Читать книгу Sophienlust Staffel 17 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 6
ОглавлениеEs regnete in Strömen, als der Schriftsteller Eugen Luchs das Stuttgarter Funkhaus verließ. Missbilligend schaute er zum Himmel und spannte seinen großen schwarzen Schirm auf. Er hatte einige spannende Tiergeschichten auf Band gesprochen, die zu späterer Zeit gesendet werden sollten. Seine lebendigen Erzählungen erfreuten sich bei jung und alt großer Beliebtheit. Doch standen auch noch einige Besorgungen auf seinem Programm. Vor allem musste er für sein Pflegetöchterchen Peggy zwei neue T-Shirts kaufen, denn Peggy war mächtig gewachsen in letzter Zeit. Mit langen Schritten machte sich der etwas untersetzte Verfasser von Reise- und Tierbüchern auf den Weg. An einer Kreuzung stand die Ampel auf Rot, und er musste warten. Ein Junge von etwa fünf Jahren nahm die Gelegenheit wahr, sich mit unter seinen Schirm zu stellen. Lächelnd ließ Eugen Luchs das Kind gewähren.
Der Bub blieb von nun an beharrlich an seiner Seite. Er war bereits völlig durchnässt und trug weder einen Mantel noch eine Kopfbedeckung. An einem Textilgeschäft machte Eugen Luchs Halt.
»Ich möchte hier hineingehen«, erklärte er dem Jungen.
»Dann warte ich so lange«, erwiderte der kleine Bursche mit verblüffender Selbstverständlichkeit.
»Na schön, wenn du den gleichen Weg hast.«
Der Schriftsteller lächelte und strich mit der freien Hand über seinen rötlich blonden Bart. Im Geschäft konzentrierte er sich ganz und gar auf seinen Einkauf.
Er erstand für Peggy nicht nur zwei, sondern sogar vier Baumwollhemden, jedes anders und allesamt so knallbunt und lustig, wie Peggy es liebte. Sicher würden sie dem kleinen Waisenmädchen aus dem fernen Afrika gut stehen.
Die Verkäuferin verpackte die Sachen in einer wasserfesten Plastiktüte. Vor dem Eingang wartete geduldig der Junge. Er hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Mit seinen braunen Augen blickte er Eugen Luchs vertrauensvoll entgegen.
»Wie heißt du eigentlich?«, fragte der Schriftsteller.
»Thomas.«
»Willst du jetzt noch weiter mit mir gehen? Ich muss da rechts herum zum Parkplatz.«
»Ja, ich komme mit.« Thomas trottete neben Eugen Luchs her und hielt sich eng neben ihm, um den Schutz des Schirms auszunützen.
Nach etwa zehn Minuten erreichten sie den bewachten Platz, auf dem Eugen Luchs den Wagen abgestellt hatte. »So, da wären wir, Thomas. Weißt du was, ich fahre dich schnell nach Hause. Komm, steig ein!«
Thomas ließ sich das nicht zweimal sagen. Er kletterte auf den Rücksitz und strich sich aufatmend das feuchte Haar aus dem kleinen ernsten Gesicht.
»Wohin also?«, fragte Eugen Luchs, als er hinter dem Steuer saß.
Thomas schüttelte den Kopf. »Ich will nicht nach Hause.«
»Ach so, du bist wohl fortgelaufen?« Damit hatte Eugen Luchs nicht gerechnet. »Was sollen wir denn jetzt machen? Ich bleibe nicht in Stuttgart, denn ich wohne nicht hier.«
»Kannst du mich nicht mitnehmen? Ich mag nicht allein sein.«
»Allein? Wie meinst du das, Thomas?«
»Eben allein. Meine Mutti ist nicht heimgekommen. Das war vorgestern. Ich habe gewartet und gewartet. Heute wollte ich sie suchen. Aber dann fing es an zu regnen. Vielleicht kannst du mir helfen.«
Eugen Luchs drehte sich halb nach rückwärts und betrachtete seinen verregneten Findling mitleidig. »Nun wollen wir der Sache einmal auf den Grund gehen, Thomas. Ich bin Onkel Luchs aus Sophienlust. Verrätst du mir deinen Familiennamen? Oder ist das ein Geheimnis?«
»Nein, ein Geheimnis nicht. Thomas Harder heiße ich.«
Eugen Luchs erfuhr, dass Thomas fünf Jahre alt war. Auch seine Adresse konnte der Junge angeben. Seine Mutti arbeitete, berichtete er. Leider wusste er nicht, wo sie beschäftigt war. Er pflegte den Tag in einem Kindergarten zu verbringen. Vorgestern war seine Mutti nicht gekommen, um ihn abzuholen wie gewöhnlich. Da sie sich manchmal ein wenig verspätete, hatte der Vater eines kleinen Mädchens Thomas mitgenommen und vor dem Wohnhaus der Harders abgesetzt. Mit dem Schlüssel, den Thomas für alle Fälle an einem Kettchen um den Hals trug, war er in die Wohnung gelangt. Seitdem wartete er vergeblich auf die Rückkehr seiner Mutti.
»Hast du auch einen Vati, Thomas?«, erkundigte sich Eugen Luchs mit wachsender Besorgnis.
»Nein, einen Vati haben wir überhaupt nicht.«
»Warum bist du nicht zu den Nachbarn gegangen? Es ist doch sonnenklar, dass etwas nicht stimmt, wenn deine Mutti plötzlich nicht heimkommt.«
»Ich – ich habe mich nicht getraut, Onkel Luchs. Frau Weber schimpft nämlich immer, wenn ich mit nassen Schuhen die Treppe heraufkomme oder so was.«
»Du bist also seit vorgestern ganz allein gewesen? Hast du denn etwas zu essen gehabt?«
»Doch, es war noch was im Kühlschrank. Ich hatte auch keinen richtigen Hunger, denn es macht keinen Spaß, wenn man ganz allein ist, Onkel Luchs.«
»Ja, das verstehe ich, Thomas. Weißt du was? Wir fahren jetzt zur Polizei. Irgendwie müssen wir deine Mutti doch schließlich finden.«
»Auf der Polizei? Glaubst du, dass sie dort ist?«
»Nein, das nicht, Thomas. Aber die Polizei wird uns helfen. Dafür ist sie nämlich da.«
Eugen Luchs warf einen Blick auf seine Uhr. Es würde eine ganze Weile dauern. Aber er musste sich jetzt um diesen Jungen kümmern. Wer weiß, was Thomas noch alles zustoßen mochte, wenn er ihn jetzt sich selber überließ. Er startete und setzte den Wagen aus der Parklücke. Bei der Ausfahrt zahlte er und erfuhr vom Kassierer, dass sich zwei Straßen weiter ein Polizeirevier befand.
Wenig später betraten Eugen Luchs und Thomas die Amtsstube, wo zwei uniformierte Beamte sie nach ihren Wünschen befragten. Der Schriftsteller berichtete, was er in Erfahrung gebracht hatte. Einer der beiden Polizisten nahm sofort ein Protokoll auf. Thomas saß auf einem Stuhl und baumelte mit den Beinen. Sein blondes Haar begann nun schon zu trocknen.
»Haben eure Nachbarn Telefon?«, erkundigte sich der Beamte bei Thomas. »Ich meine die Webers, weißt du?«
Thomas nickte. »Doch. Telefon haben sie. Aber die Nummer weiß ich nicht.«
»Das macht nichts. Die finden wir im Telefonbuch.«
Es gab viele Webers, doch schließlich fanden sich die mit der richtigen Adresse. Gespannt hörten Eugen Luchs und der Junge zu, wie der Polizist seine Nachforschungen fortsetzte.
»Aber Frau Weber weiß bestimmt nicht, wo meine Mutti ist«, meinte Thomas mit gesenkter Stimme.
»Abwarten, Thomas«, sagte Eugen Luchs. »Möglicherweise kann sie uns doch irgendwie helfen.«
Der Beamte, der einige Notizen gemacht hatte, legte den Hörer auf. »Frau Weber und ihr Mann haben nichts davon bemerkt, dass der Junge allein in der benachbarten Wohnung war. Sie sagten, sie hätten sich sonst um ihn gekümmert. Frau Jutta Harder arbeitet als Fremdsprachensekretärin in einem Chemiewerk. Zwar konnte mir Frau Weber den Namen der Firma nicht nennen, aber sie gab mir die dienstliche Telefonnummer ihrer Nachbarin, die diese für alle Fälle bei ihr hinterlegt hatte. Jetzt werden wir feststellen, ob deine Mutti zum Dienst gekommen ist, Thomas. Das bringt uns vielleicht ein Stück weiter.«
Thomas antwortete nicht. Er blickte vielmehr recht kläglich und sorgenvoll drein. Solange er neben dem Schriftsteller unter dem Schirm durch die Stadt gestapft war, hatte er seine Angst ein wenig vergessen gehabt.
Das nächste Telefongespräch ergab eine betrübliche Nachricht. Jutta Harder war vor zwei Tagen im Betrieb so unglücklich gestürzt, dass sie bewusstlos in ein Krankenhaus gebracht werden musste. Geschickt vermied es der Beamte, dass Thomas hiervon sogleich etwas erfuhr. Er ließ sich die Nummer der Klinik geben und setzte seine Erkundigungen fort. Das Ergebnis war entmutigend. Die Verletzte hatte einen Schädelbruch erlitten und das Bewusstsein noch nicht wiedererlangt.
»Deine Mutti ist krank, Thomas«, erklärte der Beamte dem Jungen. »Sie hatte einen Unfall und muss einige Zeit im Krankenhaus liegen. Es wird wohl eine Weile dauern, bis sie wieder gesund ist. Hast du vielleicht eine Omi oder eine Tante, zu der wir dich bringen können?«
Thomas kämpfte mit den Tränen. »Ich – ich habe keine Omi. Was ist mit meiner Mutti passiert?«
»Sie ist hingefallen. Dabei hat sie sich stark am Kopf geschlagen. Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir sorgen schon dafür, dass du unterkommst.«
»Hast du denn gar keine Verwandten, Thomas?«, wandte sich der Schriftsteller an das Kind. »Weißt du niemanden, bei dem du eine Zeit lang wohnen kannst?«
Thomas hob die Schultern und schwieg.
»Wir müssen einen Platz in einem städtischen Heim für ihn finden«, ließ sich der zweite Polizist vernehmen, der inzwischen sein Protokoll beendet hatte. »Am besten setzen wir uns mit dem Jugendamt in Verbindung.«
Thomas griff nach der Hand des Schriftstellers. »Ich mag nicht in ein Heim, Onkel Luchs«, stieß er hervor. »Warum kann ich nicht bei dir bleiben, bis meine Mutti wieder gesund ist?«
Eugen Luchs betrachtete den Buben voller Mitleid. Es war tatsächlich für Thomas keine angenehme Situation. Und in Sophienlust gab es schließlich immer einen freien Platz. Der Schriftsteller räusperte sich. »Falls keine Einwendungen bestehen, könnte ich Thomas in einem ausgezeichneten privaten Kinderheim unterbringen. Glauben Sie, dass man die Genehmigung des Jugendamtes erhalten könnte?«
»Es kommt darauf an, um welches Heim es sich handelt. Das Jugendamt legt da strenge Maßstäbe an. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man froh sein wird, wenn das Problem sich auf diese Weise lösen lässt, Herr Luchs.«
Das war wenigstens keine glatte Absage. Es sollte allerdings noch mehrere Telefongespräche und umständliche Rückfragen erfordern, bis die Erlaubnis erteilt wurde. Das Kinderheim Sophienlust war beim Jugendamt wohl bekannt. Nachdem Eugen Luchs seine Personalien angegeben und sich ausgewiesen hatte, waren auch die letzten Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt.
»Ist es dein eigenes Kinderheim, Onkel Luchs?«, fragte Thomas, als sich die Tür des Polizeireviers hinter ihnen schloss.
»Nein, Thomas. Ich erkläre es dir unterwegs. Zuerst wollen wir aus dem Regen herauskommen.« Er schloss den Wagen auf und ließ Thomas wieder hinten einsteigen. Dann setzte er sich ans Steuer und ließ den Motor an. Sobald sie die große Ausfallstraße erreicht hatten, begann Eugen Luchs mit seiner Erzählung.
»Sophienlust gehört seltsamerweise einem Jungen, Thomas. Er war erst fünf Jahre alt, als er das Gut von seiner Urgroßmutter erbte. Natürlich konnte er damals den Wunsch seiner Urgroßmutter, aus dem schönen alten Haus, ein Heim für Kinder zu machen, nicht selber erfüllen. Aber seine Mutter übernahm diese Aufgabe. Sie heißt Denise von Schoenecker, und du wirst sie noch heute kennenlernen. Die Kinder von Sophienlust nennen sie Tante Isi.«
»Und wie heißt der Junge, dem das Heim gehört?«
»Nick.«
»Das ist ein hübscher Name. Wohnst du auch in Sophienlust?«
»Ganz in der Nähe. Ich habe einen Wohnwagen, mit dem ich oft weite Reisen unternehme. Was ich unterwegs erlebe, schreibe ich auf.«
»Das gefällt mir. Kann ich nicht bei dir im Wohnwagen schlafen?«
»Nein, Thomas. Dieses Vorrecht hat Peggy, mein Pflegetöchterchen. Doch auch Peggy wohnt häufig in Sophienlust, denn ich bin viel unterwegs und meine Peggy geht bereits zur Schule. Peggy ist übrigens eine Afrikanerin und hat dunkle Haut. Darüber darfst du dich nicht wundern.«
»Hast du sie von einer Reise mitgebracht?«
»Stimmt genau. Du bist ziemlich schlau, Thomas. Ich war in Afrika, als Peggy ihre Eltern verlor. Jetzt ist sie mein Pflegekind, und ich habe sie sehr lieb. Du wirst sie bestimmt auch gernhaben.«
»Ich bin froh, dass ich mit dir fahren kann, Onkel Luchs«, sagte Thomas leise. »Glaubst du, dass es lange dauert, bis meine Mutti wieder gesund wird?«
»Sie scheint sich ziemlich schwer verletzt zu haben, Thomas. Wahrscheinlich musst du eine Weile Geduld haben. Sobald es ihr besser geht, wirst du sie im Krankenhaus besuchen. Das verspreche ich dir. Tante Isi leiht mir dann sicherlich wieder ihr Auto, genau wie heute.«
»Ach so, dieses Auto gehört dir gar nicht?«
»Nein. Mein großer Wohnwagen wäre so unpraktisch für eine Fahrt nach Stuttgart. Deshalb habe ich Nicks Mutti gebeten, mir ihren Wagen zu geben.«
»Hat Nick auch einen Vati?«
»Ja, die Familie ist ziemlich groß. Der älteste Bruder heißt Sascha und studiert in Heidelberg, er kommt nur noch selten nach Hause. Andrea, Nicks große Schwester, ist verheiratet und lebt in Bachenau. Ihr Mann ist Tierarzt. Dort gibt es es übrigens ein Heim für verlassene Tiere. Das wirst du bestimmt bald sehen.«
»Tiere mag ich gut leiden. Erzähl mir noch mehr, Onkel Luchs!«
»Nick selber ist schon ein großer Bursche. Er besucht das Gymnasium in Maibach. Das ist unsere Kreisstadt. Sein jüngster Bruder heißt Hendrik.«
»Wohnen sie alle in Sophienlust? Ist dort so viel Platz? Du sagst doch, dass auch eine Menge Kinder in Sophienlust sind – ich meine, die Heimkinder.«
»Die Familie von Schoenecker lebt auf einem nur wenig entfernten Gut, das Schoeneich heißt. Es gibt eine private Verbindungsstraße von Sophienlust aus. Tante Isi ist täglich in Sophienlust. Außerdem ist noch Tante Ma da, die das Heim leitet, sowie Schwester Regine, Magda, die beste Köchin der Welt – nun, du wirst es erleben.«
»Ob mich meine Mutti in Sophienlust findet?«, wandte Thomas ein wenig bedenklich ein.
»Dafür sorgen wir bestimmt, Thomas«, beruhigte ihn Eugen Luchs. »Sowie sie aufwacht, wird man ihr sagen, wo du steckst.«
»Schläft sie denn?«
»Ach so – das habe ich dir noch nicht erklärt. Sie ist so heftig gestürzt, dass sie ohnmächtig geworden und noch nicht wieder erwacht ist. So etwas kommt vor. Deshalb konnte sie sich nicht um dich kümmern.«
»Hoffentlich wacht sie bald auf, Onkel Luchs.«
»Wir werden von Sophienlust aus gleich im Krankenhaus anrufen und nachfragen, wie es deiner Mutti geht.«
Thomas schwieg nachdenklich. Im Rückspiegel beobachtete Eugen Luchs, wie er sich zurücklehnte. Dem Jungen fielen die Augen zu. Wenige Minuten später schlief er fest. Angst und Aufregung hatten ihn erschöpft. Eugen Luchs lächelte. Es war sicher gut, dass der Junge die Fahrt verschlief.
*
Denise von Schoenecker war eine schlanke Frau mit dunklem Haar und sehr schönen braunen Augen. Sie hatte vom Jugendamt in Stuttgart einen Anruf erhalten und war nicht überrascht, als Eugen Luchs mit dem verschlafenen Jungen an der Hand zu ihr kam. Vor dem Portal des stolzen Herrenhauses, das zur Heimstatt für in Not geratene Kinder geworden war, umringten einige der jungen Bewohner von Sophienlust den Neuling. Kleine Hände streckten sich Thomas entgegen, und verschiedene Namen erreichten sein Ohr.
»Dies ist Pünktchen, diese beiden Schwestern heißen Angelika und Vicky Langenbach, das da ist unsere Heidi, und hier kommt Henrik.«
Die blonde Schwester Regina erkannte, wie müde Thomas war. »Ihr lernt euch schon noch früh genug kennen, Kinder. Jetzt bringen wir Thomas zu Tante Isi ins Biedermeierzimmer, und dann werde ich ihn baden und schlafen legen.«
Bald stand Thomas auf dem weichen hellen Teppich des stilecht eingerichteten Biedermeierzimmers, in dem Denise ihre Besucher zu empfangen pflegte. Ehrfürchtig betrachtete er die schönen Kirschbaummöbel, die geblümten Sesselbezüge und vor allem das große Gemälde einer alten Dame an der einen Wand.
Er fühlte sich von liebevollen Händen ergriffen und spürte einen feinen Duft nach Lavendel, als Denise ihn fest an sich drückte. »Willkommen in Sophienlust, Thomas. Ich bin Tante Isi und will dich lieb haben.«
Der Junge antwortete nicht. Er fühlte sich in den Armen dieser schönen Frau sicher und geborgen.
»Möchtest du dich erst einmal richtig ausschlafen?«, fragte Denise leise.
Thomas nickte. Er konnte sich kaum noch auf den kleinen Beinen halten.
Schwester Regine nahm ihn auf den Arm, obwohl er doch schon fünf Jahre alt und kein Baby mehr war. Eugen Luchs winkte ihm zu. »Wir sehen uns bald wieder, Thomas.«
Erst dann fand er Gelegenheit, Denise ausführlich von seinem Erlebnis zu berichten. »Er schlüpfte mir unter den Regenschirm, Frau von Schoenecker. Wer weiß, wo er gelandet wäre, wenn es nicht wie aus Kannen gegossen hätte!«
»Armes Kerlchen!«, entgegnete Denise. »Hoffentlich bessert sich der Zustand seiner Mutter recht bald. Konnten Sie Genaueres in Erfahrung bringen?«
»Nein, leider nicht. Thomas behauptet, weder einen Vater noch sonstige Angehörige zu haben. Vielleicht trifft das nicht im vollen Umfang zu. Es wäre nicht das erste Mal, dass eine Familie sich geschlossen von einer jungen Frau abwendet, nur weil sie als Unverheiratete ein Kind bekommen hat.«
»Es wäre schlimm für Thomas, wenn er jetzt auch noch die Mutter verlieren müsste«, sage Denise seufzend. »Ein Schädelbruch mit so lang andauernder Bewusstlosigkeit ist sicher nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Sie haben die Telefonnummer der Klinik mitgebracht?«
Eugen Luchs übergab Denise von Schoenecker das Blatt, auf dem alles über Thomas Harder notiert war, was man bis jetzt in Erfahrung bringen konnte. Es war wenig genug. »Ich habe mich nicht damit aufgehalten, noch in die Wohnung zu fahren und Kleidung für Thomas einzupacken«, sagte der Schriftsteller. »Zwar trägt der Junge den Schlüssel bei sich, doch dachte ich, es sei eine unnötige Verzögerung.«
»Wir haben hier genügend Sachen, um Thomas auszustaffieren, Herr Luchs. Es war ganz richtig, dass Sie gleich zu uns gekommen sind. Für Thomas wäre es wahrscheinlich recht schmerzlich gewesen, noch einmal die verlassene Wohnung zu betreten, in der er sich zwei Tage lang Sorgen um seine Mutter gemacht hat.«
Nachdem noch einige Einzelheiten besprochen worden waren, verabschiedete sich der Schriftsteller. Denise wollte nach oben gehen, um sich davon zu überzeugen, dass der kleine Neuling sich wohlfühlte. Eugen Luchs hatte die Absicht, zu seinem Wohnwagen zurückzukehren, der auf dem weitläufigen Gelände einen idealen Standort hatte. Im Gedanken an die ferne Heimat der kleinen Peggy hatten die Sophienluster Kinder den Platz Swasiland getauft.
Doch so rasch sollte er nicht fortkommen, denn in der geräumigen Halle warteten mehrere Kinder auf ihn, die ihn festhielten und nach Thomas Harder ausfragten. Eugen Luchs setzte sich, denn er wusste, dass es einige Zeit dauern würde, bis er die Neugier der Kinder befriedigt hatte. Die krausköpfige Peggy kletterte sofort auf seine Knie und schlang die schokoladenbraunen Ärmchen fest um seinen Hals. Sie liebte Eugen Luchs wie einen leiblichen Vater.
Nick, Pünktchen, Angelika, Vicky, Henrik, Irmela, Heidi und Fabian – sie alle wollten ganz genau wissen, was geschehen war. Der Schriftsteller tat den Kindern den Gefallen und berichtete von Anfang an.
»Er hat sich zu dir unter den Schirm gestellt, weil du so lieb aussiehst«, erklärte Peggy aufseufzend, als er geendet hatte.
»Falls seine Mutti nicht wieder gesund werden sollte, behalten wir ihn für immer«, sagte Nick.
»Nun, zunächst wollen wir doch hoffen, dass Frau Harder sich recht bald von ihrem Unfall erholt, Nick«, wies ihn Eugen Luchs freundlich zurecht.
»Na ja, ich meine ja nur …« Nick war der festen Überzeugung, dass Sophienlust für jedes Kind der beste Aufenthalt der Welt sei. Es fiel ihm immer wieder schwer, sich von einem der kleinen Schützlinge zu trennen, wenn er auch letzten Endes einsah, dass die Anzahl der jungen Bewohner von Sophienlust begrenzt bleiben musste.
Als Eugen Luchs sich erhob, um sich auf den Weg zu machen, erschien Denise auf der Treppe. »Thomas schläft fest«, berichtete sie. »Ihr anderen solltet auch allmählich ans Bett denken, lässt euch Schwester Regine ausrichten. Ihr könnt in meinem Wagen mitkommen, Nick und Henrik. Wenn Sie wollen, setzen wir Sie in Swasiland ab, Herr Luchs.«
Der Schriftsteller nahm das freundliche Angebot dankend an. Peggy, der er die Wahl ließ, entschied sich dafür, in Sophienlust zu bleiben. Sie wollte sich das erste Zusammentreffen mit Thomas nicht entgehen lassen. Denn Peggy liebte ihren Onkel Luchs zwar sehr, aber ihre Neugierde war ebenfalls beachtlich.
Auf Gut Schoeneich empfing Alexander von Schoenecker herzlich seine geliebte Frau und die beiden Jungen. Im Familienkreis wurde ausführlich über Thomas Harder gesprochen, und Denise bekräftigte ihre Absicht, gleich am folgenden Morgen mit dem Stuttgarter Krankenhaus Verbindung aufzunehmen.
*
Zwei Tage vergingen, Thomas lernte die Namen der Kinder kennen und ließ sich die vielen Besonderheiten von Sophienlust zeigen und erklären. Er erfuhr, dass er nun im Haus der glücklichen Kinder wohnte, und es gefiel ihm tatsächlich sehr gut in dieser harmonischen und fröhlichen Gemeinschaft. Er staunte über die Weitläufigkeit des ehrwürdigen Herrenhauses und durchstreifte mit anderen Kindern den Park, die Stallungen und insbesondere natürlich die Pferdeställe, wo sich muntere Ponys befanden, auf denen man reiten durfte. Justus, der pensionierte ehemalige Gutsverwalter, setzte Thomas auf eines der kleinen Pferde. Der Junge war hellauf begeistert, und nahm sich vor, recht bald die Kunst des Reitens richtig zu erlernen.
Am Nachmittag des zweiten Tages wurde in einem der beiden roten Schulbusse eine Fahrt nach Bachenau unternommen. Andrea von Lehn, Nicks verheiratete Schwester, bewirtete ihre jungen Gäste mit Fruchtsaft und Gebäck. Dann folgte eine eingehende Besichtigung des von Andrea begründeten Tierheims, das den klangvollen Namen, Waldi & Co., das Heim der glücklichen Tiere, trug. Hier führten die verschiedenen Tiere unter der gewissenhaften Pflege und Obhut des alten Ungarn Janosch ein zufriedenes und beschauliches Dasein.
Thomas blieb eigentlich kaum Zeit, Trübsal zu blasen oder sich nach seiner Mutti zu sehnen. Trotzdem bedeutete es für den Jungen eine große Erleichterung, als Denise ihm am dritten Tage eröffnete, dass sie mit ihm nach Stuttgart fahren wolle, um seine Mutter zu besuchen.
»Wird sie jetzt schnell gesund, Tanti Isi?«, fragte er voller Eifer.
»Nein, es wird leider ziemlich lange dauern, Thomas. Du darfst nur ganz kurz zu ihr hineinschauen, damit es nicht zu anstrengend für sie wird.«
Thomas schluckte seine Enttäuschung herunter. »Na, es macht nichts, Tante Isi. In Sophienlust gefällt es mir. Ich bleibe eben bei euch, bis sie gesund ist.«
Denise strich ihm übers Haar. »Ja, Thomas, wir behalten dich sehr gern bei uns. Lauf nach oben und wasch dir die Hände. Schwester Regine soll dir auch ein frisches Hemd anziehen, damit du ordentlich aussiehst.«
Wie der Blitz rannte Thomas davon.
Die kleine Peggy, die sich eben mit Thomas auf den Weg nach Swasiland machen wollte, um Eugen Luchs zu besuchen, schmollte. »Musst du unbedingt schon heute mit ihm nach Stuttgart fahren, Tante Isi?«
»Ja, Peggy, es ist wichtig für Thomas, seine Mutti zu sehen. Ihr könnt später immer noch nach Swasiland gehen und euch von Onkel Luchs eine schöne Geschichte erzählen lassen.«
»Na gut«, sagte die kleine Schwarze seufzend. »Aber schade ist es doch. Thomas hatte sich nämlich schon sehr gefreut.«
Nick trat zu seiner Mutter. »Geht es ihr sehr schlecht?«, fragte er leise.
»Ich weiß es nicht genau, Nick. Auf jeden Fall möchte ich sofort nach Stuttgart fahren, damit Frau Harder ihren Jungen sieht und sich davon überzeugt, dass es ihm bei uns gut geht. Das wird ihr helfen.«
Schwester Regine brachte Thomas persönlich herunter. Er war blitzsauber und wirkte wie aus dem Ei gepellt. Das hübsche gelbe Hemd stand ihm besonders gut.
Der Wagen setzte sich in Bewegung, und die Kinder winkten, bis er nicht mehr zu erblicken war.
Unterwegs hatte Denise Gelegenheit, den neuen Heimbewohnern näher kennenzulernen. Sie plauderte mit ihm, ohne allzu viele direkte Fragen an ihn zu richten. Auf diese Weise erfuhr sie oft mehr als durch ein gezieltes Verhör, wie es auf den Ämtern gern angestellt wurde, wenn es galt, das Schicksal eines Kindes aufzuklären.
Sie gewann den Eindruck, dass Jutta Harder ihren Jungen mit sehr viel Liebe umgeben hatte. Allerdings beklagte sich Thomas darüber, dass seine Mutti den ganzen Tag lang im Büro arbeiten müsse und erst abends für ihn Zeit habe. Umso schöner seien die Samstage und Sonntage, berichtete er lebhaft. Dann habe seine Mutti nichts anderes zu tun, als mit ihm zu spielen, ihm Geschichten vorzulesen oder auch Ausflüge mit ihm zu unternehmen. »Wenn wir einen Vati hätten, brauchte meine Mutti kein Geld zu verdienen«, meinte Thomas mit einem Seufzer. »Aber es ist nun mal nicht zu ändern. Wir haben eben keinen.«
Sie erreichten Stuttgart gegen Mittag. Denise bewirtete Thomas in einem Restaurant und nahm auch selbst eine Erfrischung zu sich, ehe sie zum Krankenhaus fuhr.
Eine Schwester wies ihnen den Weg. »Das Kind darf nur für einen Augenblick hinein«, sagte sie mit freundlicher Entschiedenheit.
Thomas umklammerte Denises Hand. Er hatte auf einmal Angst. Nun öffnete sich eine Tür. In einem nicht allzu großen Zimmer stand ein Bett, auf dem eine Gestalt ruhte. Wegen des Kopfverbandes, den die Kranke trug, erkannte Thomas seine Mutter zunächst nicht. Dann aber warf er sich schluchzend über das Bett. »Mutti, ach Mutti!«
»Es – es geht mir schon besser, Thomas«, versicherte die Verletzte mühsam. »Bist du gern in Sophienlust?«
»Ja, es ist schön dort, Mutti. Wenn du gesund bist, musst du hinkommen und dir alles anschauen.«
Denise ließ Mutter und Sohn allein. Von der Schwester erfuhr sie, dass Frau Harder operiert worden war. Obwohl der Eingriff erfolgreich gewesen war, schwebte die Patientin noch in Lebensgefahr. Deshalb sei sie zunächst in diesem Einzelzimmer untergebracht worden.
Nach etwa fünf Minuten holte die Schwester Thomas heraus. Der Junge schien durch das kurze Gespräch mit seiner Mutter sehr getröstet zu sein. Er weinte nicht mehr.
»Frau Harder möchte auch mit Ihnen reden, Frau von Schoenecker«, erklärte die Schwester. »Ich kann Thomas solange mitnehmen, wenn es Ihnen recht ist.«
So betrat Denise das Krankenzimmer noch einmal. Jutta Harder sah blass aus. Man benötigte keine medizinischen Kenntnisse, um festzustellen, dass ihr Zustand ernst war. »Haben Sie Schmerzen?«, fragte Denise leise. »Gibt es etwas, was wir für Sie tun können?«
»Ich bin hier sehr gut versorgt«, erwiderte Jutta Harder im Flüsterton. Ihr fehlte die Kraft, um laut zu sprechen. »Für mich brauche ich nichts. Aber Thomas …«
»Ihr Junge kann bei uns in Sophienlust bleiben, bis es Ihnen wieder gut geht, Frau Harder.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber was soll werden, falls ich sterben muss?«
Sie sagte es tonlos und ohne zu stocken. Sie mochte lange darüber nachgedacht haben, sodass ihr das Wort ›Sterben‹ ganz selbstverständlich erschien.
»So etwas sollten Sie nicht denken, liebe Frau Harder. Wenn es Sie jedoch beruhigt, so kann ich Ihnen versichern, dass Thomas im schlimmsten Fall für immer bei uns bleiben kann. Nicht einmal finanzielle Probleme entstehen. Denn Sophienlust verfügt über ein beträchtliches Stiftungskapital, mit dem wir helfen können, wo es nötig ist.«
»Thomas ist kein armes Kind. Sein Vater würde selbstverständlich für ihn sorgen. Thomas kennt ihn nicht, denn wir sind seit Jahren geschieden. Ich habe ihm absichtlich bisher nichts über seinen Vater erzählt.«
Denise war auf eine solche Eröffnung nicht gefasst gewesen. Genau wie Eugen Luchs hatte sie geglaubt, dass Jutta Harder unverheiratet sei. Jetzt erfuhr sie, dass der Vater des kleinen Jungen Fred Harder hieß, dreiunddreißig Jahre alt war und als Chefingenieur in einem bedeutenden Flugzeugwerk arbeitete.
Mit schwacher Stimme nannte ihr Jutta Harder seine Anschrift, die Denise sorgsam notierte.
»Nur für den schlimmsten Fall, liebe Frau Harder«, sagte sie und lächelte ermutigend. »Sie wissen jetzt, dass Thomas bei uns in guten Händen ist. Das wird Ihnen helfen, rasch gesund zu werden. Denken Sie immer daran, dass Ihr Junge auf Sie wartet und dass er Sie braucht. Der gute Wille ist oft mehr wert als alle Medizinen. Das habe ich oft genug erfahren.« Sie strich über die schmale, farblose Hand Jutta Harders. Das Herz war ihr schwer. Würde diese unglückliche junge Frau wieder gesund werden? »Wir kommen bald wieder, um Sie zu besuchen«, versprach sie, als sie das stille Krankenzimmer verließ.
Es gelang ihr, den behandelnden Arzt zu erreichen. Der Doktor gebrauchte viele lateinische Ausdrücke und sprach auch davon, dass die Patientin sich in einem schlechten Allgemeinzustand befunden habe. Eine von diesen überlasteten Frauen, die Kindererziehung, Haushalt und einen anstrengenden Beruf miteinander vereinen müssten.
»Sie machen mir also keine allzu große Hoffnung, Herr Doktor?«, fragte Denise.
»Der Zustand der Patientin ist ernst, Frau von Schoenecker. Wir tun selbstverständlich, was in unserer Macht liegt. Als Arzt gibt man die Hoffnung niemals auf. Aber es wäre zum gegenwärtigen Zeitpunkt gewissenlos, von Hoffnung zu sprechen.«
»Ich danke Ihnen für Ihre Offenheit. Möge eine gute Wende eintreten! Der kleine Junge würde die Mutter verlieren.«
»Ja, das ist traurig, Frau von Schoenecker. Es wird alles versucht, die Patientin zu retten. Darauf können Sie sich verlassen.«
Es war für Denise nicht leicht, Thomas mit heiterem Gesicht in der kleinen Stationsküche abzuholen, wo die nette Schwester ihn mit Kakao verwöhnt hatte. Doch sie zwang sich zu einem Lächeln, weil sie wusste, dass es sinnlos war, den Jungen mit Sorgen zu belasten.
Thomas hatte seinen ersten Schreck restlos überwunden. Er hatte nicht die geringste Ahnung wie groß die Gefahr war, in der seine Mutter schwebte. »Wenn wir wiederkommen, kann sie vielleicht schon aufstehen, Tante Isi«, sagte er mit voller Zuversicht. »Das Krankenhaus ist bestimmt sehr gut, nicht wahr?«
»Ja, Thomas. Davon bin ich überzeugt.«
Denise kehrte mit ihrem kleinen Begleiter auf dem schnellsten Weg nach Sophienlust zurück. Sie kamen eben zurecht zum Abendessen. Thomas nahm seinen Platz an der linken Seite der kleinen Peggy ein und verwickelte das Mädchen sofort in ein Gespräch.
Nick und Henrik saßen mit den Sophienluster Kindern bei Tisch.
»Weil Magda heute Schinkenpastete gemacht hat, Mutti«, erklärte Nick treuherzig. »Wir haben die Fahrräder dabei und kommen dann gleich nach dem Essen nach Hause.«
Die Mutter nickte ihren Söhnen zu. Sie war zufrieden, dass sie sich mit ihrem Mann in Ruhe aussprechen konnte, und bestieg sogleich wieder ihren Wagen.
Alexander von Schoenecker kannte seine Frau viel zu gut, als dass sie ihn hätte täuschen können. Behutsam fragte er, was sie erlebt und erfahren hatte, und sie berichtete von dem Besuch im Krankenhaus.
»Weißt du Näheres, Isi?«, erkundigte er sich, als sie geendet hatte. »Frau Harder muss über das Verhalten ihres Mannes sehr enttäuscht und gekränkt gewesen sein. Sonst hätte sie doch gewiss mit ihrem Jungen über seinen Vater gesprochen.«
»Ich habe dir alles erzählt, was ich weiß, Alexander. Es war für mich ziemlich bedrückend. Frau Harder ist sich völlig darüber im Klaren, wie es um sie steht. Nur aus diesem Grund hat sie mir Namen und Anschrift ihres früheren Mannes mitgeteilt. Jetzt stehe ich vor der Frage, ob es meine Pflicht wäre, Herrn Harder eine Nachricht zukommen zu lassen. Es wäre sicherlich ratsam, ihn vorsorglich einzuschalten. Was meinst du?«
Alexander ging mit langen Schritten im Zimmer hin und her. Schließlich blieb er vor seiner Frau stehen und schloss sie liebevoll in die Arme.
»Ich glaube, dass der Vater ein gewisses Anrecht darauf hat, unterrichtet zu werden«, erklärte er.
Denise ließ es geschehen, dass er sie lange küsste. Die tiefe, erfüllte Liebe zwischen ihr und Alexander war der Quell ihrer Kraft. An ihres Mannes Brust fand sie Ruhe und Geborgenheit, bei ihm durfte sie stets auf Verständnis und guten Rat rechnen.
»Ich werde an Herrn Harder schreiben«, sagte sie endlich aufatmend. »Ein Telefongespräch ist zu direkt. In einem ausführlichen Brief lässt sich das Geschehene wohl am besten darstellen.«
»Ja, du hast recht, Isi. Ein Brief ist genau das Richtige in dieser Angelegenheit. Herr Harder wäre wenigstens schon vorbereitet, wenn seine ehemalige Frau sterben sollte. Hast du erfahren, ob er wieder verheiratet ist?«
»Nein. Ich wollte keine Fragen stellen. Es spielt ja auch eigentlich kaum eine Rolle. Sofern die Mutter sterben sollte, was der Himmel verhüten möge, hat der Vater unter allen Umständen die Pflicht, sich seines Sohnes anzunehmen.«
Das vertraute Gespräch wurde unterbrochen, weil jetzt die beiden Jungen hereinstürmten, die sofort nach dem Essen aufgebrochen waren, wie sie es versprochen hatten.
Alexander legte die Hand auf Nicks Schulter. »Du hast mich fast eingeholt, Junge. Wie groß willst du eigentlich noch werden?«
»Keine Ahnung, Vati«, erwiderte Nick lachend. Dann wandte er sich an Denise. »War mein richtiger Vater sehr groß, Mutti?«
Nick, eigentlich auf den Namen Dominik getauft, stammte aus Denises erster, kurzer Ehe, die mit dem viel zu frühen Tod ihres Mannes geendet hatte. Durch Nicks Erbschaft und ihre Übersiedlung nach Sophienlust hatte die seinerzeit noch sehr junge Witwe Alexander von Schoenecker kennen- und liebengelernt. Auch Alexander war damals allein und hatte seine Frau begraben müssen. Seine Kinder, Sascha und Andrea, lebten im Internat. Die Heirat zwischen Denise und Alexander bedeutete für Nick, Sascha und Andrea zugleich den Rückgewinn des lang begehrten zweiten Elternteils. Alexanders Kinder konnten nach Schoeneich zurückkehren, und Nick erhielt gerade in der Zeit einen liebenden, verständnisvollen Vater, in der er ihn besonders brauchte. Henrik, der neuen Ehe entstammend, hatte auf diese Weise dafür gesorgt, dass die Familie endgültig zu einem geschlossenen Ganzen wurde – durch innige Liebe verbunden.
Nicks Frage nach seinem Vater Dietmar von Wellentin war deshalb für Denise durchaus nicht schmerzlich. »Er war wohl noch ein Stückchen größer als du jetzt, Nick«, erklärte sie unbekümmert. »Aber genau erinnere ich mich nicht.«
»Du musst dich jedenfalls unter Umständen darauf gefasst machen, dass ich dir über den Kopf wachse, Vati«, sagte Nick vergnügt. »Wie war es in Stuttgart, Mutti? Thomas hat erzählt, dass seine Mutti mit verbundenem Kopf im Krankenhaus liegt. Mehr war nicht aus ihm herauszubekommen.«
Denise nickte ihrem Sohn zu. »Mehr ist auch nicht zu sagen, Nick. Frau Harders Befinden ist nicht sonderlich gut. Aber ich habe Thomas darüber nichts mitgeteilt.«
Nick war betroffen. »Hoffentlich wird sie gesund, Mutti.«
»Ja, hoffen wir es, mein Junge.«
Henrik, der inzwischen in der Küche Umschau gehalten hatte, ob sich noch etwas Leckeres auftreiben ließ, hatte von dieser Unterhaltung nichts gehört. Es war sicherlich besser so, denn er war noch zu jung, um an den ersten Sorgen der Erwachsenen teilnehmen zu können.
Eben kehrte er ins Wohnzimmer zurück und biss große Happen von einem Stück Kuchen ab. »Bist du eigentlich nie satt zu kriegen?«, fragte sein Vater lachend.
»Du hättest dir wenigstens einen Teller mitbringen können«, fügte Denise mit freundlichem Tadel hinzu. »Jetzt verkrümelst du hier alles.«
Doch sie war ihrem Jungen nicht wirklich böse, sondern im Gegenteil sogar dankbar, weil er dafür sorgte, dass sie wieder lachen konnte. Denn die Erinnerung an ihren Besuch bei Jutta Harder lastete noch immer auf ihrer Seele.
*
Am nächsten Tag ging Peggy mit Thomas zu Onkel Luchs nach Swasiland. Henrik begleitete die beiden Kinder, denn zwischen ihm und Peggy bestand eine besonders herzliche Freundschaft, wenngleich sich die beiden Unzertrennlichen gelegentlich heftig zu streiten pflegten.
Thomas bewunderte den robusten großen Wohnwagen mit seiner praktischen Inneneinrichtung. »Man kann damit um die ganze Welt reisen«, behauptete Peggy. »Früher hatten wir einen anderen Wagen, aber der ist leider verbrannt. Es war ein ziemlich schlimmes Unglück, und Onkel Luchs musste im Krankenhaus liegen, genau wie deine Mutti, Thomas. Damals bin ich nach Sophienlust gekommen.«
»Wie kann so ein großer Wagen denn einfach verbrennen?«, fragte Thomas.
»Ein Flugzeug war abgestürzt, deshalb«, erklärte Eugen Luchs. »Aber es ist lange her, und wir wollen nicht mehr daran denken. Mein neuer Wagen ist viel besser als der alte.«
»Er gefällt mir großartig«, sagte Thomas. »Hast du Peggy oft mitgenommen auf deinen Reisen, Onkel Luchs?«
»Ja, recht oft. Aber das hat so ziemlich aufgehört, seit unsere Peggy ein Schulmädchen geworden ist.«
»Ich brauche noch nicht zur Schule zu gehen«, erklärte Thomas schlau. »Wenn du wieder einmal verreisen musst, könntest du mich vielleicht mitnehmen.«
Eugen Luchs fuhr dem Jungen mit seiner großen Hand durchs helle Haar. »Vielleicht wäre deine Mutti damit nicht ganz einverstanden, Thomas. Du sollst doch nur in Sophienlust bleiben, bis sie wieder gesund ist.«
»Aber es kann lange dauern mit ihr. Der Verband um ihren Kopf ist riesengroß.«
»Ich habe gar nicht die Absicht, in nächster Zeit zu verreisen. Da drinnen in meiner Kiste liegen noch viele Aufzeichnungen, aus denen ich ein neues Buch schreiben möchte. Wenn ihr wollt, werde ich euch jetzt eine schöne Geschichte erzählen.«
Die Kinder waren sofort bei der Sache. Sie setzten sich ins Gras und Eugen Luchs ließ sich neben ihnen nieder. Mit seiner tiefen, vollen Stimme begann er zu sprechen.
Eugen Luchs konnte gut und spannend erzählen. Deshalb waren auch seine Rundfunksendungen sehr beliebt. Die Sophienluster Kinder versäumten es nie, das Radio einzuschalten, sobald eine Geschichte von und mit Eugen Luchs auf dem Programm stand. Doch am schönsten fanden sie es, wenn er sich mit ihnen zusammensetzte und unmittelbar zu ihnen sprach.
Thomas Harder war von der Geschichte besonders beeindruckt. Er sah Eugen Luchs mit seinen braunen Augen bewundernd an. »Hast du das selber erlebt, Onkel Luchs?«, fragte er atemlos, nachdem der Erzähler geendet hatte.
»Ja, Thomas – das war vor vielen Jahren in Kroatien.«
»Da möchte ich auch einmal hinfahren«, sagte Thomas seufzend.
»Du hast noch viel Zeit, Thomas. Das ganze Leben liegt vor dir. Wenn du erwachsen bist, kannst du reisen, so viel du willst.«
»Vielleicht werde ich dann auch Bücher schreiben«, sagte Thomas ernsthaft. »Nächstes Jahr komme ich schon in die Schule und lerne schreiben.«
»Das wäre immerhin ein Anfang«, erwiderte Eugen Luchs und verbarg sein Lächeln. »Aber jetzt müsst ihr zurück nach Sophienlust gehen, sonst kommt ihr zu spät zum Essen.«
Peggy, Henrik und Thomas reichten ihm die Hände. Dann machten sie sich auf den Rückweg.
»Er ist ganz toll, der Onkel Luchs«, stieß Thomas hervor, sobald sie sich ein Stück entfernt hatten. »Er hat mir gleich gefallen, wie er so mit seinem großen Schirm herumgelaufen ist.«
Peggy nickte fröhlich. »Aber er ist nun einmal mein Onkel Luchs, Thomas. So ganz richtig gehört er nur mir.«
»Eigentlich schade«, erwiderte Thomas betrübt.
»Vielleicht nimmt er dich doch einmal mit«, sagte Peggy großzügig. »Es würde mir nichts ausmachen.«
Da war Thomas schon getröstet. »Das ist nett von dir, Peggy«, stellte er anerkennend fest.
Unter solchen und anderen Gesprächen erreichten sie das Herrenhaus und kamen eben zurecht, als der Gong zum Essen erklang.
*
Thomas hatte sich innerhalb weniger Tage völlig eingelebt, und die Kinder sorgten dafür, dass er keine Zeit fand, trüben Gedanken nachzuhängen. Zunächst erfuhr er nicht, dass sein Vater einen ausführlichen Brief von Denise von Schoenecker erhalten und sich sofort telefonisch mit ihr in Verbindung gesetzt hatte.
Der Ingenieur Fred Harder hatte seinen Besuch für das nächste Wochenende angekündigt und Denise keine Möglichkeit gelassen, ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Immerhin konnte sie ihn dazu bewegen, sich zunächst in Schoeneich mit ihr zu treffen. Fred Harder war groß, athletisch und durchaus sympathisch. Die braunen Augen hatte der kleine Thomas von ihm geerbt. Auch sonst war die Ähnlichkeit unverkennbar.
Denise empfing den Ingenieur in ihrem gemütlichen Damenzimmer in Schoeneich. »Es wird Ihrer früheren Frau vielleicht nicht recht sein, wenn Sie mit Thomas in Verbindung treten, ehe sich die absolute Notwendigkeit dazu ergibt«, meinte sie unsicher. »Entschuldigen Sie, dass ich das so offen erwähne, Thomas weiß nicht einmal, dass er einen Vater hat.«
Der Besucher nickte. »Ich habe mich bei unserer Scheidung verpflichtet, keinerlei Anspruch auf den Jungen zu erheben und nicht mit ihm in Verbindung zu treten, Frau von Schoenecker. Das war Juttas Bedingung. Ich fühle mich an mein Versprechen auch heute noch gebunden. Trotzdem möchte ich nach Thomas sehen, solange seine Mutter sich nicht selbst um ihn kümmern kann. Sie haben mir geschrieben, dass es ihr schlecht geht. Ich habe mich daraufhin mit dem Krankenhaus in Verbindung gesetzt und auch keine bessere Auskunft erhalten. Ich sorge mich.«
Denise schwieg und sah ihn mitleidig an. Seine Besorgnis war nicht gespielt. Das war deutlich zu erkennen.
»Thomas kennt mich nicht«, fuhr Fred Harder zögernd fort. »Ich brauche ihm nicht unbedingt zu sagen, dass ich sein Vater bin. Zum Beispiel könnte ich mich Herr Fischer nennen. Ich hätte auf diese Weise die Möglichkeit, meinen Sohn zu sehen und mit ihm zu sprechen, ohne dass ich mein Wort brechen würde.«
»Das wäre so etwas wie ein Winkelzug, fürchte ich«, wandte Denise ein. »Trotzdem gebe ich zu, dass ich es für gut halte, wenn Sie mit Thomas ein wenig Freundschaft schließen.«
»Ich verbürge mich dafür, dass es zunächst eine unverbindliche Beziehung bleiben soll, Frau von Schoenecker. Es wird mir nicht ganz leichtfallen, mich nicht zu erkennen zu geben. Ich habe oft an Thomas denken müssen. Er war noch ein Baby, als ich fortging.«
Denise schwieg und wartete, ob er ihr mehr anvertrauen würde. Doch Fred Harder sagte nichts mehr über seine Scheidung, und Denise widerstrebte es, ihn durch eine Frage in Verlegenheit zu bringen.
Wie meist verließ sich Denise auf ihren persönlichen Eindruck und auf ihr Gefühl. Sie besaß eine untrügliche Menschenkenntnis, und diese sagte ihr, dass sie sich auf Fred Harder verlassen könne. Er nahm seine Pflicht als Vater ernst, und er würde sich an das einmal gegebene Versprechen halten, und Thomas nicht in seelische Konflikte stürzen.
»Ich werde meine Anwesenheit und meinen Besuch damit erklären, dass ich Sophienlust kennenlernen möchte. Das entspricht wenigstens völlig der Wahrheit. Wären Sie damit einverstanden, Frau von Schoenecker?«
»Ja, Herr Harder. Sie werden auf diese Weise Gelegenheit haben, sich davon zu überzeugen, dass Thomas bei uns gut aufgehoben ist. Zugleich können Sie erfahren, wie er bisher gelebt hat, und Ihr Kind kennenlernen.«
»Vielen Dank für Ihr Verständnis, Frau von Schoenecker. Aber Sie müssen mich nun mit meinem Decknamen Fischer anreden. Hoffentlich fällt Ihnen das nicht zu schwer.«
»Ich werde mir Mühe geben, mich nicht zu versprechen, Herr Fischer. Eine besonders geschickte Schauspielerin bin ich leider nicht. Aber es wird schon schiefgehen. Wollen Sie bis morgen bleiben, oder müssen Sie schon heute wieder abfahren?«
»Ich habe bis morgen Zeit und würde mich gern hier in der Nähe einquartieren, falls Sie mir einen Gasthof oder ein Hotel empfehlen können.«
»Mein Mann und ich würden uns freuen, wenn Sie hier in Schoeneich blieben, Herr Har-Fischer.«
»Kann ich das annehmen?«, fragte er zögernd.
»Auf dem Land freut man sich über Gäste. Das Haus ist groß genug, und es macht keine Umstände.«
»Also dann, ich bedanke mich herzlich. Nach Sophienlust ist es ja nicht weit. Ich habe mich schon orientiert.«
Denise schlug vor, er solle zum Mittagessen in Schoeneich bleiben. Gleich nach Tisch wollte sie ihn selbst nach Sophienlust begleiten und ihn mit seinem Sohn bekannt machen.
So lernte Fred Harder zunächst Alexander von Schoenecker kennen, sowie Nick und Henrik, die gerade aus der Schule heimgekommen waren und heute nicht in Sophienlust hatten bleiben wollen, weil sie auf unerklärliche Weise schon wieder wussten, dass ein Gast gekommen sei. Das bedeutete ein besonders gutes Mittagsmahl und versprach möglicherweise auch sonst ein interessantes Erlebnis.
Die Jungen kamen auf ihre Kosten. ›Herr Fischer‹ wusste anschaulich von seiner Tätigkeit als Flugbau-Ingenieur zu erzählen. Nick stellte eine Menge Fragen, und Henrik erklärte mit leuchtenden Augen, dass er später auch Flugzeuge konstruieren und sie dann selber erproben wollte. Henrik war in dem beneidenswerten Alter, in dem ein Junge jeden Tag neue und andere Pläne für die Zukunft schmiedet.
Da Denise eben noch Zeit gefunden hatte, ihren Mann einzuweihen, gab es keine Komplikationen wegen der Anrede, und die Jungen erfuhren nicht, wer der Besucher in Wirklichkeit war. Die Begründung, er wolle Sophienlust kennenlernen, erschien ihnen absolut stichhaltig.
Ob er vielleicht ein Kind in Sophienlust unterbringen wolle, erkundigte sich Nick voller Eifer. Fred Harder erwiderte, ja, das sei möglich, wenn auch noch nicht sicher. Zunächst interessiere er sich ganz allgemein für das Haus der glücklichen Kinder.
Nach dem Essen tranken die Erwachsenen Kaffee. Dann setzte sich Denise ans Steuer ihres kleinen Wagens, und Fred Harder bestieg ebenfalls sein Auto, um seiner freundlichen Gastgeberin unmittelbar zu folgen.
»Wir kommen später auch nach Sophienlust«, erklärte Nick beim Abschied. »Aber erst müssen wir leider Schulaufgaben machen.«
»Sogar am Samstag?«, fragte der Gast erstaunt.
»Nur ausnahmsweise, Herr Fischer. Genau genommen, hätten wir sie schon gestern machen können. Aber man schiebt so etwas ja immer auf die lange Bank, wenn das Wochenende kommt. Für gewöhnlich haben wir am Samstag keine Schule.«
Auf seine weitere Frage hin erfuhr Fred Harder, dass die Sophienluster Kinder größtenteils das Gymnasium in der Kreisstadt besuchten und täglich mit einem Kleinbus dorthin gebracht wurden.
Dann fuhr Denise an, und Fred Harder legte ebenfalls den Gang ein. Auf der gepflegten Verbindungsstraße ging es in rascher Fahrt nach Sophienlust hinüber. »Was für ein schöner alter Bau!«, rief der Ingenieur aus, sobald er ausgestiegen war. »Unter einem Kinderheim stellt man sich etwas ganz anderes vor.«
»Es ist das ehemalige Herrenhaus«, sagte Denise. »Obwohl es für den Zweck nicht gedacht war, eignete es sich vortrefflich. Vor allem haben wir wirklich genügend Platz für unsere jungen Schützlinge. Kinder brauchen Bewegungsfreiheit. Die finden sie hier.«
Sie führte ihren Gast durch die Halle, wo einige Kinder in ein Gesellschaftsspiel vertieft waren. Sie grüßten unbefangen.
Fred Harder wurde noch einmal überrascht, als er das Biedermeierzimmer betrat. »Das vermutet man nun wahrhaftig nicht in einem Kinderheim, Frau von Schoenecker.«
»Ich werde Ihnen die Geschichte von Sophienlust ein andermal erzählen. Das Gemälde da stellt Sophie von Wellentin dar, die meinem Sohn Nick das Gut und ihr gesamtes Vermögen hinterließ. In ihrem Testament verfügte die alte Dame, dass das Haus zu einer Heimstatt für in Not geratene Kinder werden sollte. Ich übernahm es damals, den Letzten Willen Sophie von Wellentins zu verwirklichen. Dieses Zimmer hier haben wir bewusst ganz so gelassen, wie es zu ihren Lebzeiten war. So scheint die gütige Stifterin auch heute noch ein wenig bei uns zu sein.«
»Sicherlich tut es den Kindern gut, auch etwas über Tradition und Vergangenheit zu lernen«, sagte Fred Harder. »Beinahe schäme ich mich jetzt vor Ihnen, weil ich ja ursprünglich so rasch hierhergefahren bin, um sicherzugehen, dass Thomas gut untergebracht sei. Ich konnte natürlich nicht ahnen, dass es sich um ein Heim so eigener und besonderer Prägung handeln würde.«
»Auch im schönsten Haus mit den kostbarsten Möbeln könnte ein Kind einsam oder unglücklich sein, Herr Harder. Es kommt auf den Geist an, in dem ein solches Heim geführt wird.«
»Fischer heiße ich, Frau von Schoenecker«, verbesserte er lächelnd. »Wie fangen wir es jetzt an, dass ich Thomas kennenlerne? Ich weiß nicht einmal, wie mein Sohn aussieht.«
Denise läutete. Ein junges Mädchen erschien an der Tür. »Bringen Sie uns bitte Thomas«, trug Denise ihr auf.
Fünf Minuten später betrat Thomas unsicher und zögernd das Biedermeierzimmer. Sein Blondhaar war wirr, und seine Händchen verrieten, dass er eben noch im Sand gegraben hatte.
»Thomas, dies ist Herr Fischer. Er besucht uns, um Sophienlust kennenzulernen. Ich dachte mir, dass du ihm am besten erzählen kannst, was dir hier gefällt und was du vielleicht lieber ändern möchtest.«
»Warum gerade ich, Tante Isi?«, fragte Thomas.
»Weil du zuletzt zu uns gekommen bist und dich bestimmt aufmerksam hier umgeschaut hast. Oder etwa nicht?«
»Doch, Tante Isi, das stimmt.«
Der Vater gewann durch die kurze Unterhaltung zwischen Denise und dem Jungen ein wenig Zeit, um sich zu fassen. Die erste Begegnung mit seinem Sohn war für Fred Harder bewegender, als er es erwartet hatte. Nun streckte er dem Jungen die Hand hin. »Guten Tag, Thomas. Wenn du magst, kannst du Onkel Fred zu mir sagen. So heiße ich nämlich.«
Thomas betrachtete seine kleine sandige Pfote. »Bisschen schmutzig«, meinte er treuherzig.
»Das macht nichts, Thomas. Gib nur her.« Die große Hand umschloss die kleine. Der helle Sand aus dem Sandkasten rieb ein wenig zwischen den Fingern. Es war für Fred ein seltsames Gefühl. »Bist du schon lange hier, Thomas?«, fragte er nun.
»Nein, erst seit ein paar Tagen. Onkel Luchs hat mich mitgenommen, weil meine Mutti im Krankenhaus liegen muss.«
»Gefällt es dir in Sophienlust?«
»Ganz prima, Onkel Fred. Wenn du willst, zeige ich dir alles. Das Haus ist so groß, dass ich mich manchmal noch verlaufe. Ich habe ein Zimmer für mich allein. Im Wintergarten gibt es einen großen Papagei, der sprechen kann. Er heißt Habakuk und gehört Nick. Aber am besten finde ich die Ponys. Ich reite jeden Tag. Justus zeigt mir, wie man es macht. Manchmal tut es auch Nick. Reiten macht mir großen Spaß.«
Fred Harder konnte nicht widerstehen. Er zog den Jungen näher zu sich heran und setzte ihn auf seine Knie. Thomas ließ es geschehen, und Denise bemerkte mit Rührung wie glücklich der Vater darüber war.
Das Gespräch zwischen dem Jungen und Fred Harder stockte keinen Augenblick. Schon bald stellte Denise fest, dass ihre Anwesenheit eigentlich überflüssig war. Sie begleitete den Besucher und seinen ahnungslosen Sohn noch auf einem Rundgang durchs Haus und überließ die beiden dann ihrem Schicksal. Es war unverkennbar, dass sie sich gegenseitig gut leiden mochten und im Begriff standen, Freundschaft zu schließen. Wenigstens ergaben sich in dieser Hinsicht keine Probleme. Das war tröstlich und beruhigend für Denise, denn man musste immerhin mit der Möglichkeit rechnen, dass Thomas in Zukunft der Obhut seines Vaters anvertraut werden könnte.
Denise besprach sich mit Frau Rennert, der guten Tante Ma, die mit der ständigen Leitung des Heims betraut war. Selbstverständlich teilte sie ihr mit, wer ›Herr Fischer‹ in Wirklichkeit war.
»Schade, dass die Eltern sich für immer getrennt haben«, meinte die Heimleiterin betrübt. »Aber seit der Scheidung ist ja schon so viel Zeit vergangen, dass sie sich kaum versöhnen werden.«
»Ich habe von den näheren Umständen keine Ahnung. Es ist möglich, dass Herr Harder seit Jahren verheiratet ist, liebe Frau Rennert. Ich möchte ihn nicht ausfragen.«
Frau Rennert seufzte. »Nun ja, falls die arme Mutter wirklich nicht gesund wird, wäre es für den kleinen Thomas wohl sogar ein Segen, wieder in eine richtige Familie zu kommen. Man weiß einfach nicht, was man dem Jungen jetzt wünschen soll.«
»Überlassen wir es dem Schicksal, Frau Rennert. Zunächst ist Thomas hier bei uns gut aufgehoben und fühlt sich glücklich. Der erste Kontakt zu seinem Vater ist geknüpft. Alles Weitere müssen wir in Ruhe und Geduld abwarten.«
Gemeinsam mit Frau Rennert ging Denise in die Küche zu Magda, die trotz ihres vorgerückten Alters noch in bemerkenswerter Frische für das leibliche Wohl der Kinder von Sophienlust sorgte.
Nachdem der Küchenzettel für die nächste Woche festgelegt war, fuhr Denise nach Schoeneich zurück. Sie fand selten genug Gelegenheit, ungestört mit ihrem Mann zusammenzusein. Gerade heute war es ihr ein Herzensbedürfnis, mit Alexander über seinen Eindruck von Fred Harder zu sprechen.
*
Thomas streifte mit dem vermeintlichen Onkel Fred durch den Park. »Hier im Pavillon spielen wir, wenn es regnet«, erklärte der Junge. »Früher war das ein Teehaus. Und dort ist unser Sandkasten. Peggy und Heidi – sagt Onkel Fred guten Tag«, forderte er die beiden kleinen Mädchen auf, die im Sand spielten.
Wieder musste Fred sandige Kinderhände drücken. »Peggy kommt aus Afrika«, berichtete Thomas. »Ihr Pflegevater ist der gute Onkel Luchs, der mich hierhergebracht hat. Er wohnt in Swasiland.«
»So weit von hier?«, fragte Fred Harder erstaunt.
»Nicht im echten Swasiland«, plapperte Peggy munter dazwischen. »Wir nennen den Platz, wo sein Wohnwagen steht, Swasiland.«
»Ach so. Ich sehe, es gibt hier eine ganze Menge zu lernen. Onkel Luchs würde ich ganz gern besuchen, wenn sich das machen lässt.«
»Das passt immer«, versicherte Peggy treuherzig. »Wollen wir gleich zu ihm gehen? Sehr weit ist es nicht.«
»Nein, zuerst möchte ich Onkel Fred die Ställe zeigen und vor allem die Ponys. Er soll auch zugucken, wie ich reite«, widersprach Thomas etwas eifersüchtig. »Zu Onkel Luchs gehen wir dann später.«
Fred Harder ließ sich weiterhin von Thomas ins Schlepptau nehmen. Er lernte den alten Justus kennen und schaute dann aufmerksam zu, wie Thomas eines der munteren Ponys bestieg und voller Stolz im Kreis ritt.
»Du hast wirklich schon viel gelernt«, lobte Fred den Jungen.
»Na ja, hier können alle reiten, Onkel Fred. Es macht mir viel Spaß.«
So verging dieser Nachmittag wie im Flug. Als es zum Abendessen gongte, wusste Fred Harder nicht recht, wie er sich verhalten sollte. Doch Frau Rennert lud ihn herzlich ein, am gemeinsamen Mahl der Kinder teilzunehmen. Sie habe bereits in Schoeneich angerufen, und Bescheid gegeben, denn sicherlich gewinne er einen guten Eindruck, wenn er mit den Kindern am Tisch sitze und sich mit ihnen ungezwungen unterhalten könne.
Thomas kam sich als Hauptperson vor und bestand darauf, den Platz neben ›Onkel Fred‹ zu bekommen. Nick setzte sich an die andere Seite des Gastes. Zum Abendessen hatten sich Denises Söhne in Schoeneich abgemeldet.
Schon bald erfuhren die Kinder durch Nick etwas über ›Herrn Fischers‹ interessanten Beruf. Sie stellten allerlei Fragen, und Fred Harder tat ihnen den Gefallen, eine spannende Geschichte von einem beinah misslungenen Testflug zum Besten zu geben.
»Gut, dass nichts passiert ist«, meinte Thomas seufzend. »Trotzdem möchte ich auch gern einmal Flugzeuge bauen, wenn ich groß bin.«
»Klar, Thomas, ich auch«, fiel Henrik sofort ein. »Und selber ausprobieren müssen wir unsere Maschinen. Das ist Ehrensache.«
»Ich fürchte, man braucht viel Mathematik in Ihrem Beruf, Herr Fischer«, sagte Nick nachdenklich. »Das würde mir nicht so liegen, wenn ich ehrlich bin.«
»Wenn die Berechnungen falsch sind, kann die Maschine bestimmt nicht fliegen«, sagte der Ingenieur. »Schließlich ist es nicht nötig, dass jeder Junge Flugzeugbauer wird. So viele Menschen werden später ganz gewiss nicht gebraucht.«
»Das ist richtig, Herr Fischer«, bestätigte Nick. »Außerdem weiß ich ja, dass ich später Sophienlust übernehmen werde. Und einen schöneren Beruf kann ich mir sowieso nicht vorstellen.«
Fred Harder war von Nicks Einstellung beeindruckt. Er erkannte, dass dieser dunkelhaarige Junge, der ihn mit den schönen Augen seiner Mutter anblickte, seine Lebensaufgabe bereits heute voll akzeptierte. Die alte Dame auf dem Bildnis im Biedermeierzimmer hatte ihr Vermächtnis offenbar in die rechten Hände gelegt.
Nach dem Essen erschien zur Freude aller Kinder Eugen Luchs. Er hatte eine neue Geschichte aufgeschrieben und wollte sie vorlesen. Da es noch warm genug war, setzte man sich im Park auf die Wiese. Fred Harder hatte Gelegenheit, den Mann, der seinen Sohn in seinen Schutz genommen hatte, ein wenig zu beobachten. Er empfand den lebhaften Wunsch, den Schriftsteller, der so fesselnd zu erzählen wusste, besser kennenzulernen. Fast bedauerte er es, als die Geschichte zu Ende war.
Schwester Regine erschien und holte die kleineren Kinder ins Haus, weil es für sie Schlafenszeit war. Zu seinem Leidwesen gehörte auch Thomas dazu. »Bleibst du bis morgen, Onkel Fred?«, fragte er und hielt Freds Hand mit seinen kleinen Fingern umklammert.
»Ja, Thomas. Ich übernachte in Schoeneich und sehe dich morgen bestimmt noch. Du hast mir hier alles so gut erklärt, dass ich mich auch morgen von dir weiter herumführen lassen möchte.«
»Du musst noch Tante Andreas Tierheim sehen«, meinte Thomas eifrig. »Und im Märchenwald sind wir auch nicht gewesen.«
Schwester Regine entführte ihre kleinen Schützlinge. Die größeren Kinder wollten teils Tischtennis spielen, teils einen Film im Fernsehen anschauen. Es handelte sich um einen Bericht über aussterbende Tierarten. So etwas stieß in Sophienlust auf viel Interesse.
Unversehens sah sich Fred Harder mit Eugen Luchs allein auf der Parkwiese im Dämmerlicht. »Darf ich Sie zu Ihrem privaten Swasiland begleiten, Herr Luchs?«, bat er. »Ich möchte gern ein wenig mit Ihnen sprechen. Allerdings muss ich zuvor bei meinen Gastgebern in Schoeneich anrufen, damit sie mich nicht auf die Vermisstenliste setzen.«
»Sie sind mir herzlich willkommen, wenn Sie nicht zu viel erwarten, Herr Fischer. Gehen Sie zu Frau Rennert, Sie wird Ihnen die telefonische Verbindung herstellen.«
Fred Harder telefonierte mit Alexander von Schoenecker, der volles Verständnis dafür zeigte, dass der Gast sich bei Eugen Luchs besonders bedanken wollte.
»Ich habe den Wagen hier, Herr Luchs. Können wir zu Ihnen fahren?«, fragte Fred Harder, als er wieder vor dem Herrenhaus stand.
»Ja, natürlich. Es ist allerdings nicht weit.«
Bald darauf hielten sie an, um die letzten Schritte zum Standplatz des Wohnwagens zu Fuß zu gehen.
»Das ist ein idyllisches Fleckchen«, stellte der Besucher fest, »Sophienlust ist voller Wunder.«
»Der Grund und Boden gehört zu Schoeneich, Herr von Schoenecker hat ihn mir auf unbefristete Zeit zur Verfügung gestellt. Allzu lange kann ich es meist nicht am gleichen Ort aushalten. Obwohl ich von einer Hallig stamme, scheine ich einen Schuss Zigeunerblut in den Adern zu haben. Der Anblick dieser Räder unter meinem Wohnwagen wirkt auf mich tröstlich und beruhigend. Sie garantieren mir die Möglichkeit, jederzeit auf Reisen zu gehen. Immerhin bin ich für meine Verhältnisse hier ziemlich sesshaft und häuslich geworden. Schon wegen der kleinen Peggy, die ich jetzt nicht mehr ohne Weiteres auf meinen Fahrten mitnehmen kann. Ich hänge an dem Kind.«
»Sie haben viel für die kleine Afrikanerin getan. Aber auch Thomas verdankt Ihnen allerlei.«
»Hat er Ihnen etwas darüber erzählt? Ich habe ihn sozusagen unter meinem Regenschirm gefunden. Inzwischen fühlt er sich glücklicherweise in Sophienlust schon ganz heimisch. Warten Sie, ich schließe auf. So, bitte, nach Ihnen! Nehmen Sie nur Platz. Nicht wahr, es ist ganz gemütlich hier bei mir? Sogar eine Flasche Wein kann ich Ihnen anbieten, Herr Fischer.«
Die beiden Männer saßen sich am kleinen Klapptisch des Wohnwagens gegenüber. Eugen Luchs entkorkte eine Flasche Rotwein und füllte zwei einfache Bechergläser. »Um auf Thomas zurückzukommen«, meinte der Schriftsteller, »der Junge hat ein trauriges Schicksal. Die Mutter ist schwer verunglückt und es ist nicht gewiss, ob sie sich von ihrem Schädelbruch erholen wird. Einen Vater scheint es nicht zu geben.«
Fred Harder hob die Hand. »Nein, nein, Herr Luchs, ganz so ist es nicht. Ich bin der Vater des Jungen, und ich möchte mich heute bei Ihnen bedanken, dass Sie sich um Thomas gekümmert haben.«
»Aber Thomas weiß nichts davon – nicht wahr?«
»Nein, ich habe es mit Frau von Schoenecker so vereinbart. Ich heiße Fred Harder. Meine Ehe mit Jutta Harder wurde geschieden, als Thomas noch ein winziges Kerlchen war. Selbstverständlich kann er sich nicht an mich erinnern. Ich habe damals versprochen, dass ich meiner Frau das Kind überlasse und nie mit ihm in Verbindung trete. Jetzt verständigte mich Frau von Schoenecker von dem schlimmen Unfall, den meine – meine frühere Frau erlitten hat. So kam ich hierher, um nach meinem Sohn zu sehen. Denn seine Mutter hat festgestellt, dass ich für Thomas sorgen soll, falls ihr etwas zustößt.«
»Ich verstehe. Um Ihr Wort zu halten und dennoch mit Thomas beisammen sein zu können, haben Sie sich einen anderen Namen zugelegt.«
»Ja. Es mag ein törichter Schachzug sein. Aber ich bereue es nicht. Die Begegnung mit Thomas war für mich ein bewegendes Erlebnis. Die Vorstellung in ernste Gefahr geraten zu sein, ist erschreckend. Ein Schutzengel muss ihn Ihnen zugeführt haben.«
»Ich übe auf Kinder offenbar eine gewisse Anziehungskraft aus – ich weiß nicht recht, warum«, erwiderte Eugen Luchs gelassen. »Außerdem hatte ich meinen großen Schirm dabei, und es regnete fürchterlich. So hat sich Thomas bei mir untergestellt, und alles Weitere ergab sich ganz von selber. Sie brauchen sich also nicht ausdrücklich bei mir zu bedanken, Herr Harder.«
»Bleiben wir bei Fischer, Herr Luchs. Sicher ist sicher.«
»Wie Sie wollen, Herr Fischer. Gefällt Ihnen Sophienlust. Ich möchte meinen, Ihr Junge hätte nirgends besser unterkommen können als hier.«
»Ja, dieses Heim ist einzigartig. Ich bewundere Frau von Schoenecker sehr.«
»Wer täte das nicht, Herr Fischer! Aber trinken wir doch erst einmal einen Schluck. Es ist ein ganz ordentlicher Tropfen.«
Die beiden Männer kosteten vom Wein und schauten einander an. »Wirklich ausgezeichnet«, lobte der Gast.
Eugen Luchs fragte: »Werden Sie länger hierbleiben? Haben Sie etwas über den Zustand Ihrer ehemaligen Frau erfahren können?«
»Die Auskunft, die man mir erteilte, war nicht gerade ermutigend. Ich sprach mit dem Arzt. Allzu viel Hoffnung hat er mir nicht gemacht. Es kommt mir so schrecklich sinnlos vor. Ein Sturz im Betrieb. Sie soll ausgeglitten sein. Dabei hätte sie es nicht einmal nötig gehabt, einen Beruf auszuüben und Geld zu verdienen. Aber Jutta hat nun einmal ihren Stolz. Sie wollte nichts von mir annehmen und legte Wert darauf, ihren Lebensunterhalt aus eigener Kraft zu bestreiten. Ob sie das Geld angerührt hat, das ich regelmäßig für Thomas überweise, ist mir nicht bekannt.«
»Sie haben nicht mehr mit Ihrer früheren Frau in Verbindung gestanden?«
»Nein, schon seit Jahren nicht mehr. Sie wollte es so, und ich habe das immer respektiert.«
Der Schriftsteller füllte die Gläser nach. Er stellte keine weitere Frage, doch er spürte, dass Fred Harder den Wunsch hatte, sich einmal auszusprechen.
»Es kam alles durch meine Schuld«, sagte der Ingenieur nach einer kleinen Weile. »Jutta und ich waren sehr glücklich miteinander. Vielleicht zu glücklich. Wir hatten den kleinen Jungen, wir hatten genügend Geld, eine schöne Wohnung – es fehlte uns absolut nichts. Aber ich war so verrückt, das alles zu zerschlagen.« Fred trank einen Schluck, ehe er weitersprach. »Im Auftrag meiner Firma musste ich für einige Zeit in die Vereinigten Staaten reisen. Dort lernte ich Moira kennen. Sie war bildschön, sehr jung. Zuerst wehrte ich mich gegen die Leidenschaft, die mich überkam. Aber schon bald gab ich es auf. Moira erwiderte meine Zuneigung. Meine Ehe, Juttas Liebe, mein kleiner Thomas – das alles bedeutete mir plötzlich gar nichts mehr. Ich wollte noch einmal ganz neu beginnen, und zwar mit Moira. Keine Macht der Welt sollte mich wieder von diesem Mädchen losreißen.
Für Jutta war es eine bittere Enttäuschung. Ich sprach ganz offen mit ihr, weil es mir selbstverständlich erschien, dass sie mich verstehen müsse. Wie tief ich sie verletzte, wurde mir erst bewusst, als sie ihre Bedingungen stellte. Sie hatte mir vertraut. Nun war ihre heile Welt aus den Fugen geraten. Um den Bestand unserer Ehe zu kämpfen, verbot ihr der Stolz. Sie willigte sofort in die Scheidung ein, um die ich sie bat. Sie verlangte jedoch, dass ich auf Thomas verzichtete. Ich musste ihr fest versprechen, niemals Anspruch auf meinen Sohn zu erheben. Mir fiel das leicht. Ich wollte so schnell wie möglich frei sein. Ich hätte jeder Forderung zugestimmt, denn ich war wie blind und taub. Wenigstens bestand ich darauf, dass sie für Thomas etwas Geld annehmen sollte. Ich verpflichtete mich schriftlich, dass mit der Zahlung dieser Beträge für mich keinerlei Rechte verbunden seien. So ging es mit der Scheidung ziemlich rasch, obwohl es mir damals wie eine Ewigkeit vorkam.
Über Juttas Gefühle legte ich mir keine Rechenschaft ab. Nur zu gern redete ich mir ein, dass auch sie froh über die Scheidung sei. Fast benahm sie sich, als sei ich ihr völlig gleichgültig geworden. Manchmal hatte ich sogar das Gefühl, dass sie mich hasste. Umso mehr überraschte es mich, als Frau von Schoenecker mir schrieb, dass Jutta im Fall ihres Todes bereit sei, mir Thomas anzuvertrauen. Damit habe ich nie gerechnet. Vielleicht ist ihr klar geworden, dass ich als Vater ohnehin angesprochen worden wäre. Nun ja, ich wünsche von Herzen, dass Jutta den Unfall übersteht und gesund wird. Sie darf nicht sterben.«
Eugen Luchs hatte schweigend zugehört. Nun stellte er doch eine Frage: »Haben Sie darüber mit Frau von Schoenecker gesprochen, Herr Fischer?«
»Ich fand leider nicht den Mut dazu«, gestand Fred Harder. »Bei Frau von Schoenecker ist alles so sauber und klar und aufrichtig. Ich habe mich vor dieser Frau geschämt. Deshalb versäumte ich es, ihr die erforderlichen Aufklärungen zu geben, auf die sie wohl ein Anrecht hat.«
»Frau von Schoenecker würde Sie wahrscheinlich weit besser verstehen als ich, Herr Fischer. Aber es bleibt Ihnen überlassen.«
»Ich bin nicht sicher, ob sich noch eine Gelegenheit zu einem Gespräch unter vier Augen mit ihr ergibt, Herr Luchs. Wenn Sie es für ratsam halten, so können Sie ihr meine unrühmliche Geschichte erzählen. Es ist auch möglich, dass Jutta darüber spricht. Ein Geheimnis ist es jedenfalls nicht.«
»Ich werde Frau von Schoenecker wohl ins Vertrauen ziehen«, entgegnete Eugen Luchs bedächtig. »Diese ungewöhnliche Frau weiß manchmal einen Ausweg, wenn es scheinbar keine Lösung gibt.«
»Nun, in meinem Fall liegen die Dinge ganz klar. Entweder wird Jutta gesund. Dann geht alles so weiter wie bisher. Oder sie schließt für immer die Augen, was der Himmel verhüten möge. In diesem Fall nehme ich Thomas selbstverständlich zu mir. Es gibt nur diese beiden Möglichkeiten. Daran kann Frau von Schoenecker kaum etwas ändern.«
»Ja, gewiss. So sieht es aus. Trotzdem meine ich, dass es gut wäre, sie zu unterrichten. Darf ich noch etwas anderes wissen.«
»Fragen Sie nur!«
»Sie haben Moira geheiratet, nachdem Sie geschieden waren?«
»Nein, ich bin allein geblieben. Das Schicksal war gegen mich. Moira litt an einer unheilbaren Krankheit. Kein Mensch hatte etwas davon gewusst. Ihr Vater war ein reicher Mann. Er ließ berühmte Ärzte aus mehreren Ländern kommen. Kein Mittel blieb unversucht, um Moira zu retten. Doch es gab keine Hilfe für sie. Es bedeutete einen armseligen Trost, dass sie wenigstens nicht mehr allzu lange von ihren Schmerzen gepeinigt wurde. Das Ende kam schnell. Wenige Wochen, nachdem unser Scheidungsurteil rechtskräftig geworden war, starb Moira. Ich flog noch einmal nach Amerika, um sie wenigstens zu sehen. Doch als ich ankam, war sie bereits tot.«
»Das muss furchtbar für Sie gewesen sein.«
»Ich war nah daran, meinen Verstand zu verlieren. Es dauerte ziemlich lange, bis ich zu mir selbst zurückfand. Um nicht nachdenken zu müssen, arbeitete ich wie ein Besessener. Trotzdem musste ich nach und nach erkennen, dass eine Ehe zwischen Moira und mir mit einer Katastrophe geendet hätte. Moira war bildhübsch. Aber sie besaß kein Gefühl, hatte kein Gemüt. Sie war von klein auf grenzenlos verwöhnt und verzogen worden. Nach ihrer Ansicht drehte sich die Welt nur um sie und ihre Wünsche. Ich glaube nicht, dass sie einer tiefen, echten Liebe fähig gewesen war. Sie glücklich zu machen, wäre unmöglich gewesen. Nun ja – ihr Schicksal hat sich allzu früh erfüllt. Aber ich bin seitdem einsam gewesen. Zwar habe ich berufliche Erfolge errungen, aber sie machen mir keine Freude. Heute verdiene ich weit mehr Geld, als ich ausgeben kann. Aber im Grunde ist mir das völlig gleichgültig. Ich weiß nicht, was ich mit meinem Geld beginnen soll. Meine Strafe ist hart, wenn ich auch erkenne, dass ich sie verdient habe. Leidenschaft und Liebe sind zwei Dinge, die man nicht miteinander verwechseln darf. Heute bin ich schon dankbar, dass ich wenigstens die Gelegenheit erhalten habe, meinen Jungen wiederzusehen und neu kennenzulernen. Ich wünschte nur, der Anlass wäre nicht so traurig. Irgendwie fühle ich mich sogar an Juttas Unfall mitschuldig. Das alles wäre nicht nötig gewesen, wenn ich mich damals wie ein erwachsener, verantwortungsbewusster Mann verhalten hätte. Aber ich habe mich aufgeführt wie ein unreifer Pennäler und mehrere Menschen unglücklich gemacht – mich selbst am meisten.«
»Hat Ihre Frau davon erfahren – ich meine, vom Tod des Mädchens?«
»Wahrscheinlich nicht, Herr Luchs. Ich jedenfalls habe es ihr nicht mitgeteilt. Und sie wird kaum Erkundigungen eingezogen haben. Das liegt ihr nicht. Es ist ja auch gleichgültig, ob sie es weiß oder nicht. An dem, was ich ihr zugefügt habe, ändert sich dadurch nichts.«
Eugen Luchs streckte in seiner schlichten Art die Hand über den kleinen Klapptisch, und Fred Harder schlug ein, ohne zu zögern.
»Vielen Dank für Ihr Vertrauen. Ich war ziemlich fest davon überzeugt, dass die Mutter meines kleinen Findlings unverheiratet und von einer dünkelhaften Familie verstoßen worden sei. Wie man sich täuschen kann!«
Fred Harder seufzte.
»Sie ist von einem egoistischen Mann allein gelassen worden, Herr Luchs. Gar so falsch war Ihre Vermutung also nicht. Ich habe heute ein paar Stunden mit meinem Jungen verbringen können. Die Erkenntnis, dass ich für Thomas die Verantwortung trage, ist für mich neu und umwerfend. Bis jetzt habe ich mir eingebildet, dass mit der monatlichen Überweisung alles getan sei. Ich beschwichtigte mein Gewissen damit, dass Jutta es nicht anders wollte. Dass ich es niemals hätte so weit kommen lassen dürfen, wollte ich nicht wahrhaben.«
»Sie sollten sich jetzt nicht mit Selbstvorwürfen herumquälen, Herr Fischer«, tröstete ihn der Schriftsteller. »Jeder Mensch begeht im Leben Fehler, auch schwerwiegende Fehler. Ihr kleiner Thomas wird heranwachsen und möglicherweise später selbst den Wunsch äußern, mit Ihnen in Verbindung zu treten. Auf die Dauer kann seine Mutter ja die Behauptung, er habe keinen Vater, nicht aufrechterhalten.«
»Ja, daran habe ich auch gedacht. Sollte Thomas eines Tages von sich aus an mich herantreten, so kann Jutta ihn kaum daran hindern. Es mag sich ein bisschen lächerlich anhören – trotzdem muss ich sagen, dass Thomas ein ganz besonderer kleiner Bursche ist. Finden Sie nicht auch?«
Eugen Luchs nickte und lächelte. »Ich habe ihn neulich in Stuttgart sofort ins Herz geschlossen. Thomas ist ein Junge, an dem man nicht achtlos vorübergeht. Das kann ich Ihnen mit gutem Gewissen bescheinigen.«
»Danke«, sagte Fred Harder. »Es freut mich, dass es nicht nur blinde väterliche Eitelkeit ist.«
Zwischen dem Schriftsteller und dem Flugzeugbauer hatte sich innerhalb dieser kurzen Zeitspanne eine warme Zuneigung entwickelt.
»Ich habe seit langer Zeit zu keinem Menschen über meine persönlichen Angelegenheiten gesprochen«, fuhr Fred Harder fort. »Meine Bekannten wissen, dass ich geschieden bin. Mehr nicht. Nachdem verschiedene wohlmeinende Versuche, mich mit jungen Damen in Kontakt zu bringen, kläglich scheiterten, hat man sich daran gewöhnt, in mir einen hoffnungslosen Fall zu sehen. Mir ist es herzlich gleichgültig, was über mich gedacht oder getratscht wird. Außer meiner Arbeit gibt es eigentlich nichts, was mich interessiert. Und auch die Arbeit ekelt mich manchmal an. Dass ich trotzdem immer wieder erfolgreich bin und sozusagen als großes As in unserem Werk betrachtet werde, wundert mich. Mit ganzer Seele bin ich bestimmt nicht dabei. Aber ich schufte wie verrückt, weil die Arbeit mir wenigstens keine Zeit zum Grübeln lässt. Nicht einmal meinen Urlaub nehme ich – und das schon seit Jahren.«
»Vielleicht sollten Sie einmal mit mir zusammen eine Reise unternehmen.«
Überrascht blickte Fred Harder ihn an. »Nett von Ihnen, dass Sie das vorschlagen, Herr Luchs. Ich warne Sie, denn es wäre möglich, dass ich auf Ihr freundliches Angebot zurückkomme. Hier mit diesem Wagen ein paar Wochen herumzigeunern – ja, das muss ganz erfreulich sein.«
»Wenn Sie unterwegs etwas entdecken, was Ihnen Freude bereitet, dann wäre der Zweck der Reise schon erfüllt. Aber zurzeit bin ich beschäftigt. Ich bastele an einem neuen Buch herum. Ehe ich das nicht unter Dach und Fach habe und mit dem Verleger einig bin, werde ich mich kaum auf Achse begeben. Sollte ich es trotzdem tun, werde ich Sie benachrichtigen. Manchmal packt mich ganz plötzlich das Fernweh, und dagegen kann ich mich nicht wehren.«
Die beiden neuen Freunde unterhielten sich noch eine ganze Weile miteinander. Schließlich besann sich Fred Harder auf die Zeit. Ihm fiel ein, dass es recht unhöflich sei, Alexander und Denise von Schoenecker so gänzlich zu vernachlässigen, obwohl er doch ihr Hausgast war. Eugen Luchs erbot sich, ein Stück im Wagen mitzufahren, damit Fred Harder den Weg nicht verfehlte.
»Aber wie kommen Sie dann zurück in Ihr Swasiland?«
»Zu Fuß«, sagte der Schriftsteller lachend. »Ich gehe gern ein bisschen spazieren am Abend. Dabei fällt mir meistens allerlei ein, was ich dann während der Nacht aufschreiben kann. Übrigens ist es wirklich nicht sehr weit.«
Er geleitete Fred Harder bis zur Straße, die nach Schoeneich führte. Dort stieg er aus und verschwand in der Dunkelheit.
Fred Harder fand die Familie Schoenecker im Wohnraum vor. Eben handelte Henrik mit seiner Mutter, ob er noch ein wenig aufbleiben dürfe. Doch Denise hatte bereits eine halbe Stunde zugegeben und ließ sich nicht mehr erweichen. Etwas beleidigt verzog sich der Junge.
»Nun, wie finden Sie Sophienlust, Herr Fischer?«, fragte Nick erwartungsvoll. »Hat Thomas Ihnen genügend gezeigt? Ist er nicht noch ein bisschen zu klein, um den Fremdenführer zu spielen?«
»Thomas hat seine Aufgabe großartig gemeistert, Nick«, antwortete Fred Harder. »Deine Mutter hat mir auf diese Weise ermöglicht, Sophienlust nicht nur mit meinen eigenen Augen zu betrachten, sondern auch mit denen eines Kindes. Ich bin restlos begeistert vom Haus der glücklichen Kinder und von allem, was sonst noch dazugehört. Ich freue mich schon darauf, morgen einen weiteren Tag in Sophienlust verbringen zu dürfen.«
Alexander von Schoenecker bot Wein an. Doch Fred Harder lehnte dankend ab, weil er bereits bei Eugen Luchs mit Rotwein bewirtet worden sei. Er berichtete von seinem ausführlichen Gespräch mit dem Schriftsteller, und von dessen Angebot, ihn möglicherweise auf eine Reise mitzunehmen.
»Das möchte jeder«, warf Nick vergnügt ein. »Mit Onkel Luchs erlebt man nämlich fast immer etwas ganz Besonderes.«
Denise beteiligte sich nun ebenfalls an der Unterhaltung. In ein paar knappen Sätzen teilte sie dem Gast alles mit, was dieser bisher noch nicht über Sophienlust und seine Geschichte erfahren hatte. Einmal versprach sie sich dabei und gebrauchte die Anrede ›Herr Harder‹. In stummer Übereinkunft übergingen die Erwachsenen diesen kleinen Fehler der Hausfrau. Sie hofften, dass Nick nichts bemerkt hatte. Jedenfalls sprach der Junge nicht darüber.
Doch es sollte sich herausstellen, dass Nick sehr aufmerksam zugehört hatte. Allerdings vermied er es, eine Frage zu stellen, solange der Gast anwesend war.
Da es schon ziemlich spät geworden war, verabschiedete sich Fred Harder nach einer halben Stunde. Nick begleitete ihn in das gemütliche Zimmer im oberen Stockwerk, das für den Besucher hergerichtet worden war. »Hoffentlich fehlt Ihnen nichts, Herr Fischer. Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.«
»Danke, Nick. Ich habe bestimmt alles, was ich brauche. Bis morgen.«
Fred Harder blieb mit seinen Gedanken allein. Er öffnete das Fenster und blickte in den dunklen Park hinaus. Sein unruhiges Herz konnte am Frieden der nächtlichen Stille nicht teilhaben. Ungewissheit und Sorge quälten ihn. Niemals war ihm deutlicher zum Bewusstsein gekommen, als heute, wie schwer und unersetzlich der Verlust war, den er sich durch eigene Schuld zugefügt hatte.
Inzwischen kehrte Nick zu seinen Eltern zurück. »Nicht wahr, er ist der Vater von Thomas Harder?«, fragte er sofort. »Die beiden sehen sich ziemlich ähnlich. Und du hast ihn vorhin einmal mit Herrn Harder angesprochen, Mutti.«
Alexander von Schoenecker schmunzelte. »Nick hört wieder einmal das Gras wachsen.«
»Sag schon, Vati«, drängte Nick. »Ihr könnt euch auf mich verlassen. Von mir erfährt es bestimmt keiner, wenn es ein Geheimnis bleiben soll.«
Seine Mutter nickte ihm zu. »Es war mein Fehler. Ich hatte von Anfang an ein bisschen Sorge, ob ich eine Rolle durchhalten kann. Zur Schauspielerin eigne ich mich leider nicht. Du hast recht, Nick. Der angebliche Herr Fischer heißt eigentlich Harder und ist der Vater von Thomas. Deshalb habe ich ihm ja auch Thomas als Führer zugeteilt.«
»Thomas kennt ihn anscheinend gar nicht, Mutti.«
»Nein. Die Ehe wurde geschieden, als Thomas noch ein Baby war. Herr Harder hat sich seinerzeit verpflichtet, niemals mit seinem Jungen in Verbindung zu treten und völlig auf ihn zu verzichten. Nun aber hat Frau Harder bestimmt, dass der Vater die Fürsorge für den Jungen übernehmen soll, falls sie den tragischen Unfall nicht überlebt. Da es Frau Harder sehr schlecht geht, hielt ich es für richtig, Herrn Harder brieflich zu den Geschehnissen zu unterrichten. Damit, dass er sofort nach Sophienlust kommen würde, hatte ich allerdings nicht gerechnet. Aber ich konnte ihn selbstverständlich nicht daran hindern, wollte er sich doch mit eigenen Augen davon überzeugen, ob sein Sohn hier gut aufgehoben sei. So einigten wir uns auf den Decknamen Fischer. Für Herrn Harder bedeutet es die erste Begegnung mit seinem Jungen nach mehreren Jahren. Übrigens war er heute Abend zuvor bei Eugen Luchs, weil er sich bei ihm bedanken wollte.«
»Ach so, das erklärt auch, warum er gar so lange in Swasiland geblieben ist«, meinte Nick. »Er wird Onkel Luchs mitgeteilt haben, dass er nicht Fischer, sondern Harder heißt.«
»Ja, das nehme ich an. Nun kennst du die ganze traurige Geschichte. Immerhin bedeutet es einen schwachen Trost, dass der Vater die Absicht hat, Thomas zu sich zu nehmen, wenn der Mutter wirklich etwas zustoßen sollte. So ist der Junge wenigstens nicht ohne Angehörige.«
»Es ist scheußlich«, stieß Nick unzufrieden hervor. »Falls Frau Harder gesund wird, muss Thomas auch weiterhin den Vater entbehren. Wenn sie aber sterben sollte, wird er ohne die Liebe seiner Mutti aufwachsen. Ob sein Vater sich nach der Scheidung wieder verheiratet hat?«
»Ich weiß es nicht, Nick. Wir werden es wohl noch erfahren.«
»Man müsste Eltern, die sich scheiden lassen, ohne an ihre Kinder zu denken, die Kinder wegnehmen«, meinte Nick. »Ich bin froh, dass Thomas erst einmal in Sophienlust bleiben kann. Zu einer bösen Stiefmutter würden wir ihn nicht schicken, nicht wahr?«
»Nein, Nick. Darauf kannst du dich verlassen. Nach wie vor wollen wir hoffen und wünschen, dass Frau Harder sich erholt.«
»Klar wünsche ich mir das, Mutti. Mir gefällt Herr Fischer übrigens recht gut. Und Thomas hat sich auch gleich tadellos mit ihm verstanden. Eigentlich passt es mir nicht, dass er sich hat scheiden lassen.«
Denise lächelte ihrem großen Jungen zu, der schon so viel wusste und doch noch zu jung war, um die Irrwege der menschlichen Seele zu verstehen und zu entschuldigen. »Wir wissen nicht, warum das Ehepaar sich damals getrennt hat, Nick. Deshalb dürfen wir auch nicht darüber urteilen.«
Nick ließ sich von seiner Mutter umarmen. Er war noch nicht ganz zufriedengestellt. »Vati und du – ihr würdet so etwas niemals tun«, meinte er grollend. »Andrea und Hans-Joachim auch nicht.«
»Eine große Liebe ist ein Himmelsgeschenk, Nick. Sie wird leider nicht jedem Paar zuteil.«
»Die Welt ist schwer zu verstehen, Mutti«, sagte Nick seufzend. »Bevor ich mal heirate, werde ich es mir bestimmt dreimal überlegen.«
Alexander von Schoenecker räusperte sich, um sein Lächeln zu verbergen. Er wollte Nick keinesfalls kränken, denn er wusste genau, dass es dem Jungen bitter ernst war. »Glücklicherweise hast du noch lange Zeit, ehe du einmal so weit bist, Nick«, meinte er freundlich.
Denise mahnte zum Schlafengehen. Der Hausherr löschte die Lampen und sicherte die Türen. Wenig später lag das Gutshaus von Schoeneich in tiefer Dunkelheit.
*
Dr. med Peter Korst, Oberarzt der Abteilung für Chirurgie, hatte in dieser Nacht Bereitschaftsdienst. Er saß in dem kleinen Raum, der mit einem Schreibtisch, einem Telefon, einer Liege und einem leidlich bequemen Sessel ausgestattet war. Bisher hatte es für ihn nicht viel Arbeit gegeben, sodass er sich mit schriftlichen Berichten und der Lektüre medizinischer Fachschriften beschäftigt hatte.
Die Uhr zeigte auf zwei Uhr nachts. Möglicherweise würde er sich ein bisschen hinlegen und ausruhen können, denn im Gegensatz zu den Nachtschwestern bekamen die diensthabenden Ärzte am nächsten Tag keine Freizeit, um sich zu erholen. Peter Korst legte einen Stoß Krankenberichte beiseite und steckte die mitgebrachten Fachzeitschriften in seine Aktentasche.
In diesem Augenblick leuchtete die Lampe am Telefonapparat auf, der zugleich ein Summen ertönen ließ. »Na also – wenn man schon ans Schlafen denkt«, flüsterte der Oberarzt ärgerlich, als er nach dem Hörer griff.
Es war die Nachtschwester. Ihre Stimme klang atemlos und aufgeregt. »Bitte, kommen Sie sofort zu der Patientin in Zimmer vier, Herr Doktor. Es ist dringend. Ich hole inzwischen schon Sauerstoff.«
Der Doktor hielt sich nicht mit Fragen auf. Er warf den Hörer zurück auf den Apparat und stürmte aus dem Bereitschaftsraum. Im Dauerlauf legte er den Weg durch den langen, matt erleuchteten Gang zurück.
Die Tür von Zimmer vier stand offen. Es war Jutta Harders Zimmer. Eben rollte die Schwester die Sauerstoff-Flasche herbei.
Der Arzt beugte sich kurz über die Patientin, die ohne Bewusstsein war. Ihre Atemzüge ließen sich kaum mehr wahrnehmen, der Puls war schwach und beängstigend schnell. Mit Hilfe der umsichtigen Schwester wurde das Beatmungsgerät in Tätigkeit gesetzt. Der Arzt schickte die Nachtschwester nach einem Kreislaufmittel. Es durfte jetzt keine Minute verloren werden. Vielleicht war es ohnehin schon zu spät, um die Patientin noch zu retten. Der Tod stand neben ihrem Bett. Würde er sich seine Beute noch einmal entreißen lassen?
Peter Korst war von einer stillen Besessenheit erfüllt. Für Jutta Harder hatte er sich vom ersten Tag an interessiert. Nachdem es ihr zuerst sehr schlecht gegangen war, sah es seit gestern ein wenig besser mit ihr aus. Er sträubte sich dagegen, dass dies nur ein letztes Aufflackern ihrer geschwächten Lebensflamme gewesen sein solle. Mit zusammengepressten Zähnen nahm er den Kampf um das Leben der jungen Frau auf, obwohl ihm klar sein musste, dass die Chancen nicht gut standen.
Die Schwester brachte das gewünschte Medikament und band den Arm der Patientin ab, damit der Doktor die Injektion ohne Verzögerung vornehmen konnte. Gespannt beobachtete er die Wirkung seiner Maßnahmen. Erleichtert konnte er nach kurzer Zeit registrieren, dass Puls und Atmung Jutta Harders sich stabilisierten.
Peter Korst blieb am Bett der Patientin. Die Nachtschwester verließ ihn, weil sie anderswo benötigt wurde. Der Arzt beobachtete Jutta Harder genau. Er vergegenwärtigte sich alles, was er über ihre Unfallverletzung und die daraufhin erfolgte Schädeloperation wusste. Ein Gedanke drängte sich ihm auf. Zuerst erschien ihm das Ganze absurd und unvorstellbar. Doch schließlich kam er zu der Überzeugung, dass es seine Pflicht sei, seiner Eingebung zu folgen und sich genau zu informieren. Es hatte vor einigen Monaten einen ähnlichen Fall in der Klinik gegeben. Irgendetwas erinnerte ihn jetzt daran. Sobald er es wagen konnte, seine Patientin für einige Minuten zu verlassen, suchte er das Stationszimmer auf und nahm die Mappe mit Jutta Harders Krankenpapieren aus dem Wandschrank. Er suchte die Röntgenaufnahmen heraus und schaltete das Betrachtungsgerät ein. Bei der Kontrolle der achten Aufnahme fand er, was er vermutet hatte. Es war nur ein Schatten, aber dieser Schatten bedeutete immerhin eine Möglichkeit.
Dr. Korst war ziemlich aufgeregt. Er mahnte sich zur Ruhe. Noch war nichts erwiesen. In der Röntgenabteilung war immer jemand da, auch mitten in der Nacht. Der Oberarzt rief an und bat um sofortige Wiederholung der Schädelaufnahmen bei Jutta Harder. Von der Unfallstation kamen zwei Pfleger, um die Patientin vorsichtig zu transportieren. Die Beatmung mit Sauerstoff wurde fortgesetzt.
Etwa zwanzig Minuten später sah Peter Korst, was er hatte sehen wollen. Deutlich zeichnete sich auf dem Röntgenbild ab, was auf der früheren Aufnahme nur als Schatten angedeutet gewesen war. Ein Knochensplitter hatte sich nachträglich abgelöst und bedrohte jetzt das Leben der Patientin.
»Sie muss noch einmal operiert werden, und zwar sofort«, sagte der Oberarzt halblaut. »Aber das kann nur der Chef machen.« Er rief die Nachtschwester und teilte ihr mit, was er herausgefunden hatte. »Ich werde jetzt mit dem Professor telefonieren«, erklärte er ihr. »Alarmieren Sie das Team, das heute Nacht erreichbar ist.«
Die Schwester brauchte nur im Plan nachzuschlagen, um das festzustellen. Im Ernstfall konnte jederzeit eine ausreichende Anzahl von Ärzten und Schwestern gerufen werden. Der Professor erklärte sich sofort bereit, die Leitung des Eingriffs zu übernehmen. »Ein Segen, dass Sie gleich die richtige Vermutung hatten, Herr Kollege«, sagte er. »Ich bin in einer Viertelstunde in der Klinik.«
Peter Korst atmete auf. Nun hatte er getan, was in seiner Macht stand. Auf seinen Chef konnte er sich verlassen. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gab, Jutta Harder zu retten, dann war der Professor der einzige Chirurg, der es schaffen würde. Jedenfalls der einzige, den Peter Korst kannte.
Er kehrte in das kleine Dienstzimmer zurück, denn er durfte seinen Platz vorerst nicht verlassen. Jutta Harder war bereits zum Operationssaal gebracht worden und wurde dort von der sofort eingetroffenen Narkoseärztin betreut.
Jutta Harder – der Oberarzt hatte sie untersucht, als sie eingeliefert worden war. Er erinnerte sich an jede Einzelheit dieses Falles, auch an den kurzen Besuch ihres kleinen Jungen, den er nicht gesehen hatte. Umso deutlicher war ihm das Gespräch mit Denise von Schoenecker im Gedächtnis geblieben. Die warme Anteilnahme dieser sympathischen Frau hatte sein eigenes Interesse an der Patientin geweckt. Später hatte sich auch ihr geschiedener Mann gemeldet. Er schien um seine ehemalige Frau aufrichtig besorgt zu sein. Peter Korst war auf diese Weise zu der Überzeugung gekommen, dass Jutta Harder eine ungewöhnlich liebenswerte Frau sein müsse. Deshalb lag es ihm ganz besonders am Herzen, ihr zu helfen. Zuerst hatte es schlecht ausgesehen, sehr schlecht sogar. Gestern war so etwas wie Hoffnung gewesen, und nun hing ihr Leben buchstäblich an einem seidenen Faden. Der Ausgang der riskanten nächtlichen Operation würde über Leben und Tod entscheiden. Wenig später rief der Professor seinen bewährten Oberarzt zur Teilnahme an der Operation zu sich, während ein jüngerer Assistenzarzt die weitere Nachtbereitschaft übernahm. Der Eingriff erwies sich als gefährlicher und schwieriger, als man nach dem Röntgenbild hatte annehmen können. Ärzte und Schwestern fanden sich zu einer gegen den Tod verschworenen Gemeinschaft zusammen. Schon ein Blick des Professors genügte, um seine Helfer zu verständigen. Es fiel kaum ein Wort. Selten war sich Peter Korst der ungeheuren Verantwortung seines Berufs so stark bewusst geworden.
Der Morgen dämmerte herauf, als der Eingriff beendet war. Es war gelungen, den gefährlichen Knochensplitter zu entfernen. Buchstäblich in letzter Minute hatte Jutta Harder gerettet werden können.
Ihr Bett wurde in ihr Zimmer zurückgebracht. Eine Sitzwache nahm den Platz neben der Patientin ein. Peter Korst übernahm erneut seinen Dienst, und alle anderen Helfer kehrten heim oder suchten ihre Zimmer in der Klinik auf, um noch ein wenig zu schlafen, ehe der neue Tag seine harten Anforderungen an sie stellte.
Die Sonne schien ins Zimmer, als Jutta Harder aus der Narkose erwachte.
Der lebensbedrohliche Druck auf ihr Gehirn war nicht mehr vorhanden. Deshalb war sie nun wieder bei Bewusstsein, wenn auch unendlich schwach. Verwundert sah sie die Schwester neben ihrem Bett sitzen.
»Was ist geschehen?«, fragte sie. »Warum habe ich diese Infusionsschläuche in beiden Armen? Ich kann mich gar nicht erinnern …«
Die Schwester befeuchtete Juttas trockene Lippen. »Sie sind während der Nacht noch einmal operiert worden, Frau Harder«, erklärte sie beruhigend und freundlich. »Herr Dr. Korst hat den Professor gerufen. Es war sehr eilig. Sozusagen hat unser Oberarzt Ihnen das Leben gerettet. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie der Professor es gesagt hat.«
Jutta atmete tief durch. Sie fühlte sich unendlich müde.
»Haben Sie Schmerzen?«, fragte die Schwester.
»Nein, gar nicht. Es erscheint mir fast unglaublich, dass ich operiert worden sein soll.«
Die Tür öffnete sich, und Dr. Peter Korst trat ein. Er sah blass und übernächtigt aus. Sein gut geschnittenes, intelligentes Gesicht wurde von seinem wenig eleganten Stoppelbart verunziert.
Seine Augen leuchteten auf, als er feststellte, dass die Patientin erwacht war. »Nun, wie fühlen Sie sich, Frau Harder?«, fragte er munter.
»Ziemlich schwach, aber ich habe keine Schmerzen.«
»Hat die Schwester Ihnen erzählt, was wir heute Nacht mit Ihnen gemacht haben?«
»Ja, sie sagte, dass ich Ihnen mein Leben verdanke.«
»Das ist übertrieben, Frau Harder«, fiel er ihr ins Wort. »Es ging Ihnen sehr schlecht. Sie waren ohne Bewusstsein. Ich habe durch eine neue Röntgenuntersuchung feststellen können, dass wir sofort einen Splitter vom Knochen der Schädeldecke entfernen mussten, der sich nachträglich gelöst hatte. Die Operation hat dann der Professor durchgeführt, und ich gehörte nur mit zum Team.«
»Ich – ich bin nicht einmal sicher, ob es gut ist, dass ich nun weiterleben werde, Dr. Korst«, sagte Jutta stockend.
»Darüber dürfen Sie jetzt nicht nachgrübeln, Frau Harder. In ein paar Tagen werden Sie sich kräftiger fühlen und anders darüber urteilen. Ihr kleiner Junge wartet auf seine Mutter. Daran müssen Sie denken.«
»Ja, ja, gewiss – Thomas …«
Peter Korst gab der Schwester einen Wink. Sie verließ das Zimmer, und der Arzt setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett.
»Es ist ganz normal, dass man sich miserabel fühlt am Morgen nach einer Operation, Frau Harder«, sagte der Doktor freundlich und legte seine Hand über die ihre. »Bei Ihnen kommt hinzu, dass Sie sich an den vergangenen Tagen schon fast damit abfinden wollten, unsere schöne Welt zu verlassen. Das ist mir nicht entgangen, Frau Harder. Es traf sogar zu, was Sie empfanden. Ihr Zustand gab zu größter Besorgnis Anlass. Aber von heute an wird es aufwärtsgehen, wenn auch langsam und mit sehr kleinen Schritten. Dass Sie nun erst umschalten müssen, ist durchaus natürlich.«
Jutta zwang sich zu einem Lächeln. »Sie geben sich so viel Mühe, Herr Dr. Korst. Ich komme mir undankbar vor, wenn ich trotzdem zweifle, ob das Weiterleben einen Sinn für mich haben wird.«
»Ich weigere mich, heute früh darüber mit Ihnen zu diskutieren, Frau Harder«, erklärte der Doktor. »Sie müssen dafür sorgen, dass man Ihnen ein Medikament gibt, damit Sie sich nicht mit unnützen Grübeleien herumquälen, die gewiss nichts einbringen. Ich für mein Teil muss jetzt schleunigst unter die Dusche. Rasieren könnte auch nichts schaden. Denn in einer guten Stunde muss ich meinen Dienst auf der Station beginnen.« Er stand auf und nickte Jutta zu. »Nur den Mut nicht verlieren, Frau Harder. Es hat sicherlich einen ganz bestimmten Sinn, dass Ihnen das Leben neu geschenkt wurde.«
Jutta schwieg. Sie hatte die Lider geschlossen, und um ihren Mund bildete sich eine Linie, die von Widerspruch und Trotz zeugte.
Der Oberarzt verließ sie und trug der draußen wartenden Schwester auf, ihr ein leichtes Beruhigungsmittel zu injizieren.
*
Fred Harder verbrachte den Sonntag fast ausschließlich in Gesellschaft seines Sohnes. Gleich nach dem Frühstück fuhr er nach Sophienlust hinüber, wo er von Thomas bereits ungeduldig erwartet wurde.
Gemeinsam mit einigen anderen Kindern ging es zunächst zum Märchenwald. Umständlich und wortreich erzählte Vicky Langenbach, dass an der Stelle dieser großen Schonung im Sophienluster Forst vor Jahren ein Waldbrand gewütet habe. Seitdem war es Tradition, dass jedes neue Kind im Haus der glücklichen Kinder sich einen Baum aussuchen dürfe, der ihm sozusagen ganz allein gehörte. Justus fertigte jeweils ein Namensschild für den erwählten kleinen Baum an. So war allmählich der Märchenwald entstanden, und Fred Harder konnte feststellen, dass schon viele Kinder in Sophienlust aufgenommen worden waren.
»Wo sind die anderen Kinder jetzt?«, fragte er.
»Ach, das ist ganz verschieden«, antwortete die blonde Irmela. »Ich werde nur bis zum Abitur bleiben. Dann möchte ich Medizin studieren. Meine Eltern leben in Indien. Manche Kinder waren sowieso nur für kurze Zeit in Sophienlust, zum Beispiel wegen einer Krankheit der Mutter. Andere wieder hatten keine Eltern mehr und fanden eine neue Familie. Sie müssen sich das einmal von Tante Isi genauer erzählen lassen. Schauen Sie sich Thomas an, der Sie so fein herumgeführt hat! Seine Mutter liegt im Krankenhaus. Sobald sie wieder gesund ist, wird sie ihren Sohn doch sicherlich zurückholen. Aber einen Namensbaum hat Thomas natürlich gleich bekommen. Da steht er.«
»Ich verstehe«, sagte Fred Harder. »Für so manches Kind ist Sophienlust nur eine Durchgangsstation gewesen. Hört man dann nie mehr von ihnen, wenn sie einmal fortgegangen sind?«
Angelika mischte sich ein. »Du meine Güte, Herr Fischer! Was denken Sie sich denn? Wer einmal in Sophienlust war, gehört ganz und gar dazu. Tante Isi bekommt viele Briefe und oft genug haben wir auch Besuch von Kindern, die früher bei uns waren.«
»Das kann ich mir vorstellen. Thomas wird Sophienlust gewiss auch nie im Leben vergessen.«
Thomas schaute treuherzig zu seinem Vater auf. »Nicht wahr, es ist schön hier, Onkel Fred?«
»Ja, Thomas. Mir gefällt es auch. Leider bin ich kein Kind mehr und kann deshalb nicht länger hierbleiben.«
»Vielleicht erlaubt es Tante Isi«, meinte Thomas hoffnungsvoll.
Fred Harder strich über den Kopf des Jungen. »Nein, Thomas, das geht nun wirklich nicht. Ich muss ins Werk. Ich habe meine Arbeit. Die Leute würden sich schon wundern, wenn ich keine Flugzeuge mehr bauen wollte, weil es mir in Sophienlust gefallen hat.«
»Vielleicht besuchst du uns wieder einmal, Onkel Fred. Man kann doch nicht immer nur Flugzeuge bauen.«
»Ja, Thomas, es ist möglich, dass ich euch später noch einmal besuche. Aber genau weiß ich es jetzt noch nicht.«
Die kleine Gruppe kehrte zum Herrenhaus zurück. Viel zu rasch verstrichen die Stunden. Zum Leidwesen von Thomas blieb keine Zeit für eine Fahrt nach Buchenau zu Tante Andreas Tierheim.
Der kleine Junge war den Tränen nahe, als sich herausstellte, dass der Besucher, mit dem er so rasch Freundschaft geschlossen hatte, bereits nach dem Mittag aufbrechen musste. Fred Harder zog seinen Sohn an sich und holte sein eigenes Taschentuch hervor, um ihn zu trösten. Ihm wurde die Kehle seltsam eng, als es galt, Abschied zu nehmen.
Umringt von den übrigen Kindern, winkte Thomas dem Wagen nach. Sein Vater fuhr davon, ohne dass der Junge ihn erkannt hatte.
Vielleicht sehe ich Thomas nie wieder, dachte Fred Harder. Ich habe nicht gewusst, was es heißt, die Hand des eigenen Kindes zu halten.
Jetzt ist es zu spät, denn ich will nicht wünschen, dass Jutta stirbt. Ich muss dankbar sein, dass ich Thomas sehen konnte. Mehr darf ich nicht verlangen vom Schicksal.
Er lenkte den Wagen zum Standplatz des Wohnwagens von Eugen Luchs. Es lag ihm am Herzen, sich von dem Schriftsteller zu verabschieden. Doch er fand das kleine Swasiland verlassen, den Wagen verschlossen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als ein Blatt aus seinem Noitzbuch zu reißen und ein paar Zeilen darauf zu schreiben. Er schob den Zettel unter einen Stein vor der Tür des Wagens, sodass er deutlich zu erkennen war. Dann bestieg er sein Auto, wendete es auf dem schmalen Weg und fuhr davon.
*
Jutta ging es nach einigen Tagen deutlich besser. Sie wunderte sich, dass man sie immer noch in dem schönen Einzelzimmer liegen ließ. Sie erkundigte sich bei der Stationsschwester, die ihr mitteilte, dass der Professor es so angeordnet habe.
So fragte Jutta den Chefarzt, warum sie in diesem Zimmer lag. Der Professor lächelte freundlich. »Man hat mir gesagt, dass Sie unter allen Umständen allein bleiben sollen. Die Mehrkosten werden von anderer Seite übernommen. Bei mir brauchen Sie sich dafür nicht zu bedanken.«
»Meine Firma«, sagte Jutta leise. »Ich muss schon sagen, dass das sehr großzügig ist. Die Krankenkasse zahlt nämlich bestimmt nicht für ein so schönes Einzelzimmer.«
Der Professor schwieg. Er hatte Fred Harder fest versprechen müssen, dass seine geschiedene Frau nicht erfahren würde, wer für ihr Zimmer bezahle.
Die Patientin gab sich zufrieden und stellte keine weiteren Fragen. Sie hatte eine Erklärung gefunden. Schließlich war die Firma für den Unfall haftbar, auch wenn niemanden eine Schuld traf. Der Direktor hatte ihr schon zweimal Blumen geschickt.
Der Oberarzt kam mehrmals am Tag zu ihr. Er pflegte sich gern an ihr Bett zu setzen und ein wenig mit ihr zu plaudern. Auch heute erschien er, kurz nachdem der Professor das Zimmer verlassen hatte.
»Ich bringe Ihnen herzliche Grüße von Frau von Schoenecker und von Thomas, Frau Harder«, verkündete Peter Korst. »Jawohl, ich habe mit Ihrem Sohn gesprochen, ob Sie es glauben wollen oder nicht. Thomas möchte Sie sehr gern bald wieder besuchen. Frau von Schoenecker wird so freundlich sein, mit ihm nach Stuttgart zu kommen.«
Jutta lächelte. »Mein kleiner Thomas! Ich habe große Sehnsucht nach ihm.«
»Sie zweifeln also nicht mehr, ob die zweite Operation für Sie gut war oder nicht?«
Die Patientin dachte eine Weile nach, und der Arzt ließ ihr Zeit. »Ich will offen sein, Dr. Korst«, meinte Jutta endlich. »Ich liebe Thomas sehr. Trotzdem wäre es für ihn möglicherweise besser gewesen, wenn Sie den dummen Knochensplitter nicht entdeckt hätten.«
»Das klingt etwas seltsam, Frau Harder. Für mich als Arzt ist es ein schöner Erfolg, dass Sie sich nun allmählich erholen. Die Existenz Ihres Sohnes bedeutet für Sie eine wichtige und auch lohnende Aufgabe, der Sie sich nicht entziehen dürfen.«
»Ich bin nicht sicher, ob ich als alleinstehende Frau immer die ideale Erzieherin für einen heranwachsenden Jungen sein kann. Für den Fall meines Todes hatte ich bereits Vorsorge getroffen, dass Thomas in die Obhut meines früheren Mannes kommen sollte. Möglicherweise ist für einen Jungen der Vater wichtiger als die Mutter. Ich habe darüber nicht nachgedacht, als wir uns scheiden ließen.« Sie hielt inne. Peter Korst schaute sie freundlich an und wartete, ohne sie zu drängen. Zwischen den beiden Menschen war eine warme, herzliche Beziehung entstanden. Der Arzt spürte, dass Jutta Harder ihm Vertrauen schenkte. Er war glücklich darüber. Noch kaum je hatte ihm eine Patientin so viel bedeutet wie Jutta Harder.
Nun fuhr sie fort: »Mein Mann wollte damals die Scheidung. Ich war vor Schmerz und Entsetzen wie versteinert. Selbstverständlich legte ich ihm kein Hindernis in den Weg. Reisende soll man nicht aufhalten. Ich war mir zu gut, um zu betteln oder gar zu kämpfen. Meine Bedingung war Thomas. Ich forderte, dass mein Mann absolut auf das Kind verzichtete. Da mein Mann Wert darauf legte, so rasch wie möglich freizukommen, ging er auf alles ein, was ich verlangte.«
»Ist es schon lange her, Frau Harder?«
»Ja, mehrere Jahre. Thomas war damals noch ein Baby. Deshalb kann er sich an seinen Vater nicht erinnern. Ich habe ihm nie von seinem Vater erzählt. Heute frage ich mich, ob das richtig war. Nehmen Sie einmal an, ich hätte den Unfall nicht überlebt. Die unvorbereitete Begegnung mit dem Vater wäre für Thomas möglicherweise ein Schock geworden.«
»Nun, diese Gefahr besteht jetzt nicht mehr, Frau Harder. Sie werden zwar eine Menge Geduld aufbringen müssen – aber Sie werden wieder gesund. Es bleibt Ihnen dann immer noch die Möglichkeit, Ihrem kleinen Sohn behutsam zu erklären, dass er einen Vater hat. Er wird in einiger Zeit sowieso alt genug, um zu wissen, dass es Kinder ohne Vater nicht gibt.«
»Sie haben völlig recht, Dr. Korst. Ich habe sozusagen die Augen fest zugedrückt, um nur ja die Wahrheit nicht sehen zu müssen. Ich wollte nicht an die Vergangenheit erinnert werden. Aber an die Zukunft mochte ich auch nicht denken.«
»Jetzt haben Sie wenigstens genügend Zeit, um Ihre Situation einmal gründlich zu analysieren. Krankheiten, ein Unfall – manchmal bedeuten solche Einschnitte im Leben mehr, als man sich träumen lässt. Sie sind bereits bis heute zu einigen ganz neuen Einsichten gelangt.«
»Trotzdem fällt mir nicht ein, was ich ändern könnte. Ich werde auch in Zukunft meinen Beruf ausüben, und Thomas muss in den Kindergarten gehen. Wenn die Schule beginnt, wird es noch schwieriger. Wie soll ich verhindern, dass mein Junge ein Schlüsselkind wird? Vielleicht hätte sein Vater ihm mehr Geborgenheit bieten können.«
»Wie wollen Sie das wissen, Frau Harder? Ihr Mann hat sich seinerzeit offenbar leichten Herzens von Ihnen und seinem Kind losgesagt. Es genügt sicherlich nicht, ein männliches Wesen zu sein, um auch schon einen guten Vater darzustellen. Was ein Kind in erster Linie braucht, ist echte Zuwendung und Liebe. Sie haben sich zu Thomas bekannt und Ihre gesamte Existenz auf den Jungen eingestellt. Ich glaube nicht, dass sein Vater nach so vielen Jahren bereit wäre, auch nur das geringste Opfer für seinen Sohn zu bringen. Hat er sich denn gelegentlich nach Thomas erkundigt?«
»Nein, ich habe es abgelehnt, irgendeine Verbindung mit ihm aufrechtzuerhalten.«
»Wenn ihm der Junge wichtig wäre, hätte er trotzdem versucht, etwas zu erfahren. Ich bin davon überzeugt, dass es für Thomas lebensnotwendig ist, auch weiterhin unter Ihrer Obhut zu bleiben. Es wäre für den Jungen ein furchtbarer Verlust gewesen, wenn Sie Ihren Unfall nicht überstanden hätten. Die Liebe einer Mutter ist durch nichts zu ersetzen – schon gar nicht durch einen Vater, der sich mit seiner Rolle seit Jahren nicht identifiziert hat.«
Jutta seufzte. Peter Korst nahm ihre Hand, und sie ließ es geschehen. »Immerhin hätte Thomas wahrscheinlich innerhalb einer normalen Familie aufwachsen können, Dr. Korst. Mein Mann hat mich damals wegen einer anderen Frau verlassen. Er wollte sie so schnell wie möglich heiraten. Vielleicht hat Thomas Halbgeschwister.«
»Wer garantiert Ihnen, dass die andere Frau Ihren Jungen mit der gleichen Liebe umgeben hätte wie ihre eigenen Kinder? Haben Sie auch an diese Möglichkeit gedacht? Thomas als das zurückgesetzte, störende Kind – Thomas abgeschoben in ein Internat – Thomas innerlich vereinsamt und enttäuscht?«
»Nein, daran habe ich nie gedacht«, gab Jutta zu. »Ich war ganz sicher, dass mein früherer Mann Thomas ein guter Vater sein werde. So weit glaube ich ihn nun doch zu kennen. Er würde es nicht zulassen, dass Thomas benachteiligt wird.«
»Wir brauchen der Sache glücklicherweise nicht weiter nachzugehen. Der Fall wird nicht eintreten. Sie werden ihn in absehbarer Zeit aus seinem Kinderheim abholen und ihr Leben von früher wieder aufnehmen. Darf ich darauf hoffen, dass ich auch dann gelegentlich mit Ihnen plaudern kann, wenn Sie mich als Doktor nicht mehr benötigen und dieses Krankenhaus längst verlassen haben?«
Jutta Harder errötete. »Ich habe meist wenig freie Zeit, Dr. Korst«, erwiderte sie leise. »Dennoch würde ich mich freuen, Sie später einmal als Gast bei mir zu sehen. Sie geben sich so viel Mühe mit mir, und ich fühle, dass Sie mich verstehen.«
Er lächelte ihr zu. »Zunächst einmal bin ich ziemlich neugierig darauf, Thomas kennenzulernen. Ich möchte ganz gern ein bisschen Freundschaft mit ihm schließen, damit er später nichts dagegen einzuwenden hat, dass ich seine Mutter besuche.«
»Thomas findet schnell Kontakt, Dr. Korst. Sie werden keine Schwierigkeiten haben, sein Vertrauen zu gewinnen.«
»Was dafür spricht, dass Sie ihn richtig und vernünftig erzogen haben, Frau Harder. Wenn Kinder scheu und ängstlich sind, so ist das immer die Schuld der Erwachsenen. Ich verstehe mich ein wenig darauf, Pädagogik und Psychologie sind meine Hobbies.«
»Ich rechne mir da kein besonderes Verdienst zu, Dr. Korst«, widersprach Jutta unsicher. »Thomas hat das aufgeschlossene Wesen seines Vaters geerbt. Das ist eine glückliche Veranlagung. Wahrscheinlich hätte ich nicht einmal durch die verrückteste Erziehung viel daran verderben können.«
»Sie sollten Ihr Licht nicht ständig unter den Scheffel stellen, Frau Harder. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen dürfen Sie schon haben.«
»Damit ist es bei mir nicht sehr weit her«, gestand Jutta verlegen. »Aber Sie werden mich nicht mehr ändern. Thomas wird es später bestimmt leichter im Leben haben als ich.«
Der Arzt schwieg. Noch immer hielt er die Hand dieser Patientin, die ihn innerlich so stark beschäftigte. Es verging eine ganze Weile, ehe Jutta leise fragte, ob Frau von Schoenecker schon einen Termin für ihren angekündigten Besuch angegeben habe.
»Nein, das nicht. Frau von Schoenecker wollte noch einmal anrufen. Sie möchte sichergehen, dass das Zusammensein mit Thomas nicht zu anstrengend für Sie wird.«
»Vielleicht werde ich sogar schneller gesund, wenn ich Thomas sehe, Doktor. Es ist ein wahres Wunder, dass er kein Heimweh zu haben scheint.«
»Wenn Sie den Wunsch haben, werde ich in Sophienlust anrufen und darum bitten, dass Frau von Schoenecker bereits in den nächsten Tagen nach Stuttgart kommt.«
»Das wäre wunderbar. Aber es widerstrebt mir, Frau von Schoenecker zu drängen. Sie hat gewiss viel zu tun und muss sich ihre Zeit einteilen.«
»Wenn sie es nicht einrichten kann, wird sie nicht kommen. Auch Frau von Schoenecker ist nur ein Mensch. Doch hatte ich bei meinem Gespräch mit ihr den Eindruck, dass sie gern und bald kommen wollte. Sie fühlt sich für Thomas verantwortlich und möchte ihm eine Begegnung mit seiner Mutter ermöglichen, sowie es sich machen lässt.«
Jutta lächelte. »Ich überlasse es Ihnen, Doktor. Bei Ihnen weiß ich die Sache in guter Hand.«
Der Oberarzt stand auf. »Ich muss mich nun um die anderen Patienten kümmern, Frau Harder. Aber ich werde gegen Abend noch einmal hereinschauen, wenn meine Arbeit getan ist. Dann können wir uns in Ruhe weiter unterhalten. Wäre Ihnen das recht?«
Jutta nickte nur. Ihr Gesicht wirkte entspannt und beinah glücklich, als Peter Korst sie verließ.
*
Denise von Schoenecker hatte von Eugen Luchs erfahren, was Fred Harder ihm anvertraut hatte. Das Schicksal des geschiedenen Paares stellte sich ihr in einem neuen Licht dar. Sie sprach darüber mit ihrem Mann. Alexander von Schoenecker betrachtete die Angelegenheit etwas nüchterner als seine impulsive Frau, die sich gern von ihrem Gefühl leiten ließ.
»Diese beiden Partner sind schon viel zu lange getrennt, Isi«, fasste er seine Meinung zusammen. »Hätte Herr Harder seinen Fehler von damals korrigieren wollen, wäre in den vergangenen Jahren oft genug die Möglichkeit dazu vorhanden gewesen. Die Tatsache, dass er bis heute nicht wieder geheiratet hat, rechtfertigt keinerlei Hoffnung auf eine Wiederherstellung dieser Ehe.«
Doch Denise blieb beharrlich auf ihrem Standpunkt. War es nicht denkbar, dass dem Ingenieur der Mut gefehlt hatte, seinen Irrtum einzugestehen und um Verzeihung zu bitten?
»Frau Harder hat dem kleinen Thomas bisher kein Wort über seinen Vater mitgeteilt, Isi«, gab Alexander zu bedenken. »Offenbar war der Bruch sehr tief. Ich glaube nicht, dass sie bereit sein wird, einen neuen Anfang zu wagen.«
»Ich werde zu gegebener Stunde mit Frau Harder darüber sprechen, dass ich ihren früheren Mann unterrichtet habe und dass er Thomas hier in Sophienlust besucht hat. Sie hat ein Anrecht, das zu erfahren. Bei der Gelegenheit kann ich ihr auch sagen, dass jene junge Frau damals starb und Fred Harder seitdem allein lebt.«
Alexander küsste seine Frau. »Du bist eine unverbesserliche Optimistin. Versprich mir wenigstens, dass du nicht allzu enttäuscht sein wirst, wenn deine Hoffnungen sich in Luft auflösen.«
Denise lächelte. »Es wäre für Thomas so wichtig.«
»Aber nur, falls seine Eltern sich auch wirklich verstehen und lieben, Isi«, wandte Alexander ein. »Und Liebe lässt sich bekanntlich nicht erzwingen.«
Dieses abschließende Gespräch fand am Vorabend von Denises Fahrt nach Stuttgart statt. Sie hatte am Nachmittag ausführlich mit Dr. Korst telefoniert. Da der Arzt es für gut hielt, wollte sie gleich morgen mit Thomas zu Jutta Harder kommen.
Thomas war begreiflicherweise schon sehr aufgeregt. Ganz Sophienlust nahm an seiner Vorfreude teil. Denise, Frau Rennert und Schwester Regine hatten dem Jungen nichts davon gesagt, wie ernst der Zustand seiner Mutter gewesen war. Doch von der zweiten Operation, die die entscheidende Wende brachte, hatte der Junge erfahren. Er war selig, dass es seiner geliebten Mutti nun wirklich besser ging und er morgen nicht nur ein paar Augenblicke bei ihr bleiben sollte, sondern eine ganze Weile.
Irmela, die zukünftige Medizinstudentin, interessierte sich besonders für die erfolgreiche Operation. Sie gab sachkundige Erklärungen ab, die die Ärzte gewiss zum Lächeln gebracht hätten. Immerhin bewirkten ihre Äußerungen, dass auch Thomas den rettenden Eingriff für wichtig hielt. Bisher hatte er sich über die Mitwirkung der Ärzte kaum Gedanken gemacht. Nun änderte sich das. Er stellte Fragen über Fragen. Da er bei Schwester Regine, die meiste Sachkenntnis vermutete, wollte er von dieser ganz genau wissen, wie die Operation vor sich gegangen sei, ob seine Mutti wirklich nichts davon bemerkt habe und so weiter.
Es wurde spät, ehe Regine es erreichte, dass Thomas sich auf die Seite drehte und einschlief. Sie hatte geduldig an seinem Bett ausgeharrt und ihm Rede und Antwort gestanden, so weit das in ihrer Macht lag.
»Ein Segen, dass Frau Harder außer Gefahr ist«, sagte die Kinderschwester zu Frau Rennert, nachdem sie das Zimmer das kleinen Jungen verlassen hatte. »Thomas hängt mit leidenschaftlicher Liebe an seiner Mutter. So gern er auch bei uns in Sophienlust ist – er braucht seine Mutter.«
Frau Rennert nickte ihr zu. »Wir alle sind erleichtert darüber. Zwar gebe ich offen zu, dass ich von Herrn Harder den besten Eindruck gewonnen habe, doch ist es für Thomas gewiss gut, wenn sein Leben in Zukunft in der gleichen Bahn weiterläuft wie zuvor.«
*
Am nächsten Morgen stand Thomas schon mit den Schulkindern auf, obwohl er sonst ganz gern noch ein bisschen länger im Bett blieb. Viel zu früh erschien er in seinem besten Anzug und mit tadellos gekämmtem Haar vor dem Portal des Sophienluster Herrenhauses und wartete auf Denises Wagen.
Als er schon etwas ungeduldig zu werden begann, kam das Auto endlich in Sicht. Denise ließ den Jungen einsteigen, und sie fuhren die Auffahrt hinunter.
Mehrmals fragte der Junge unterwegs, ob man denn immer noch nicht am Ziel sei. Denise konnte seine Ungeduld verstehen. Sie gab sich Mühe, ihm die Zeit ein wenig zu verkürzen und ihn durch seine Unterhaltung abzulenken.
In Stuttgart fuhren sie sofort zum Krankenhaus, wo sie von Dr. Korst empfangen wurden. »Du bist also der Thomas«, begrüßte er den Jungen und streckte ihm die Hand hin.
»Ja«, antwortete Thomas freimütig. »Bist du der Doktor, der meine Mutti mit einem Messer gesund gemacht hat?«
Peter Korst beugte sich über Denises Rechte. Die beiden Erwachsenen tauschten einen Blick herzlichen Einverständnisses. Die Frage des Jungen hörte sich ziemlich barbarisch an. Seine Vorstellungen von der ärztlichen Kunst waren noch recht einfach.
»Es waren mehrere Ärzte, Thomas«, sagte Dr. Korst freundlich. »Jetzt freuen wir uns, dass es ihr schon viel besser geht.«
»Aber es war eine Operation.« Thomas sagte das schwere Wort sehr langsam und deutlich. »Mit einem Messer«, fügte er beharrlich hinzu. »Irmela hat es genau erklärt. Sie will nämlich später auch Doktorin werden.«
Peter Korst sah ein, dass er so leicht nicht davonkam. Also erklärte er Thomas mit einfachen Worten, dass seine Mutter sich durch ihren Sturz sehr schwer verletzt habe. Ein Knochen am Kopf sei zerbrochen gewesen. Außerdem habe sich ein Stück abgelöst. Dieses kleine Stück sei später bei der zweiten Operation entfernt worden. Thomas hörte aufmerksam zu. »Mit einem Messer«, wiederholte er, »nicht wahr?«
»Ja, aber mit einem ganz besonderen Messer, Thomas«, schaltete sich Denise ein.
»Hat es ihr nicht wehgetan?«, wollte Thomas wissen.
»Nein, Thomas«, sagte Dr. Korst. »Deine Mutti hat geschlafen während der Operation. Du kannst sie gleich selber fragen, wenn du bei ihr bist. Sie wachte auf und wusste überhaupt nicht, dass wir sie operiert hatten.«
Thomas schien einigermaßen befriedigt zu sein. »Ich glaube, ich werde später selber Doktor«, erklärte er. »Irmelas Vater ist ja auch Arzt. In Indien. Das ist ganz, ganz weit weg von hier.«
Die Unterhaltung zwischen Peter Korst und dem Sohn seiner Patientin entwickelte sich ganz zwanglos. Der Oberarzt konnte sich davon überzeugen, dass Jutta Harder ihm in dieser Hinsicht nicht zu viel versprochen hatte. Scheu und Verlegenheit kannte der aufgeweckte Junge nicht.
Um Thomas nicht zu lange auf die Folter zu spannen, führte Dr. Korst Denise und ihren kleinen Begleiter schon nach kurzer Zeit ins Zimmer Jutta Harders. Mit einem Jubelruf lief der Junge zum Bett seiner Mutter. »Mutti, meine liebe, liebe Mutti.«
Bewegt sahen Denise und Dr. Korst, wie Mutter und Sohn einander begrüßten. Beide vergaßen die Anwesenheit des Arztes und Denises zunächst völlig.
»Ich bin so froh, dass du mich besuchst, Thomas«, sagte Jutta und strich über das Haar ihres Sohnes.
»Wirst du jetzt bald gesund?«, erkundigte sich Thomas. »Stimmt es, dass du von dem Messer bei der Operation nichts gemerkt hast?«
Jutta beantwortete seine Fragen. Ihre Augen leuchteten, und ihre Wangen wurden von einem zarten Rot überhaucht. Wie schön sie aussah, wusste sie nicht. Volle fünf Minuten vergingen, ehe Jutta sich auf Denise und Dr. Korst besann. Beschämt blickte sie zu ihnen hinüber. »Verzeihen Sie mir, bitte«, flüsterte sie. »Ich benehme mich recht unhöflich.«
Denise trat zu ihr und reichte ihr die Hand. »Thomas ist hier die Hauptperson, Frau Harder. Er hat sich seit gestern auf diesen Augenblick gefreut.«
»Und auf mich kommt es ganz und gar nicht an«, ließ sich der Arzt vernehmen. »Ich werde mich jetzt zurückziehen.«
Jutta hob die Hand. »Sie wollten doch Thomas kennenlernen, Dr. Korst. Haben Sie es gerade jetzt so eilig?«
»Nein, das nicht. Im Gegenteil, vor mir liegt ein dienstfreier Nachmittag. Aber ich wollte nicht stören.« Seine Blicke suchten die Juttas. Denise bemerkte es.
»Bleiben Sie doch noch ein Weilchen«, bat die Kranke herzlich. »Thomas, der Doktor hat herausgefunden, warum es mir so schlecht ging. Wir müssen uns bei ihm bedanken.«
Peter Korst hielt sich die Ohren zu. »Davon will ich nichts hören!«, rief er. »Wir haben die medizinische Seite Ihres Falles bereits ausführlich besprochen, nicht wahr, Thomas?«
Thomas schaute vertrauensvoll zum Lebensretter seiner Mutter auf. »Ich habe doch gleich gewusst, dass du es gewesen bist. Wenn meine Mutti es sagt, dann stimmt es auch.«
Denise, die sich gesetzt hatte, folgte dem Gespräch zwischen Jutta Harder, Thomas und dem sympathischen Oberarzt mit wacher Aufmerksamkeit. Sie ahnte, dass zwischen der jungen Frau und Peter Korst eine Beziehung entstanden war, die über das Vertrauensverhältnis der Patientin zu ihrem Arzt weit hinausging. Das freundliche Interesse, das Dr. Korst für den kleinen Jungen zeigte, bestärkte die stille Beobachterin noch in ihrer Meinung. Zeichnete sich hier bereits eine neue, schicksalhafte Bindung für Jutta Harder ab, die eine Rückkehr zu Fred Harder für alle Zeit ausschloss?
Der Oberarzt hatte Juttas Leben gerettet. Obwohl er das in seiner Bescheidenheit nicht zugeben wollte, wusste Denise, dass seiner nächtlich gestellten Diagnose die zweite Operation gefolgt war. In letzter Minute war die Patientin vor dem sicheren Tod bewahrt worden. Dass sich aus dieser Situation eine gegenseitige Freundschaft oder auch mehr als nur Freundschaft entwickeln konnte, war kein Wunder. Aus dem Verhalten des Arztes ging hervor, dass er über die familiären Verhältnisse Jutta Harders informiert war. Sicherlich hatte sie selbst zu ihm darüber gesprochen.
Ich sollte mich nicht an einen Wunschtraum klammern, hielt sich Denise in Gedanken vor. Liebe lässt sich nicht erzwingen. Jutta Harder hat sich innerlich längst von ihrem ersten Mann gelöst. Wenn das Schicksal ihr jetzt die Begegnung mit einem Menschen beschert, der sich zu ihr bekennen will und auch bereit ist, Thomas ein liebender Vater zu werden, so sollte ich mich darüber freuen.
Doch seltsamerweise wollte sich ihr Gefühl mit den Erwägungen ihres Verstandes nicht zufriedengeben.
»Zeigst du mir den Operationssaal, Onkel Doktor?«, bat Thomas den Oberarzt. »Ich finde so ein Krankenhaus ganz prima. Erst schneidet man das Kranke heraus, dann näht man die Wunde zu, und am Schluss kommt ein feiner Verband drum.«
Peter Korst lachte und legte die Hand auf die Schulter des Jungen.
»Du wirst gewiss einmal ein ganz großartiger Doktor, Thomas. Ich kann dir versichern, dass es ein sehr schöner Beruf ist«, fügte er ernst hinzu. »Für mich ist es der schönste Beruf der Welt.«
Thomas sah zu seiner Mutter hin, die ihm zunickte. »Schade, dass es es so lange dauert, bis man groß wird«, meinte er mit vorgeschobener Unterlippe. »Jedenfalls werde ich auch Doktor. Gehen wir jetzt zum Operationssaal?«
Peter Korst sah ein, dass er sich diesem Wunsch nicht entziehen durfte. Er führte den Jungen hinaus. Thomas hatte blitzblanke Augen und wandte sich weder nach seiner Mutter noch nach Denise um.
»Ich bin sehr glücklich, dass es Ihnen nun schon so gut geht, Frau Harder«, sagte Denise herzlich. »Wir sprachen zuvor kurz mit Dr. Korst, der mich in der letzten Zeit per Telefon auf dem Laufenden gehalten hat. Anfangs haben wir uns große Sorgen um Sie gemacht.«
»Ja, ich weiß es«, erwiderte Jutta leise. »Ich hatte mich beinah damit abgefunden, dass ich Thomas allein lassen müsste. Jetzt erkenne ich, dass ich noch viele Aufgaben habe. Ich bin dankbar für das, was hier im Krankenhaus für mich getan worden ist, obgleich ich zuerst nicht ganz sicher war, ob es für Thomas so am besten sei.«
»Sie haben resigniert, weil Ihnen die Lebenskraft gefehlt hat, Frau Harder. Heute liegt Ihr Weg wieder klar vor Ihnen. Möglicherweise wird es ein ganz neuer Beginn werden.«
»Neu – ich weiß es nicht, Frau von Schoenecker. Noch fällt es mir schwer, mir vorzustellen, wie es sein wird, wenn ich das Krankenhaus verlasse.«
»Auf jeden Fall müssen Sie dann erst noch für eine Weile zu uns nach Sophienlust kommen, um sich gründlich zu erholen. Sie werden dann mit Thomas ständig zusammen sein, ohne bereits wieder arbeiten zu müssen.«
»Sie tun schon so viel für Thomas und mich.«
»Das braucht Sie nicht zu bedrücken, liebe Frau Harder. Sophienlust wurde geschaffen, um Kindern oder hin und wieder auch Erwachsenen Zuflucht zu schenken. Ich führe nur das aus, was eine weise alte Dame in ihrem Testament verfügt hat. In Sophienlust ist Platz für Sie. Thomas wird gewiss selig sein, wenn er Ihnen zeigen kann, wo er jetzt lebt. Meinen Sie nicht?«
»Ja, gewiss, Frau von Schoenecker. Ich glaube, ich werde Ihre Einladung annehmen, sobald der Arzt es erlaubt. Ferien mit Thomas – das wird mein seelisches Gleichgewicht wieder herstellen.«
»Ist das nötig, Frau Harder?«, fragte Denise behutsam.
Jutta erwiderte ihren Blick, ohne die Lider zu senken. »Ja, vielleicht, Frau von Schoenecker. Dieser Unfall ist mir zunächst nur wie ein grässliches Missgeschick ohne jeden Sinn erschienen. Inzwischen habe ich gelernt, die Dinge anders zu betrachten. Mancher Fehler, den ich früher gemacht habe, will in der Zukunft korrigiert werden. Ich bin ziemlich selbstgerecht gewesen und habe in der festen Überzeugung gelebt, dass mich keinerlei Schuld treffe.« Sie lächelte. »Dr. Korst hat mir die Augen ein wenig geöffnet. Hoffentlich gelingt es mir, das Versäumte nachzuholen und gutzumachen.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, dass Sie allzu viel falsch gemacht haben sollten, Frau Harder.«
Jutta sprach mit leiser Stimme davon, dass sie Thomas bisher in dem Glauben gelassen habe, er besitze keinen Vater. Sie hoffe, dass Thomas trotzdem später einmal Kontakt mit seinem Vater aufnahmen werde, um sich ein eigenes Urteil zu bilden. »Ich war hart und böse, Frau von Schoenecker«, schloss sie aufatmend. »Das sehe ich nun.«
Denise strich sanft über Juttas Arm. »Sie sind verletzt worden und haben in sehr verständlicher Weise reagiert, Frau Harder. Sie sollten nicht zu streng mit sich ins Gericht gehen.«
»Ich möchte versuchen, Thomas eine wirklich gute Mutter zu werden.«
»Das waren Sie immer. Er liebt Sie. Einen besseren Prüfstein gibt es nicht.«
Das Gespräch wurde unterbrochen. Denise hatte eben erwogen, ob sie Jutta schon heute von dem Besuch Fred Harders in Sophienlust erzählen sollte. Nun gab es keine Möglichkeit mehr dazu. Die Tür öffnete sich, und Thomas kehrte an der Hand des Oberarztes zurück. »Ich habe alles angeschaut, Mutti«, rief der Junge. »Und ich habe sogar mein Herz schlagen hören. Mit einem Apparat. Es klang sehr laut. Der Onkel Doktor sagt, ich habe ein ganz gesundes Herz.«
Peter Korst schilderte, mit welcher Begeisterung Thomas sich die verschiedenen Einrichtungen des Krankenhauses angeschaut hatte. »Am liebsten würde Thomas hierbleiben und Hilfspfleger werden«, meinte er schmunzelnd.
»Nein, ich will Doktor sein wie du«, widersprach Thomas.
Allmählich zeigte sich auf Juttas Gesicht eine gewisse Erschöpfung. Sie hatte zum ersten Mal seit langer Zeit viel und lebhaft gesprochen. Auch war das Wiedersehen mit ihrem Jungen aufregend und anstrengend für sie gewesen.
Dr. Korst sprach ein freundliches Machtwort, und Denise erhob sich sogleich, um Abschied zu nehmen. »Wir kommen bald einmal wieder, Frau Harder«, versprach sie. »Sowie es möglich ist, erwarten wir Sie dann bei uns in Sophienlust, nicht wahr, Thomas?«
»Ja, Mutti – du musst kommen. Ich will dir zeigen, wie fein ich jetzt schon reiten kann. Und mein Zimmer – und den Märchenwald – und Habakuk – und überhaupt alles.«
Jutta küsste ihren Sohn zärtlich. Denise sah, dass sie Tränen in den Augen hatte. Dr. Peter Korst blieb bei seiner Patientin zurück, als die Besucher das Zimmer verließen. Denise konnte eben noch sehen, wie der Arzt nach Jutta Harders Hand griff.
»Hat es dir gefallen bei deiner Mutti?«, fragte sie Thomas und kämpfte tapfer gegen ihre heimliche Enttäuschung an.
»Ganz prima, Tante Isi«, antwortete Thomas strahlend. »Wenn wir zurückkommen nach Sophienlust, werde ich mit Heidi, Peggy, Henrik und ein paar anderen Kindern Doktor spielen. Ich lasse mir von Tante Ma Verbände geben. Natürlich machen wir auch Operationen.«
Denise erschrak. »Aber nicht mit dem Messer, Junge«, wandte sie ein.
»Nein, wir tun nur so, Tante Isi. Du brauchst keine Angst zu haben, dass ich echt schneide.«
»Dann ist es ja gut, Thomas.«
Denise fuhr mit dem Jungen ins Stadtinnere und führte ihn in ein Restaurant, wo er erstaunliche Mengen von Kuchen vertilgte. Dabei brachte er das Kunststück fertig, pausenlos über seine Mutti, den Onkel Doktor und das tolle Krankenhaus zu sprechen.
Während der Rückfahrt gab es für Thomas noch immer kein anderes Thema.
Die Bekanntschaft mit Dr. Korst schien für den Jungen von tiefer, einschneidener Bedeutung gewesen zu sein.
Denise antwortete nur zerstreut, wovon Thomas nichts bemerkte, weil er viel zu sehr mit seinen eigenen Überlegungen beschäftigt war.
Das Schicksal wird seinen Lauf nehmen, dachte Denise etwas wehmütig. Thomas wird glücklich sein. Sicherlich ist es auch für seine Mutter eine gute Lösung.
Als sie in Sophienlust ankamen, wurden sie von den Kindern bereits erwartet. Thomas erzählte sofort von seinen Erlebnissen. Sein Vorschlag, Krankenhaus zu spielen, fand allseitige Zustimmung, und Frau Rennert musste allerlei herausrücken, um die Wünsche des kleinen Herrn Doktor zu erfüllen. Schon wenig später trugen vier Kinder prächtige Verbände. Am schönsten nahm sich ein schneeweißer Wickel um Peggys schokoladenbraunem Bein aus. Es wirkte sehr echt, zumal sie mit schauspielerischem Talent über ihre Schmerzen klagte und erbärmlich hinkte.
Denise erfrischte sich im Biedermeierzimmer mit einer Tasse Tee und schrieb einige Briefe. Als sie ungestört war, nahm sie das Telefon ab und wählte eine Nummer, die sie ihrem ledernen Notizbüchlein entnahm. Sie bat um eine Verbindung mit Herrn Harder, sobald die Zentrale des großen Flugzeugwerkes sich gemeldet hatte. »Ich hatte Ihnen versprochen, dass ich Sie auf dem Laufenden halte, Herr Harder«, sagte sie, als Fred Harder sich meldete. »Da ich eben aus Stuttgart zurückkomme, möchte ich Ihnen gleich Nachricht geben.«
»Ich habe vorgestern mit dem Professor telefoniert, Frau von Schoenecker. Er äußerte sich sehr zuversichtlich und zufrieden. Können Sie mir ähnlich Gutes sagen.«
»Ja, Herr Harder. Thomas und ich fanden unsere Patientin sehr munter vor. Sie hat sich längere Zeit angeregt unterhalten. Der behandelnde Arzt war anwesend. Es ist auch für einen Laien offensichtlich, dass eine wesentliche Besserung eingetreten ist. Wir brauchen uns keine Sorgen mehr zu machen.«
»Das ist eine wunderbare Nachricht, Frau von Schoenecker. Hat Sie sich gefreut, Thomas zu sehen?« Die Stimme des Ingenieurs klang stockend und zögernd bei dieser Frage.
Denise wurde das Herz schwer. »Ja, Herr Harder. Die Begrüßung zwischen Mutter und Sohn war sehr herzlich. Thomas jubelte, und für seine Mutter war das Wiedersehen sicher beglückend. Es ist noch nicht lange her, da war der Besuch des Jungen für sie ein Abschied gewesen. Sie glaubte nicht daran, dass es für sie eine Rettung geben könne.«
»Ich verstehe. Nun ist sie wenigstens sicher, dass Thomas weiterhin bei ihr bleiben kann und sie nicht gezwungen ist, ihn mir zu überlassen.« Wie bitter er das aussprach!
»Warum sollte sie so denken, Herr Harder?«, wandte Denise begütigend ein. »Das Leben ist ihr neu geschenkt worden. Sie hat wieder eine Zukunft.«
»Gewiss, Frau von Schoenecker. Wahrscheinlich hat sie im Augenblick des Wiedersehens mit Thomas tatsächlich nicht an mich gedacht. Jetzt bleibt mir eigentlich nur noch übrig, Ihnen zu danken. Ich habe durch Ihr Eingreifen die Möglichkeit erhalten, Thomas kennenzulernen. Der Junge wird den fremden Onkel bald vergessen haben. Doch für mich bleibt dieses Wochenende in Sophienlust eine unvergängliche Erinnerung.«
»Ich bin sicher, Sie werden Ihren Sohn wiedertreffen, Herr Harder. Wenn Sie sich auch von der Mutter getrennt haben – Thomas bleibt Ihr Sohn.«
»Jutta hat mein Wort. Ich fühle mich daran gebunden, Frau von Schoenecker, Herr Luchs hat Ihnen wohl erzählt, wie groß meine Schuld ist.«
»Der Junge wird seine Mutter nach Ihnen fragen, Herr Harder. Thomas wächst heran und wird schon bald erfahren, dass er einen Vater haben muss. Seine Mutter würde ihn dann kaum belügen. Möglich, dass Thomas den Wunsch hätte, seinen unbekannten Vater zu sehen. Und vielleicht sogar denkbar, dass seine Mutter es ihm erlauben würde. Meinen Sie nicht?«
»Ich wage es nicht, daran zu glauben, Frau von Schoenecker. Sie wollen mich trösten. Doch ich muss mich damit abfinden, dass es für mich keinen Weg zu Thomas gibt – es sei denn, seine Mutter lebte nicht mehr. Das aber will ich Jutta nicht wünschen.«
Densie versuchte vergeblich nach weiteren Worten des Trostes und der Hoffnung. Dieser Mann war vom Schicksal hart genug gestraft worden. Sollte Jutta Harder sich für Dr. Korst entscheiden, so lag es auf der Hand, dass Fred Harder auch noch das letzte Anrecht auf das Kind verlor. Sie wollte nicht über ihre Beobachtungen sprechen, denn das hätte Fred Harder nur unnötig verletzt.
»Ich werde mich mit Ihnen in Verbindung setzen, wenn es etwas Neues zu berichten gibt, Herr Harder«, versprach sie ihm nur.
»Dafür wäre ich Ihnen dankbar, Frau von Schoenecker. Wollen Sie Thomas an meiner Stelle fest in die Arme nehmen? Ich denke immer an meinen Jungen.«
»Ja, Herr Harder, das will ich tun. Ohne Worte werde ich ihm ausrichten, dass sein Vater ihn lieb hat.«
»Sie haben recht«, stieß der Ingenieur hervor. »Ich habe ihn lieb. Warum wollte ich das damals nicht erkennen? Jetzt ist es zu spät.«
»Für Liebe ist es nie zu spät, Herr Harder. Liebe fordert nichts, Liebe kann warten, und Liebe trägt am Ende immer die schönsten Früchte. Mag sein, dass Sie Geduld haben müssen, bis Thomas erwachsen ist. Doch auch dann kann ihm die Liebe seines Vaters noch viel bedeuten und sogar richtungsweisend für ihn werden. Leben Sie wohl für heute. Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute.«
»Ich danke Ihnen.«
Denise legte den Hörer auf und wischte eine Träne von ihrer Wange. Er hatte nur von Thomas gesprochen. Wie er zu Jutta Harder stand, sagte er nicht.
Sie fand Thomas als Chefarzt eines Massenlagers von Patienten in der Halle vor. Er horchte seine Kranken ab, wickelte immer dickere Verbände um ihre Glieder und redete ständig von Operationen, Spritzen und anderen Dingen, die ihn in der Klinik besonders beeindruckt hatten.
Wortlos nahm sie den kleinen Herrn Doktor in die Arme und küsste ihn. Dein Vater denkt an dich und hat dich lieb, Thomas, dachte sie dabei. Ein wenig erstaunt schlug Thomas die braunen Augen zu ihr auf.
»Was ist, Tante Isi?«
»Ich wollte dir nur für heute auf Wiedersehen sagen, mein Junge.«
»Auf Wiedersehen, Tante Isi. Es war schön bei Mutti und beim Onkel Doktor in Stuttgart. Jetzt will ich weiterspielen. Peggy hat sich die Nase gebrochen. Es ist sehr schwierig, ihr einen Verband zu machen, weil sie ja noch Luft kriegen muss«, erklärte er tiefernst.
»Schau nur zu, dass sie nicht erstickt«, sagte Denise lachend.
Dann verließ sie das Herrenhaus und fuhr hinüber nach Schoeneich, um sich mit ihrem Mann auszusprechen. Alexander nahm sie tröstend in die Arme und strich ihr beruhigend über das volle dunkle Haar, in dem sich noch immer kein einziger heller Faden zeigte. »Wir müssen dem Schicksal seinen Lauf lassen, Isi. Du sagst doch selbst, dass der Oberarzt dir gut gefällt. Thomas scheint ebenfalls von ihm begeistert zu sein. Das Rad der Zeit kann man nicht zurückdrehen. Was vergangen ist, ist vorbei. Sei nicht so traurig.«
»Ich frage mich, ob es voreilig war, Herrn Harder zu verständigen. Zwar kennt er nun seinen Jungen, aber er ist durch diese Begegnung nicht glücklicher geworden.«
»Du hast nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Für Herrn Harder bedeutet es viel, dass er sich nun dazu bekennt, seinen Sohn zu lieben. Auch schmerzliche Erlebnisse haben ihren Sinn.«
Denise lächelte tapfer und legte das Gesicht an die Brust ihres Mannes, als ihr doch wieder ein paar Tränen in die Augen steigen wollten.
*
Jutta Harders Genesung machte schnellere Fortschritte, als die Ärzte erwartet hatten. Sie war schon bald so weit, dass sie die ersten Gehversuche unternehmen konnte. Ihre herzliche Freundschaft zu Dr. Korst vertiefte sich während dieser Zeit. Noch zweimal erhielt sie den Besuch ihres kleinen Jungen, den Denise persönlich im Wagen nach Stuttgart brachte. Es war geplant, dass die Rekonvalenszentin unmittelbar nach dem Krankenhausaufenthalt nach Sophienlust übersiedeln sollte, um sich zu erholen. Vor Ablauf mehrerer Monate sollte sie keinesfalls ihre Tätigkeit als Fremdsprachenkorrespondentin wieder aufnehmen. Noch bedurfte sie der Schonung.
Peter Korst erbot sich, die Patientin in seinem Wagen nach Sophienlust zu bringen, als der Professor den Zeitpunkt für gekommen hielt. Jutta nahm dieses Angebot des Arztes gern an. »Sicherlich möchten Sie das sagenhafte Sophienlust auch gern sehen, Doktor. Ich gebe zu, dass ich mir trotz aller Berichte von Thomas keine genaue Vorstellung vom Haus der glücklichen Kinder machen kann. Geht es Ihnen nicht auch so?«
»Ehrlich gesagt, erscheint mir manches, was Thomas erzählt hat, etwas übertrieben. Mir liegt daran, dass Sie die Fahrt ohne besondere Anstrengungen überstehen und dort wirklich gut aufgehoben sind. Wenn mir Sophienlust nicht gefällt, nehme ich Sie sofort wieder mit und bringe Sie in einem Sanatorium unter.«
»Da würde ich Einspruch erheben, Doktor. Ich möchte mit Thomas zusammen sein. Überdies glaube ich, dass man sich auf Frau von Schoenecker verlassen kann. Wenn sie der Ansicht ist, dass ich mich in Sophienlust ausruhen und erholen werde, dann ist es auch so.«
»Trotzdem lege ich Wert darauf, mich mit meinen eigenen Augen zu überzeugen, Frau Harder. Außerdem freue ich mich darauf, dass ich meinen Freund Thomas auf diese Weise noch einmal treffen kann.«
»Thomas wird sich ebenfalls freuen. Er bewundert Sie. Wie mir Frau von Schoenecker erst gestern am Telefon versicherte, wird in Sophienlust immer noch Krankenhaus gespielt. Ab und zu wollen auch die anderen Kinder einmal Doktor sein. Thomas lässt sich diese interessante Rolle jedoch nur ungern abnehmen.«
»Da habe ich ja was Schönes angerichtet. Falls Thomas später wirklich Medizin studieren sollte, ist es sozusagen meine Schuld.«
»Oder Ihr Verdienst, Doktor. Wir wollen nicht zu weit in die Zukunft sehen. Mir wäre es schon recht, wenn er Arzt wird. Aber er soll selbst entscheiden, was er tun will. Vorläufig geht er noch nicht einmal in die Schule.«
»Die Zeit vergeht rasch, Frau Harder. Bleibt es also dabei, dass wir am Freitagmittag starten? Ich habe ein langes Wochenende diesmal. Besser könnte es sich nicht treffen.«
»Ich danke Ihnen, Dr. Korst. Es wird wunderbar sein, hier endlich herauszukommen.«
Peter Korst schaute sie etwas vorwurfsvoll an. »Hat es Ihnen so wenig bei uns gefallen? Dabei haben wir uns alle Mühe gegeben, Ihnen das Leben angenehm zu machen und nett zu Ihnen zu sein.«
»Entschuldigen Sie. Ich sollte mich schämen. Trotzdem werden Sie verstehen, dass es herrlich ist, wieder gesund zu werden.«
»Natürlich. Ich finde das sogar ganz normal und durchaus richtig. Glauben Sie, dass Frau von Schoenecker mir ein Quartier in der Nähe von Sophienlust besorgen könnte? Ich würde ganz gern bis Sonntag bleiben, wenn Sie nichts dagegen haben.«
»Ich hatte gehofft, dass Sie sich ein wenig Zeit nehmen können. Gewiss gibt es dort ein Hotel oder einen Gasthof. Wenn ich das nächste Mal mit Frau von Schoenecker telefoniere, bespreche ich es mit ihr. Wir werden Sophienlust gemeinsam entdecken, nicht wahr?«
Peter Horst hielt ihre Hand fest. »Ja, Frau Jutta«, erwiderte er leise, »das möchte ich sehr gern tun.«
Sie senkte den Blick nicht.
Als es klopfte und eine Schwester mit dem Abendessen eintrat, errötete sie ein wenig. Der Oberarzt verabschiedete sich förmlich und ging hinaus, während die Schwester das Tablett absetzte und einen bequemen Stuhl für die Patientin zurechtrückte, die nun nicht mehr im Bett zu essen brauchte.
Die vier letzten Tage schienen sich endlos in die Länge zu ziehen. Jutta konnte bereits fast den ganzen Tag auf sein und ging sogar in die Stadt, um Besorgungen zu machen. Am Donnerstag ließ sie sich ein Taxi kommen und fuhr in ihre verwaiste Wohnung, die von den Nachbarn ein wenig betreut worden war. Dort packte sie ihren Koffer für die Reise nach Sophienlust.
Mit ihrer Firma hatte sie sich in Verbindung gesetzt. Man wünschte ihr weiterhin gute Besserung. An ihrer Stelle war eine Vertreterin eingestellt worden, doch versicherte ihr der Direktor, dass man ihren Platz für sie freihalte. Es erschien fast unvorstellbar, dass sie eines Tages wieder an ihrer Schreibmaschine sitzen und Übersetzungen anfertigen würde, wie seit Jahren.
Am Freitag regnete es in Strömen. Doch das tat der Stimmung der scheidenden Patientin nicht den geringsten Abbruch. Sie bedachte die Krankenschwestern mit kleinen Abschiedsgeschenken und schaute viel zu oft auf die Uhr, ob die Stunde der Abfahrt nicht endlich gekommen sei.
Der Professor kam in letzter Minute noch persönlich zu ihr, um ihr gute Wünsche mit auf den Weg zu geben. »Kollege Korst wird uns berichten, wie Sie es bei Frau von Schoenecker antreffen, liebe Frau Harder. Denken Sie bitte daran! Viel Schlaf, keine Aufregungen, nicht zu viel lesen, sondern lieber spazieren gehen und faulenzen.«
Jutta bedankte sich. Sie versprach, sich an die guten Ratschläge des Professors zu halten.
Dann erschien Peter Korst, heute nicht im weißen Kittel wie gewohnt, sondern bereits im Regenmantel. »Die Pferde sind gesattelt«, scherzte er. »Hoffentlich macht Ihnen das Wetter nichts aus. Mich stört es überhaupt nicht.«
»Mich auch nicht«, gab Jutta heiter zurück. »Ich würde sogar bei einem Wirbelsturm losfahren. Immerhin wartet Thomas auf mich. Er könnte wohl kaum verstehen, dass ich mich vom Regen abhalten lasse.«
»Also, auf zu Thomas nach Sophienlust!« Peter Korst ergriff Juttas Koffer.
Im Lift ging es nach unten. Jutta stieg sofort in den wartenden Wagen, während der Doktor noch das Gepäck verstaute. Sie schloss die Augen und lächelte, während sie dem Regen lauschte, der aufs Autodach klopfte. Wie lange war es her, dass sie von einem Mann so freundlich umsorgt worden war? Seit Jahren hatte sie sich daran gewöhnen müssen, alles selber zu tun. Niemand war da gewesen, um ihr zur Hand zu gehen, wenn sie einen Koffer tragen musste.
»Alles klar?« Peter Korst warf den Mantel auf den Rücksitz und setzte sich neben sie. »Schauen Sie sich die Klinik noch einmal genau an!«
»Der Abschied wird mir nicht schwer, Doktor. Falls ich später Heimweh bekommen sollte, kann ich immer noch herkommen und mir die Fassade ansehen. Ich werde ja auch weiterhin in Stuttgart wohnen.«
»Ja, glücklicherweise, Frau Jutta. Sonst fiele es mir nämlich nicht gerade leicht, Sie jetzt nach Sophienlust zu kutschieren.«
Jutta schwieg und sah angestrengt geradeaus. Ihr Herz schlug schneller, wie so oft, wenn sie mit Peter Korst zusammen war.
Der Doktor schwieg nun ebenfalls und setzte den Motor in Gang. Dann fuhr er langsam an.
Er schwieg noch eine ziemlich lange Zeit. Erst auf der Autobahn nahm er die Unterhaltung wieder auf. Er redete vom Wetter, das vorerst nicht besser würde, von der Arbeit in der Klinik und von allem Möglichen. Auf Persönliches kam er nicht mehr zu sprechen.
Unterwegs hielten sie einmal an, um eine Tasse Kaffee zu trinken. Der Doktor nahm die Gelegenheit wahr, sich auf der Karte genau zu orientieren, wie er weiterfahren musste. »Es ist nicht mehr weit«, meinte er, als sie durch den Regen wieder zum Wagen gelaufen waren. »In vier Kilometer Entfernung kommt die Abfahrt, die wir nehmen müssen.«
»Die Landschaft gefällt mir. Damals, als Herr Luchs mit meinem Thomas nach Sophienlust gefahren ist, hat es auch geregnet. Frau von Schoenecker hat es mir erzählt. Thomas war unter den großen Schirm von Herrn Luchs geschlüpft.«
»Ich weiß es. Sie werden diesen Herrn ja nun auch persönlich kennenlernen. Er gehört irgendwie zu Sophienlust.«
»Er ist Schriftsteller. Im Rundfunk werden regelmäßig seine Tiererzählungen gesendet. Ich habe mir im Krankenhaus eine solche Sendung angehört. Er weiß sehr spannend und fesselnd zu erzählen. Frau von Schoenecker hat mir gesagt, dass er in einem komfortabel eingerichteten Wohnwagen lebt, der seinen Standplatz in der Nähe des Kinderheims hat. Mit diesem Vehikel pflegt er zu reisen. Die Verbindung zu Sophienlust entstand durch sein afrikanisches Pflegetöchterchen. Ich glaube, er brachte die Kleine von einer seiner weiten Fahrten mit.«
»Ein recht interessanter Mann, wie mir scheint.«
»Ein Mann, der zur rechten Zeit das Rechte zu tun weiß. So, wie er damals das Pflegekind aus Afrika in seinen Schutz nahm, hat er auch für meinen Thomas gesorgt.«
Wenig später verließen sie die Autobahn. Sie durchfuhren Bachenau und entdeckten schließlich die Straße nach Wildmoos, der Gemeinde, zu der Sophienlust gehörte. Einige lustige Wegweiser gaben ihnen die Gewissheit, dass es nicht mehr weit bis zum Kinderheim sein könne.
Als das stolze Herrenhaus sichtbar wurde, waren der Arzt und Jutta Harder gleichermaßen überrascht. »Beinahe wirkt es wie ein kleines Schloss«, sagte Jutta. »Thomas hat anscheinend bei seinen Schilderungen doch nicht übertrieben.«
Als sie sich dem Gebäude näherten, sahen sie auf den flachen Stufen vor dem Portal eine kleine Gestalt unter einem Schirm.
»Sicher ist es Thomas«, flüsterte Jutta. »Mein lieber kleiner Junge.«
Sie hatte recht. Thomas wollte sich durch den Regen nicht davon abhalten lassen, seine Mutti zu erwarten. Nun schrie er vor Freude auf und lief zum Wagen.
»Ach, Thomas – nun sind wir wieder beisammen«, sagte Jutta liebevoll. »Jetzt trennen wir uns nicht wieder.«
»Tante Isi wartet im Haus, Mutti. Die anderen Kinder wollten nicht in den Regen hinaus. Aber mir hat es nichts ausgemacht. So ein bisschen Regen!«
Peter Korst musste sich ein Weilchen gedulden, ehe Mutter und Sohn sich seiner erinnerten. Dann allerdings begrüßten sich der Junge und sein Onkel Doktor sehr herzlich.
Thomas führte die Besucher in die Halle. Hier wurden sie von den jungen Bewohnern des Hauses willkommen geheißen. Nick erbot sich, Juttas Koffer aus dem Wagen zu holen und in ihr Zimmer zu bringen. »Für den Herrn Doktor hat Mutti in Schoeneich ein Zimmer vorbereiten lassen«, sagte er höflich.
»Ich wollte eigentlich im Gasthof übernachten.«
Nick lachte. »Mutti und Vati freuen sich, wenn sie Besuch haben. Sie dürfen meine Eltern nicht enttäuschen, Herr Doktor.«
Frau Rennert erschien. Sie geleitete Jutta und den Arzt ins Biedermeierzimmer, wo Denise sie mit Wärme und Herzlichkeit begrüßte.
Jutta setzte sich in einen der hübschen Sessel und sah sich verwundert um. »Wie schön es hier ist«, flüsterte sie.
Denise zeigte ihr das Bildnis der Sophie von Wellentin und gab einige Erklärungen ab. Sowohl Jutta als auch Dr. Korst waren beeindruckt.
»Welch ein Glück für Thomas, dass er hierhergekommen ist«, sagte Jutta voller Dankbarkeit.
»Ich bin sicher, dass Sie sich hier wunderbar erholen werden, Frau Jutta«, fügte Peter Korst hinzu.
»Hatten Sie Bedenken?«, erkundigte sich Denise lächelnd.
»Um offen zu sein, ja, Frau von Schoenecker. Unter einem Kinderheim stellt man sich im Allgemeinen etwas anderes vor. Ich war ein bisschen besorgt, ob unsere Patientin auch die nötige Ruhe finden würde. Nun sehe ich, dass hier genügend Möglichkeiten vorhanden sind, sich zurückzuziehen. Auch scheinen Ihre Kinder gar nicht so schrecklich laut zu sein.«
»Nein. Sie haben hier in Sophienlust so viele Gelegenheiten, sich auszutoben, dass sie nicht unnötig herumschreien und lärmen. Nur Kinder, die in ihrer Bewegungsfreiheit eingeengt sind, schreien und trampeln auf den Treppen herum.«
»Werde ich Herrn Luchs treffen?«, fragte Jutta gespannt. »Ich möchte ihm gern danken.«
»Herr Luchs ist übers Wochenende zu Bekannten gefahren. Aber er wird am Montag wieder hier sein.«
»Schade«, warf Peter Korst ein. »Dann werde ich ihn nicht kennenlernen. Ich war sehr gespannt auf diese Begegnung.«
»Vielleicht ergibt sich später einmal die Gelegenheit, Dr. Kort. Sofern es Ihnen bei uns gefällt, sind Sie herzlich eingeladen, uns wieder zu besuchen«, sagte Denise.
Peter Korst bedankte sich erfreut. Etwa eine Stunde später versammelte sich die Gemeinschaft zum Essen. Es war festlich gedeckt, bunte Blumensträuße schmückten die Tafel. Thomas saß zwischen seiner Mutter und dem Arzt. Man brauchte den Jungen nur anzuschauen, um zu erkennen, dass er grenzenlos glücklich war.
Alexander von Schoenecker betrachtete dieses Bild nachdenklich. Er tauschte einen Blick mit seiner Frau. Saß Thomas hier zwischen seinen zukünftigen Eltern?
Nach dem Essen musste Thomas mit den Kleinen zu Bett gehen. Er bestand darauf, dass seine Mutti ihm Gesellschaft leistete. Auch der Doktor musste mit nach oben gehen, denn Thomas wollte ihm sein Zimmer zeigen.
Jutta wollte Thomas auskleiden, doch der Junge schüttelte den Kopf. »Das kann ich selber, Mutti. Du sollst nur bei mir bleiben.«
So schauten Jutta und Peter Horst zu, wie Thomas in die Wanne kletterte und sich gründlich abseifte. Dazu stand der kleine Mund keine Sekunde still. Endlich lag Thomas im Bett und faltete die Hände zum Abendgebet.
Seine Mutter legte ihre Hände über die ihres Jungen. Sie schloss die Lider und dankte ihrem Schöpfer, dass er sie und ihr Kind wieder vereint hatte. Peter Korst stand still daneben. Auch er war bewegt und verstand nur zu gut, was in diesen Augenblicken in Jutta vorging.
»Schlaf gut, Thomas«, flüsterte sie und küsste ihren Jungen.
»Ja, Mutti – bis morgen früh. Dann geht es erst richtig los. Ich komme ganz zeitig zu dir ins Zimmer und klettere in dein Bett.«
»Natürlich, Thomas. Dann machen wir es uns gemütlich.«
Peter Korst nahm Juttas Arm und führte sie aus dem kleinen Zimmer. »Zufrieden?«, fragte er leise.
»Viel mehr als das«, erwiderte sie.
Unten wurden sie von Denise und Alexander erwartet, die sie mit nach Schoeneich nehmen wollten. Doch der Doktor sprach ein Machtwort und verlangte, dass die Patientin zu Bett gehen solle. Sie habe heute genügend erlebt.
Jutta fügte sich. Sie suchte ihr gemütlich eingerichtetes Gastzimmer mit angrenzendem Bad auf, wo ihr Gepäck auf sie wartete. Das breite Bett war einladend aufgedeckt, und sie spürte nun, wie müde sie war.
Dr. Korst aber folgte in seinem Wagen dem Wagen der Schoeneckers und verbrachte mit dem Ehepaar, Nick und Henrik noch ein paar unterhaltsame Stunden.
Es wurde ziemlich spät, ehe der Arzt auf sein Zimmer ging. Er wusste nicht, dass es derselbe Raum war, in dem vor nicht zu langer Zeit auch Fred Harder übernachtet hatte.
Er legte sich nieder und wollte nachdenken. Doch der Schlaf kam rascher, als er geglaubt hatte. Die ländliche Stille und das Fehlen der gewohnten beruflichen Anspannung taten ihre Wirkung.
Von dem Gespräch zwischen Nick und seinen Eltern ahnte er nichts. Nick meinte, dass er offen reden könne, da Henrik längst im Bett lag und schlief. Obwohl Alexander und Denise hinaufgehen wollten, hielt er sie noch ein wenig zurück. »Morgen ist doch Samstag. Da kommt es auf fünf Minuten nicht an, Mutti. Ich wollte nur fragen, ob du schon etwas über den Doktor und Frau Harder weißt?«
»Was sollte ich denn wissen, Nick?«
»Hast du schon wieder einmal deine speziellen Beobachtungen gemacht, Nick?«, fügte Alexander hinzu.
Nick war ein bisschen gekränkt. »Es wäre für Thomas bestimmt gut, wieder einen Vater zu bekommen«, sagte er. »Der Doktor hat seiner Mutter das Leben gerettet, und die beiden mögen sich. Das sieht ein Blinder ohne Laterne.«
»Wenn du so sicher bist, brauchst du nicht erst zu fragen«, meinte Alexander. »Mutti und ich haben keine Ahnung.«
»Man darf nicht vergessen, dass Thomas einen Vater hat«, warf Denise leicht ein.
»So eine geschiedene Ehe ist meistens doch nicht zu reparieren«, behauptete Nick im Tonfall eines weisen alten Mannes. »Ich finde, Frau Harder und Dr. Korst passen prima zusammen. Thomas mag den Doktor. Es klappt also tadellos. Vielleicht verloben sie sich schon morgen oder am Sonntag.«
»Das müssen wir in Ruhe abwarten, Junge«, dämpfte Alexander den Optimismus seines Sohnes. »Niemand weiß es bis jetzt.«
»Ihr werdet schon sehen«, sagte Nick.
»Wollen wir jetzt nicht lieber endlich schlafen gehen?«, schlug Denise freundlich vor. »Ich bin ziemlich müde.«
»Ich glaube, du willst mir nur nicht sagen, was du wirklich weißt, Mutti«, beklagte sich Nick.
Seine Mutter strich ihm übers dunkle lockige Haar.
»Diesmal irrst du dich, mein Junge. Ich habe keine Ahnung, wie eng die Bindung zwischen Dr. Korst und Frau Harder ist.«
»Würdest du dich wenigstens freuen, wenn es eine Verlobung zwischen ihnen gäbe?«
»Das weiß ich jetzt noch nicht, Nick. Wenn es so weit kommen sollte, werde ich es dir gern sagen.«
Nick seufzte. Er gab es endgültig auf. »Na, dann wünsche ich euch eine gute Nacht. Wir werden ja sehen, was morgen oder übermorgen passiert.«
*
Das Wochenende brachte die von Nick erwartete Entscheidung nicht. Thomas führte seine Mutter und den Doktor umher und fühlte sich ganz und gar als Hauptperson.
Als am Sonntagnachmittag die Abschiedsstunde schlug, wollte Thomas sich gar nicht von seinem Doktorfreund trennen. Er verlangte das Versprechen, dass Peter Korst bald wiederkomme. Alexander und Denise von Schoenecker stimmten zu. Sie wiederholten ihre Einladung.
Heute regnete es glücklicherweise nicht, sodass Dr. Korst in den Genuss des traditionellen Sophienluster Abschiedszeremoniells kam. Alle Kinder versammelten sich vor dem Portal und sangen ein lustiges Lied. Dann winkten sie dem Wagen nach, bis auch das letzte Staubwölkchen verflogen war.
»Vielleicht haben sie sich heimlich verlobt«, flüsterte Nick seiner Mutter ins Ohr, als die Gruppe sich auflöste.
Denise schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Junge«, erwiderte sie leise.
Jutta Harder hatte den Arm um die Schultern ihres kleinen Jungen gelegt und schlenderte mit ihm in Richtung des Parks davon. Offenbar hatte Thomas den Kummer über die Abreise des Arztes schon überwunden. Man hörte deutlich seine helle eifrige Stimme.
Denise bestieg ihren Wagen, um nach Schoeneich zurückzukehren. Nick und Henrik gesellten sich zu ihr. Der ältere Junge erinnerte sich mit einigem Unbehagen, dass er sich noch auf eine Klassenarbeit in Englisch vorbereiten müsse. Doch davon teilte er seiner Mutter wohlweislich nichts mit.
Henrik wollte mit dem Vater durch die Schoenecker Stallungen gehen. Diesen Rundgang unternahm Alexander an jedem Sonntag, und die Jungen begleiteten ihn dabei gern.
So klang das Wochenende ruhig aus. Denise legte sich die Frage vor, ob sie darüber glücklich sei. Sie fand keine eindeutige Antwort. Immerhin nahm sie sich vor, im Lauf der nächsten Tage mit Jutta Harder zu sprechen und ihr offen davon zu berichten, dass ihr geschiedener Mann in Sophienlust gewesen war.
Doch sollte Jutta auf andere Art von diesem Besuch Fred Harders erfahren.
Am Montagmorgen erwachte sie früh und fühlte sich so gründlich ausgeruht und erfrischt, dass sie beschloss, aufzustehen und einen Spaziergang durch den Park zu unternehmen. Sie duschte und zog ein leichtes Kleid über, denn die Sonne schien von einem strahlend blauen Himmel.
In der Halle traf sie Frau Rennert, die ihr den wohlmeinenden Rat gab, sich erst mit einer Tasse Kaffee bei Magda in der Küche zu stärken. Jutta fand in der Küche einen Besucher vor. Es war Eugen Luchs, der von seiner Fahrt zurückgekehrt war und sich bei Magda mit einigen Essvorräten eindecken wollte.
»Wie schön, dass ich Sie treffe, Herr Luchs«, rief Jutta. »Ich muss mich bei Ihnen bedanken. Bis jetzt waren Sie nicht erreichbar.«
»Zu bedanken brauchen Sie sich nicht bei mir, Frau Harder. Thomas war von sich aus schlau genug, sich im richtigen Augenblick unter meinen Regenschirm zu stellen. Für mich ergab es sich dann von selber, dass ich ihn nach Sophienlust brachte. Und nun sind Sie auch hier gelandet. Das freut mich sehr.«
Jutta leerte eilig ihre Tasse und folgte dem Schriftsteller, als er die Küche verließ. »Darf ich Sie ein Stück begleiten?«, fragte sie bittend. »Ich wollte ohnehin einen Spaziergang unternehmen, denn bis zum Frühstück ist noch viel Zeit. Thomas schläft sowieso ziemlich lange.«
»Ich freue mich, wenn Sie mitkommen. Von Swasiland haben Sie gewiss schon allerlei gehört. Jetzt haben Sie die Gelegenheit, mein Refugium mit eigenen Augen zu begutachten.«
Jutta wanderte an seiner Seite querfeldein, bis nach kurzer Zeit der idyllische Standort seines Wagens auftauchte. »Da wären wir«, sagte er mit einer einladenden Handbewegung. »Für mich ist es ein kleines Königreich.«
»Beinahe möchte man hier ein Haus bauen«, meinte Jutta.
»Nein, nein, ein festes Haus wäre nichts für mich. Ich brauche einen Wagen, damit ich jederzeit losfahren kann, wenn ich die Lust dazu verspüre. Ich bin eine Landstreichernatur, ein halber Zigeuner, wenn Sie so wollen. Meine kleine Peggy hat es so weit gebracht, dass ich hier eine Art zeitweilige Heimat finden konnte. Aber niemand kann von mir verlangen, dass ich in meinem Swasiland fest ansässig werde. Ich würde wahrscheinlich am Ende doch davonlaufen müssen.«
Er schloss die Tür auf und forderte Jutta auf, im Innern des Wagens Platz zu nehmen. Schnell und umsichtig begann er, Wasser aufzusetzen und ein Frühstück vorzubereiten. »Sie halten doch mit, Frau Harder?«
»Wird man mich in Sophienlust nicht vermissen?«
»Magda weiß ja, wo Sie zu finden sind. Für mich ist es eine Ehre, dass ich Sie hier bewirten darf. Sie dürfen mich nicht enttäuschen.«
Der Kaffee duftete. Jutta legte mit Hand an, um den kleinen Klapptisch zu decken. Bald saßen sie einander gegenüber.
»Thomas ist ein interessanter kleiner Bursche«, sagte Eugen Luchs, während er sich ein Stück Brot mit Schinken belegte.
»Er versteht sich gut mit meiner Peggy. Auf diese Weise habe ich ihn recht genau kennengelernt, denn die Kinder sind ziemlich oft hier bei mir.«
»Ich muss mich da wohl eines Urteils enthalten«, gab Jutta lächelnd zurück. »Denn ich betrachte meinen Jungen natürlich mit den Augen der Mutter und gucke in einen goldenen Topf.«
»Aus Thomas wird bestimmt einmal ein tüchtiger Mann. Er ist intelligent und aufgeschlossen. Für welchen Beruf er sich später auch entscheiden mag – er wird sich bewähren und gute Leistungen vollbringen. Vor allem hat er die Gabe, leicht Kontakt zu finden. Das ist ein Himmelsgeschenk, denn mit Schüchternheit kommt man in unserer heutigen Zeit leider nicht weit.«
»Das ist ein Erbteil von meinem früheren Mann«, sagte Jutta leise und rührte in ihrer Kaffeetasse. »Thomas erinnert mich stark an seinen Vater.«
Eugen Luchs räusperte sich. Damit überbrückte er sein Zögern. Dann entschied er sich, das Thema anzuschneiden. »Ja, das stimmt. Auch die braunen Augen hat er vom Vater«, erklärte er ruhig.
Jutta stockte der Atem.
»Woher kennen Sie Fred?«, stieß sie hervor.
Eugen Luchs wies auf ihren Platz. »Da hat er gesessen, Fred Harder. Es war allerdings nicht am frühen Morgen wie heute, sondern am Abend. Wir haben zusammen Rotwein getrunken.«
»Wie – wie ist das möglich? Ich verstehe nicht …«
»Ich nehme an, Frau von Schoenecker hätte ohnehin mit Ihnen darüber gesprochen, Frau Harder. Wahrscheinlich ergab sich bisher nur nicht die Gelegenheit dazu.«
»Nein, ich war noch nicht allein mit ihr. Nun reden Sie schon! Wie kam Fred hierher?«
Eugen Luchs nahm erst einen Schluck Kaffee.
Dann erklärte er so behutsam wie möglich, warum Frau von Schoenecker sich entschlossen hatte, ihren früheren Mann zu verständigen. »Sie hatte nicht erwartet, dass Herr Harder daraufhin sofort nach Sophienlust kommen würde. Doch sie sah auch keinen Grund, ihm das zu verbieten.«
»So hat Thomas seinen Vater kennengelernt? Ich finde das ziemlich erschreckend. Immerhin hatten wir bei der Scheidung ein Abkommen getroffen, an das Fred sich halten musste.«
»Ihrem geschiedenen Mann lag nur daran, sich zu überzeugen, dass Thomas in Sophienlust gut untergebracht ist. Er fühlte sich verantwortlich, weil Sie beschlossen hatten, ihm den Jungen anzuvertrauen, falls es sich als nötig erweisen sollte. Man kann ihm daraus keinen Vorwurf machen.«
»Nein – wohl nicht. Ich verstehe auch, dass Frau von Schoenecker sich verpflichtet fühlte, ihn zu benachrichtigen. Aber wie hat Thomas reagiert? Es muss doch für ihn ein einschneidendes Ereignis gewesen sein. Mich wundert, dass er mir gegenüber noch nichts davon erwähnt hat.«
»Thomas hat nicht erfahren, dass der Besucher sein Vater war. Frau von Schoenecker und Herr Harder kamen überein, dass es so am besten sei. So legte er sich den Namen Fischer zu und schloss als netter fremder Onkel Freundschaft mit seinem Sohn.«
Jutta atmete auf. »Das war sicherlich eine gute Idee. Ich war schon in großer Sorge. Inzwischen bin ich gesund geworden. So braucht mein Mann sich nicht mehr um ihn zu kümmern.«
»Ja, das Kapitel war nur kurz und ist schon zu Ende. Er besuchte mich hier in meinem Wohnwagen, weil er sich ebenso bedanken wollte wie Sie. Dabei war es reiner Zufall, dass ich Thomas traf. Der Regen war schuld. Sonst war gar nichts.«
»Fred bedankte sich bei Ihnen? Ihm lag also daran, dass Thomas in Sicherheit war?«
»Gewiss. Wir haben uns hier ziemlich lange unterhalten und auch ein wenig angefreundet. Ihr Mann hat kein leichtes Leben gehabt.«
»Kein leichtes Leben? Wie meinen Sie das? Glauben Sie denn, mein Leben ist einfach gewesen seit der Trennung von Fred? Haben Sie eine Vorstellung, was es für eine alleinstehende Frau heißt, sich ohne den Schutz eines Mannes durchzuschlagen?«
»Doch, Frau Harder. Darüber weiß ich allerlei. In Sophienlust lernen wir viele solche Fälle kennen. Meist sind es die Mütter, die die ganze Last zu tragen haben. Trotzdem wird es Sie vielleicht interessieren, was nach Ihrer Scheidung geschah, Frau Harder. Es kam anders, als Ihr Mann es sich damals ausgemalt und gewünscht hat.«
»Es ging um eine junge Amerikanerin. Er wollte sie lieber heute als morgen heiraten.«
»Ja, das hat er mir erzählt. Doch das Mädchen starb. Sie war schwer krank, und es gab keine Rettung für sie. Die Ehe kam nie zustande.«
Jutta war verwirrt. »Sie ist gestorben? Sie wurde nicht Freds Frau?«
»Nein. Ihr Mann blieb allein, und er hat sogar schon sehr bald erkannt, dass die Amerikanerin gewiss nicht die richtige Frau für ihn gewesen wäre …«
»Warum hat er … Ach, ich begreife das einfach nicht. Ich habe mir natürlich vorgestellt, dass er sehr glücklich geworden sein muss. Als ich Frau von Schoenecker darum bat, Fred im Falle meines Todes den Jungen zu übergeben, rechnete ich damit, dass Thomas Mitglied einer richtigen Familie sein würde.«
»Ihr Mann fühlte sich an sein Versprechen gebunden und hat sich nicht mit Ihnen in Verbindung gesetzt. Deshalb wissen Sie nicht, wie er nach der Scheidung gelebt hat. Aber ich habe den Eindruck gewonnen, dass er sich schuldig fühlt. Ich hatte Mitleid mit ihm. Die Begegnung mit Thomas war für ihn bedeutsam und auch schmerzlich. Der Abschied fiel ihm schwer. Trotzdem wünschte er aufrichtig und herzlich, dass Sie sich erholen würden.«
»Wie hat sich Thomas seinem Vater gegenüber verhalten? Konnten Sie beobachten, ob der Junge ihn gern mochte?« Jutta hatte jetzt glühende Wangen. Die Mitteilung des Schriftstellers erregte sie tief.
»Thomas freundete sich sofort mit ihm an. Er wich während der anderthalb Tage kaum von der Seite des sogenannten Onkels. Aber das will vielleicht nicht allzu viel heißen, denn Thomas schließt sich überhaupt leicht an. Vor allem fühlt er sich zu Männern hingezogen, weil er unbewusst nach einem Vater zu suchen scheint.«
»Davon versteht er noch nichts«, widersprach Jutta etwas abweisend.
»Trotzdem spürt ein Kind das Fehlen des anderen Elternteils. Das Verhalten des kleinen Thomas scheint mir ganz eindeutig die Sehnsucht nach einem Vater auszudrücken.«
»Darüber habe ich bis jetzt nicht nachgedacht«, räumte Jutta zögernd ein. »Immerhin war und ist Thomas auch von Dr. Korst ganz begeistert.«
»Sogar an mir hängt er«, fügte Eugen Luchs hinzu. »Anfangs war es ihm gar nicht recht, dass Peggy ihre Besitzansprüche an mich jederzeit betont.«
Jutta lächelte hilflos. »Es ist im Augenblick leider, wie es nun einmal ist. Ich bin allein, und Thomas wird den Vater auch weiterhin entbehren müssen. Allerdings hat Dr. Korst mir klargemacht, dass es richtig sein wird, Thomas von seinem Vater zu erzählen. Sollte er daraufhin den Wunsch haben, den Vater zu sehen, würde ich mich nicht dagegen sträuben. Wissen Sie, es will mir einfach nicht in den Kopf, dass Fred all die Jahre allein verbracht hat. Es passt so gar nicht zu ihm. Er wurde schon nervös, wenn ich ihn einmal für eine Stunde allein lassen musste. Er hasste die Einsamkeit und brachte gern Gäste mit nach Hause oder ging aus.«
»Trotzdem blieb er allein nach der Trennung von Ihnen. Er hatte nicht den geringsten Grund, mir ein Märchen aufzutischen. Vielmehr wollte er sich einmal aussprechen.«
»Ich danke Ihnen, dass Sie mir davon erzählt haben, Herr Luchs.«
»Hätte ich es nicht getan, so wäre es Frau von Schoenecker gewesen, die Ihnen von Fred Harders Besuch berichtet hätte. Vielleicht könnten Sie auch mit ihr darüber sprechen. Sie ist klug und lebenserfahren.«
Jutta gab keine Antwort.
Nach einer Weile holte sie tief Luft und stand auf.
»Sie wollen gehen?«, fragte Eugen Luchs freundlich und ruhig.
»Ja, ich fürchte, Thomas sucht mich schon überall.«
»Warten Sie, ich begleite Sie. Wenn Sie den Weg nehmen, dauert es zu lange. Ich kenne mich besser aus.«
Jutta ließ es geschehen, dass er sie auf nur ihm bekannten Pfaden zum Herrenhaus zurückführte. Sie schwiegen nun beide. Eugen Luchs spürte, dass Jutta Harder mit dem, was sie von ihm gehört hatte, erst fertigwerden musste. Deshalb wollte er sie nicht durch zu viele Worte stören. Er betrachtete Fred Harder als guten Freund. Deshalb hegte er den Wunsch, dass die Eltern des kleinen Thomas’ sich versöhnten. Doch er war sich durchaus darüber im Klaren, dass die Chancen nicht gerade rosig waren. Vor allem musste er sich fragen, wie Jutta Harder zu dem Arzt stand, der ihr das Leben gerettet hatte und mit dem sie nun herzliche Freundschaft verband. Nur Freundschaft – oder war es bereits weit mehr?
»So, nun sehen Sie das Haus, Frau Harder. Bis bald. Ich tauche oft hier auf, und Sie brauchen sich nur Peggy anzuschließen, falls Sie mich wieder einmal besuchen möchten.«
»Vielen Dank fürs Frühstück, Herr Luchs.« Ihr Lächeln wirkte gezwungen.
»Sie haben kaum etwas gegessen.«
Seine große Hand umschloss die ihre.
»Danke«, wiederholte sie leise. »Danke für alles, Herr Luchs.«
Der Schriftsteller ging davon. Jutta fing Thomas auf, der ihr jubelnd entgegengelaufen kam. »Wo hast du gesteckt, Mutti?«, fragte er vorwurfsvoll.
»Bei Onkel Luchs in Swasiland, Thomas. Magda hätte es dir sagen können.«
»Also, Magda habe ich natürlich nicht gefragt, Mutti. Na, macht nichts. Jetzt sind die Großen längst in der Schule. Wollen wir weiterlesen in dem großen Buch, das du mir mitgebracht hast?«
Jutta nickte. Thomas holte das Buch. Sie suchten sich ein gemütliches Plätzchen im Park.
Als Denise von Schoenecker vom Haus aus einen Blick in den Garten warf, entdeckte sie die beiden. Sie lächelte. Gewiss würde Jutta Harder sich hier schnell und gründlich erholen.
Kurz vor Tisch, als Denise eben nach Schoeneich aufbrechen wollte, betrat Jutta zögernd das Biedermeierzimmer.
»Haben Sie einen Wunsch, Frau Harder?«, fragte Denise liebenswürdig.
»Ich würde mich gern mit Ihnen ein wenig unterhalten. Aber wenn es jetzt nicht recht passt …«
»Eine Viertelstunde habe ich schon noch Zeit, Frau Harder. Man soll Dinge, die einem am Herzen liegen, nicht unnötig auf die lange Bank schieben.«
Jutta nahm auf dem angebotenen Sessel Platz. Leise und mit stockender Stimme erzählte sie von ihrem Besuch in Swasiland und von dem, was Eugen Luchs ihr eröffnet hatte. Denise wartete und unterbrach sie nicht. Erst als Jutta Harder schwieg, ergriff sie das Wort. »Ich hatte die Absicht, mit Ihnen über den Besuch Ihres früheren Mannes zu sprechen, Frau Harder. Bis jetzt fand sich dazu leider keine Gelegenheit. Hoffentlich können Sie verstehen, dass ich mich entschloss, einen Brief an Ihren Mann zu schreiben. Wir waren sehr besorgt um Sie. Zugleich machte ich mir Gedanken wegen des kleinen Jungen, der mir anvertraut war. So glaubte ich, richtig zu handeln, wenn ich auch nicht darauf gefasst war, dass Ihr Mann sofort zu uns kommen würde. Er selbst verfiel auf den Ausweg, sich einen anderen Namen zuzulegen. So brauchte er das Ihnen gegebene Versprechen nicht zu brechen und erhielt doch die Möglichkeit, sich Thomas zu nähern.«
»Es muss seltsam gewesen sein.«
»Nein, durchaus nicht. Thomas kam sich als Fremdenführer äußerst wichtig vor. Zwischen ihm und seinem Vater bestand sogleich ein herzliches Einvernehmen. Allerdings wurde die Begegnung für Ihren Mann zu einem bedeutungsvollen Erlebnis. Er lernte Thomas kennen und musste ihn doch wieder verlieren.«
»Er hat damals keine Sekunde gezögert, mir den Jungen zu überlassen.«
»Damals – das ist lange her, Frau Harder. Sie wissen, dass sich sein Leben anders gestaltete, als er es sich ausgemalt hatte. Heute begreift er, dass er verblendet war und einen folgenschweren Fehler beging. Vor allem aber musste er sich eingestehen, dass er seinen Sohn liebt.«
»Wie ist das möglich!«, stieß Jutta hervor. »Er war nur einmal hier. Das kleine Baby hat er sicherlich längst vergessen.«
»Vater und Sohn verstanden einander ausnehmend gut. Ich hatte den Eindruck, dass Ihr Mann sich vergeblich gegen die Liebe wehrte, die sein Herz erfüllte. Er rief später noch ein paarmal an, um sich zu erkundigen, wie es Ihnen gehe.«
»Ja, er hat auch in der Klinik nachgefragt. Meinen Sie, er hat gehofft, dass ich sterben würde?«
»Aber nein! Mit Sicherheit nicht, Frau Harder. Er sorgte sich um Sie, und er war unendlich erleichtert, als er erfuhr, dass die zweite Operation endlich die Wende gebracht hatte.«
»Aber das bedeutete für ihn den Verzicht auf Thomas.«
»Damit fand er sich ab. Er sieht es als die Strafe an, die ihm das Schicksal auferlegt. Doch er hofft auf die Zukunft. Mit seinem erwachsenen Sohn könnte sich am Ende doch noch eine Verbindung herstellen lassen, sofern Thomas diesen Wunsch haben sollte. Ihr Mann vertraut darauf, dass Sie dem Jungen auf die Dauer die Existenz des Vaters nicht verheimlichen werden.«
»Ich werde mit Thomas über seinen Vater sprechen«, erwiderte Jutta mit fester Stimme. »Dr. Korst hat mich gelehrt, manches in anderem Licht zu sehen.«
»Das finde ich tröstlich, liebe Frau Harder. Wie wäre es, wenn Sie sich hier in Sophienlust, sozusagen auf neutralem Boden mit Ihrem früheren Mann zusammensetzen und mit ihm beraten, was Sie gemeinsam für Thomas tun können?«
Jutta wurde ein wenig blass. »Das möchte ich so schnell nicht entscheiden, Frau von Schoenecker. Ich weiß nicht, ob ich ruhig bleiben könnte, wenn ich Fred wiedersehe. Allerdings sehe ich ein, dass ich an Thomas denken muss. Lassen Sie mir ein wenig Zeit!«
»Sie sind ja noch eine Woche bei uns, Frau Harder. Ihnen bleiben viele Tage zum Überlegen. Ich möchte Sie keinesfalls überreden.«
Jutta strich sich über die Stirn. »Dieser Unfall hat so manches in Bewegung gebracht. Ich muss wohl noch allerlei lernen.«
Denise stand auf und streckte ihr die Hand hin. »Überstürzen Sie nichts, Frau Harder. Diese Pause wurde Ihnen vom Schicksal eingeräumt. Nun sollten Sie sie in der rechten Weise nützen.«
»Ja, es ist tatsächlich wie eine Pause in meinem Leben. Ich stehe außerhalb meines gewohnten Rahmens. Hin und wieder habe ich Angst, ob ich jemals den Weg zurückfinden kann.«
Denise nickte ihr zu. »Gehen wir nicht immer nur weiter und weiter, Frau Harder? Eine Rückkehr in die Vergangenheit gibt es für niemanden.«
Draußen hörte man nun fröhlichen Lärm. Der Schulbus mit den Gymnasiasten war eingetroffen.
»Ich muss jetzt nach Schoeneich fahren«, entschuldigte sich Denise. »Auch hier wird gleich zu Mittag gegessen. Bis später, Frau Harder.«
Mit ihrem leichten Schritt ging Denise aus dem Biedermeierzimmer. Jutta Harder blieb noch ein Weilchen in dem harmonisch und stilvoll eingerichteten Raum. Sie schaute zum Bildnis der alten Sophie von Wellentin hinauf. Doch der gemalte Mund von Nicks Urgroßmutter hatte ihr nichts zu sagen.
Später, als sie mit den Kindern bei Tisch saß und sich Magdas gute Rouladen munden ließ, schaute sie nachdenklich zu ihrem Jungen hinüber, dessen starke Ähnlichkeit mit dem Vater ihr heute besonders ins Auge fiel. Ob Fred ihn tatsächlich lieb gewonnen hat, fragte sie sich in Gedanken. Ist das überhaupt möglich nach so langer Zeit?
*
Ein Tag reihte sich an den anderen. Jutta Harder bekam Farbe und sah bald jung und gesund aus. Ihr Haar wuchs nach, und an sah nichts mehr davon, dass sie wegen der Operation an zwei Stellen des Kopfes kahl geschoren worden war. Die anfänglich ab und zu auftretenden Schmerz- und Schwindelanfälle verloren sich. Jutta fühlte sich geborgen innerhalb der Gemeinschaft von Sophienlust und versuchte sich ein wenig nützlich zu machen. Sie besserte Wäsche oder Kleidung aus, sie half Magda in der Küche, und sie kümmerte sich um die Kinder.
Die Abende verbrachte sie in Gesellschaft Frau Rennerts und Schwester Regines. Manchmal war sie auch in Schoneich Gast. Sie fuhr gern hinüber zu den Schoeneckers. Die Harmonie dieser Familie zog sie magnetisch an.
Es war an einem Sonntag, als Denise sie in ihrem kleinen Wagen nach Sophienlust zurückbrachte, nachdem man lange in Schoeneich am Kamin gesessen hatte. Der Abend war kühl gewesen, und das Feuer hatte ein sanftes Licht verbreitet. Obwohl der Gutsherr sich erboten hatte, Jutta Harder heimzufahren, bestand Denise darauf, es zu tun.
Jutta ahnte, dass Denise mit ihr sprechen wollte. Sie hatte es bisher vermieden, das Thema einer Unterredung mit Fred zu berühren. Ja, sie war einem Alleinsein mit Denise von Schoenecker sogar ausgewichen, um nicht zu einer klaren Stellungnahme gezwungen zu werden.
»Haben Sie einen Entschluss gefasst?«, fragte Denise nun leise. Sie fuhren eben am kleinen See vorüber, und das Mondlicht ließ seinen Spiegel silbern aufleuchten.
»Ich glaube, es wird richtig sein, wenn mein Mann und ich über Thomas sprechen, Frau von Schoenecker«, erwiderte Jutta mit einer Ruhe, über die sie sich selbst am meisten wunderte. »Ihr Vorschlag, dass er nach Sophienlust kommen soll, ist sicherlich gut. Allerdings weiß ich nicht, ob Fred damit einverstanden wird.«
»Ganz bestimmt.Aber der Vorschlag muss von Ihnen ausgehen, weil Ihr Mann sich an sein Wort gebunden fühlt. Das leuchtet Ihnen sicherlich ein.«
»Sollte ich ihm schreiben? Ach nein, das würde doch zu schwierig für mich.«
»Ja, das sehe ich ein. Ich gebe zu, dass ich mir über diesen Punkt bisher keine Gedanken gemacht habe. Das ist eine Angelegenheit, die sich weder in einem Brief noch durch ein Telefongespräch in der rechten Weise klären und erklären lässt.«
»Es müsste sich ein Unparteiischer finden, der ihm meinen Wunsch vorträgt. Ein Rechtsanwalt, zum Beispiel.«
»Das würde sehr wichtig wirken, meinen Sie nicht? Es muss ja nicht gleich ein Jurist sein, der von Verträgen und Paragraphen spricht. Wie wäre es mit Herrn Luchs?«
Jutta war überrascht. »Ob Herr Luchs das für mich tun würde? Er hat sehr freundlich von Fred gesprochen. Einmal erwähnte er, dass er mit ihm ausgemacht habe, er werde ihn auf eine seiner Fahrten mitnehmen. Zwar kann ich mir Fred im Wohnwagen nicht recht vorstellen, doch scheinen die beiden Männer sich ganz gut verstanden zu haben.«
»Auf Eugen Luchs ist Verlass, Frau Harder. Er hat schon so manche Mission für uns durchgeführt. Da er das Vertrauen Ihres Mannes besitzt, sollte es ihm nicht allzu schwerfallen, ihn von der Notwendigkeit eines Gespräches mit Ihnen zu überzeugen.«
»Trotzdem bin ich nicht sicher, ob ich den Mut finden würde, Herrn Luchs um diesen Freundschaftsdienst zu bitten«, gestand Jutta kleinlaut. »Er hat schon viel für uns getan. Ich weiß auch, dass er eine Menge Arbeit und wenig Zeit hat.«
»Überlassen Sie dieses Problem mir, liebe Frau Harder. Eugen Luchs fährt ganz gern ab und zu nach Stuttgart. Möglicherweise kann er gleichzeitig etwas beim Rundfunk erledigen. Oder er besucht seinen Verleger.«
»Sie wollen es mir leicht machen. Frau von Schoenecker.«
»Nein, nein, ich meine wirklich, was ich sage. Es geht schließlich um Thomas. Deshalb liegt auch mir am Herzen, dass die Aussprache zwischen seinen beiden Eltern zustande kommt.«
»Es wird viel davon abhängen«, sagte Jutta sehr leise. »Ich muss Thomas endlich etwas über seinen Vater erzählen, und ich möchte versuchen, ihm ein freundliches Bild zu vermitteln.«
»Das ist sicher richtig. Ich glaube, Sie werden sich verständigen können mit Ihrem Mann. Der Jahre der Einsamkeit sind nicht spurlos an ihm vorübergegangen.«
»Auch mich haben diese Jahre verändert.«
Denise schwieg. Nun tauchte das Herrenhaus von Sophienlust vor ihnen auf.
»Schlafen Sie gut, Frau Harder«, wünschte Denise, sobald sie den Wagen zum Stehen gebracht hatte. »Morgen werde ich mich mit Eugen Luchs unterhalten.«
»Ich – ich danke Ihnen, Frau von Schoenecker.« Jutta drückte Denises Hand. Dann lief sie die flachen Stufen zum Portal empor. Denise war erleichtert. Wenigstens war ihr gelungen, Fred und Jutta Harder würden miteinander reden.
Sie wendete den Wagen und fuhr zurück nach Schoeneich, wo Alexander sie erwartete. »Nun, hast du erreicht, was du dir in den Kopf gesetzt hast, Isi?«, erkundigte er sich liebevoll, doch zugleich mit ein wenig Vorwurf in der Stimme.
»Ich werde Eugen Luchs bitten, Herrn Harder aufzusuchen. Frau Harder möchte sich mit ihrem geschiedenen Mann über das Kind aussprechen.«
»Aber du erwartest mehr von dieser Begegnung, nicht wahr?«
Denise sah ihren Mann etwas schuldbewusst an. »Nein, ich erwarte gar nichts, Alexander. Aber ich habe so etwas wie eine kleine Hoffnung. Das ist doch wohl erlaubt.«
»Ich gebe mich geschlagen, Isi«, sagte der Gutsherr lächelnd. »Du willst dem Schicksal wenigstens eine Chance einräumen.«
»Ja, Alexander. Vor allem erscheint es mir wirklich wichtig, dass die Eltern sich endlich darüber verständigen, wie es mit Thomas weitergehen soll. Der Junge kommt demnächst in die Schule und lebt immer noch im Glauben, er habe überhaupt keinen Vater. Da muss etwas geschehen, und ich meine, es wäre gut für Thomas, wenn er hin und wieder Gelegenheit erhielte, mit dem Vater zusammenzutreffen. Natürlich kann es dann noch ein gewisses Problem geben, weil Herr Harder sich seinem Sohn unter Vorspiegelung falscher Tatsachen genähert hat. Aber das wird sich schon überbrücken lassen.«
»Du beschäftigst dich in deinen Überlegungen kaum noch mit dem Doktor. Immerhin hat er Frau Harder das Leben gerettet.«
»Selbst wenn aus Frau Harder und dem Arzt ein Paar werden sollte, muss Thomas erfahren, wer sein Vater ist.«
»Ja, sicher, Isi. Man darf Kinder nicht belügen. Auf keinen Fall könnte Thomas in Dr. Korst seinen richtigen Vater erblicken, so prächtig der Junge sich auch mit dem Arzt verstehen mag. Einen Stiefvater, der allmählich an die Stelle des echten Vaters rückt – das wäre etwas anderes. Zum Beispiel wie bei Nick und mir.«
Denise schlang die Arme um seinen Nacken. »Ein Verhältnis wie das zwischen Nick und dir ist einmalig, Liebster.« Sie stellte sich auf die Zehen und küsste ihn.
»Dafür lieben dich Sascha und Andrea, als wärest du ihre leibliche Mutter«, erwiderte Alexander nach einer kleinen Weile innig.
*
Eugen Luchs war sogleich und gern bereit, Fred Harder aufzusuchen. Dass dies seinen eigenen Wünschen entgegenkam, sagte er freilich nicht. Denise stellte ihm ihren Wagen zur Verfügung.
Die beiden Männer verabredeten sich telefonisch zum Mittagessen in einem größeren Restaurant. Als Eugen Luchs den Wagen abgestellt hatte und das Lokal betrat, winkte ihm Fred Harder von einem Fenstertisch aus zu. »Es ist nett von Ihnen, dass Sie sich meiner noch erinnern, Herr Luchs«, begrüßte er den Schriftsteller freudig. »Haben Sie hier zu tun?«
»Ich will nicht lange um den heißen Brei herumschleichen. Zwar kann ich in der Stadt etwas erledigen, doch bin ich in erster Linie hier, um Sie zu treffen.«
Der Kellner trat an den Tisch, und sie gaben ihre Bestellung auf. Sobald der Mann außer Hörweite war, drängte Fred Harder darauf, den Grund dieses Treffens zu erfahren.
»Ihre Frau möchte sich mit Ihnen aussprechen, Herr Harder. Dass sie sich zurzeit in Sophienlust nach dem Krankenhausaufenthalt erholt, ist Ihnen wohl bekannt?«
»Ja, Frau von Schoenecker hat es mir mitgeteilt. Geht es Jutta gut?«
»Sehr gut. Um ihre Gesundheit braucht man sich nun nicht mehr zu sorgen.«
»Trotzdem möchten Sie mich sprechen? Früher hat sie jeden Kontakt mit mir abgelehnt.«
»Es handelt sich um Thomas. Ihre Frau hält es für richtig, dass Sie beide sich wegen des Jungen neu verständigen. Sie möchte Thomas von Ihnen erzählen und ihm unter Umständen die Möglichkeit geben, mit Ihnen Verbindung aufzunehmen, sofern er das wünscht.«
»Wer hat Jutta dazu überredet?«, erkundigte sich Fred Harder misstrauisch. »Haben Sie mit ihr gesprochen?«
»Natürlich habe ich mit ihr gesprochen. Aber auch Frau von Schoenecker sprach mit ihr. Doch Ihre Frau hat selbstständig den Entschluss gefasst, Thomas endlich darüber aufzuklären, dass er einen Vater hat, der sogar hier in Stuttgart lebt.«
»Hat sie erfahren, dass ich in Sophienlust gewesen bin?«
»Ja.«
»War sie damit einverstanden?«
»Zuerst erschrak sie. Dann sah sie ein, dass es in der damaligen Situation richtig war. Sie können Sie selber fragen. Frau von Schoenecker schlägt vor, dass Ihr Zusammentreffen in Schoeneich stattfinden soll. Auf diese Weise wird ein wenig Abstand zu Sophienlust geschaffen, und es besteht keine Gefahr, dass Thomas Sie sieht und erkennt.«
Fred Harder lächelte bitter. »So einfach hingehen und dem Jungen sagen: ›Das ist dein Vater‹ – nein, das bringt Jutta wohl nicht fertig. Aber ich darf mich nicht beklagen. Die vorgeschlagene Unterredung ist wenigstens ein Anfang. Ich würde viel darum geben, wenn ich in Zukunft gelegentlich mit Thomas zusammen sein könnte.«
»Ich nehme also eine Zusage mit, Herr Harder? Sie werden kommen?«
»Selbstverständlich, Herr Luchs. Ich danke Ihnen und Frau von Schoenecker für Ihre Mitwirkung.«
»Versprechen Sie sich bitte nicht zu viel, Herr Harder«, warnte der Schriftsteller ein wenig besorgt. »Frau von Schoenecker schlägt den kommenden Sonntag vor, falls Ihnen das recht ist.«
»Mir ist alles recht. Ich werde Frau von Schoenecker anrufen und mit ihr besprechen, wann ich nach Schoeneich kommen soll. Glauben Sie, dass ich bei der Gelegenheit Thomas wiedersehen werde?«
»Das weiß ich nicht, Herr Harder. Ich halte es für denkbar, dass Ihre Frau mit Ihnen eine Marschroute für die Zukunft festlegen will.«
»Ich verstehe. Ich würde zu viel verlangen, wenn ich den Jungen schon jetzt wiedersehen wollte. Trotzdem werde ich kommen. Allein die Hoffnung, dass ich später mit Thomas zusammentreffen kann, bedeutet viel für mich.«
Das Essen wurde gebracht. Fred Harder stellte unzählige Fragen nach Thomas, nach seiner Frau und auch nach den übrigen Bewohnern von Schoeneich und Sophienlust. Eugen Luchs berichtete ausführlich, doch vermied er es, den Namen Dr. Korsts allzu oft zu erwähnen. Da er den Arzt in Sophienlust persönlich gar nicht getroffen hatte, fiel es ihm leicht, etwas zu verschweigen, wovon er annehmen musste, dass es für Fred Harder möglicherweise unerfreulich sein mochte.
Anderthalb Stunden verstrichen sehr rasch, ohne dass eine Pause in der Unterhaltung eintrat. Dann erklärte der Ingenieur mit einem raschen Blick auf die Uhr, dass er nun zurück ins Werk fahren müsse.
»Ja, gewiss, die Arbeit ruft, Herr Harder«, sagte Eugen Luchs und winkte den Kellner heran. »Sie werden sich also mit Frau von Schoenecker in Verbindung setzen und ich kann meinen Auftrag als erfüllt betrachten?«
»Das können Sie, lieber Freund. Nehmen Sie bitte Grüße und meinen Dank mit.«
Fred Harder übernahm es, die Rechnung zu begleichen. Eugen Luchs ließ ihn gewähren, denn er wollte vermeiden, dass der Ingenieur sich gar zu sehr in seiner Schuld fühlte.
»Sehen wir uns am Sonntag?«, fragte Fred Harder, nachdem sie das Restaurant verlassen hatten.
»Ja, vielleicht. Genau weiß ich es nicht. Jedenfalls werde ich nicht wegfahren.«
Die Männer schüttelten sich die Hände. Eugen Luchs blickte dem Vater des kleinen Thomas gedankenvoll nach. Was würde sich aus der Begegnung zwischen den geschiedenen Eheleuten ergeben? Nur ein Abkommen über den Jungen – neuer Streit – oder eine Versöhnung?
*
Jutta hat sich für das Gespräch mit Fred einen genauen Plan zurechtgelegt. Immer wieder unterhielt sie sich in Gedanken mit ihm. Die Frage, ob er sich stark verändert habe, beschäftigte sie. Es war verabredet worden, dass der Ingenieur am Sonntagvormittag in Schoeneich eintreffen sollte. Noch habe ich Zeit, dachte Jutta, als es bereits Samstag geworden war. Er kommt erst morgen.
Gleich nach dem Frühstück wartete jedoch eine Überraschung auf sie, die weder Denise noch sonst jemand eingeplant hatte. Unangemeldet erschien Dr. Korst und berichtete voller Stolz, dass er bereits in grauer Morgenfrühe aufgebrochen sei, um diesen dienstfreien Samstag in Sophienlust zu verbringen. Jutta brauchte einige Sekunden, um sich zu fassen. Thomas dagegen, der von allem anderen nichts wusste, begrüßte den Doktor mit Jubel und Begeisterung.
»Ich habe leider nicht allzu viel Zeit«, erklärte Peter Korst. »Denn heute Abend muss ich die Nachtbereitschaft im Krankenhaus übernehmen. Ein Kollege ist krank geworden.«
»Es ist lieb von Ihnen, dass Sie trotzdem gekommen sind«, erwiderte Jutta leise.
»Ich wollte nachschauen, wie es Ihnen geht, Frau Jutta. Außerdem hätte ich Lust, ein Stück mit Ihnen über Land zu fahren. Können Sie sich hier für ein paar Stunden abmelden? Oder ist das gegen den Sophienluster Brauch?«
»Ich kann tun und lassen, was ich möchte, Dr. Korst.«
»Möchten Sie also einen Ausflug mit mir unternehmen?«
Sie nickte und lächelte. Thomas meldete sofort seine Rechte und Wünsche an. »Ich will auch mit«, rief er voller Eifer. »Soll ich Magda Bescheid sagen, dass wir zum Essen nicht hier sind?«
Dr. Korst hob den Jungen hoch und sah ihm ruhig ins glückstrahlende Gesichtchen. »Thomas, ich möchte ausnahmsweise mit deiner Mutti allein etwas unternehmen. Wir sind bald nach dem Essen zurück. Dann bleibt noch genügend Zeit, dass wir zu den Ponys gehen können.«
Thomas war zutiefst gekränkt. »Warum willst du mich denn nicht mitnehmen, Onkel Doktor? Ich – ich finde das ziemlich gemein.«
Peter Korst warf Jutta einen Hilfe suchenden Blick zu.
»Wir bleiben nicht allzu lange weg, Thomas«, sagte sie freundlich. »Manchmal möchten Erwachsene etwas miteinander besprechen, was für Kinder nicht so wichtig und interessant ist.«
»Aber ihr müsst wirklich bald wiederkommen, Mutti. Ich gehe inzwischen mit Peggy nach Swasiland zu Onkel Luchs. Vielleicht weiß er eine schöne Geschichte für uns.«
Peter Korst war sichtlich erleichtert und stellte Thomas wieder auf die Beine. Er war auf einen schwierigen Kampf gefasst gewesen.
Jutta sagte Frau Rennert und Magda Bescheid. Dann setzte sie sich in Peter Korsts Wagen. Ihre Wangen waren heiß, und ihr Herz schlug sehr schnell. Gerade heute – und morgen kommt Fred, dachte sie. Es musste wohl so sein.
»Hoffentlich ist Thomas mir nun nicht bis in alle Ewigkeit böse«, hörte sie den Doktor sagen.
»Nein, nein – so nachtragend ist er nicht. Er findet Erwachsenengespräche grundsätzlich langweilig. Deshalb hat er sich mit meiner Erklärung so schnell zufriedengegeben.«
»Ich möchte die Freundschaft Ihres Jungen keinesfalls aufs Spiel setzen.«
»Keine Sorge, Doktor. Thomas mag Sie viel zu gern.«
Peter Korst antwortete nicht. Er lenkte den Wagen in Richtung auf Bachenau und dann auf schmalen Nebenstraßen immer weiter, bis sie einen sehr schönen Wald erreichten. »Hier könnte man ein Stück zu Fuß gehen«, schlug er vor. »Oder wird Ihnen das zu anstrengend?«
»Ich habe schon weite Wanderungen mit den Kindern unternommen, Doktor. Allmählich bekomme ich Gewissensbisse, dass ich immer noch faulenze. Aber der Professor hat darauf bestanden, dass ich erst nach Ablauf eines vollen Vierteljahres wieder arbeiten soll.«
»So ein Schädelbruch ist keine Kleinigkeit, Frau Jutta. Der Chef weiß schon, was er sagt.«
Peter Korst half Jutta höflich beim Aussteigen. Auf einer schmalen Schneise gingen sie tiefer in den Wald hinein. Als sie eine Lichtung erreicht hatten, breitete der Doktor seinen Mantel ins Gras und lud seine Begleiterin mit einer Handbewegung zum Niedersitzen ein.
»Ich habe über uns beide gründlich nachgedacht, Jutta«, sagte er mit etwas rauer Stimme. »Sie haben mir Vertrauen geschenkt, sodass ich Ihre augenblickliche Situation recht gut kenne. Dass Sie mir sehr viel bedeuten, haben Sie gewiss längst erkannt.«
Jutta sah ihn bittend an und legte die Hand beschwichtigend auf seinen Ärmel.
»Nicht weiterreden, Dr. Korst!«
»Warum nicht, Jutta? Einmal muss es ausgesprochen werden. Ich glaube, wir beide könnten miteinander glücklich werden. Ja, ich bilde mir sogar ein, dass ich für Thomas einen leidlich brauchbaren Vater abgeben würde.«
Jutta senkte die Lider. Sie atmete sehr schnell, und es gelang ihr nicht, ihre Erregung zu verbergen. »Ich habe gespürt, dass Sie nur deshalb gekommen sind, Peter. Fast bin ich in Versuchung geraten, Thomas mitzunehmen.«
»Ich verstehe nicht, Jutta.«
»Sehen Sie, Peter – ich habe in dieser Zeit allerlei hinzugelernt und erkannt. Obwohl mir Unrecht geschehen ist, weiß ich heute, dass auch ich Fehler gemacht habe. Morgen will ich mit – mit meinem früheren Mann zusammentreffen.«
»Warum, Jutta?«
»Wegen Thomas. Er soll erfahren, wer sein Vater ist. Aber das ist nicht alles. Ich möchte jetzt ganz aufrichtig zu Ihnen sein …«
»Also lieben Sie ihn noch immer«, unterbrach er sie mutlos. »Sie haben seit Jahren nichts von ihm gehört. Er hat sie mit dem Kind im Stich gelassen. Aber Sie lieben ihn trotzdem.«
»Ja, Peter, ich fürchte, ich liebe ihn tatsächlich noch.«
»Ich hätte es wohl wissen sollen. Es tut mir leid, dass ich …«
»Nein, Peter – ich bin es, die Sie um Verzeihung bitten muss. Seien Sie mir nicht böse! Ich würde so gern weiterhin Ihre Freundschaft behalten.«
»Freundschaft! Mehr darf ich nicht erwarten. Ich habe im Grunde stets geahnt, dass es etwas gibt, was uns trennt, Jutta. Ich muss mich damit abfinden, dass ich zwar das Zeug zum guten Chirurgen habe – aber in der Liebe alles andere als ein Glückspilz bin.«
»Wissen Sie, dass die Narkoseärztin im Krankenhaus Sie sehr gern mag?«
»Aber ich liebe sie nicht. So einfach ist das nicht, meine gute Jutta.«
Jutta umschloss sein Gesicht mit ihren Händen und küsste ihn. Es war der sanfte Kuss einer Freundin, deren Herz für einen anderen Mann schlug.
Sie kehrten zum Wagen zurück und fuhren weiter. In einem kleinen Landgasthaus rasteten sie und verzehrten ein einfaches Mahl.
Als sie nach Sophienlust zurückkehrten, erfuhren sie, dass Andrea von Lehn die Kinder eingeladen hatte. So gab es für Peter Korst kein Wiedersehen mit Thomas. Er fuhr sofort ab. »Alles Gute, Peter«, flüsterte Jutta erstickt.
»Dir muss man wohl Glück wünschen, Jutta.« Wenigstens einmal wollte er ›Du‹ sagen.
Sie winkte dem Wagen nach. »Verzeih mir, Peter«, flüsterte sie. Er hörte es nicht mehr.
*
Denise hatte dafür gesorgt, dass Nick und Henrik frühzeitig am Sonntag mit den Rädern nach Sophienlust fuhren. So konnte die Begegnung zwischen Jutta und Fred Harder stattfinden, ohne dass Unbefugte etwas darüber erfuhren.
Fred Harder war bereits gegen halb elf Uhr zur Stelle, und Jutta empfing ihn in Denises gemütlichem Wohnzimmer. Niemand störte.
»Du siehst noch genauso aus wie damals, Jutta«, sagte Fred Harder.
Jutta reichte ihm die Hand. »Du hast dich auch nicht verändert«, antwortete sie unsicher.
»Ich bin froh, dass du wieder gesund bist.«
»Ja, es hat anfangs nicht gut ausgesehen.«
So redeten sie hin und her. Glücklicherweise gab es allerlei zu sagen, was mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun hatte. Es war Fred, der schließlich den Mut fand, auf das Wesentliche zu kommen. »Ich möchte dir danken, dass du bereit warst, mir Thomas anzuvertrauen, Jutta. Ich habe es eigentlich nicht verdient nach allem, was ich dir angetan hatte.«
»Ach, Fred …«
»Ich bin so froh, dass du wenigstens mit mir sprechen willst«, fuhr er fort. »Herr Luchs deutete an, du willst Thomas …«
»Fred, es war grausam von mir, dass ich ihm vorgelogen habe, er besitze keinen Vater. Ich schäme mich jetzt deswegen.«
»Die Schuld lag bei mir, Jutta.«
Sie schauten einander an. Plötzlich wussten sie, dass diese Unterredung nicht in erster Linie um Thomas gehen würde.
»Es ist schon so lange her, Fred. Ich habe dir nichts vorzuwerfen – mein eigenes Verhalten war falsch.«
Er trat auf sie zu und legte die Hände auf ihre Schultern. »Jutta – könnte es jetzt noch eine – eine Verständigung geben? Ich war entsetzlich einsam in diesen Jahren. Aber ich habe es nie gewagt, mich dir zu nähern.«
Sie lächelte. »Ach, Fred …« Ihr schöner Plan war nutzlos geworden. Vergeblich versuchte sie, sich an die Worte zu erinnern, die sie sich so sorgsam überlegt hatte.
Sanft zog er sie zu sich heran. Sie wehrte sich nicht, als er die Arme um sie legte und sie küsste. »Willst du es noch einmal mit mir versuchen, Jutta?«, bat er.
»Ja, Fred. Wir werden beide Geduld haben müssen. Doch ich glaube, es wäre die beste Lösung – auch für Thomas. Er braucht seine beiden Eltern.«
»Ich liebe dich, Jutta. Dass ich dir das nun endlich sagen darf.«
*
Doch sollte dieser Sonntag nicht schattenlos zu Ende gehen. Zwar hatten Fred und Jutta Harder sich ausgesöhnt, doch stießen sie bei Thomas auf unerwarteten Widerstand.
Die fröhliche Eröffnung, dass der angebliche Onkel in Wirklichkeit sein Vater sei, brachte Thomas innerlich restlos durcheinander. Er begann zu weinen, stampfte mit dem Fuß auf und warf seiner Mutter vor, sie habe ihn angelogen. Aber auch der Vater sei ein Schwindler. Er wollte mit seinen Eltern nichts mehr zu tun haben und in Sophienlust bleiben.
Thomas regte sich so sehr auf, dass Schwester Regine ihn zu Bett bringen musste, wo er sich in den Schlaf weinte. Ratlos suchten Fred und Jutta Harder Denise von Schoenecker auf. Was sollten sie nun tun? Ein bitterer Tropfen war in den süßen Becher ihres wiedergefundenen Glücks gefallen.
»Thomas war überfordert, fürchte ich«, sagte Denise begütigend. »Sie selbst waren ganz erfüllt von Ihrer Freude und haben es nicht für möglich gehalten, dass die unvermutete Konfrontation mit einem Vater, der bis dahin angeblich nicht existiert hatte, Thomas erschrecken musste.«
»Aber wir möchten den Jungen nicht in Sophienlust lassen, so gut er hier auch aufgehoben sein mag, Frau von Schoenecker. Er gehört zu uns. Ist es zu spät, dass wir uns darauf besonnen haben?«, fragte Fred Harder mutlos.
»Ich glaube, Sie müssen ein wenig Geduld aufbringen, Herr Harder. Thomas wird sich an den Gedanken sicherlich gewöhnen. Sie haben doch seinerzeit bei Ihrem Besuch hier in Sophienlust sogleich den besten Kontakt zu ihm gefunden.«
»Habe ich jetzt das Vertrauen meines Jungen verloren?«, fragte Jutta mit Tränen in den Augen.
»Thomas liebt Sie. Seine Liebe wird diese Belastung ertragen. Er wird Ihnen sicherlich verzeihen. Drängen Sie ihn nicht zu sehr. Lassen Sie ihm Zeit, liebe Frau Harder. Etwas anderes kann ich Ihnen heute nicht sagen.«
Fred hielt Juttas Hand. »Es macht mich traurig, dass es so gekommen ist«, sagte er tonlos. »Schließlich ist es meine Schuld.«
»Nein, ich trage die Schuld, Fred. Thomas wusste nichts von dir. Nur so kam die jetzige Situation zustande.«
Als Fred Harder endlich abfuhr, war es bereits dunkel geworden. Jutta nahm ihm das Versprechen ab, dass er am nächsten Morgen sogleich anrufen werde, damit sie erfahre, ob er sicher in Stuttgart angekommen sei. »Seit Jahren hat sich niemand um mich Sorgen gemacht«, meinte Fred und küsste sie ein letztes Mal. »Ich werde anrufen. Verlass dich darauf. Und ich werde mich erkundigen, wie wir unsere Ehe so schnell wie möglich erneuern können.«
»Ja, Fred. Ich warte hier in Sophienlust.«
Jutta ging hinauf ins Zimmer ihres Jungen und betrachtete sein im Schlaf gelöstes Gesicht, das sie so stark an das ihres Mannes erinnerte. »Versteh uns doch, kleiner Thomas«, flüsterte sie. »Wir haben dich beide sehr lieb.«
*
Nick nahm sich Thomas vor. Es war nun kein Geheimnis mehr, dass seine Eltern sich ausgesöhnt hatten. Obwohl Nick Sophienlust für den schönsten Platz der Welt hielt, fand er, dass Thomas zu seinen Eltern gehörte. Doch Thomas wollte sich nicht von dem großen Jungen belehren lassen. Er blieb unzugänglich und verstockt. Seiner Mutter ging er aus dem Weg und tat, als bemerke er nicht, wie sehr sie darunter litt.
Schließlich nahm Peggy die Angelegenheit in ihre kleinen schokoladenfarbenen Hände.
»Du bist verrückt, Thomas«, schalt sie ihn. »Ich habe mit Onkel Luchs darüber geredet. Er mag deine Mutti und deinen Vati schrecklich gern. Weißt du, Onkel Luchs hat gesagt, dass Erwachsene manchmal etwas Falsches machen, genau wie Kinder. Aber man darf es Ihnen nicht übel nehmen. Dein Vati war doch hier, weil er dich lieb hat.«
»Er hätte mir aber sagen müssen, wer er ist. Ich finde es gemein.«
»Aber du mochtest ihn gut leiden.«
»Klar, ich finde ihn überhaupt prima.« Fast gegen seinen Willen gab er das zu.
»Na also. Du weißt jetzt, dass deine Eltern sich zerstritten hatten. Musst du ihnen denn nun auch noch Ärger machen?«
Thomas zögerte. Er fragte umständlich, was sein geliebter Onkel Luchs noch alles gesagt habe. Schließlich fasste ihn Peggy bei der Hand und führte ihn nach Swasiland, wo sie nicht nur Onkel Luchs, sondern auch Jutta Harder antrafen. Eigentlich hatte Peggy den Schriftsteller bitten wollen, Thomas die Sache noch einmal gründlich zu erklären. Doch nun kam es anders. Der Junge lief auf seine Mutter zu und schlang die Arme um sie, fest, sehr fest.
Peggy hatte das Eis gebrochen. Sie schaute Onkel Luchs nur an und nickte ihm zu.
*
Einige Wochen später wurden Jutta und Fred Harder wieder getraut. Als sie Thomas von Sophienlust abholten, regnete es so stark wie an jenem Tag, an dem Eugen Luchs den kleinen Findling gebracht hatte.
»Viel Glück«, wünschten die Kinder, die Schirme aufgespannt hatten und trotz des schlechten Wetters ein Abschiedslied sangen.
Eugen Luchs hielt seinen großen Schirm zum Einsteigen über die geöffnete Autotür. »Sie müssen uns bald mit Peggy besuchen«, bat Jutta.
Der Schriftsteller versprach es. Schließlich hatte er oft genug in Stuttgart zu tun.
Nick schob den Arm unter den seiner Mutter. »Weißt du, Mutti, ich hätte wirklich auf den Doktor getippt«, gestand er. »Aber so ist es eigentlich am schönsten.«