erwiderte Johanna kalt. »Ein zweites Mal soll es nicht passieren, dass der Junge meines besten Freundes hier leichtfertig in Lebensgefahr gebracht wird.«
Denise erkannte, dass es zwecklos war, mit dieser Frau zu diskutieren. »Ich wünsche Ihnen eine gute Heimfahrt, Frau Hermann«, sagte sie nur. »Es tut mir aufrichtig leid, dass dieser Besuch so ausgeht.«
»Das ist Ihre Sache, Frau von Schoenecker. Ich weiß jedenfalls, was ich zu tun habe.«
Sie gab zu viel Gas, und die Reifen wirbelten den Kies auf. Dann war sie fort, und Denise atmete auf. Eilig kehrte sie zu Dirk zurück, der bereits wieder Peggy und Heidi bei sich hatte.
»Sie wollte mir bloß Angst machen, Tante Isi«, meinte der Bub treuherzig. »Sie darf mich doch gar nicht abholen. Das hat nur mein Vati zu bestimmen, nicht wahr?«
Denise strich ihm übers Haar. »Sie hat es nur so gesagt. Vielleicht würde sie sich freuen, wenn du sie einmal besuchst.«
»Ich glaube nicht, dass Tante Jo sich freut, wenn ich komme«, gab Dirk mit krauser Stirn zurück. »Onkel Friedrich mag mich ganz gern. Aber Tante Jo gar nicht …«
»Sie ist ja weg«, unterbrach ihn Peggy fröhlich. »Jetzt brauchen wir nicht mehr an sie zu denken.«
Wenigstens hatte Dirk sich nicht allzu sehr aufgeregt. Dafür war Denise dankbar. Ob Johanna Hermann Dirks Vater dazu bewegen würde, seinen Jungen von Sophienlust wegzubringen, wusste sie nicht. Sie konnte auch nichts dagegen unternehmen. Wenn Torsten Möller ihr nicht vertraute, so hatte sie keine Möglichkeit, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Sie hatte nun erkannt, dass diese Frau nichts unversucht lassen würde, um eines Tages die Stelle von Dirks Mutter einzunehmen. Dabei war es nicht das Kind, das sie interessierte, sondern der Mann Torsten Möller. Ihn wollte sie für sich gewinnen. Die ganze Schau wegen Dirk galt dem Ziel, sich gegenüber Dirks Vater wichtig zu machen.
Johanna Hermann schrieb einen langen Brief an Torsten Möller, den sie sogar noch in der Nacht zur Post brachte. Ausführlich schilderte sie ihm ihre Eindrücke von Sophienlust und von Dirks Krankheit. Sie teilte Torsten mit, dass man sich in der Beurteilung des Kinderheimes doch wohl geirrt habe. Die Zustände seien ländlich primitiv, und die notwendige Fürsorge fehle. Nicht einmal eine geschulte Krankenschwester sei zurzeit vorhanden. Die Studentin Hella Graff sei mit der Pflege des schwerkranken Jungen betraut worden, obwohl sie dazu gewiss nicht ausreichend qualifiziert sei. Trotz der Gefahr habe man es nicht für nötig gehalten, Dirk in eine Klinik zu bringen oder einen Facharzt zuzuziehen. Es sei höchste Zeit, Dirk von Sophienlust wegzubringen.
Lieber Torsten, ich mache mir heute Vorwürfe, dass ich Dir riet, Dirk in diesem Heim zu lassen. Der Himmel hat das Kind behütet, als es diese schwere Krankheit hatte.
Ich erwäge, ob ich meine Anstellung bei der Firma wieder aufgeben soll. Solange die Probezeit noch läuft, wäre das nicht weiter schwierig, obgleich man mir bereits fest zugesagt hat, dass der Vertrag später weitergeführt werden soll. Die Arbeit befriedigt mich, und ich stelle fest, dass ich von meinen Kenntnissen nichts eingebüßt habe.
Trotzdem bin ich bereit, diese Tätigkeit wieder aufzugeben und Dirk zurück zu mir zu holen. Der Junge gehört in geordnete Verhältnisse. Auf die Dauer wird der Heimaufenthalt keinen günstigen Einfluss auf seine Entwicklung haben. Ich bitte Dich, mir Deine Antwort telegrafisch zu übermitteln und auch Frau von Schoenecker entsprechend zu verständigen. Es geht um Deinen Jungen, lieber Torsten. Du kannst ganz und gar auf mich zählen.
Sie schloss ihren Brief mit dem versteckten Hinweis, dass Dirk bald wieder in einer richtigen Familie leben müsse.
Dann wartete sie einige Tage lang in brennender Ungeduld auf Torstens Antwort. Als sie das Telegramm aus Afrika schließlich in der Hand hielt, war sie so aufgeregt, dass ihr ein bisschen schwindelig wurde.
»Torsten«, flüsterte sie, »ach,Torsten, nun brauchst du wieder meine Hilfe!«
Ihre Hand zitterte, als sie den gelben Umschlag aufriss.
DANK FUER DEIN ANGEBOT. MÖCHTE JEDOCH DIRK VORERST IM HEIM LASSEN BRIEF FOLGT TORSTEN
Sie musste die wenigen Worte zweimal lesen, eh sie ihren Inhalt voll erfasste. Ihre Enttäuschung war groß. Die Tränen traten ihr in die Augen. Warum wollte Torsten sich nicht von ihr helfen lassen? Was konnte ihn bewogen haben, ihren Vorschlag so rundheraus abzulehnen?
Johanna brauchte eine ganze Weile, um sich zu fassen. Dann faltete sie das Telegramm zusammen und legte es in ihren Schreibtisch. Um ihren Mund zeichnete sich eine trotzige Linie.
So leicht gab sie nicht auf. Sie hatte noch mehr Trümpfe, und sie wollte dieses Spiel gewinnen – wollte Torstens Liebe gewinnen und seine Frau werden, koste es, was es wolle.
Hatte ihr Direktor Klaasen nicht erst heute Vormittag zu verstehen gegeben, dass man sie sehr gern im Werk behalten wolle und durchaus bereit sei, ihr eine Tätigkeit nach ihren persönlichen Wünschen zu übertragen?
Sie würde ihre Wünsche äußern. Vielleicht war es auf diese Weise leichter, zum Ziel zu gelangen.
Hella Graff war fast erschrocken, als sie den bunt geränderten Luftpostbrief mit Torsten Möllers Absenderangabe in der Hand hielt. Wie kam Dirks Vater dazu, an sie zu schreiben?
Sie flüchtete in ihr Zimmer, um den Brief ungestört lesen zu können. Ihr Herz schlug schnell. Torsten Möller hatte eine steile, energische Schrift. Sie fand, dass die Schrift gut zu ihm passte. Er drückte sich in knappen, klaren Sätzen aus – genauso, wie er mit ihr gesprochen hatte.
Er hatte erfahren, dass sie seinen Jungen während der schweren Krankheit gepflegt habe, und wolle ihr dafür danken.
Woher er das nur weiß, fragte sie sich. Denn sie konnte sich nicht vorstellen, dass Frau Hermann bei ihrem kurzen Besuch etwas darüber gehört hatte. Vor allem schien es ihr kaum denkbar, dass Johanna Hermann Lobendes über sie an ihren Jugendfreund geschrieben haben könne.
Sie las weiter. Dirks Vater fragte sie vertrauensvoll, ob ihre Freundschaft zu Dirk noch bestehe, ob der Junge sich glücklich fühle, ob sie ihm rate, ihn auch weiterhin in Sophienlust zu lassen. Er sei sicher, dass sie das am besten beurteilen könne.
Hella lächelte. Zwar hatte Denise nichts über ihr Gespräch mit Johanna Hermann verlauten lassen, doch genügten Dirks Bemerkungen über den Besuch seiner Tante, um Hella etwas von der unfreundlichen Stimmung ahnen zu lassen, die dabei geherrscht hatte.
Es war nicht allzu schwer, sich den Rest zusammenzureimen. Wahrscheinlich hatte Johanna Hermann sich abfällig über Sophienlust geäußert. Nun suchte Torsten Möller nach einer verlässlichen und neutralen Auskunft, um sich aus der Ferne ein Bild machen zu können.
Die blonde Studentin schrieb ihre Antwort noch am gleichen Tag. Den Dank verdiene sie nicht, denn sie habe nur gehandelt, wie jeder an ihrer Stelle gehandelt hätte. Alle in Sophienlust hätten sich um Dirk gesorgt. Ohne die ausgezeichnete Ärztin Frau Dr. Frey wäre man sicherlich hilflos gewesen. Ein Transport ins Maibacher Krankenhaus sei zu riskant erschienen, Frau Dr. Frey habe sogar während der Nacht zur Verfügung gestanden. Sie selbst sei eigentlich erst zur Besinnung gekommen, als die Gefahr vorüber war.
Dirk ist mir sehr ans Herz gewachsen in jenen bangen Tagen und Nächten. Deshalb kann ich Ihnen nur versichern, dass er hier in Sophienlust am rechten Platz und wirklich geborgen ist. Ich persönlich habe mich entschlossen, für ein halbes Jahr als Helferin hierzubleiben. So werde ich auch weiterhin mit Dirk zusammen sein. Wenn Sie in einiger Zeit Ihren Urlaub in Deutschland verbringen, werden Sie Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen, wie segensreich sich das Leben in dieser Gemeinschaft auf Dirk ausgewirkt hat.
Natürlich wäre er am liebsten bei Ihnen in Afrika. Er spricht viel von Ihnen und denkt an Sie. Aber er hat eingesehen, dass er zunächst in der Heimat bleiben muss.
Ich danke Ihnen für Ihren Brief und sende Ihnen herzliche Grüße. Dirk ist eben mit ein paar anderen Kindern zum Ponyreiten gegangen. Seit zwei Tagen hat ihn Frau Dr. Frey für gesund erklärt. Nur ein bisschen blass schaut er noch aus. Aber das vergeht gewiss schnell an der frischen Luft.
Hella überflog ihren Brief noch einmal und setzte Grüße und ihren Namen darunter.
Am Abend suchte und fand sie die Gelegenheit, mit Denise von Schoenecker über Torsten Möllers Brief zu sprechen.
»Das haben wir Frau Hermann zu verdanken«, sagte Denise sofort. »Sie fand, wir hätten Dirk in eine Klinik geben müssen. Auch war sie nicht damit einverstanden, dass wir Sie mit der Pflege Dirks betraut hatten.«
Hella lachte. »Nun weiß ich wenigstens, woher Herr Möller erfahren hat, dass ich mich um Dirk gekümmert habe. Ich war ein bisschen beschämt, dass er sich bei mir bedankte. Das verdiene ich nicht.«
Denise nickte ihr zu. »Doch, Hella. Sie haben fast Übermenschliches bei dieser Pflege geleistet.«
»Ich habe Dirk lieb, Frau von Schoenecker. Es war für mich eine Selbstverständlichkeit. An Herrn Möller habe ich im Übrigen geschrieben, dass Dirk auf jeden Fall hier in Sophienlust bleiben soll. Ich hoffe, er lässt sich durch Frau Hermann nicht beeinflussen. Immerhin ist sie eine Jugendfreundin von ihm, und er hatte ihr seinen Jungen anvertraut, als er nach Afrika ging.« Hellas hübsches Gesicht wirkte ernst.
»Herr Möller hat sich an Sie gewandt, weil er sich auf Sie verlässt, Hella. Ich denke, er wird Dirk nicht von hier wegbringen lassen. Allzu lange dauert es nicht mehr, bis er wieder nach Deutschland kommt. Dann allerdings halte ich es für möglich, dass Frau Hermann ihren Einfluss geltend machen könnte.«
Hella senkte den Blick. Niemand sollte wissen, was in ihr vorging. Es schmerzte sie, dass auch Denise von Schoenecker damit zu rechnen schien, Torsten Möller werde Johanna Hermann zu seiner zweiten Frau machen.
»Ich sorge mich um Dirk«, flüsterte das blonde Mädchen mit erstickter Stimme.
Denise legte die Hand auf des Mädchens Arm. »Wir wollen es in Ruhe erwarten, Hella. Glauben Sie nicht, dass das Schicksal es gut mit Dirk meinte, als es ihn uns zuführte? Ich erlebe es immer wieder, dass in dem, was geschieht, ein Sinn liegt, auch wenn er uns zunächst verborgen bleiben mag.«
Hella rang sich ein Lächeln ab. Wie schwer ihr das Herz war, vermochte sie nicht einmal Denise von Schoenecker anzuvertrauen.
Johanna erhielt Torstens Brief. Er teilte ihr mit, dass er es für falsch halte, Dirk schon wieder zu verpflanzen. Vor allem aber wolle er von ihr nicht das Opfer annehmen, dass sie ihre eben erst erworbene Stellung wieder aufgebe. Auf Johannas gegen Sophienlust erhobene Vorwürfe ging er mit keinem Wort ein.
»Ein Opfer wäre es nicht gewesen, Torsten«, sagte Johanna halblaut vor sich hin. »Aber ich denke, es ist tatsächlich besser, der Junge bleibt erst einmal, wo er ist. Ich wäre doch wieder sehr angebunden mit dem Kind.«
Mit einem Lächeln legte sie den Brief weg. Ihr Entschluss war längst gefasst. Sie wollte alles auf eine Karte setzen. Eine innere Stimme raunte ihr zu, dass ihr Plan gelingen müsse.
Am anderen Tag bat sie um ein persönliches Gespräch mit Direktor Klaasen. Als sie dem Chef in dessen Arbeitszimmer am Schreibtisch gegenübersaß, war sie vollkommen ruhig.
»Ich habe eine Bitte, Herr Direktor.«
»Wenn sie erfüllbar ist, Frau Hermann, stehe ich gern zur Verfügung. Dass wir großen Wert auf Ihre hervorragende Mitarbeit legen, wissen Sie.«
Johanna lächelte selbstbewusst. »Herr Möller hat mir diese Anstellung vermittelt, Herr Direktor. Wir sind schon als Kinder befreundet gewesen. Nach dem Tod seiner Frau nahm ich seinen kleinen Jungen zunächst zu mir. Jetzt ist das Kind in einem Heim untergebracht.«
»Wir sind Herrn Möller dankbar, dass er Sie zu uns gebracht hat, Frau Hermann.« Der Direktor war die Liebenswürdigkeit in Person.
Geschickt und diplomatisch fuhr Johanna fort. Sie sprach davon, dass sie mit Torsten Möller in engem Briefkontakt stehe. So habe sie erfahren, dass die zurzeit dort eingesetzte Dolmetscherin den Ansprüchen nicht in jeder Hinsicht genüge. Deshalb habe ihr Freund schon wiederholt den Wunsch geäußert, ob Johanna nicht den Platz der jungen Dame einnehmen könne.
Johanna bedachte Direktor Klaasen mit ihrem Augenaufschlag. »Ich würde diese Tätigkeit schrecklich gern übernehmen, Herr Direktor. Aber ich weiß natürlich nicht, ob Sie damit einverstanden wären.«
Der Chef überlegte einige Sekunden lang. Johanna hatte Mühe, ihre erwartungsvolle Spannung zu verbergen.
»Frau Sängers Englisch ist ziemlich lückenhaft!«, räumte er bedächtig ein. »Wir haben bereits erwogen, sie gegen eine andere Dame auszutauschen. Allerdings geben wir Sie, liebe Frau Hermann, nicht gern nach Afrika ab.«
»Sie hatten mir angedeutet, Herr Direktor, dass Sie meinen Wünschen ein wenig entgegenkommen würden«, erinnerte ihn Johanna kühn.
Da neigte er zustimmend den Kopf. »Das Projekt in Afrika ist außerordentlich wichtig. Wir benötigen dort eine erstklassige Mitarbeiterin. Ich verstehe, dass Sie gern mit Herrn Möller zusammenwirken möchten. Sie können sich auf die Abreise vorbereiten. Setzen Sie sich mit der Personalabteilung in Verbindung. Dort wird Ihnen alles mitgeteilt, was Sie zu beachten haben. In zehn bis vierzehn Tagen könnten Sie schon unterwegs sein. Sind Sie zufrieden, oder kommt Ihnen das zu schnell?«
Johanna bekam heiße Wangen. Mit einem so raschen Erfolg hatte sie nicht gerechnet. Das Glück war ihr günstig gesonnen. Sie würde Torstens Mitarbeiterin werden und die Gelegenheit haben, täglich mit ihm zusammen zu sein!
»Ich bin nicht schwerfällig, Herr Direktor. Afrika fasziniert mich. Herzlichen Dank, dass Sie meine Bitte erfüllen wollen.«
»Zu bedanken brauchen Sie sich nicht. Sie werden dort viel zu tun vorfinden. Und die klimatischen Bedingungen sind ziemlich hart.«
»Das macht mir nichts aus, Herr Direktor.«
Noch ein paar Einzelheiten wurden zwischen ihnen besprochen. Dann waren die Würfel gefallen. Johanna Hermann sollte so bald wie möglich die Stelle Frau Sängers einnehmen. Auf Frau Sänger wartete bereits ein anderer Auftrag, dem sie besser gewachsen sein würde.
Ich bin am Ziel, jubelte Johanna in Gedanken. Ich werde nach Afrika fliegen. Oh, Torsten, endlich ist es so weit!
Es gab eine Menge zu erledigen, doch Johanna bewältigte alles mit spielerischer Leichtigkeit. Sie packte ihre Koffer, ließ die Impfungen über sich ergehen und vermietete ihre Wohnung.
Am Tage vor ihrem Abflug fuhr sie nach Sophienlust. Wieder hatte sie ihre Ankunft nur kurz vorher telefonisch angekündigt. Diesmal gab sie sich nicht so kühl und kritisch, sondern zeigte offen ihre Vorfreude auf das große Abenteuer.
»Ich möchte frische Grüße für Torsten Möller mitnehmen, Frau von Schoenecker«, erklärte sie mit strahlendem Gesicht. »Morgen starte ich nach Afrika. Die Firma hat mich als Dolmetscherin ausgewählt. Ich werde bei demselben Projekt eingesetzt, an dem Dirks Vater beteiligt ist.«
Was blieb Denise übrig, als freundliche Zustimmung zu äußern? Dass Johanna Hermann diese Sache selbst eingefädelt hatte, lag auf der Hand.
Dirk wurde gerufen. Nur ungern trennte er sich von den anderen Kindern, denn sie spielten gerade ein besonders schönes Spiel.
»Bloß wegen Tante Jo«, maulte er.
Johanna umarmte ihn und küsste ihn auf beide Wangen. Sie hielt ihn so fest, dass er ihr nicht ausweichen konnte.
»Ich fliege morgen zu deinem Vati, Dirk. Soll ich ihm viele Grüße von dir ausrichten? Ich bin schnell noch einmal hierhergekommen, damit ich ihm genau erzählen kann, wie es dir geht.«
Dirk schob die Unterlippe nach vorn. »Zu meinem Vati?«, fragte er unsicher.
»Ja, gewiss, Dirk. Findest du das so erstaunlich? Ich bin bei derselben Firma beschäftigt wie er. Nun schicken sie mich zu ihm nach Afrika.«
Über Dirks Bäckchen kullerte eine Träne. »Ich verstehe das nicht«, schluchzte er auf. »Warum darfst du nach Afrika und ich nicht?«
Johanna lachte. Der Kummer des Jungen rührte sie nicht.
»Wenn du groß bist, kannst du auch nach Afrika reisen, Dirk.«
»Aber – aber das dauert schrecklich lange, ehe man groß ist, Tante Jo. Kannst du mich nicht mitnehmen?«
»Nein, das ist nicht möglich, Dirk. Ich hätte dort keine Zeit für dich. Dein Vati und ich haben viel zu tun. Sag mir lieber, was ich ihm erzählen soll.«
»Ach, ich weiß nicht, Tante Jo. Viele Grüße natürlich.«
»Gefällt es dir in Sophienlust? Schmeckt dir das Essen?«
»Es ist schön hier, Tante Jo. Aber noch lieber würde ich zu Vati nach Afrika fliegen. Das musst du doch verstehen.« Bittend waren seine ausdrucksvollen Augen auf Johanna Hermann gerichtet.
»Leider richtet sich nicht alles nach den Wünschen von dummen kleinen Buben«, erklärte die Besucherin unbekümmert.
Auch diesmal hielt sie sich nicht lange auf. Denise von Schoenecker fand, dass sie ebenso gut hätte anrufen können. Doch Johanna Hermann hatte wohl ihren Triumph auskosten wollen.
Nachdem Johanna mit Tee und Gebäck bewirtet worden war, bestieg sie ihren Wagen. Eine Gruppe von Kindern winkte ihr nach. Dass sie im Begriff stand, nach Afrika aufzubrechen, verlieh ihr plötzlich einen gewissen Nimbus.
Hella gab sich Mühe, den bitterlich weinenden Dirk zu trösten.
»Aber ich finde es wirklich nicht richtig, dass sie zu meinem Vati fliegen darf«, grollte der Bub in seiner Verzweiflung.
»Sei nicht traurig, Dirk. Bald kommt dein Vater auf Urlaub. Dann wirst du mit ihm zusammen sein.«
»Ich werde ihn fragen, ob ich auch nach Afrika darf«, verkündete Dirk trotzig. »Dann braucht er Tante Jo nicht mehr.«
»Ja, Dirk, frag ihn nur«, ermutigte ihn Hella. »Vielleicht holt er dich eines Tages zu sich.«
Die blonde Studentin war kaum weniger betrübt als der kleine Junge. Nun zeichnete sich bereits das Ende dieser Geschichte deutlich ab. Aus Torsten Müller und Johanna Hermann würde bald ein Paar werden, denn die attraktive Frau wusste gewiss ihre Chance zu nützen.
Warum tat Hellas Herz so weh, wenn sie daran dachte, dass Dirks Vater sich für Johanna entscheiden werde?
Wenigstens werde ich ihn sehen, wenn er Dirk hier in Sophienlust besucht, tröstete sie sich. Doch sie wusste, dass es für ihre Liebe keine Hoffnung gab.
Sonnengebräunt und erfüllt von ihren Erlebnissen kehrten Sascha und Michael aus Frankreich zurück. Sie hatten viel zu erzählen und planten bereits Neues, nämlich die Teilnahme an einem internationalen Studententreffen, von dem sie während des Ferienkurses in Frankreich Kenntnis erhalten hatten.
Michael hatte zweimal an Hella geschrieben. Nun stand er vor ihr und sah sie ein wenig traurig an. »Wir werden dann anschließend gleich nach Heidelberg fahren, Hella. So langsam neigen sich die Ferien dem Ende zu.«
»Ich beneide euch nicht, Michael«, erwiderte das Mädchen fröhlich. »Es tut mir gut, mal mit dem Büffeln auszusetzen und andere Pflichten zu haben.«
»Du passt gut hierher«, stimmte Michael zu. »Aber du wirst mir fehlen. Wir haben uns doch häufig gesehen während des Semesters.«
»Nimm es nicht so wichtig, Michael. Wir bleiben weiterhin Freunde.«
»Das ist es, Hella – nur Freunde.« Er wollte sie an sich ziehen, doch Hella trat um einen Schritt zurück.
»Ich hatte dich gebeten, nicht zu viel zu erwarten, Michael«, erinnerte ihn das Mädchen mit gesenkter Stimme.
»Es hat etwas mit Dirks Vater zu tun, nicht wahr?«, stieß er unbeherrscht hervor. »Seit er hier war, bist du verändert.«
Hella schüttelte den Kopf. »Dirks Vater wird wohl Frau Hermann heiraten, Michael. Ich stehe gar nicht mit ihm in Verbindung.«
»Aber du denkst an ihn, und du liebst seinen kleinen Sohn.«
»Ja, ich habe Dirk lieb, Michael. Das ist wahr.«
Sie schämte sich, weil sie dem Freund nur die halbe Wahrheit sagte. Doch sie hielt das Geheimnis ihrer Liebe fest im Herzen verschlossen. Niemand sollte etwas davon erfahren.
»Dass dir das fremde Kind so viel bedeutet, Hella!«
»Ich kann es dir nicht erklären, Michael. Liebe hat nichts mit dem Verstand zu tun. Sie folgt Gesetzen, die man nicht begreift.«
Der junge Mann unterdrückte einen Seufzer. Hella stand vor ihm, er brauchte nur die Hand auszustrecken, um sie zu berühren. Dennoch schien sie durch eine unsichtbare Mauer von ihm getrennt zu sein, eine Mauer, die er nicht übersteigen konnte.
Johanna hatte sich Arbeit und Leben in Afrika anders vorgestellt. Schon bei der Ankunft auf dem Flughafen erlebte sie eine Enttäuschung. Sie war fest davon überzeugt gewesen, dass Torsten sie empfangen werde. Doch man hatte ihr nur einen schwarzen Fahrer mit einem Wagen geschickt.
Da ihre Vorgängerin, Frau Sänger, bereits abgereist war, fand sie viel liegen gebliebene Arbeit vor und musste sich sofort an ihrem neuen Schreibtisch einrichten. Sie verfügte über ein klimatisiertes Büro, doch ergab es sich häufig, dass sie in der sengenden Hitze unterwegs sein musste. Sie hatte nur an Torsten Möller gedacht. Nun erwies sich ihre Tätigkeit als harter, anstrengender Job.
Da Torsten Möller selbst die englische Sprache sehr gut beherrschte, brauchte er sich der Hilfe der Dolmetscherin nicht zu bedienen. So ergaben sich nur geringe Berührungspunkte zwischen ihnen, denn die erforderlichen schriftlichen Arbeiten ließ er ihr mit ein paar erklärenden Zeilen durch einen Boten ins Büro bringen.
Nach Ablauf der ersten Woche erkannte Johanna, dass sie ihr Schicksal selber in die Hand nehmen müsse. Torsten Möller hatte sie bisher nur einmal kurz in ihrem kleinen Bungalow aufgesucht und sich erkundigt, ob sie habe, was sie benötige. Da es bei der Montage riesiger Generatoren einige unvorhergesehene Schwierigkeiten gab, machte er die Nacht zum Tag und arbeitete wie ein Besessener, denn es galt, den zugesagten Termin unter allen Umständen auch einzuhalten.
Endlich aber kam ein Abend, an dem sie die Fenster seines Bungalows erleuchtet sah, als sie vom Schwimmbad zurückkehrte, wo sie sich ein wenig erfrischt hatte. Torstens Kollege Gerhard Wendt wollte sie auf ein Glas Bier einladen, doch sie lehnte ab. Gerhard Wendt interessierte sie nicht, obwohl er ihr deutlich genug zeigte, dass er sie bewunderte.
»Grüß dich, Torsten.« Lächelnd betrat sie den großen Wohnraum des einfachen Bungalows.
Der Freund erhob sich höflich, um ihr entgegenzugehen.
»Ich hatte in diesen Tagen nicht viel Zeit für dich, Jo«, entschuldigte er sich. »Was trinkst du?«
Der Boy brachte eisgekühltes Mineralwasser.
»Gefällt es dir im Camp? Ich fürchte, das Leben hier ist für dich nicht gerade abwechslungsreich, Jo. Doch du hast selbst den Wunsch geäußert, hier zu arbeiten.«
Sie sah ihn bedeutungsvoll an. »Ich wollte bei dir sein, Torsten.«
Er wich ihrem Blick nicht aus. Doch er schwieg. Was hinter seiner Stirn vor sich ging, ahnte Johanna nicht. Sie ließ sich jedoch nicht beirren.
»Ich wollte zu dir, weil ich dich liebe, Torsten. Ich habe dich immer geliebt. Nur deshalb nahm ich Dirk nach Grits Tod zu mir.«
Er nickte ihr zu, ohne zu lächeln. »Das mit Grit kann sich nicht wiederholen, Jo. Von mir kann eine Frau keine Liebe mehr erwarten. Ich bin ausgebrannt und leer. Meine Arbeit befriedigt mich, und mein Herz gehört dem Jungen. Das ist alles, was für mich noch zählt.«
»Ich verlange nicht viel, Torsten. Freundschaft oder Zuneigung genügen als Basis für eine gute Ehe. Dein Junge gehört wieder in eine Familie. Er braucht dich, aber er braucht auch die Hand einer Frau. Oder willst du ihn im Heim aufwachsen lassen?«
»An die fernere Zukunft habe ich doch nicht gedacht, Jo. Vielleicht gibt es eine Lösung. Ich möchte ihn gern bei mir haben. Er fehlt mir, das gebe ich zu.«
»Lass uns offen und vernünftig darüber reden, Torsten. Wir kennen uns, seit wir Kinder waren. Deshalb bin ich sicher, dass wir zwei uns immer gut verstehen würden. Wir könnten Dirk hierher nach Afrika holen. Er kommt bald zur Schule. Glücklicherweise gibt es hier sogar eine deutsche Grundschule. Ich möchte dir und Dirk so gern helfen. Die Tätigkeit für die Firma ist für mich nicht wichtig. Ich weiß, dass ich gute Arbeit leiste. Trotzdem würde ich den Job aufgeben, wenn ich nur noch für dich und deinen Jungen da sein könnte.«
Torsten rang sich nun wenigstens ein Lächeln ab. Er hatte es kommen sehen und war Johanna eigentlich aus dem Weg gegangen, um die Entscheidung hinauszuzögern.
»Du bist sehr lieb, Jo«, sagte er unbeholfen. »Doch du musst mir Zeit lassen. Ich denke immer noch an Grit. Aber ich sehe ein, dass man die Toten ruhen lassen muss. Vor allem ist es meine Pflicht, Dirks Zukunft in die Hand zu nehmen.«
Johannes Augen leuchteten auf. Er ließ ihr die Hoffnung, dass er auf ihren Vorschlag eingehen werde. Er verstand sie. Und er würde sie eines Tages lieben, wie er Grit geliebt hatte.
»Etwas verbindet uns schon jetzt, Torsten«, flüsterte sie. »Die Liebe zu deinem Jungen.«
Er nickte ihr zu. »Du hast viel für Dirk getan. Ich schulde dir Dank.«
»Manchmal hatte ich Angst, du machst es mir zum Vorwurf, dass er von uns fortgelaufen war, Torsten. Du ahnst nicht, wie ich mich um ihn geängstigt habe. Es waren die schlimmsten Stunden meines Lebens.«
»Nein, Jo, das war sicherlich nicht deine Schuld. Dirk hat Sehnsucht nach mir gehabt und sich eingebildet, der Weg nach Afrika sei nicht allzu weit. So etwas passiert alle Tage. Mein Junge besitzt eine ausgeprägte Fantasie. Ich denke kaum noch an dieses Abenteuer, das glücklicherweise gut ausgegangen ist.«
»Danke, Torsten. Es macht mich glücklich, dass du so darüber urteilst. Dirk ist für dich der wichtigste Mensch der Welt, so klein der Bub auch sein mag.«
»Ja, Jo, da hast du recht. Wenn Dirk nicht wäre, hätte das Leben jeden Sinn für mich nach Grits Tod verloren.«
Johanna blieb an diesem Abend lange bei Torsten. Als sie heimgehen wollte, bot er ihr seine Begleitung an. Sie hängte sich an seinen Arm. Vor ihrem kleinen Wohnhaus angekommen, ergriff er ihre Hand und führte sie an die Lippen.
»Schlaf gut, Jo. Morgen liegt wieder ein langer heißer Tag vor uns.«
»Es macht mich froh, dass ich mit dir am gleichen Projekt arbeite, Torsten. Sehen wir uns morgen Abend?«
»Wenn du willst, hole ich dich zum Schwimmen ab, Jo.«
Sie lächelte ihn an und ging eilig ins Haus. Ihr Herz schlug schnell. Der erste Schritt war getan, und die nächsten würden folgen. Die Erfüllung ihres Jugendtraums war nicht mehr fern. Sie lächelte, als sie sich in dem Bett ausstreckte. Schon bald würde sie nicht mehr allein sein …
Johanna nützte die Zeit, die ihr bis zum Beginn von Torstens Heimaturlaub blieb, gut. Von nun an war sie täglich während der Freizeit mit dem Freund zusammen. Sie spielten am Wochenende Tennis, gingen schwimmen, aßen im Clubhaus oder unternahmen Autofahrten in die Umgebung, wo der wilde, unberührte afrikanische Busch noch zu finden war.
Torsten Möller wurde von seinem Kollegen Gerhard Wendt und auch von einigen anderen Mitarbeiterin um seine aparte Freundin ein wenig beneidet. Besonders Wendt ließ keine Gelegenheit aus, um Johanna den Hof zu machen. Er kam zu ihr ins Büro, auch wenn es nicht unbedingt nötig war, und er gesellte sich im Schwimmbad zu ihr, sobald er sie ohne Torstens Begleitung sah.
»Gegen so eine alte Kinderfreundschaft wie die zwischen Herrn Möller und Ihnen kommt man wohl nicht auf, Frau Hermann?«, fragte er einmal.
Da sah ihn Johanna mit ihren kühlen grauen Augen nachdenklich an und hob ihre schönen Schultern. »Ich glaube nicht, Herr Wendt«, erwiderte sie vieldeutig.
Doch es gefiel ihr, dass sie verehrt und umschwärmt wurde. Sie stand bei jedem geselligen oder sportlichen Beisammensein im Mittelpunkt, und sie konnte feststellen, dass Torsten davon nicht unbeeindruckt blieb.
Sie war klug genug, kein zweites Mal so unmittelbar davon zu sprechen, dass sie seine Frau werden wollte. Jetzt musste sie ein wenig Geduld haben und warten.
Am Vorabend seiner Abreise in den Heimaturlaub war sie so weit. Torsten lud sie zu sich ein und bewirtete sie mit einem Abendessen, das er aus dem Clubhaus bestellt hatte, weil der Kochkunst seines Boys nicht zu trauen war. Johanna trug ein leichtes Seidenkleid, hatte ihr Haar frisch gewaschen und sich so schön wie möglich gemacht. Sie spürte, dass dieser Abend die Entscheidung bringen musste.
Nach dem Essen schickte Torsten den Boy fort. Nun waren sie endlich ungestört.
»Morgen fliegst du, Torsten«, sagte Johanna leise. »Ich werde dich hier vermissen. Aber du hast deinen Jungen in Deutschland. Deshalb ist es nötig, dass du diesen Urlaub jetzt antrittst.«
Der Ingenieur erwiderte ihren Blick mit ernsten Augen. »Ich freue mich auf Dirk, Jo. Du hast recht, wenn du immer wieder betonst, dass er der entscheidende Mensch in meinem Dasein ist. Ich habe viel nachgedacht in diesen letzten Tagen, Jo. Dirk braucht wieder eine Mutter. Willst du meine Frau werden und mir helfen, meinen Jungen zu erziehen?«
»Du brauchst nicht zu fragen, Torsten. Für mich kann es keine schönere Lebensaufgabe geben, als für dich und den Jungen da zu sein.«
Er stand auf, trat zu ihrem Sessel und legte die von der Tropensonne gebräunten Hände auf ihre Schultern.
»Hoffentlich wirst du nicht enttäuscht, Jo«, kam es zögernd über seine Lippen. »Ich bin ein schwieriger Mensch geworden seit Grits Tod. Du hast allerlei Mut, dass du dein Leben mit dem meinen verbinden willst.«
»Wir werden zusammen ausziehen, um das Glück zu suchen, Torsten. Ich vertraue fest darauf, dass uns noch viele schöne Jahre bestimmt sind. Du und ich, wir kennen inzwischen das Leben und träumen nicht mehr wie in unserer frühesten Jugend. Gerade das wird uns helfen.«
Sie hob das Gesicht zu ihm auf und wartete auf seinen Kuss. Doch er ließ ihre Schultern los und strich ihr nur zart mit dem Finger über die Stirn.
»Ich bin nicht sicher, Jo, ob es für mich noch ein Glück gibt«, sagte er verhalten. »Es wäre unehrlich, wenn ich dir das verschweigen wollte.«
»Jetzt bist du einsam gewesen, Torsten. Bald wird Dirk bei dir sein. Seine Fröhlichkeit wird dich lehren, wieder selbst zu lachen. Grit wäre gewiss nicht damit zufrieden, dass du immer noch um sie trauerst.«
Torsten füllte die Gläser nach und trank Johanna zu. »Auf dich, Jo. Ich bin dir sehr dankbar.«
Johanna leerte ihr Glas auf einen Zug.
Sie hatte erreicht, was sie wollte. Dass diese Verlobung mehr ein Abkommen zwischen zwei reifen Menschen war, die sich keine Illusionen mehr machten, störte sie nicht.
Rasch kam sie auf praktische Dinge zu sprechen, denn es lag ihr daran, alle Einzelheiten genau festzulegen.
»Wann hattest du gedacht, dass wir heiraten?«, fragte sie nüchtern. »Gleich nach deiner Rückkehr aus dem Urlaub?«
»Ich habe es mir noch nicht genau überlegt. Die Firma wird mir wahrscheinlich böse sein, dass ich unsere beste Dolmetscherin in den Hafen der Ehe entführen will.« Er blieb ernst bei diesem kleinen Scherz. Doch Johanna lachte fröhlich.
»Vorerst werde ich brav weiter Dienst tun, Torsten. Ich wäre sogar bereit, solange hier als Dolmetscherin weiterzuarbeiten, bis sich eine neue Kraft findet. Mir gefällt dieser Job.«
»Auf jeden Fall möchte ich vor dem Ende des Jahres heiraten, Jo. Wir hätten auf diese Weise die Möglichkeit, Dirk zu Weihnachten herzuholen.«
»Ja, gewiss – das wäre schön, wenn ich mir auch ein Weihnachten unter dem tropischen Himmel nicht recht vorstellen kann. Willst du Dirk jetzt schon davon erzählen, dass er bald bei uns sein wird?«
»Ich glaube, es wird gut sein, wenn er sich schon an den Gedanken gewöhnt. Gewiss freut er sich. Du hast wie eine Mutter für ihn gesorgt.«
Johanna nickte. »Er braucht wieder eine Mutter, Torsten. Ich will mein Bestes tun, wenn ich mir auch darüber klar bin, dass ich niemals so sein kann wie Grit.«
»Grit lebt nicht mehr, Jo. Gerade Dirk wird sie bald ganz vergessen haben. Er war erst drei Jahre alt, als sie uns verließ. Für Dirk ist es eine wunderbare Lösung.«
»Am liebsten käme ich jetzt mit dir nach Deutschland, Torsten«, gestand Johanna und lächelte ihn an. »Aber ich weiß, dass ich hier auf dich warten muss. Es ist ein gutes Gefühl, nun ganz zu dir zu gehören.«
Es war spät, als Torsten Johanna heimgeleitete. Sie gingen Arm in Arm. Über ihnen leuchteten die Sterne des südlichen Himmels. Doch der Mann nahm seine schöne Verlobte nicht in den Arm, sondern küsste ihr nur die Hand, als sie sich trennten.
»Es ist ein Telegramm von deinem Vati da, Dirk. Rat einmal, was darin steht?«
Denise von Schoenecker hatte den Jungen zu sich ins Biedermeierzimmer rufen lassen. Nun stand er genau unter dem Bildnis der alten Sophie von Wellentin und schaute sie gespannt und erwartungsvoll an.
»Ich weiß es nicht, Tante Isi«, sagte er. »Ich kann doch noch nicht lesen.«
»Er kommt morgen hier an, Dirk.«
Dirk stieß einen Jubelruf aus. »Morgen – wirklich morgen schon, Tante Isi? Ist es jetzt endlich so weit mit seinem Urlaub? Es hat schrecklich lange gedauert, finde ich.«
»Ja, mein Junge. Dein Vati tritt seinen Heimaturlaub an und kommt direkt von Frankfurt aus hierher, weil er dich unbedingt gleich sehen möchte.«
»Warum von Frankfurt, Tante Isi? Er war doch in Afrika.«
»Das Flugzeug aus Afrika landet in Frankfurt. Ich nehme an, er wird sich dort gleich ein Auto mieten. Ich denke, wir können ihn am frühen Nachmittag hier erwarten.«
Dirk hüpfte von einem Fuß auf den anderen. Er war sehr aufgeregt. »Wo wird Vati schlafen, Tante Isi? Ob sein Bett in mein Zimmer passt?«
Denise schüttelte den Kopf und lächelte. »Das wäre arg eng, Dirk. Onkel Alexander und ich laden ihn zu uns nach Schoeneich ein.«
»Aber dann ist er nicht immer bei mir«, wandte Dirk unsicher ein.
»Ich wohne doch auch drüben in Schoeneich, Dirk. Tagsüber wird dein Vati gewiss immer mit dir zusammen sein. Wo er dann schläft, ist wirklich nicht wichtig.«
»Hm, Nick und Henrik schlafen auch in Schoeneich. Das stimmt. Du, Tante Isi, ich habe richtig Bauchweh, weil ich mich so sehr auf ihn freue. Dauert es noch lange bis morgen?«
»Der Nachmittag, der Abend, die Nacht, der neue Morgen und dann wohl auch noch der Mittag. Die Zeit wird dir ziemlich lange erscheinen. Aber du kannst dich jede Minute freuen, und das ist etwas Schönes.«
»Von morgen früh an werde ich auf der Treppe vor dem Haus auf ihn warten, Tante Isi. Es könnte doch vielleicht passieren, dass er schneller fliegt. So genau weiß man das nicht.«
Denise zog den kleinen Jungen an sich. »Leider ist es auch möglich, dass er sich verspätet, Dirk. Aber ich bin sicher, du wirst den letzten Tag nun auch noch überstehen.«
»Bleibt mein Vati ganz, ganz lange hier?«
»Ja, Dirk, mehrere Wochen. Er hat mir schon vor einiger Zeit geschrieben, dass er die Zeit nur mit dir verbringen will. Ob er nun hierbleibt, oder vielleicht eine Reise mit dir unternimmt, weiß ich nicht.«
Dirk seufzte auf. »In Sophienlust ist es am schönsten, Tante Isi. Wir wollen hierbleiben. Vati soll den Kindern wieder Geschichten aus Afrika erzählen.«
»Warten wir mal ab, was dein Vati dazu meint, Dirk. Nun lauf wieder zum Spielen. Du kannst den anderen Kindern gleich erzählen, dass dein Vati morgen kommt.«
Dirk nickte mit strahlendem Gesicht. »Zu allererst sag ich’s aber meiner Hella, Tante Isi«, erklärte er vergnügt.
Mit dieser Ankündigung stürmte er aus dem Biedermeierzimmer und vergaß, die Tür hinter sich zu schließen. Denise tat es für ihn.
Dirk würdigte weder Heidi noch die schwarze Peggy noch seine übrigen Spielkameraden eines Blickes, sondern rannte an ihnen vorbei, um zunächst Hella zu suchen. Er fragte bei Frau Rennert im kleinen Büro nach ihr, hielt im Wintergarten Ausschau und fand sie schließlich bei Magda in der Küche.
»Hella, ich habe eine Überraschung«, rief er atemlos. »Rate mal.«
»Keine Ahnung, Dirk.«
Länger konnte er es sowieso nicht für sich behalten.
»Mein Vati kommt morgen, Hella. Freust du dich?«
Hella schloss Dirk in die Arme und wirbelte ihn hoch in die Luft. In der großen Küche war glücklicherweise genügend Platz dafür.
»Sicher freue ich mich, Dirk. Wirklich schon morgen?«
Dirk stand nun wieder auf seinen Füßen. »Morgen Nachmittag. Aber ich will von morgens an draußen warten. Sonst verpasse ich ihn vielleicht.«
»Ach, Dirk, da wird die Zeit dir lang werden«, meinte Magda. »Du solltest dir lieber am Morgen noch etwas vornehmen.«
Hella strich mit einer zärtlichen Bewegung über Dirks Haar. »Das letzte Mal hat er auch den ganzen Tag draußen auf den Stufen gesessen, Magda. Das werden wir nicht verhindern können.«
»Er kommt von Afrika nach Frankfurt und dann gleich hierher«, berichtete Dirk mit wichtiger Miene. »Tante Isi lädt ihn ein, in Schoeneich zu schlafen. Er bleibt viele, viele Wochen lang.«
»Wie herrlich, Dirk.«
»Jetzt muss ich es den Kindern erzählen, Hella. Du solltest es zuerst wissen.«
»Das ist lieb von dir, Dirk.«
Der Junge lief eilig davon. Hella wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie half Magda, Obst aus dem Garten für den Winter einzukochen.
»Herr Möller ist ein guter Vater«, versetzte die Köchin gedankenvoll. »Bestimmt ist es nicht jedermanns Sache, den ganzen Urlaub mehr oder weniger im Kinderheim zu verleben.«
»Er hat Dirk sehr lieb. Ich glaube auch, dass er gern in Sophienlust war, Magda.« Hella lächelte und merkte nicht, dass sie mehrere Kirschkerne ins Glas, anstatt in die dafür bestimmte Schüssel, fallen ließ.
»Wenn er klug ist, heiratet er bald wieder, Hella.«
Hella schluckte einmal, ehe sie antwortete. Ihr war die Kehle ein bisschen trocken geworden. »Frau Hermann ist eng mit ihm befreundet, Magda. Schließlich war Dirk früher bei ihr, ehe er nach Sophienlust kam. Es liegt nahe, dass er sie heiraten wird.« Sie bemühte sich, ihre Stimme gleichgültig klingen zu lassen.
»Ich weiß nicht, ob das eine gute Lösung wäre, Hella. Warum ist der Bub denn eigentlich dort weggelaufen? Er kann sich nicht glücklich gefühlt haben bei dieser Dame.«
Hella schluckte wieder. »Wir beide haben nichts dazu zu sagen, Magda«, erklärte sie, sich zur Munterkeit zwingend. »Herr Möller wird uns kaum um Rat fragen.«
Magda schwieg. Sie angelte sich das Glas, das Hella eben gefüllt hatte, und fischte die versehentlich hineingeratenen Steine mit einem Löffel wieder heraus.
»Oh, das war aber dumm von mir«, entschuldigte sich Hella. »Ich muss besser aufpassen.«
Magda lächelte nachsichtig. »Das kann schon mal passieren, Hella.«
Sonst sagte sie nichts. Doch sie hatte ihre eigenen Gedanken, die gute Magda.
Dirk war am Abend so aufgeregt, dass er nicht einschlafen wollte. Hella musste sich an sein Bett setzen und seine unzähligen Fragen beantworten, so gut sie konnte. Als es schon fast zehn Uhr geworden war, sang sie ihm mit leiser Stimme alle Abendlieder vor, die sie kannte. Darüber fielen dem Jungen endlich die Augen zu.
Doch am nächsten Morgen war Dirk früher als alle anderen Kinder wach und stand sofort auf. Er schlüpfte ungewaschen in seine Sachen und pirschte die Treppe hinunter. Zu seinem Leidwesen, fand er das große Portal noch verschlossen.
Frau Rennert entdeckte ihn und schaute verwundert auf die Uhr. »Was willst du denn jetzt schon hier, Dirk?«
»Auf meinen Vati warten, Tante Ma. Machst du mir bitte die Tür auf?«
»Wenn du durchaus willst, Junge! Aber es hat noch viel Zeit.« Sie schloss auf, damit Dirk sich auf die Stufen setzen konnte.
Hella konnte den Jungen verstehen. Auch sie hatte kaum geschlafen in der vergangenen Nacht. Und jetzt fieberte sie der Ankunft Torsten Möllers mit der gleichen Ungeduld entgegen wie sein kleiner Sohn.
Vergeblich ermahnte sie ihr unvernünftiges Herz. Vergeblich hielt sie sich vor, dass dieser Besuch nur Dirk gelte. Gewiss erinnerte sich Torsten Möller kaum mehr an sie.
Doch die heiße Freude wollte sich nicht vertreiben lassen. Mit einem Liedchen auf den Lippen ging sie ihrer Arbeit nach und war verwundert, wie leicht ihr heute alles wurde. Ab und zu huschte sie nach draußen zu Dirk.
Manchmal fand sie eines der Kinder bei ihm vor. Doch nach einer Weile ließen sie ihn immer wieder allein, weil ihnen das Warten zu langweilig wurde.
Frau Rennert machte eine Ausnahme und erlaubte, dass Dirk das Essen draußen vor dem Portal verzehrte. Pünktchen brachte ihm alles auf einem Tablett.
»Damit du deinen Vati auch ganz bestimmt nicht verpasst, Dirk.«
»Danke, Pünktchen. Eigentlich habe ich gar keinen Hunger.«
Pünktchen lachte gutmütig. »Iss lieber was, Dirk«, riet sie ihm. »Sonst fällst du plötzlich vor Hunger um.«
»Ehrlich? Kann man umfallen vor Hunger, Pünktchen?«
»Klar kann man.«
»Na gut, dann esse ich. Umfallen will ich nicht. Es könnte doch gerade passieren, wenn mein Vati kommt.«
Gegen halb drei wurde Dirks unermüdliche Ausdauer belohnt. Ein Wagen kam an, und Torsten Möller stieg aus, um seinen Jungen wortlos in die Arme zu schließen. Er drückte Dirk so fest an sich, dass ihm fast der Atem verging.
»Endlich, mein Kleiner. Ich habe mich sehr auf dich gefreut.«
»Ich habe mich auch viel gefreut, Vati. Alle freuen sich. Hella natürlich auch.«
Da man den Wagen gehört hatte, erschien Frau Rennert, von einigen Kindern umringt. Es gab eine herzliche allgemeine Begrüßung, die kein Ende nehmen wollte, weil sich die Zahl der Sophienluster Bewohner vor dem Herrenhaus ständig vergrößerte.
Frau Rennert bat den Gast schließlich ins Haus und führte ihn ins Biedermeierzimmer. Dirk wich nicht von seines Vaters Seite.
»Ich bitte nur um ein paar Minuten Geduld, Herr Möller. Frau von Schoenecker hatte in Bachenau etwas zu erledigen. Sie muss sofort wieder hier sein. Inzwischen sorge ich für etwas Kaffee. Oder nehmen Sie lieber eine Tasse Tee?«
»Ich brauche gar nichts, liebe Frau Rennert«, erwiderte Torsten Möller heiter. »Solange Dirk bei mir ist, bin ich restlos zufrieden.«
Doch Frau Rennert ließ es sich nicht nehmen, den Besucher zu bewirten, wie es in Sophienlust üblich war. Vater und Sohn knabberten süßes Gebäck, und Torsten Möller trank dazu köstlichen Kaffee aus Magdas Küche.
»Ich soll dich natürlich von Tante Jo herzlich grüßen, Dirk«, berichtete der Heimkehrer. »Wir sind jeden Tag beisammen gewesen. Nur du hast gefehlt.«
»Tante Jo arbeitet bei dir in Afrika, nicht wahr?«
»Ja, das tut sie. Sie ist sehr tüchtig und fleißig.«
Dirk schob die Unterlippe über die Oberlippe. »Jetzt ist sie ganz allein in Afrika«, stellte er nach kurzem Überlegen fest. »Oder kommt sie auch?«
»Nein, sie muss dort bleiben, Dirk.«
»Das finde ich gut, Vati. Sie würde uns doch bloß stören.«
Torsten Möller verbarg seine Bestürzung. »Aber Tante Jo hat dich lieb, Dirk. Sie würde sich freuen, wenn du eines Tages auch zu uns nach Afrika kämest. Das sollte ich dir bestellen von ihr.«
»Ich muss ja erst groß werden«, äußerte Dirk mürrisch. »Sie hat gesagt, ich bin zu klein.«
»Vielleicht gibt es doch eine Möglichkeit, Dirk. Wir sprechen noch darüber. Für mich wäre es schön, dich immer bei mir zu haben.«
»Was für eine Möglichkeit, Vati? Willst du mich wirklich mitnehmen? Mit einem Flugzeug?«
»Nicht gleich, Dirk. Etwas später. Aber gar zu lange wird es nicht dauern.«
»Wann denn, Vati?«
»Zu Weihnachten vielleicht, Junge.«
»Das dauert aber noch eklig lang, Vati.«
So weit war Torsten mit seiner vorsichtigen Eröffnung gekommen, als Hella eintrat. Ein zartes Rot erschien auf ihren Wangen. Sie hielt den Blick zu Boden gesenkt, als sie Dirks Vater begrüßte.
»Frau von Schoenecker hat eben angerufen, Herr Möller. Sie ist aufgehalten worden und wird von Bachenau aus direkt nach Schoeneich fahren. Ich soll Ihnen ausrichten, dass Herr und Frau von Schoenecker für Sie ein Gastzimmer bereithalten. Sie sind herzlich eingeladen, so lange zu bleiben, wie Sie möchten.«
Torsten Möller war aufgesprungen. Er hielt Hellas Hand etwas länger fest, als es nötig gewesen wäre.
»Kann ich diese Einladung annehmen, Hella?«, fragte er unsicher. »Sie kennen sich hier besser aus als ich. Geben Sie mir bitte einen guten Rat.«
»Gastfreundschaft wird hier mit großen Buchstaben geschrieben, Herr Möller«, versicherte Hella sogleich. »Sie dürfen ganz gewiss diese Einladung annehmen. Dirk freut sich seit gestern, dass Sie ganz in der Nähe wohnen und sehr viel mit ihm zusammen sein werden.«
»Nun, dann befolge ich Ihren Rat, Hella. Ich habe Ihnen gegenüber ein schlechtes Gewissen, denn ich fand niemals Zeit, Ihnen für Ihren freundlichen Brief zu danken.«
»Ich habe keine Antwort darauf erwartet, Herr Möller. Sie fragten nach meiner Meinung, und ich schrieb Ihnen, was ich dachte.«
Dirk drängte sich an Hellas Seite. »Du, mein Vati hat gerade gesagt, dass ich vielleicht zu Weihnachten nach Afrika reisen darf.«
»Das wäre wunderschön für dich, Dirk.« Hella lächelte und verbarg ihr heimliches Erschrecken. Hastig wandte sie sich zur Tür. »Ich habe noch allerlei zu tun. Sie entschuldigen mich bitte, Herr Möller. Zum Abendessen haben wir hier auf Sie gerechnet, damit Sie mit Dirk zusammenbleiben können. Später werden Sie in Schoeneich erwartet. Ist es Ihnen so recht?«
»Natürlich, Hella. Vielen Dank.«
Hella floh aus dem Biedermeierzimmer, als sei ihr jemand auf den Fersen. Dirk kehrte zu seinem Vater und zu den leckeren Plätzchen in der Silberschale zurück.
»Du magst Hella gern, nicht wahr?«, fragte Torsten Möller nachdenklich.
»Ich habe sie sehr lieb, Vati. Wirklich, ganz lieb.«
»Und Tante Jo? Hast du sie auch ein bisschen lieb?«
Dirk bekam runde Augen. »Tante Jo? Nein, Vati, ich mag sie nicht besonders. Sie hat mich auch nicht gern. Es war nicht schön bei ihr. Deshalb wollte ich ja zu dir. Aber dann hat Hella mich nach Sophienlust gebracht. Das weißt du ja.«
»Tante Jo hat dich lieb, Dirk«, sagte der Vater bedächtig und mit Betonung. »Sie ist dir bestimmt nicht böse, weil du weggelaufen bist. Das ist vergessen.«
»Warum will sie mich denn lieb haben, Vati? Ich sehe sie doch gar nicht mehr.«
Torsten Möller zog seinen kleinen Sohn auf die Knie. »Was würdest du sagen, wenn Tante Jo und ich heiraten, Dirk?«
»Warum?«, erkundigte sich Dirk mit krauser Stirn.
»Damit Tante Jo deine neue Mutti wird, Dirk.« Leicht machte der Junge es seinem Vater wahrhaftig nicht.
Jetzt sah er Torsten entgeistert an. »Ich brauche keine neue Mutti, Vati. Tante Jo ist Tante Jo. Sie hat schon einen Mann, Onkel Friedrich. Den mag ich ganz gut leiden. Er ist viel netter als Tante Jo.«
»Tante Jo und Onkel Friedrich sind nicht mehr verheiratet, Dirk.«
Dirk dachte eine Weile angestrengt nach. »Du sollst sie nicht heiraten, Vati«, meinte er schließlich. »Sie sagt, dass Kinder bloß Arbeit machen und stören. Sie war ganz bestimmt froh, dass ich weggelaufen bin.«
Torsten Möller sah sich unerwarteten Schwierigkeiten gegenüber und bereute es, dass er sogleich auf dieses Thema gekommen war.
»Schau, Dirk, ich möchte so gern, dass du wieder für immer bei mir bist«, versuchte er es noch einmal. »Aber das geht nur, wenn wir eine Mutti haben.«
»Tante Jo ist keine Mutti, Vati. Zu Tante Jo will ich überhaupt nicht. Dann bleibe ich lieber in Sophienlust bei meiner Hella und bei Tante Isi.«
Der Vater strich sanft über des Jungen Kopf. »Weißt du, wir brauchen es nicht gleich heute zu besprechen, Dirk. Jetzt freuen wir uns erst einmal, dass ich hier bin. Ich habe ziemlich lange Urlaub.«
Dirk nickte strahlend. »Tante Isi hat es mir schon erzählt, Vati.« Er schien erleichtert zu sein, dass von der neuen Mutti nicht mehr die Rede war.
Vater und Sohn unternahmen einen Rundgang durch den Park und besuchten auch die Ponys, damit Dirk zeigen konnte, wie viel er seit dem letzten Besuch Torsten Möllers gelernt hatte.
Als es zum Abendessen gongte, kehrten sie ins Herrenhaus zurück, um mit der großen Gemeinschaft der Sophienluster zu Tisch zu gehen. Hella saß Torsten Möller genau gegenüber. Mehrmals begegneten sich die Blicke des Mannes und die des blonden Mädchens.
Nach dem Essen verlangten alle Kinder stürmisch nach einer Geschichte aus Afrika. In der großen Halle scharten sie sich um den sonnengebräunten Ingenieur und lauschten andächtig. Es war die Geschichte von einem Elefanten, der einem Menschen das Leben rettete, weil dieser Mann dem Elefanten Hilfe geleistet hatte, als er sich schwer verletzte.
»Ist das wirklich passiert?«, fragte Henrik am Schluss.
»Ja, mein Junge. Elefanten sind sehr kluge Tiere und vergessen nichts. Wer ihnen etwas Böses zufügt, muss sich in Acht nehmen, weil sie sich manchmal auch dafür rächen.«
Irmela nickte. »Ja, Herr Möller, solche Geschichten gibt es in Indien auch.«
Hella suchte die Kleinen zusammen und erklärte kategorisch, dass es höchste Zeit zum Schlafengehen sei. Torsten Möller kam mit Dirk nach oben und schaute zu, wie er sich in der Wanne abschrubbte, seine Zähne putzte, in den Pyjama kletterte und schließlich ins Bett stieg.
Dann warteten Vater und Sohn gemeinsam, bis Hella zum Beten hereinkam.
Ein unerklärliches Gefühl der Ruhe und Geborgenheit erfüllte des Mannes Herz, als er der klaren Stimme des Mädchens lauschte.
»Kommen Sie mit mir hinüber nach Schoeneich, Hella?«, fragte er, sobald sie die Tür des Kinderzimmers hinter sich geschlossen hatten. »Ich muss jetzt schnell losfahren, denn ich habe drüben noch gar nicht guten Tag gesagt, soll aber Gast der Familie von Schoenecker sein.«
Hella mied seinen Blick. »Sascha und Michael sind nicht mehr da, Herr Möller. Ich habe hier noch allerlei zu tun.«
»Schade, Hella. Die Abende in Schoeneich waren so heiter und unbeschwert.«
»Ein andermal, Herr Möller. Heute werde ich gewiss drüben nicht erwartet. Sie sind ja erst heute angekommen.«
Er nahm ihre Hand. »Es ist schön, Sie wiederzusehen, Hella«, sagte er leise.
Sie antwortete nicht. Da gab er ihre Hand frei, lächelte und wandte sich zum Gehen. »Morgen sehen wir uns, Hella.«
Sie legte ihre Hand auf ihr heftig schlagendes Herz. Morgen! Eine selige, unvernünftige, törichte Hoffnung erwachte in ihrer Brust. Morgen!
Ein leiser Ruf aus Dirks Zimmer schreckte sie auf. Sie kehrte noch einmal zu dem Jungen zurück, der aufrecht im Bett saß und ihr mit großen ernsten Augen entgegenblickte.
»Ist Vati schon fort, Hella?«, fragte er.
»Er wird eben unten in den Wagen steigen, Dirk. Morgen früh kommt er wieder.«
»Ich – ich wollte nicht mit Vati reden, sondern mit dir, Hella.«
Sie setzte sich auf den Bettrand. »Was gibt es denn, Dirk?« Eine Welle von Zärtlichkeit überflutete ihr Herz. Sanft strich sie über Dirks Schulter und Arm.
»Es ist wegen Vati, Hella. Er hat mir erzählt, dass er Tante Jo heiraten will. Wir brauchen aber keine neue Mutti.«
Hella zog den Jungen fest an sich. Heiß brannten die Tränen in ihren Augen. »Dein Vati und Tante Jo haben sich gern, Dirk«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Es wäre doch gut für dich, wieder eine neue Mutti zu haben.«
»Ich soll nach Afrika, Hella. Aber es geht bloß, wenn Vati und Tante Jo heiraten. Ich mag Tante Jo nicht. Sie kann nicht meine Mutti sein. Dann bleibe ich viel lieber in Sophienlust und bei dir.«
Es fiel Hella unendlich schwer, dem trotzigen Buben gut zuzureden. Eben noch hatte sie sich auf morgen gefreut. Eben noch war eine winzige Hoffnung in ihr gewesen. Nun musste sie erfahren, dass die Entscheidung längst gefallen war.
Sie nahm Dirk in den Arm und sprach mit leiser Stimme auf ihn ein. Sie schilderte ihm das, was in Afrika auf ihn wartete, in den lockendsten Farben, und sie behauptete, dass er Tante Jo genauso lieb gewinnen werde wie eine richtige Mutti.
Anfangs widersprach Dirk ihr; doch nach und nach siegte seine Müdigkeit. Er hörte ihr nur noch zu und schlief am Ende in ihren Armen ein.
Behutsam ließ Hella ihn aufs Kissen gleiten und deckte ihn zu. Eine Träne fiel auf das weiße Bettzeug. Ach, Dirk, nun ist alles aus. Du wirst nach Afrika gehen, und dein Vater liebt Johanna Hermann …
Hella fühlte sich zu Tode erschöpft, als sie das kleine Zimmer endlich verließ. Aus ihrer Hoffnung war Verzweiflung geworden. Der armselige Trost, der blieb, war die Aussicht, Torsten Möller während der nächsten Wochen täglich sehen zu können – wenigstens das.
Der eigenwillige Dirk ließ nicht locker. Er verbrachte mit seinem geliebten Vati herrliche Tage und ließ es sich gern gefallen, dass er gründlich verwöhnt wurde. Kam Torsten Möller jedoch auf Tante Jo zu sprechen, dann setzte Dirk ein bitterböses Gesicht auf und erklärte mit aller Entschiedenheit, dass er Tante Jo nicht als Mutti haben wolle. Was er schon Hella gegenüber geäußert hatte, sagte er auch seinem Vater: Zu Tante Jo wolle er nicht – nie mehr. Wenn sie in Afrika auf ihn warte, bleibe er besser gleich in Deutschland. In Sophienlust, bei Hella, sei es am schönsten. Er brauche keine Mutti.
Torsten Möller befand sich in einer schwierigen Lage. Fast täglich brachte die Post einen Brief von Johanna für ihn. Doch die Entfernung zwischen ihm und seiner Verlobten schien ständig größer zu werden. Was sie schrieb, ließ sein Herz nicht schneller schlagen. War es Dirks feindselige Einstellung gegen Jo, die sich auf ihn auswirkte? Oder waren es seine Begegnungen mit der blonden Studentin Hella, die die Liebe seines Jungen besaß und die ihm, dem Vater, ständig aus dem Wege zu gehen schien?
Es kamen Nächte, in denen er von seinem Fenster in Schoeneich aus hinüber nach Sophienlust blickte und Ausschau hielt, ob dort noch ein Fenster erleuchtet sei. Dann dachte er an Hella, und allmählich überkam ihn die Gewissheit, dass dieses blonde Mädchen wohl die Macht besäße, ihm sein verlorenes Glück wiederzuschenken.
Mit Hella wäre auch mein kleiner Dirk einverstanden – ach, warum habe ich mich so rasch für Jo entschieden? Ich habe doch gewusst, dass Dirk sich dort nicht wohlfühlte. Jetzt ist es zu spät. Jo hat mein Wort. Aus jedem ihrer Briefe spricht ihr Vertrauen zu mir. Ich darf sie nicht enttäuschen.
Torsten Möller kämpfte einen schweren Kampf. Doch wenn er Hella sah, wurden seine festen Vorsätze zunichte. Seine Blicke umschlossen die schlanke Gestalt voll Sehnsucht und heimlicher Liebe. Sein Herz schlug rascher, und er beneidete seinen Jungen, der das Recht besaß, Hella seine innige Liebe zu jeder Zeit offen zeigen zu dürfen.
Er schrieb nicht oft an Jo. Wie hätte er ihr auch erklären können, was er während dieses Urlaubs empfand und erlebte? So blieben auch ihre Briefe nach zwei Wochen aus. Das bedeutete für den von seinem inneren Zwiespalt gequälten Ingenieur eine Erleichterung.
Einmal forderte er Hella auf, ihn, Dirk und einige Kinder auf einem Ausflug zu begleiten. Doch das Mädchen lehnte die Einladung ab, weil zu viel zu tun sei. Dennoch glaubte er, in Hellas klaren blauen Augen zu lesen, dass sie gern mitgekommen wäre.
Warum weicht sie mir aus? Ich fühle doch, dass sie mir zugetan ist. Es gab keine Antwort, denn er durfte die Frage nicht an sie richten. Er war mit Jo verlobt.
Es kam ein trüber Tag, den Torsten Möller dazu benutzte, einige Formalitäten mit Frau Rennert im Büro in Ordnung zu bringen. Für Dirk sollte ein Pass beantragt werden, damit seine Ausreise nach Afrika später keine Schwierigkeiten verursachte. Auch die erforderlichen Impfungen sollten im Lauf des Herbstes veranlasst werden.
Mit seinem Merkzettel in der Hand betrat er nach kurzem Anklopfen das kleine Büro. Am Schreibtisch aber saß nicht Frau Rennert, wie er erwartet hatte, sondern Hella Graff. Sie war nicht weniger verlegen als er und erklärte unsicher und hastig, dass sie für Frau Rennert hier einiges zu ordnen habe.
Torsten Möller brachte sein Anliegen vor. Er trat neben den Schreibtisch und legte das Blatt, das er mitgebracht hatte, vor Hella hin.
»Ich habe alles notiert, Hella. Gewiss könnte Frau Rennert dafür sorgen, dass Dirk einen Pass bekommt und geimpft wird, nicht wahr?«
Sie nickte. »Ja, natürlich, Herr Möller.«
»Hella …«
Bis jetzt hatte sie es vermieden, ihn anzusehen. Nun aber hob sie das Gesicht zu ihm auf. Sie schauten einander an und vergaßen alles. Ihre Augen verrieten, was der Mund nicht auszusprechen wagte.
Torsten Möller riss Hella in die Arme und küsste sie. Das Mädchen wehrte sich nicht. Mit einem glückseligen Lächeln erwiderte Hella Küsse und Zärtlichkeiten.
Dann aber erwachte sie aus ihrem Traum und riss sich los. Erschrocken sah sie ihn an. »Was haben wir getan?«, flüsterte sie.
Er stand mit hängenden Armen. »Du hast recht, Hella. Ich bin mit Jo Hermann verlobt.«
Hella setzte sich wieder an den Schreibtisch und stützte den Kopf schwer in die Hand. Torsten Möller lehnte sich gegen das Aktenregal und gab sich Mühe, seine Fassung wiederzugewinnen.
»Ich kann sie nicht heiraten, Hella. Ich liebe sie nicht. Sie war hilfsbereit und nett, sie hat Dirk zu sich genommen, sie bot mir an, dass sie meines Jungen zweite Mutter werden wolle. Es ist meine Schuld, dass es so weit kommen konnte. Dirk lehnt sie ab, und ich liebe sie nicht. Aber ich weiß nicht, was ich nun tun soll.«
Hella schwieg. Ihr Herz schlug sehr schnell. Obwohl sie wusste, dass er Jo heiraten musste, war sie glücklich. Er liebte sie! Sie besaß nun die wunderbare Gewissheit, dass Dirks Vater ihre innige, leidenschaftliche Zuneigung erwiderte. Mehr verlangte sie nicht vom Schicksal.
Auch Torsten sagte nichts mehr. Doch er blieb stehen, konnte sich nicht trennen, musste das blonde Mädchen immerzu anschauen.
Die Tür öffnete sich, und Denise von Schoenecker trat ein. Sie trug eine Mappe mit Rechnungen für Lebensmittel in der Hand.
»Wollen Sie das Frau Rennert geben, Hella?«, fragte sie freundlich.
»Ja, natürlich, Frau von Schoenecker.«
Denises Blick ging zwischen ihrem Hausgast und Hella hin und her. Ein feines Lächeln umspielte ihren Mund. »Habe ich gestört?«, fragte sie.
»Nein, gewiss nicht, Frau Schoenecker. Im Gegenteil, ich bin sehr froh, dass Sie gerade jetzt hier sind«, antwortete Torsten Möller in raschem Entschluss. »Darf ich Sie um eine persönliche Unterredung bitten?«
»Gewiss, Herr Möller. Gehen wir zu mir ins Biedermeierzimmer. Dort sind wir ungestört.«
Torsten wandte sich Hella zu. »Es wäre mir lieb, wenn Hella uns begleiten dürfte. Oder ist ihre Anwesenheit hier im Büro zu wichtig?«
»Nein, nein – Frau Rennert lässt das Büro auch manchmal leerstehen. Kommen Sie nur beide mit mir.« Denise ging voraus.
Torsten nahm Hellas Arm und führte sie. Sie schritt an seiner Seite wie eine Traumwandlerin.
Zwischen den schönen alten Kirschbaummöbeln und unter dem Bildnis der Sophie von Wellentin sprach Torsten Möller zu Denise von Schoenecker. Er vertraute ihr an, dass er mit Johanna Hermann verlobt sei, nun aber entdeckt habe, dass er nicht sie liebe, sondern Hella Graff.
»Ich weiß nicht, was ich tun soll, Frau von Schoenecker. Ich möchte mein Wort nicht brechen, und doch kann diese Ehe niemals glücklich werden. Auch mein Junge sträubt sich dagegen.« Er nahm Hellas Hand. »Mit Hella könnte ich noch einmal neu beginnen. Dirk liebt sie.«
»Es gibt nur eine Möglichkeit, Herr Möller«, fiel Denise ein. »Sie müssen aufrichtig mit Frau Hermann sprechen und sie darum bitten, Ihnen Ihr Wort zurückzugeben. Die Verlobungszeit soll eine Zeit der Prüfung sein. Worin läge sonst ihr Sinn? Sie sind hier der Liebe begegnet – einer großen Liebe, wie Sie eben sagten. So etwas ist ein Himmelsgeschenk, Herr Möller. Doch manchmal muss man darum auch kämpfen. Nehmen Sie den Kampf auf. Ich bin ganz sicher, dass Sie die rechten Worte finden werden, um Frau Hermann zu überzeugen. Eine Ehe ohne Liebe wäre zum Scheitern verurteilt.«
Torsten Möller legte den Arm um Hellas Schultern. »Sie haben recht, Frau von Schoenecker. Es bleibt mir nichts übrig, als meinen Urlaub zu unterbrechen und nach Afrika zu fliegen. Nur in einem persönlichen Gespräch kann ich das klären. Das schulde ich Jo. In einem Brief könnte ich ihr nicht in der richtigen Weise schildern, wie mir ums Herz ist. Ich will diese Sache sauber zu Ende bringen.«
Schon am nächsten Tag reiste er ab. Er wollte keine Zeit verlieren. Es blieb Hella und Frau von Schoenecker überlassen, Dirk über die kurze, unvermeidliche Trennung hinwegzutrösten.
»Ich vertraue dir Dirk an, Hella«, sagte er beim Abschied. »Wenn ich wiederkomme, bringe ich unser Glück mit. Hab ein wenig Geduld und Vertrauen. Ich liebe dich.«
Hella umarmte ihn. »Komm gesund zurück, Torsten. Mein Herz fliegt mit dir.«
Dann glitt der Wagen davon, und Dirk sagte leise: »Er will ja doch bloß zu Tante Jo. Da mag ich gar nicht mitfahren.«
Die Maschine landete um drei Uhr morgens. Es gelang Torsten, einen Wagen zu mieten. Er rechnete sich aus, dass er gegen sechs Uhr im Camp sein und Johanna noch vor Beginn ihrer Arbeit in ihrem Bungalow antreffen könne.
Die Straßen waren schlecht. Trotzdem fuhr er sehr schnell. Er fühlte, dass er sein Vorhaben so rasch wie möglich hinter sich bringen musste. Das Verlöbnis erschien ihm wie eine Fessel aus Eisen. Warum hatte er sich bereitgefunden, aus purer Vernunft ein Versprechen zu geben, das sein Herz niemals halten konnte?
Das Camp erwachte eben, als er ankam. Er wurde von niemand erkannt und fuhr sofort zu Johannas kleinem Haus. Der Boy öffnete und sah ihn erschrocken an.
»Ich bin kein Geist«, lachte Torsten. »Kann ich Frau Hermann sprechen?«
Der Boy antwortete nicht.
Nun bemerkte Torsten, dass der Frühstückstisch für zwei Personen gedeckt war. Noch ehe er eine Frage stellen konnte, kamen Gerhardt Wendt und Johanna Arm in Arm aus dem Schlafzimmer herüber. Die Situation war so eindeutig, dass sich jedes weitere Wort erübrigte.
Während Torsten ein Stein vom Herzen fiel und er sich sagte, dass seine überstürzte Reise nach Afrika höchst überflüssig gewesen sei, blickte ihn Johanna mit weiten Augen an. Dann legte sie die Hände vor das Gesicht und begann zu weinen – das uralte Hilfsmittel vieler Frauen.
Gerhard Wendt blieb ganz ruhig. Er trat einen Schritt vor und begrüßte den Kollegen, ohne sich darüber zu verwundern, dass er plötzlich angekommen war.
»Ich wollte Ihnen heute schreiben, Herr Möller. Jo und ich – nun ja, wir wollen heiraten. Jo ist die Frau, auf die ich mein Leben lang gewartet habe. Hoffentlich verstehen Sie uns und geben Jo frei. Diese Verlobung war ein Irrtum.«
Torsten hob die Hand. Er lächelte. »Ich kam, um unsere Verlobung aufzulösen«, sagte er. »Auch ich habe erkannt, dass es ein Fehler gewesen ist, dich um deine Hand zu bitten, Jo.«
Johanna weinte immer noch. »Verzeih mir bitte, Torsten«, schluchzte sie. »Ich war so schrecklich allein, nachdem du abgereist bist. Gerhards Liebe ist wie ein Wunder zu mir gekommen. Mit Friedrich konnte ich nicht glücklich werden, und ich glaube, dass ich auch dich nicht wirklich geliebt habe. Jetzt erst weiß ich, was es heißt, zu lieben und geliebt zu werden.«
Torsten nickte ihr zu. »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Jo. Es ist für uns beide besser so, denn ich möchte Hella Graff zu meiner Frau machen.«
Johanna schüttelte den Kopf. »Dieses unscheinbare Mädchen?«
»Dirk und ich haben sie lieb, Jo.«
Gerhard Wendt streckte Torsten die Hand hin. »Ich bin sehr erleichtert, Herr Möller, dass unser Problem sich auf diese Weise löst«, gestand er freimütig. »Selbstverständlich werde ich mich bemühen, dass ich zu einem anderen Bauprojekt der Firma versetzt werde. Asien vielleicht …«
»Und die Firma wird mir eine andere Dolmetscherin schicken müssen«, fügte Torsten Möller sarkastisch hinzu. »Ich trage es mit Fassung.«
»Du bist mir also nicht böse?«, vergewisserte sich Johanna.
»Aber nein, Jo. Ich freue mich. Darf ich jetzt mit euch frühstücken? Ich bin nämlich ziemlich hungrig.«
Der Boy musste ein weiteres Gedeck auflegen. Während des Frühstücks rechnete sich Torsten Möller aus, dass er bereits in der folgenden Nacht nach Deutschland zurückfliegen könne. Dass es so rasch gehen werde, hatte er sich nicht träumen lassen.
In Gedanken aber fragte er sich, ob die unstete Jo wohl bei Gerhard Wendt finden werde, was sie suchte. Sie hatte sich entschieden. Nun sollte sie ihren Weg gehen, und er wünschte ihr das Beste. Vielleicht gehörte sie zu den Menschen, die niemals ans Ziel kamen.
Niemand erwartete Torsten Möller, als er in Sophienlust eintraf. Er betrat das Herrenhaus und ging schließlich zu Frau Rennerts kleinem Büro, um sich zurückzumelden. Die Heimleiterin saß über einem Wirtschaftsbuch und begrüßte ihn herzlich.
»So schnell wieder hier, Herr Möller? Waren Sie denn wirklich in Afrika?«
»Doch, Frau Rennert. Aber die Sache ließ sich sehr rasch erledigen. Können Sie mir verraten, wo ich Hella oder Frau von Schoenecker finde?«
»Frau von Schoenecker ist drüben in Schoeneich. Sie kommt nachher. Hella müsste oben in einem der Kinderzimmer sein. Sie wollte die Schränke aufräumen.«
»Danke, Frau Rennert.« Er verließ das Büro so eilig, dass die Heimleiterin darüber nur den Kopf schütteln konnte.
Hella ließ einen Stapel sauber gefalteter Pullover fallen, als Torsten hereinstürmte und sie fest in die Arme schloss. »Hella, wir können heiraten. Es ist alles erledigt.«
Die blonde Studentin stellte keine Fragen. Sie erwiderte Torstens Küsse und flüsterte immer nur das eine: »Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.«
Endlich gab Torsten sie frei. »Wir müssen Dirk suchen, Hella. Er hat auch ein Wörtchen mitzureden.«
Sie entdeckten Dirk im Wintergarten, wo er sich mit Habakuk, dem sprechenden Papagei, unterhielt.
»Vati, du bist schon da?«, schrie der Junge. »Ich habe doch gar nicht draußen auf dich gewartet.«
»Diesmal habe ich dich überrascht, Dirk. Komm her, ich habe etwas Wichtiges mit dir zu besprechen.«
Dirk blickte seinen Vater ziemlich misstrauisch an. »Wegen Tante Jo?«, erkundigte er sich zögernd.
Torsten zog den Jungen ganz fest an sich. »Nein, Dirk, ich habe es mir überlegt und werde Tante Jo lieber doch nicht heiraten. Aber ich möchte dich fragen, ob du einverstanden bist, wenn Hella deine Mutti wird.«
Dirk bekam einen roten Kopf. Er schaute erst Hella an, dann wieder seinen Vater.
»Ja, klar«, kam es schließlich über seine Lippen.
»Dass mir das nicht gleich eingefallen ist! Es ist doch ganz einfach, weil ich meine Hella so lieb habe. Jetzt können wir alle zusammen nach Afrika fahren.«
Hella umarmte ihren kleinen Freund. Torsten schloss das geliebte Mädchen samt seinem Sohn in die Arme.
»Meine beiden Lieben!«, flüsterte er.
Hellas Gedanken aber wanderten in diesem glücklichsten Augenblick ihres Lebens zu Michael Langenbach. Würde er sie wirklich verstehen? Sie musste es auf sich nehmen, ihm wehzutun. Doch sie hoffte, dass die Freundschaft zwischen ihnen auch weiterhin bestehen bleiben werde. Schließlich verdankte sie Michaels Idee die Begegnung mit Dirk und dessem Vater.