Читать книгу Sophienlust Staffel 17 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 9
Оглавление»Nein, ist hoffnungslos. Kann nicht mehr gesund werden«, flüsterte eine fremde Stimme in gebrochenem Deutsch.
»Aber … wollen Sie damit andeuten … Soll das heißen, dass sie …, dass sie sterben muss?«, fragte eine zweite Stimme, die lauter und aufgeregt klang und der Kranken irgendwie vertraut vorkam.
Ilse Reiter wartete auf die Antwort der ersten Stimme, die ihr ungeheuer wichtig vorkam, ohne dass sie genau wusste, warum. Doch es kam keine Antwort. Schweigen lastete in dem Raum, das nur hin und wieder von einem leisen Schluchzen unterbrochen wurde.
Ilse Reiter bemühte sich, ihre Augen zu öffnen. Es fiel ihr unsagbar schwer, aber es gelang ihr schließlich. Trotzdem konnte sie ihre Umgebung nicht wahrnehmen. Graue Nebelschwaden wallten auf sie zu und schienen ihr das Atmen zu erschweren. Ein undefinierbarer Druck lastete auf ihrer Brust. Sie wollte sich bewegen, aufstehen, weggehen, aber das war unmöglich. Was war nur geschehen?
»Ich träume. Es ist ein Alptraum«, murmelte sie kaum vernehmbar.
Plötzlich sah sie, dass sich ein bekanntes Gesicht über sie beugte. Es war nur durch einen dünnen Schleier von ihr getrennt.
»Martha?«, flüsterte die Kranke fragend. »Martha, wo kommst du her? Wo bin ich? Was ist denn los?«
Martha Kern war nicht imstande, der Kranken eine Antwort zu geben. Sie schüttelte nur verzweifelt den Kopf, während Tränen über ihre Wangen flossen.
»Martha, so sag mir doch, was passiert ist!«, flehte die Kranke. Obwohl sie noch immer nicht völlig bei Bewusstsein war, war ihr doch klar geworden, dass es sich nicht nur um einen bösen Traum handelte. Nein, das hier war Wirklichkeit, schreckliche Wirklichkeit. Sie lag in einem fremden Bett, das in einem fremden Zimmer stand.
Bei dem angestrengten Bemühen, sich zu erinnern, runzelte Ilse die Stirn. Wo befand sie sich? Wieso war Martha bei ihr und weinte? Martha hatte sie doch zusammen mit Stefan zum Flugplatz begleitet. Stefan hatte ihnen nachgewinkt. Er war ein wenig traurig gewesen, weil er nicht hatte mitkommen dürfen. Er hatte ihr leidgetan. Im letzten Augenblick hatte sie bereut, dass sie und ihr Mann beschlossen hatten, Stefan bei seiner Schwester zu lassen. Aber Erwin war der Meinung gewesen, dass Stefan noch zu klein für eine Flugreise sei und dass ihn der Urlaub in Griechenland nur langweilen würde. Natürlich hatte Erwin recht gehabt – und sie hatte nachgegeben und ihren Sohn der Schwägerin anvertraut. Aber wieso war Martha plötzlich hier?
»Wo ist Stefan?«, fragte Ilse mit schwankender Stimme.
»Er ist zu Hause. Es geht ihm gut. Ich konnte ihn doch nicht hierher mitnehmen?«, erwiderte Martha.
Hierher? Was meinte Martha damit? Es gelang Ilse nicht, ihre Gedanken zusammenzuhalten. Sie flatterten davon und ließen nur eine öde Leere in ihrem Kopf zurück. Ilse schloss die Augen, doch die angstvollen Rufe ihrer Schwägerin riefen sie noch einmal ins Bewusstsein zurück.
»Ilse! Ach, Ilse, was soll ich nur machen? Ach, wenn nur dieses entsetzliche Unglück nicht geschehen wäre!«
Ein entsetzliches Unglück? Wovon sprach Martha eigentlich? Wenn sie nur endlich gehen und sie schlafen lassen würde.
»Ilse! Bitte! Du darfst nicht … Du darfst uns nicht verlassen, hörst du mich?«
Verlassen? Wieso verlassen? Sie war doch nur mit Erwin in den Urlaub gefahren. An den Abflug konnte sie sich noch genau erinnern. Da war Stefans rührende kleine Gestalt gewesen, das weiße zerknitterte Taschentuch, das er fest umklammert hatte, um seinen Eltern damit zu winken.
Und dann hatte sich das Flugzeug vom Boden abgehoben. Erwin hatte nach ihrer Hand gegriffen und sie fest gedrückt. »Endlich ist es so weit«, hatte er ihr zugeflüstert. »Seit Jahren freue ich mich auf diesen Moment. Der erste gemeinsame Urlaub seit unserer Hochzeitsreise.«
»Aber Stefan …«, hatte Ilse zögernd eingewandt.
»Martha wird gut für ihn sorgen …« Aus dem Zusammenhang gerissen hämmerten diese Worte in Ilses Gehirn. Ihre Sinne umnebelten sich wieder. Es war ihr nicht möglich, klar zu denken. Martha war hier, wusste sie, sie saß neben ihrem Bett, aber wieso? Und wo war Erwin? Er sollte doch bei ihr sein. Er war immer da, wenn sie ihn brauchte. Wo war er jetzt?
»Erwin?«, hauchte die Kranke ängstlich fragend.
Martha rang um Beherrschung, aber sie konnte nicht verhindern, dass ihr die Tränen über die Wangen liefen. Als Antwort auf Ilses Frage schüttelte sie nur stumm den Kopf.
Die Blicke der Kranken waren inzwischen etwas klarer geworden. Sie wanderten in dem kahlen Raum umher, glitten über die hellgrün gestrichenen Wände und blieben am Fußende des Bettes hängen.
»Ein Krankenhaus. Ich liege in einem Krankenhaus«, murmelte Ilse. Sie brauchte Marthas Bestätigung nicht mehr abzuwarten, mit einem Schlag war die Erinnerung zurückgekehrt. Es nützte nichts, sie zu verdrängen. Die schrecklichen Sekunden, als das Flugzeug bei der Landung über die Landebahn hinausgerollt und zerschellt war, waren fest in ihr Gedächtnis eingebrannt. Sie vermeinte von Neuem das Krachen und die Schreie zu vernehmen. Dann war ein plötzlicher Schmerz dagewesen, und sie hatte das Bewusstsein verloren.
»Erwin. Ist er …, ist er tot?«, fragte Ilse.
»Nein. Aber sein Zustand ist …« Martha brach ab. Irgendetwas in ihr weigerte sich, das Wort hoffnungslos auszusprechen. »Er ist noch nicht zu sich gekommen«, sagte sie stattdessen.
Ilse schwieg, und Martha wusste nicht, was sie sagen sollte. Einen Tag nach Bekanntwerden des Unglücks war sie nach Athen geflogen. Es hatte weitere vierundzwanzig Stunden gedauert, bis man sie zu ihrer Schwägerin gelassen hatte. Einen Besuch bei ihrem Bruder hatte man ihr verweigert. Sie hatte eine deutsch sprechende Krankenschwester aufgetrieben, und diese hatte schließlich ihrem Drängen nachgegeben und sie mit Erlaubnis des Arztes in Ilses Zimmer geführt. Vorher hatte ihr die Schwester jedoch alle Hoffnungen, die sie noch gehegt hatte, genommen. Erwin Reiter lag im Sterben – und seiner Frau ging es nicht viel besser.
Nach dem ersten Blick, den Martha auf Ilse geworfen hatte, hatte sie erkannt, dass die Krankenschwester nicht gelogen hatte. Ob ihre Schwägerin ahnte, wie es um sie stand? Martha fürchtete eine diesbezügliche Frage. Sie würde nicht die Kraft haben, sie zu beantworten.
Doch Ilse dachte nicht an sich, sondern an ihren Mann. »Wenn Erwin stirbt, ist alles sinnlos«, hauchte sie. »Dann will auch ich nicht länger leben.«
»O Ilse! Bitte! Du darfst nicht so reden«, stöhnte Martha.
»Ich werde sterben. Ich weiß es«, sagte Ilse tonlos. »Vorhin, als du hereinkamst, da war noch jemand im Zimmer.«
»Die Krankenschwester?«
»Ja. Hat sie nicht gesagt, dass ich nicht mehr gesund werden kann?«
»Du irrst dich. Du musst dich verhört haben«, widersprach Martha allzu hastig.
Ilse seufzte, und Martha fragte rasch: »Hast du Schmerzen? Kann ich etwas für dich tun? Soll ich nach der Schwester läuten?«
»Nein. Ich habe keine Schmerzen.« Trotz dieser Versicherung zog Ilse die Brauen zusammen, während Martha sie mit klopfendem Herzen beobachtete. »Vielleicht kann der Arzt dir eine Injektion …«
»Nein, nein«, unterbrach Ilse ihre Schwägerin. »Ich habe wirklich keine Schmerzen. Es ist sonderbar, ich fühle überhaupt nichts. Es ist …, es ist so, als ob mein Körper gar nicht vorhanden wäre.«
Martha konnte Ilse nur hilflos ansehen. Sie hätte ihr gern geholfen, aber gleichzeitig wusste sie, dass es keine Hilfe mehr gab.
Ilses Stimme hatte bei den letzten Worten erschöpft geklungen. Martha bemerkte erschrocken, dass sie die Augen wieder geschlossen hatte. Der Atem stockte ihr. »Ilse!«, flüsterte sie drängend. »Was …, was soll aus Stefan werden?«
Bei der Erwähnung ihres Sohnes hoben sich die Augenlider der Kranken noch einmal. Es kostete sie eine ungeheure Anstrengung, aus dem schwebenden Zustand, der sie ergriffen hatte, wieder aufzutauchen, aber da war etwas, was Stefan betraf, etwas, was sie Martha unbedingt anvertrauen musste.
Was sagte Martha eben? Ihre Stimme drang wie aus weiter Ferne zu Ilse.
»… ich werde Stefan bei mir behalten, wenn …, wenn sonst niemand da ist.«
Niemand?
»Du musst dir keine Sorgen wegen Stefan machen«, sprach Martha weiter.
»Stefan wird als Waisenkind zurückbleiben«, murmelte Ilse matt. »Er ist noch so klein«, schluchzte sie. »Erst fünf Jahre alt und ohne Eltern.«
»Ilse …«
»Bitte, unterbrich mich jetzt nicht, Martha.« Ilses ermattete Stimme nahm einen neuen Tonfall an. Sie klang zwar leise, aber entschlossen. »Ich weiß nicht, wie lange ich noch am Leben bleibe, aber ich fürchte – nein, du brauchst mir nichts vorzumachen –, für Erwin und für mich gibt es keine Rettung mehr. Aber Stefan … hör zu, ich muss dir etwas mitteilen. Versprich mir, dass du das tun wirst, worum ich dich bitte.«
»Ich verspreche dir alles, was du willst«, versicherte Martha ernst.
*
»Gib deinem Schatzibuben ein Küsschen«, verlangte Carlo eindringlich.
»Ach, halt den Schnabel«, entgegnete Nina Leskowitsch unwirsch.
»Schatzibub will Küsschen«, wiederholte Carlo.
»Lass den Unsinn«, schimpfte Nina. »Sei endlich still. Ich kann dein Gekrächze nicht mehr hören.«
»Küsschen!«, schrie Carlo aufgebracht. »Schatzibub will Küsschen.«
Nina seufzte. »Hast du denn noch immer nicht begriffen, dass kein Schatzibub mehr da ist, und dass infolgedessen auch niemand mehr Wert auf ein Küsschen von mir legt? Was für dumme Ausdrücke – Schatzibub und Küsschen«, fügte sie hinzu, allerdings leise und mehr zu sich selbst.
»Schatzibub will Küsschen«, forderte der Papagei unverdrossen.
»Ich werde dir den Hals umdrehen, wenn du diese widerlichen Worte noch einmal gebrauchst«, drohte Nina.
Carlo legte den Kopf schief und betrachtete Nina aufmerksam.
»Was siehst du mich so an?«, murrte Nina. »Ich weiß, dass mir die Haare ins Gesicht hängen, dass meine Nase glänzt und dass ich höchst unvorteilhaft aussehe.«
Carlos Sprachschatz war nur beschränkt. Hätte er mehr Worte zur Verfügung gehabt, hätte er Nina gesagt, dass sie sich irrte. Sie sah durchaus nicht unvorteilhaft aus. Ihre braunen Augen waren von dichten schwarzen Wimpern umgeben, sie hatte eine kleine, etwas aufwärts gebogene Nase, Grübchen in den Wangen und strahlend weiße Zähne. Ihre Haare waren lang und an den Spitzen leicht gelockt. Nina Leskowitsch war siebenundzwanzig Jahre alt und seit acht Jahren verheiratet.
Im Moment sah es allerdings so aus, als ob es bei den acht Jahren bleiben würde. Auch wenn Nina es sich nicht einmal sich selbst gegenüber eingestehen wollte, blieb doch die Tatsache bestehen, dass es in ihrer Ehe kriselte.
Im Grunde genommen war es überhaupt nur Ninas großer Toleranz zu verdanken, dass ihre Ehe so lange gehalten hatte. Rudi Leskowitsch hatte sie nämlich laufend betrogen. Anfangs hatte er sich noch bemüht, seine Seitensprünge vor seiner Frau geheim zu halten, aber er hatte Nina nicht lange zu täuschen vermocht. Lange Zeit hatte sie seine Untreue schweigend hingenommen, bis sie sich dann doch eines Tages zu einer Auseinandersetzung aufgerafft und ihm Vorwürfe gemacht hatte.
Rudi hatte sie erstaunt angesehen und dann lachend ausgerufen: »Aber, Nina, mein kleines Dummerchen! Wie kannst du eine derart belanglose Sache ernst nehmen? Glaub mir, dieses törichte Ding bedeutet mir gar nichts. Ich habe sie zufällig aufgelesen und dann war … Mein Gott, ich bin eben auch nur ein Mensch. Aber darüber brauchst du dir keine Gedanken zu machen. Ich liebe nur dich allein. Das solltest du doch wissen.«
Er hatte kein einziges Wort der Reue fallen lassen und ihr auch nicht versprochen, sich zu bessern. Nina hatte das auch nicht verlangt, da sie wusste, dass er ein solches Versprechen niemals halten würde.
Im Stillen musste sie Rudi auch einräumen, dass es ihm die Frauen – sie selbst mit eingeschlossen – allzu leicht machten. Teils lag das an seinem guten Aussehen – er war groß, blond und schlank –, teils an seiner unbekümmerten und charmanten Art. Einem neckenden Blick aus seinen braunen Augen mit den grünen Pünktchen darin konnte Nina niemals widerstehen. Dazu kam noch sein Beruf als Vertreter für Kosmetikartikel, der es ihm leicht machte, Bekanntschaften zu schließen.
Nina hatte resigniert. Sie wusste, Vorwürfe und lange Debatten waren sinnlos. Sie sah ein, dass Rudi sich niemals ändern würde. So hatte sie sich bemüht, das Beste aus ihrer Ehe zu machen. Bis vor einer Woche war das nicht einmal so schwer gewesen. Seltsamerweise schien seine Erklärung, nur sie zu lieben, auf Wahrheit zu beruhen, denn er kehrte immer wieder zu ihr zurück, ohne jemals von den geringsten Anzeichen eines schlechten Gewissens geplagt zu werden.
Nina gegenüber war er aufmerksam und zuvorkommend. Sie hatte niemals Grund, sich über schlechte Laune oder Nörgelei seinerseits zu beklagen. Unangenehme Hausarbeiten, die Nina gern auf die lange Bank schob, nahm er ihr fröhlich pfeifend ab. Ehemalige Schulkolleginnen jammerten manchmal darüber, dass ihre Ehemänner nie Lust zum Ausgehen hätten, sondern lieber daheim herumsaßen und sich und ihre Frauen langweilten. Nina konnte da nicht mitreden. Ihr Rudi war ganz anders. Wenn er sich in Maibach aufhielt, redete er Nina zu, sich hübsch anzuziehen, und schleppte sie von einem Lokal ins andere. Nein, langweilig war Rudi niemals.
Obwohl, oder vielleicht gerade weil er sehr gut verdiente, konnte er mit Geld nicht besonders gut umgehen. Es rann ihm durch die Finger, wobei er allerdings auch Nina mit Geschenken überhäufte und nicht einsehen konnte, dass sie statt eines goldenen Armbandes lieber mehr Wirtschaftsgeld gehabt hätte.
Deshalb hatte Nina nicht lange gezögert, ihren alten Beruf als Blumenbinderin wieder aufzunehmen. Sie arbeiteten in einem eleganten Geschäft in Maibach, und die Arbeit machte ihr Freude. Sie tat nicht nur ihrer Geldbörse, sondern auch ihren Nerven gut, die durch Rudis Eskapaden doch ziemlich beansprucht wurden.
So lebte sie dahin, erstaunlich ruhig und ausgeglichen. Sie war nicht wirklich glücklich, aber hätte sie jemand als unglücklich bezeichnet, hätte sie entschieden widersprochen. Gewiss, Rudi ließ keine Gelegenheit zu einem Seitensprung ungenützt – aber welcher Mensch war schon fehlerfrei? Nina tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie schließlich nicht wusste, was die anderen Männer so trieben. Sie hatte wenigstens die Gewissheit, dass ihr Rudi immer wieder zu ihr zurückkehren würde.
Das hatte sie jedenfalls bis vor drei Tagen fest geglaubt. Doch letzten Mittwoch – genauer gesagt, Donnerstag, denn der Streit hatte von elf Uhr abends bis zwei Uhr früh angedauert – war sie eines Besseren belehrt worden.
Rudi hatte sich schon ein paar Tage hindurch eigentümlich benommen, war aber Ninas teilnehmenden Fragen stets ausgewichen. Er hatte niedergeschlagen und missgestimmt gewirkt.
»Fehlt dir etwas? Soll ich einen Arzt rufen?«, hatte Nina besorgt gefragt, sich jedoch nur Rudis Zorn zugezogen.
»Lass mich in Frieden!«, hatte er sie angezischt.
Nina war erschrocken zurückgewichen. Ein derartiges Benehmen war sie von Rudi nicht gewohnt.
Trotzdem hatte sie nicht so schnell aufgeben wollen. »Kann ich dir denn irgendwie helfen?«, hatte sie sich erkundigt. »Du bist so anders als sonst. Ist etwas Unangenehmes vorgefallen? Du weißt doch, dass du mir vertrauen kannst.«
Rudis mürrische Miene war verschwunden. Er hatte Nina an sich gezogen und ihr zugelächelt. »Es ist nichts«, hatte er sie zu beruhigen versucht. »Vielleicht bin ich ein wenig überarbeitet.«
»Überarbeitet?« Nina hatte die Bemerkung, die ihr auf der Zunge gelegen hatte, schnell hinuntergeschluckt, um Rudi nicht neuerlich zu verärgern. Rudi hatte bisher nie unter Stress gelitten. Die Bemerkung, dass er überarbeitet sei, passte einfach nicht zu ihm.
»Brauchst du …, bist du in Geldschwierigkeiten?«, hatte sie gefragt.
»Nein, nein, es handelt sich nicht um Geld. Wenigstens … Ach, frag mich nicht. Komm, zieh dich um. Nimm das rosa Tanzkleid, das dir so gut steht. Ich kenne ein nettes Lokal, das erst vor Kurzem eröffnet wurde.«
Nina hatte sich seinen Wünschen gebeugt und ihr dunkelrosa Georgettekleid angezogen, dessen breiter Gürtel ihre schmale Taille vorteilhaft zur Geltung brachte. Dazu hatte sie ein Paar Goldsandalen mit hohen Absätzen gewählt.
Doch leider war der Abend kein Erfolg geworden. Rudi schien zwar seine Sorgen abgestreift zu haben, aber sein jugendhaftes, unbekümmertes Lachen hatte in ihren Ohren irgendwie gekünstelt geklungen. Irgendetwas schien nicht in Ordnung zu sein.
»Ich halte das nicht länger aus«, hatte sie schließlich erklärt. »Sag mir endlich, was los ist.«
»Nichts ist los.«
»Das glaube ich nicht …«
»Pst! Willst du mir hier vor allen Leuten eine Szene machen?«
Ohne Ninas Einverständnis abzuwarten, hatte er den Kellner herbeigerufen, gezahlt und das Lokal verlassen.
»Rudi! Was ist denn in dich gefahren?«
»Du gehst mir auf die Nerven«, hatte er kalt erwidert.
So hatte der Streit begonnen, der drei Stunden angehalten und damit geendet hatte, dass Rudi seine Koffer gepackt und die gemeinsame Wohnung verlassen hatte.
Inzwischen waren drei Tage vergangen, in denen Nina wie betäubt herumgelaufen war. Die Arbeit im Geschäft verrichtete sie seitdem mechanisch. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie ihr gleichgültig. Sie konnte sich an den Blumen nicht erfreuen.
Wenn sie dann nach Hause kam, wurde sie stets von Verzweiflung ergriffen. Acht Jahre lang habe ich beide Augen zugedrückt, und was hat es mir gebracht?, dachte sie voll Bitterkeit. Nun ist das eingetreten, was ich mir nie hatte vorstellen können – Rudi hat mich endgültig verlassen.
Sei froh, raunte eine innere Stimme ihr zu, er hat dich ja nur ausgenutzt. Er ist leichtsinnig und unverlässlich, du bist ohne ihn besser dran. Wie konntest du nur so dumm sein und glauben, dass er bei dir bleiben würde? Die Vernunft hätte dir sagen müssen, dass es eines Tages so kommen musste. Er hat eben eine andere gefunden, die ihm mehr bedeutet.
Nina seufzte laut auf. Das Schlimme war, dass sie ihn liebte und ihn nicht würde vergessen können. Sie hatten jung geheiratet. Sie selbst war neunzehn gewesen und Rudi nur drei Jahre älter. Zum Unterschied von ihm war sie ihm immer treu gewesen. Kein anderer Mann hatte je für sie existiert.
Während Nina diesen trüben Überlegungen nachhing, meldete sich Carlo mit einer neuen Version: »Rudischatz will Küsschen«, krächzte er.
Nina fuhr erschrocken auf und warf dann dem grünen Papagei, der in seinem Käfig auf der Stange hockte und sie immer noch aufmerksam beäugte, einen bösen Blick zu.
»Schau mich nicht so boshaft an«, warf sie ihm vor. Das war ungerecht, denn Carlo wusste natürlich nicht, dass er sozusagen in Ninas frischen Wunden wühlte, wenn er Ausdrücke wiederholte, die Rudi ihm beigebracht hatte.
Rudi hatte sich oft und gern mit Carlo beschäftigt. Es hatte ihm Spaß gemacht, den Vogel zum Sprechen zu bringen. Gerade deshalb aber erinnerte sie der Papagei zu stark an ihren treulosen Mann. Deshalb drehte sie ihm den Rücken zu und kümmerte sich nicht mehr um ihn.
Als Nina aber nach zwei Tagen bemerkte, dass Carlo apathisch am Boden des Käfigs saß und sich weigerte zu fressen, regte sich Besorgnis in ihr. Sie redete ihm gut zu, aber Carlo reagierte nicht. Nun war Nina ratlos. Wenn Carlo weiterhin sein Futter verschmähte, würde er verhungern. Sie beschloss, sofort einen Tierarzt zu Rate zu ziehen.
Nina stellte den Käfig samt Carlo auf den Rücksitz ihres Wagens und fuhr nach Bachenau zu Dr. von Lehn.
Es war bereits Abend geworden, doch Nina hatte Glück. Der Tierarzt war zu Hause und hörte sich Ninas Bericht über Carlos Fressunlust geduldig an. Dann untersuchte er den Papagei.
»Ich kann nichts feststellen«, meinte Dr. Hans-Joachim von Lehn schließlich. »Carlo scheint gesund zu sein.«
»Aber er will nicht fressen!«, rief Nina. »Ich habe Angst, dass er verhungert. Außerdem ist er sonst lebhafter. Seit zwei Tagen hat er nichts mehr geredet.«
Wie um Nina Lügen zu strafen, krächzte Carlo: »Rudischatz will Küsschen!«
Nina errötete. »Er spricht von meinem Mann«, murmelte sie verlegen. »Vielleicht …, vielleicht ist der arme Carlo traurig, weil Rudi nicht mehr bei uns ist. Er hat sehr an ihm gehangen. Ich fürchte, ich war zu unfreundlich zu Carlo. Der Arme kann ja schließlich nichts dafür.«
Obwohl Dr. von Lehn diese kurze Rede etwas verworren fand, stellte er keine Frage. Entweder war Carlos Herrchen verstorben – dann allerdings hätte Frau Leskowitsch kaum ein hellgelbes Kostüm, sondern eher Trauerkleidung getragen – oder er hatte sich von Frau und Papagei getrennt. Dr. von Lehn war der Meinung, dass ihn das nichts anging. Anders verhielt es sich hingegen mit Frau Leskowitschs Besorgnis um Carlo. Da musste er Abhilfe schaffen.
»Wie wäre es, wenn ich Carlo bis morgen zur Beobachtung hierbehalten würde?«, fragte er.
Nina war damit einverstanden und dankte dem Tierarzt.
Bei Andrea von Lehn rief Carlos Anwesenheit helles Entzücken hervor. »Ein Papagei!«, rief sie begeistert aus, als sie Carlo sah. »Behalten wir ihn? Soll er bei uns im Tierheim bleiben?«
»Nur bis morgen Abend«, dämpfte ihr Mann ihren Enthusiasmus.
»Schade. Wo hast du ihn her, Hans-Joachim?«
Dr. von Lehn erzählte seiner Frau nun von Nina Leskowitschs Besuch und deren Bedenken hinsichtlich Carlo. »Allem Anschein nach hat der Vogel sein Herrchen verloren und trauert ihm nach«, schloss er.
»Wir werden Carlo schon dazu bringen, Futter anzunehmen«, meinte Andrea zuversichtlich. »Aber du hättest Frau Leskowitsch sagen sollen, dass sie Carlo erst in einer Woche abholen soll.«
»Warum denn?«
»Ich hätte ihn gern den Kindern von Sophienlust vorgeführt. Sie hätten ihre Freude an ihm gehabt. Ob er reden kann?«
»O ja, nur weiß ich nicht, wie man ihn dazu bringt.«
»Vielleicht muss man ihm immer die gleichen Wörter vorsagen«, mutmaßte Andrea. »Ich will es einmal versuchen. Sag ›Hans-Joachim‹, Carlo, ›Hans-Joachim‹. Sie wiederholte den Namen ihres Mannes noch einige Male und bemühte sich, laut und deutlich zu sprechen.
Carlo sah sie neugierig an, gab jedoch keinen Ton von sich.
»Lass es bleiben«, riet Hans-Joachim seiner Frau. »Er will nicht. Außerdem lege ich gar keinen so besonderen Wert darauf, meinen Namen aus dem Schnabel eines Papageis zu hören, Andrea.«
»Andrea«, schnarrte Carlo, wobei er Hans-Joachims Tonfall ziemlich genau wiedergab.
Andrea klatschte vor Begeisterung in die Hände. »Brav, Carlo, brav«, lobte sie. »Ach, es ist zu dumm, dass dich Nick, Henrik und die Kinder von Sophienlust nicht hören können. Du würdest einen prächtigen Spielgefährten für sie abgeben.«
Hans-Joachim lächelte über Andreas naive Freude und meinte dann: »Lade doch die Kinder für morgen Nachmittag ein. Frau Leskowitsch holt Carlo ja erst am Abend. Die Kinder hätten also genügend Zeit, mit ihm zu spielen.«
Andrea fand Hans-Joachims Idee ausgezeichnet. Sie eilte sofort zum Telefon, um trotz der vorgeschrittenen Stunde im Kinderheim Sophienlust anzurufen. Ihre Stiefmutter Denise von Schoenecker, die für ihren Sohn Dominik das Kinderheim verwaltete, war nicht mehr anwesend. Die Heimleiterin, Frau Rennert, nahm Andreas Anruf entgegen.
»Ich weiß, dass es eine sehr kurzfristige Einladung ist«, entschuldigte sich Andrea, »aber Carlo bleibt nur einen Tag bei uns.«
»Wer ist Carlo?«, erkundigte sich Frau Rennert.
»Das möchte ich nicht sagen. Ich meine, es soll eine Überraschung sein«, äußerte Andrea ziemlich geheimnisvoll.
Obwohl Frau Rennert also nichts Genaues über Carlos Persönlichkeit erfuhr, gab sie doch ihre Einwilligung für den Besuch der Kinder in Bachenau.
*
Erwartungsvoll machten sich die Kinder am nächsten Tag auf den Weg.
»Wer Carlo wohl sein mag? Was denkst du, Nick?«, fragte Henrik von Schoenecker, Denises Sohn aus zweiter Ehe, seinen Halbbruder Dominik.
»Ich weiß nicht mehr als du. Aber ich bin schon sehr neugierig«, erwiderte der sechzehnjährige Dominik, genannt Nick.
»Ich auch, ich auch!«, riefen die übrigen Kinder.
»Er muss etwas Besonderes sein, da Andrea so geheimnisvoll tut«, vermutete Henrik.
Henrik und die anderen Kinder wurden nicht enttäuscht. Carlo war für sie wirklich eine Attraktion. Inzwischen hatte Andrea dem Papagei nicht nur zum Fressen, sondern auch dazu gebracht, unablässig Hans-Joachim zu schreien, was Dr. von Lehn mit belustigter Nachsicht quittierte.
»Carlo ist sehr gelehrig«, informierte Andrea ihre kleinen Besucher, die sich, nachdem sie das gehört hatten, sogleich daran machten, Carlo ihre eigenen Namen beizubringen.
Hans-Joachim sah sich zum Einschreiten veranlasst. »Ihr verwirrt den armen Vogel«, meinte er. »Selbst der klügste Papagei kann unmöglich zwanzig Namen auf einmal lernen.«
»Aber Carlo freut sich doch«, erwiderte Henrik. »Siehst du nicht, wie interessiert er an uns ist?«
Das stimmte. Carlo schien die Aufmerksamkeit, die ihm zuteil wurde, zu genießen.
Das Eintreffen Nina Leskowitschs bereitete dem ein Ende. Nina wunderte sich über die fröhliche Kinderschar, von der sie sofort umringt wurde, bis Andrea sie über die Zusammenhänge aufklärte. »Die Kinder kommen von Sophienlust«, erzählte sie. »Das ist ein Kinderheim in Wildmoos. Es gehört meinem Stiefbruder Dominik. Er und seine Mutter haben es sich zur Aufgabe gemacht, eltern- und heimatlosen Kindern zu helfen. Ich lade die Kinder oft ein. Heute sind sie gekommen, weil ich ihnen unbedingt den Papagei vorführen wollte. Carlo ist übrigens vollkommen gesund. Er hat sich heute brav über seinen Futternapf hergemacht.«
Nina nahm Carlo wieder in Empfang, was von den Kindern mit sehnsüchtigen Blicken beobachtet wurde.
»Schade, dass Sie ihn wieder mitnehmen«, sagte Pünktchen. »Er ist so lieb. Ich beneide Sie um Carlo.«
Nina quittierte diese Bemerkung mit einem wehmütigen Blick. Sie kam sich ganz und gar nicht beneidenswert vor.
Das jüngste Kind, die knapp fünfjährige Heidi, sprach unbekümmert das aus, was sich die älteren Kinder nicht zu sagen getrauten. »Könnten Sie Carlo nicht bei uns lassen?«, bettelte sie. »Brauchen Sie ihn denn unbedingt?«
»Aber, Heidi!«, mahnte Nick. »Wir haben doch in Sophienlust auch einen Papagei …«
»Ja, eben darum. Habakuk würde sich freuen, wenn er einen Gefährten bekommen würde. Die beiden könnten dann miteinander reden.«
»Na, du hast Vorstellungen!«, meinte Nick lachend. »Ich glaube eher, dass sie aufeinander loshacken würden.«
»Nein! Wie kannst du so schlecht über unseren guten Habakuk denken? Und Carlo ist bestimmt ebenfalls ein braver Vogel.«
»Ja, sicher. Aber er gehört nicht uns, sondern Frau Leskowitsch.«
Nina räusperte sich verlegen. »Eigentlich gehört er nicht mir«, sagte sie leise. »Wenn das der Fall wäre, würde ich euch Carlo gern schenken, aber er gehört meinem Mann. Ich darf sein Eigentum nicht weggeben, jedenfalls nicht, bevor ich sicher bin …« Der Rest des Satzes verlor sich in undeutlichem Gemurmel. Nina schämte sich. Tief in ihrem Innersten hatte sie die Hoffnung, dass Rudi wieder zurückkommen würde, noch nicht aufgegeben.
Nina verabschiedete sich von dem Ehepaar von Lehn und den Kindern. Da sich ihre Sorge um Carlo als unbegründet erwiesen hatte, hätte sie froh sein müssen, doch sie fühlte sich zutiefst niedergeschlagen.
Der Anblick der Kinder, insbesondere der kleinen Heidi, hatte wehmütige Gefühle in ihr erweckt. Ich bin siebenundzwanzig und war acht Jahre verheiratet, dachte sie. Ich könnte ohne weiteres ein Kind in Heidis Alter haben. Es wäre so schön, für ein Kind sorgen zu dürfen. Aber Rudi wollte ja nie Kinder haben.
Nina seufzte. Sie war gezwungen sich einzugestehen, dass Rudi ihrem Kind kein guter Vater gewesen wäre. Er war viel zu sprunghaft und immer auf seine eigenen Vergnügungen bedacht. Außerdem hätte sie ihre Arbeit aufgeben müssen, und die Folge davon wäre finanzielle Bedrängnis gewesen, denn Rudi hätte sich kaum eingeschränkt.
Aber vielleicht hätte ein Kind ihn geändert und ihn zu Seßhaftigkeit gebracht? Nina zuckte mit den Schultern. Es war müßig, solchen Gedanken nachzuhängen. In ihrer derzeitigen Situation war sie kinderlos am besten dran.
Leider trug diese Feststellung nicht dazu bei, Nina aufzuheitern. Ziemlich bedrückt und müde langte sie in Maibach an.
Auf dem Treppenabsatz, der zu ihrer Wohnung führte, sah sie einen kleinen Jungen sitzen. Sie wunderte sich ein wenig, denn der Junge war ihr fremd. Die Kinder der übrigen Hauspartien kannte sie zumindest vom Sehen.
»Grüß Gott«, sagte der Junge, als Nina an ihm vorüberging.
Nina erwiderte seinen Gruß und schickte sich an, die Wohnungstür aufzusperren, wobei sie Carlos Käfig auf den Boden stellte.
Der Junge war Nina gefolgt und versuchte seine Hand durch das Gitter des Käfigs zu zwängen, um Carlo zu streicheln. Der Papagei schlug aufgeregt mit den Flügeln.
»Nicht«, warnte Nina, »du erschrickst ihn.«
Etwas widerwillig zog der Junge seine Hand zurück und fragte: »Wann kommt endlich mein Vati?«
»Dein Vati? Woher soll ich das wissen? Ich kenne deinen Vati doch nicht«, erwiderte Nina verwirrt.
»Aber Sie müssen ihn kennen. Wenn das hier Ihre Wohnung ist, dann müssen Sie auch meinen Vati kennen. Tante Martha hat gesagt, er kommt hierher.«
»Das hier ist meine Wohnung. Trotzdem ist mir dein Vati gänzlich unbekannt. Er kommt bestimmt nicht hierher. Deine Tante Martha hat sich wahrscheinlich geirrt.«
»O nein, sie hat Ihr Türschild gelesen und gesagt: ›So, hier sind wir richtig.‹ Dann hat sie geläutet. Aber es hat niemand aufgemacht«, schloss der Junge anklagend.
»Es war niemand daheim. Aber ich verstehe das trotzdem nicht. Es muss eine Verwechslung vorliegen. Ich wohne allein hier. Mit deinem Vati habe ich wirklich nichts zu tun.«
»Aber …, aber …, was …, wo soll ich denn hin?« Die Worte kamen nur stoßweise über die Lippen des Jungen, während er von einem krampfhaften Schluchzen geschüttelt wurde.
Nina war ratlos. »Komm erst einmal in meine Wohnung«, bat sie. »Irgendwie werden wir die Sache schon aufklären. Du brauchst nicht zu weinen. Wir werden bald herausbekommen, wo dein Vati ist und wie wir ihn finden könnten.«
Immer noch schluchzend folgte ihr das Kind in den Vorraum, während Nina die Deckenbeleuchtung anknipste. Dann drehte sie sich um und hätte vor Schreck beinahe den Käfig mit Carlo fallengelassen.
Draußen im Stiegenhaus war es ziemlich dunkel gewesen, aber nun im hellen Vorzimmer, sah sie zum ersten Mal das Gesicht des fremden Buben mit aller Deutlichkeit. Es war ein hübsches Gesicht, mit regelmäßigen Zügen, einer wohlgeformten Nase und braunen Augen mit grünen Pünktchen darin. Der blonde Haarschopf war etwas struppig und schien sich nur schwer bändigen zu lassen.
Der Junge glich ihrem Mann bis aufs Haar!
Vorsichtig setzte Nina Carlos Käfig auf das Schuhkästchen und fragte dann den Jungen mit heiserer Stimme: »Wie heißt du?«
»Stefan Reiter.«
»Und dein Vati? Wie heißt dein Vati?« Atemlos wartete Nina auf die Antwort.
»Mein Vati heißt Erwin Reiter«, erwiderte Stefan arglos.
»Erwin Reiter?« Nina schüttelte den Kopf. Sie hatte eine andere Antwort erwartet. »Das ist sonderbar. Ich kann daraus nicht klug werden. Jedenfalls hast du mir einen schönen Schrecken eingejagt.«
Stefan kümmerte sich nicht um Ninas Worte, sondern kam wieder auf den Ausgangspunkt zurück. »Wann kommt nun mein Vati?«, fragte er.
»Das weiß ich nicht. Ich weiß überhaupt nicht …« Nina riss sich zusammen. Sie durfte nicht den Kopf verlieren. Der Junge würde sonst erneut zu weinen beginnen.
»Wir wollen uns ins Wohnzimmer setzen«, schlug sie vor. »Und dort wirst du mir dann der Reihe nach erzählen, wie du hierhergekommen bist. Also – wie war das mit deiner Tante?«
»Tante Martha ist mit mir hierhergefahren. Sie hat mir versprochen, mich zu meinem Vati zu bringen. Aber weil niemand die Tür aufmachte, ist sie ungeduldig geworden. Sie hatte Angst, dass sie den Zug versäumt.«
»Den Zug versäumt?«
»Ja. Sie wollte doch heute wieder nach Hause fahren. Sie hat gesagt, dass sie Onkel Franz nicht so lange allein lassen will. Sie wird ja ohnedies erst morgen wieder zu Hause sein.«
»Erst morgen?«
»Ja, weil es so weit ist. Wir sind stundenlang mit der Eisenbahn gefahren, und Tante Martha hat geschimpft und gesagt, dass sich dieser Aufwand für mich gar nicht lohnt.«
»Oh! Von wo seid ihr denn gekommen? Ich meine, wie lautet deine Adresse?«
»Meine Adresse? Was ist das?«
»Wo wohnst du?«
»In Wien in einer Straße.«
»In Wien in einer Straße«, echote Nina fassungslos. »Wie heißt die Straße?«
»Das weiß ich nicht. Vati und Mutti wohnen mit mir in einer anderen Straße als Tante Martha«, fügte der Junge noch erklärend hinzu.
Nina hatte das Gefühl, verrückt zu werden. »Wenn dein Vati und deine Mutti in Wien wohnen, warum ist dann deine Tante mit dir nach Maibach gefahren und hat gesagt, dass dein Vati hier ist?«
»Mein Vati und meine Mutti sind auf Urlaub gefahren.«
»Nach Maibach?«
»Das weiß ich nicht. Sie sind mit dem Flugzeug weggeflogen. Tante Martha war mit mir am Flughafen. Wir haben zugeschaut, als das Flugzeug wegflog. Da war Tante Martha noch lieb zu mir.«
»Und später war sie nicht mehr lieb?«
Stefans Stirn umwölkte sich. »Nein«, sagte er. »Sie ist dann auch abgereist, und als sie zurückkam, war sie böse auf mich. Dabei kann doch ich nichts dafür, dass mir die Teller heruntergefallen sind. Ich wollte doch nur den Tisch decken.«
»Was für Teller?«, fragte Nina irritiert. In ihrem Kopf summte es.
»Na, die Suppenteller«, erklärte Stefan. »Ich wollte Tante Martha eine Freude machen. Ich dachte, dass sie mich wieder lieb haben würde, wenn ich ihr helfe. Aber als die Teller zerbrachen, sagte sie, dass jetzt endgültig Schluss sei. Sie wollte nichts mehr mit mir zu tun haben. Sie sagte … Etwas Komisches hat sie gesagt. Nicht zu mir, sondern zu Onkel Franz.« In dem eifrigen Bemühen, sich an die Worte von Tante Martha zu erinnern, runzelte Stefan die Stirn. »Der Bub geht uns nichts an. Sein Vater ist für ihn zuständig«, wiederholte er dann wortgetreu.
»Und dann ist deine Tante mit dir nach Maibach gefahren?«, fragte Nina.
»Nein, erst später. Nach einer Woche. Oder nach zwei Wochen. Oder …«
»Ja, ja«, fiel Nina ihm hastig ins Wort. »Wie alt bist du eigentlich?«
»Ich war schon fünf. Im übernächsten Herbst komme ich in die Schule.«
»Aha, das weißt du also genau. Wenn du doch auch die Adresse deiner Eltern oder deiner Tante wüsstest. Dann könnte ich Erkundigungen einziehen, könnte ihnen schreiben …«
»Tante Martha hat Ihnen geschrieben«, erklärte Stefan.
»Mir? O nein!«
»Doch. Als sie nicht länger warten wollte, hat sie aus dem Kalender, den sie in ihrer Handtasche hat, einen Zettel herausgerissen und etwas daraufgeschrieben.«
»Wo ist der Zettel?«
»Im Briefkasten natürlich.«
»Warum hast du das nicht gleich gesagt?«
»Ich habe es vergessen.«
Nina stürzte zum Briefkasten, in dem tatsächlich ein zusammengefalteter Zettel steckte. Restlose Aufklärung brachten ihr die hingekritzelten Zeilen allerdings nicht, obwohl sie in einer Hinsicht aufschlussreich waren. Sie ließen keinen Zweifel daran, dass die Schreiberin der Überzeugung war, dass Rudi Leskowitsch Stefans Vater sei.
An Rudi Leskowitsch war die kurze Mitteilung auch gerichtet. Nina überflog sie so oft, dass sie sie schließlich auswendig hätte hersagen können. Sie lautete: Sie haben meinen Brief nicht beantwortet. Trotzdem habe ich den Buben hergebracht. Es ist höchste Zeit, dass sein Vater für ihn die Verantwortung übernimmt. Wir wollen mit ihm nichts mehr zu schaffen haben.
Eine Unterschrift trug die Botschaft nicht. Nina fuhr sich über die Stirn. Sie befand sich in einem eigenartigen Zustand. Wenn Rudi anwesend gewesen wäre, hätte sie ihm trotz ihrer sanften Wesensart den nächstbesten Gegenstand an den Kopf geworfen. Aber ihr Mann war nicht da. Vor ihr stand nur sein Ebenbild, ein kleiner verängstigter Junge.
»Das Beste wird sein, wenn ich dich vorläufig behalte«, sagte Nina.
»Aber mein Vati?«
»Dein Vati«, wiederholte Nina bitter. »Wir werden sehen … Sag einmal, hast du bisher immer bei deinen Eltern gewohnt?«
»Freilich. Sie haben mich nur zu Tante Martha gebracht, weil sie auf Urlaub gefahren sind.«
»Und dein Vati«, Nina dachte im Moment an den ihr unbekannten Erwin Reiter, »hat er …, war er lieb zu dir? Oder war er so böse wie deine Tante Martha?«
»Vati ist nie böse«, erklärte Stefan überzeugt. »Jedenfalls nicht sehr. Nicht einmal dann, wenn ich etwas angestellt habe. Tante Martha war früher auch immer lieb. Erst später, als Vati und Mutti auf Urlaub waren, ist sie auf einmal so komisch geworden. Ganz anders als sonst.«
»Hm. Bist du müde?« Nina merkte, dass Stefan beinahe die Augen zufielen.
»Ja, sehr«, erwiderte er.
»Ich werde dich zu Bett bringen. Morgen werden wir etwas für dich zum Anziehen kaufen …«
»Aber ich habe ja meinen Koffer mit«, unterbrach Stefan sie. »Tante Martha hat ihn am Gang in eine Ecke gestellt.«
»Deine Tante Martha scheint ja an alles gedacht zu haben«, meinte Nina ironisch. Im Geist fügte sie hinzu: Nur an meine Gefühle nicht. Oder hatte diese Tante Martha vielleicht gar nichts von ihrem Vorhandensein gewusst? Die Angelegenheit war jedenfalls rätselhaft. Nina fühlte sich hilflos, aber noch hilfloser war Stefan, der geduldig vor ihrer Tür auf seinen Vati gewartet hatte. Nina beschloss, alle Überlegungen auf später zu verschieben und Stefan schleunigst zu Bett zu bringen.
»Du kannst neben mir schlafen«, meinte sie und richtete das Bett ihres Mannes für den Jungen her. Sie war ihm beim Ausziehen behilflich und deckte ihn schließlich zu.
Im Einschlafen murmelte Stefan fragend: »Vati?«
»Dein Vati wird kommen«, erwiderte Nina tröstend. »Und solange er nicht da ist, werde ich für dich sorgen.«
»Sie werden mich nicht zu Tante Martha zurückbringen?«
»Nein, bestimmt nicht. Selbst wenn ich es wollte, könnte ich es nicht, da ich die Adresse nicht kenne. Aber du darfst nicht länger Sie zu mir sagen. Ich bin … ich bin …« Nina zögerte. Sie konnte sich nicht gut Mutter nennen. Vor ein paar Stunden hatte sie sich nach einem Kind gesehnt, und nun war es da, aber leider war es nicht ihr Kind.
»Ich bin Tante Nina«, sagte sie endlich.
»Tante Nina«, wiederholte Stefan schlaftrunken, da war er auch schon eingeschlafen.
Nina hingegen lag noch lange wach. Jetzt hatte sie Muße, über alles nachzudenken. Es bestand für sie nicht der geringste Zweifel daran, dass Rudi wirklich Stefans Vater war. Sie wunderte sich nicht einmal über Stefans Vorhandensein. Rudi hatte sie so oft betrogen, und einer seiner Seitensprünge war eben nicht ohne Folgen geblieben.
Aber ob Rudi wusste, dass er einen Sohn hatte? Nie hatte er ihr gegenüber etwas Derartiges erwähnt. Natürlich nicht, der Ehefrau erzählte man nicht von einem außerehelichen Kind. Nicht einmal Rudi würde das tun.
Im Dunkeln zog Nina eine Grimasse. Rudi musste von Stefan wissen. Tante Martha hatte ihm ja geschrieben, und er hatte den Brief nicht beantwortet. Die Frage lautete nicht, ob Rudi von Stefan wusste, sondern, ob er bereit war, die Verantwortung für den Jungen zu übernehmen. Allem Anschein nach nicht, denn sonst hätte er den Brief beantwortet.
Ob ihr Mann den Jungen jemals zu Gesicht bekommen hatte? Soviel Nina wusste, hatten seine Reisen niemals nach Wien geführt. Aber was wusste sie schon?
Ein weiteres Rätsel bildete Stefans Mutter. Nina wollte nicht an diese Frau, mit der Rudi sie betrogen hatte, denken, aber sie zwang sich dazu. Allem Anschein nach hatte Stefan bis zu der Urlaubsreise seiner Eltern, beziehungsweise der Reise seiner Mutter und seines Stiefvaters, ein behütetes Familienleben geführt. Wieso war da ein plötzlicher Umschwung eingetreten? Was hatte Stefans Tante bewogen, den Jungen loszuwerden? Die Sache mit den Tellern war lächerlich. Wegen ein paar zerbrochener Suppenteller fuhr man nicht von Wien nach Maibach, um einen fünfjährigen Jungen vor einer fremden Wohnungstür abzusetzen.
Ninas Gedanken wanderten zu Rudi. Ob es ihm recht sein würde, dass sie Stefan aufgenommen hatte? Es musste ihm recht sein. Stefan war ja sein Sohn. Er hatte zwar das Schreiben von Tante Martha ignoriert, aber vielleicht hatte er es gar nicht erhalten. Oder er hatte an der Aufrichtigkeit der Schreiberin gezweifelt. Würde er aber Stefan sehen, würde er sich selbst davon überzeugen können, dass er der Vater des Jungen war.
Wenn er ihn sehen würde … Nina hoffte so sehr auf Rudis Rückkehr, doch diese Hoffnung wurde durch nichts genährt. Trotzdem würde sie das Warten auf ihren Mann nicht aufgeben. Sie hatte vor, Stefan einstweilen zu behalten, das hielt sie für die einfachste Lösung.
Der Junge gefiel ihr, sie trug ihm nicht nach, dass er das Kind einer anderen Frau war. Schließlich konnte Stefan nichts dafür. Sie malte sich aus, wie nett es sein würde, wenn sie von der Arbeit nach Hause kommen und von Stefan erwartet werden würde.
*
Doch die Wirklichkeit sah anders aus. Nina hatte keinerlei Erfahrung mit Kindern. Bevor sie am nächsten Morgen fortging, trug sie Stefan auf, brav zu sein. Zu Mittag würde sie wiederkommen, um ihm das Essen zu richten.
Nina kramte ein paar alte Illustrierte heraus und gab sie Stefan. »Schau dir die Bilder an, während ich weg bin«, meinte sie. »Wenn dir das zu langweilig wird, kannst du auch mit Carlo spielen. Aber gib acht, dass er nicht nach dir hackt.«
Dann eilte sie davon, denn es war spät geworden.
Während des Vormittags wurde Nina von einer ungewohnten Unruhe verfolgt. Würde Stefan, der allein in der Wohnung war, nichts anstellen? Ich hätte die Nachbarin bitten sollen, ab und zu nach ihm zu sehen, überlegte sie. Aber nein, das ging ja nicht. Dann hätte sie erklären müssen, wieso der Junge bei ihr war.
Nina nagte nachdenklich an ihrer Unterlippe. Stefans Vorhandensein würde sich nicht lange verbergen lassen. Sie konnte den Jungen ja nicht verstecken. Sie war gezwungen, sich irgendeine Begründung einfallen zu lassen, wieso der Junge bei ihr lebte.
Vielleicht würde sie ihn als Sohn einer Bekannten ausgeben können? Nein, unmöglich. Dagegen sprach Stefans Ähnlichkeit mit Rudi. Die würde jedem, der ihren Mann kannte, ins Gesicht springen. Aber wenn sie erzählte, dass Stefan Rudis Neffe sei? Das wäre immerhin eine Möglichkeit. Nur – was würde geschehen, wenn Rudi zurückkam?
Mittlerweile hatte sich in Ninas Kopf festgesetzt, dass Rudi zurückkommen müsste. Würde er Stefan als seinen Sohn anerkennen und der Junge fortan bei ihnen leben – nun, dann mussten sie eben die Wohnung aufgeben und in einen Ort übersiedeln, in dem niemand sie kannte.
Nina versank in Zukunftspläne. Doch plötzlich schreckte sie auf. Ihr kam zu Bewusstsein, wie absurd das alles war. Alles war in Schwebe. Es gab keine Tatsachen, an die sie sich halten konnte. Es war sinnlos, Pläne zu schmieden, solange sie nicht wusste, warum Tante Martha Stefan nach Maibach gebracht hatte, welche Absichten ihr Mann hatte. Sie war gezwungen, in ständiger Ungewissheit von einem Tag zum anderen zu leben.
Stefan sorgte jedoch bald dafür, dass Nina nicht mehr dazu kam, sich über Rudi und die Zukunft Gedanken zu machen. Die Gegenwart hielt sie ausreichend in Atem.
Als Nina an jenem ersten Tag nach Hause kam, hatte Stefan aus den sorgfältig gemachten Betten die Leintücher entfernt und aus ihnen unter Zuhilfenahme von vier Stühlen einen Wigwam gebaut. Bei Ninas Erscheinen tauchte er mit Indianergebrüll daraus hervor.
»O nein, Stefan«, rief Nina aus. »Wie konntest du nur eine derartige Unordnung machen?«
»Unordnung? Wieso? Gefällt dir mein Zelt nicht?«
»O doch«, erwiderte Nina mit schwacher Stimme und sank auf einen der restlichen Stühle. »Aber wenn ich geahnt hätte, was du vorhast, hätte ich auf das Bettenmachen verzichtet.«
»Sehr richtig«, stimmte Stefan ihr zu. »Bettenmachen ist überflüssig. Man legt sich ja am Abend sowieso wieder hinein.«
»Aber, Stefan, man muss doch Ordnung halten.«
»Du redest genauso wie Mutti«, stellte Stefan kritisch fest. Dann wurde seine Miene nachdenklich. »Wenn nur Vati und Mutti endlich von ihrem Urlaub zurückkämen. Sie sind schon so schrecklich lange fort. Komisch, von Mutti hat Tante Martha gar nichts gesagt. Nur, dass ich auf Vati warten soll.« Er sah Nina hilfesuchend an.
Von einem Impuls getrieben, schloss Nina den Jungen fest in ihre Arme. »Zerbrich dir nicht den Kopf«, flüsterte sie. »Ich kenne mich zwar selbst nicht aus, aber ich kann dir versprechen, dass alles wieder gut werden wird. Dein Vati wird kommen. Mir wird eine Möglichkeit einfallen. Vielleicht über die Firma …« Die letzten Worte sagte Nina zu sich selbst. Sie waren nicht für Stefan bestimmt, der, wenn er von seinem Vati sprach, unzweifelhaft Erwin Reiter meinte.
Stefan stellte keine Fragen mehr. Er vertraute Nina. Er war von Natur aus überhaupt nicht schüchtern, und ›Tante Nina‹ hatte ihm vom ersten Augenblick an gefallen. Er spürte, dass er sich auf sie verlassen konnte. Sie würde ihn nicht im Stich lassen, wie Tante Martha es getan hatte.
Unangenehme Fragen wurden Nina hingegen von den übrigen Hausbewohnern gestellt, die sich über den unversehens hereingeschneiten Jungen wunderten. Doch Nina wappnete sich. Sie gab Stefan für den Sohn von Rudis Schwester aus.
»Ich habe gar nicht gewusst, dass Herr Leskowitsch eine Schwester hat«, meinte eine besonders neugierige Nachbarin.
Hat er auch nicht, dachte Nina. Laut sagte sie jedoch: »Ach, wir waren bisher nicht viel mit ihr in Verbindung. Stefan ist bei mir, weil seine Eltern auf Urlaub gefahren sind. Eigentlich haben sie ihn ja einer anderen Verwandten in Obhut gegeben, aber die hatte keine Zeit für ihn. Deshalb hat sie Stefan zu mir gebracht.«
Nina fand, dass diese Geschichte gut klang und der Wahrheit halbwegs nahe kam. Sie hoffte, dass Stefan keine Einzelheiten aus seinem Leben bekannt geben würde, die sie der Lüge bezichtigen würden.
Nina hatte ein paarmal versucht, den Jungen vorsichtig auszuhorchen. Stefan hatte ihr unbekümmert Rede und Antwort gestanden. Was dabei herausgekommen war, hatte durchaus normal und alltäglich geklungen. Stefan war von seinen Eltern umsorgt und behütet worden. Bis zur Abreise seiner Eltern hatte es keinerlei besondere Vorkommnisse in seinem Leben gegeben. Außer Tante Martha und Onkel Franz schien es auch noch eine Tante Lilli und Tante Erika zu geben sowie etliche Kinder, die seine Spielgefährten gewesen waren.
Nina nahm all ihren Mut zusammen und zeigte Stefan ein Foto von Rudi.
»Wer ist das?«, fragte Stefan ohne besonderes Interesse.
»Kennst du den Mann nicht?«
»Nein, nie gesehen«, erwiderte Stefan gleichgültig.
*
In den nächsten Tagen war Nina pausenlos beschäftigt, sodass alle ihre Sorgen in den Hintergrund gedrängt wurden. Im Geschäft arbeitete man an Blumenarrangements, die für einen Frühlingsball bestellt worden waren, und wenn Nina zu Mittag nach Hause kam, fand sie kaum Zeit, das Essen zu kochen und die gröbste Unordnung zu beseitigen.
Am Abend spielte sie mit Stefan oder las ihm Geschichten vor, und wenn er dann im Bett lag, begann sie mit dem Schuheputzen und dem Wäschewaschen. Sie hätte nie gedacht, dass ein so kleiner Junge so viel Arbeit machen könnte. Dabei war Stefan keineswegs schlimm, sondern artig und folgsam, aber eben aufgeweckt und tatendurstig. Da er den Hauptteil des Tages allein verbringen musste, litt er bald an Langeweile, vor der ihn selbst der Papagei nicht schützen konnte.
Am Samstag hetzte sich Nina besonders ab. Sie hatte schon am Morgen die nötigen Lebensmittel für das Wochenende eingekauft, und zu Mittag eilte sie schnell heim, denn sie wollte den freien Nachmittag dazu benützen, mit Stefan ins Grüne zu fahren. Doch als ihr Wohnhaus in Sicht kam, fuhr ihr der Schreck durch alle Glieder. Da stand ein Feuerwehrauto, und eine Menschenmenge hatte sich angesammelt.
»Stefan – es ist ihm etwas passiert«, stammelte Nina und lief, so rasch sie konnte, zum Schauplatz des Geschehens.«
»Tante Nina, Tante Nina, da bist du ja endlich!« Stefans schluchzendes Stimmchen zog Ninas Aufmerksamkeit auf sich.
»Stefan, mein kleiner Liebling! Gott sei Dank, du lebst, dir ist nichts passiert.«
»Nein, mir ist nichts passiert.« Trotz dieser erfreulichen Tatsache ließ Stefan den Kopf hängen.
»Aber wieso bist du nicht in der Wohnung? Du weißt doch, dass du nicht fortlaufen darfst.«
»Ich bin nicht fortgelaufen. Ein Feuerwehrmann hat mich aus dem Fenster geholt. Mit einer langen Leiter«, erzählte Stefan.
»Was? Brennt es womöglich? Hast du mit Zündhölzern gespielt? Nein, das kann es nicht sein. Ich sehe keinen Rauch. Was ist los in der Wohnung?«
»Nichts.«
»Aber Stefan, warum hat man dich denn herausgeholt?«
»Sie haben Angst gehabt, dass ich aus dem Fenster falle.«
»Aber Stefan, du musst doch wissen, dass du dich nicht hinausbeugen darfst.«
»Ich habe mich nicht hinausgebeugt. Es war wegen Carlo. Ich wollte Carlo wieder zurücklocken.«
»Carlo?« In der Aufregung war Nina nicht bewusst geworden, dass sich keiner der Umstehenden und der Feuerwehrleute um sie oder den Buben kümmerte. Erst jetzt bemerkte sie, dass die Aufmerksamkeit aller der Ulme, die vor dem Haus stand, galt. Die Leute standen um sie herum, reckten die Hälse und wandten die Gesichter nach oben. Eben wurde die lange Leiter herumgeschwenkt und so nahe wie möglich an den Baum gebracht. Ein Feuerwehrmann schickte sich an, hinaufzuklettern.
»Was sucht er auf dem Baum?«, fragte die ahnungslose Nina.
»Ach, Tante Nina, du wirst sehr böse auf mich sein«, brachte Stefan mit bebender Stimme hervor.
»Böse? Wieso sollte ich? Ich bin heilfroh, dass dir nichts zugestoßen ist. Wenn du aus dem Fenster gefallen wärst … Nicht auszudenken, was für Verletzungen du dir hättest zuziehen können. Versprich mir, dass du nicht mehr neugierig sein wirst. Du darfst dich nicht aus dem Fenster beugen.«
»Du verstehst mich nicht, Tante Nina. Ich war nicht neugierig. Es war wegen Carlo.«
»Wegen Carlo!« Nun dämmerte Nina die Wahrheit. »Heißt das, dass Carlo aus dem Fenster geflogen ist und jetzt auf der Ulme sitzt?«
»Ja. Und …, und es war meine Schuld«, stieß Stefan hervor. »Ich habe geglaubt, dass Carlo sich freut, wenn er ein bisschen im Wohnzimmer herumfliegen darf. Deshalb habe ich die Tür des Käfigs aufgemacht und ihn herausgelassen. Aber ich habe das Fenster vergessen. Dass es offen war, meine ich.«
»Und Carlo ist aus dem Fenster geflogen.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, die Nina traf, während sie ebenso wie die übrigen Versammelten in das Geäst der Ulme spähte, ohne eine Spur von Carlo entdecken zu können.
Nina gab die Suche nach dem Vogel bald auf und wandte sich wieder Stefan zu, der ziemlich vernichtet dastand und auf seine Schuhspitzen starrte. »Mach dir nichts daraus«, versuchte sie den Jungen aufzumuntern. »Schließlich hast du es nicht mit Absicht getan.«
»Nein, wirklich nicht«, beteuerte Stefan. »Ich wollte Carlo wieder zurückrufen, aber er folgte nicht. Jetzt sitzt er auf dem obersten Ast des Baumes. Glaubst du, es wird dem Mann gelingen, Carlo zu fangen?«
Wortlos zuckte Nina mit den Schultern. Die Angelegenheit begann peinlich zu werden, denn soeben kam ihre Nachbarin auf sie zugestürzt. »Was sagen Sie dazu, Frau Leskowitsch!«, rief sie. »Der Junge hat den Vogel herausgelassen, und dann wäre er beinah aus dem Fenster gesprungen. Zum Glück haben Passanten gesehen, wie er am Fenster hing, und schnell die Feuerwehr alarmiert. Über eine Leiter haben sie ihn dann herausgeholt. Sie können froh sein, dass er so gesund und munter vor Ihnen steht.« Frau Kraft schüttelte den Kopf.
»Mich geht es ja nichts an, aber ich hätte Ihnen längst sagen können, dass man ein so kleines Kind nicht stundenlang allein lassen darf. Klar, dass der Junge da auf dumme Gedanken kommt.«
»Ich habe keine dummen Gedanken«, verteidigte sich Stefan, der das Gefühl hatte, dass er seiner Tante Nina, die stumm und betroffen war, zu Hilfe kommen musste.
»Pst, Stefan«, sagte Nina leise, »Frau Kraft hat ja recht.«
»Natürlich habe ich recht«, ereiferte sich die Nachbarin. »Und was für eine Aufregung der Junge verursacht hat. Bisher war es so ruhig in unserer Gegend. Noch kein einziges Mal war die Feuerwehr in unserer Straße. Und jetzt musste sie wegen eines Papageis ausrücken.« Trotz dieser Worte schien sie jedoch genau wie die anderen Leute die Sensation zu genießen.
»Ob er wohl den Vogel vom Baum holen kann?«, fragte jemand.
»Nein, der Papagei wird wegfliegen«, unkten die meisten.
Doch Carlo schien seine Flucht inzwischen bereut zu haben. Er reagierte auf die Zurufe des Feuerwehrmannes und setzte sich auf dessen Schulter. Aber als dieser auf dem sicheren Erdboden angelangt war, wurde er durch die vielen Leute, die ihn angafften, irritiert und schickte sich an, erneut aufzuflattern.
Doch da war Nina bereits zur Stelle und streckte ihre Hand aus. »Carlo, du Ausreißer! Was ist denn dir eingefallen?«, sagte sie und bemühte sich, ihre Stimme ruhig klingen zu lassen, um den Vogel nicht zu erschrecken.
*
Erst nachdem Nina den Papagei in seinen Käfig gesteckt und das Türchen fest verschlossen hatte, war sie imstande wieder klar zu denken. Sie setzte sich auf die Couch und zog Stefan auf ihren Schoß. »So kann es nicht weitergehen«, sagte sie leise. »Ich fürchte, ich werde dich anderswo unterbringen müssen. Wenn ich nur wüsste, wo.«
Erschrocken sprang Stefan auf. »Du bist böse auf mich, Tante Nina!«, rief er. »Ich habe es ja gewusst. Du magst mich nicht mehr, weil ich Carlo aus dem Käfig gelassen habe. Es ist genauso wie bei Tante Martha. Sie mochte mich auch nicht mehr, als die Suppenteller heruntergefallen waren.«
»Nein, Stefan, darum geht es nicht«, sagte Nina müde. »Ich hätte dich so gern bei mir gehabt, aber es hat sich herausgestellt, dass das nicht möglich ist. Du bist noch zu klein und unvernünftig …«
»Ich bin nicht klein und auch nicht unvernünftig«, unterbrach Stefan sie beleidigt.
»Nein, nein, ich wollte dich nicht kränken«, beeilte sich Nina zu versichern. »Für dein Alter bist du sogar sehr klug. Trotzdem war etwas Wahres an den Worten von Frau Kraft.«
»Ach, Frau Kraft«, meinte Stefan geringschätzig.
»Es war wohl ziemlich leichtfertig von mir, dass ich dich behielt«, murmelte Nina. Diese Tatsache drang erst jetzt so richtig in ihr Bewusstsein. Sie beugte sich vor und stützte den Kopf in ihre Hände.
»Tante Nina …«
»Sei still, Stefan, ich muss nachdenken.«
Das tat Nina nun mit aller Gründlichkeit. Sie schauderte bei dem Gedanken, was dem Kind alles hätte zustoßen können, während es allein in der Wohnung gewesen war. Sie wunderte sich, dass sie nicht schon früher daran gedacht hatte. Aber sie war eben in bezug auf Kinder zu unerfahren gewesen. Stefan hatte so verständig gewirkt – und er war es wohl auch –, aber eben doch noch viel zu klein, um ohne ständige Aufsicht zu sein. Dass die Nachbarin ab und zu einen Blick in die Wohnung geworfen hatte, hatte sich als unzureichend erwiesen.
Und noch eine zweite Erkenntnis drängte sich Nina jetzt auf. Sie hätte Stefans plötzliches Auftauchen den zuständigen Behörden melden müssen. Der Junge sah Rudi sehr ähnlich, aber das war noch lange kein Beweis dafür, dass Tante Martha das Recht gehabt hatte, ihn vor ihrer Wohnungstür abzustellen. Nina wusste so gut wie gar nichts über Stefans Familienverhältnisse. Er musste ja gar nicht bei seiner wirklichen Mutter gelebt haben. Genauso gut konnte er adoptiert worden sein. Und wer war überhaupt diese Tante Martha?
Nina stieß einen langen Seufzer aus. Es war nicht ihre Aufgabe, dieses Rätsel zu lösen. Wohl aber wäre es die Aufgabe der Polizei gewesen. Doch jetzt war es zu spät. Wenn sie jetzt zur Polizei ging, würde sie als Närrin, wenn nicht gar als etwas Schlimmeres dastehen. Aber was blieb ihr anderes übrig? Stefan zu behalten und weitere Lügen über seine Herkunft zu verbreiten, war ausgeschlossen. Sie würde sich doch zum Gang zum nächsten Polizeirevier aufraffen müssen.
Wenn Nina jedoch an die Fragen dachte, die man dort an sie richten würde, verzagte sie. Ihre Eheschwierigkeiten würden ans Tageslicht gezerrt werden, und vor allem – würde man ihr Glauben schenken? Würde man ihr glauben, dass sie, als sie Stefan aufnahm, in bester Absicht gehandelt hatte? Bisher war zum Glück nichts geschehen, aber hätte der Junge an diesem Tag einen Unfall erlitten, hätte ihr kein Mensch mehr eine gute Absicht abgenommen.
Wie würde die Polizei über sie denken? Und was würde diese mit Stefan machen? Wahrscheinlich würde sie ihn der Fürsorge übergeben, die ihn in ein Heim stecken würde, zumindest so lange, bis seine Eltern festgestellt waren. Und wenn diese ihn ebenso wie Tante Martha nicht länger haben wollten? Dann würde Rudi an die Reihe kommen, Rudi, der … Ach, zum Kuckuck mit Rudi. Ihn wollte sie vorläufig aus ihrem Kopf verbannen.
Nina sah nachdenklich zu Stefan hinüber, der betreten von einem Fuß auf den anderen trat. »Hast du fertig nachgedacht, Tante Nina?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Ja, aber es ist nichts dabei herausgekommen.«
»Wenn ich dir verspreche, Carlos Käfig nicht mehr zu öffnen …«
»Nein, Stefan.«
»Aber, wohin soll ich denn gehen? Wenn nur Vati und Mutti da wären. Sie haben doch gesagt, dass sie nur zwei Wochen ausbleiben. Ich glaube, dass zwei Wochen schon vergangen sind.«
»Ich kann dir da nicht helfen, weil ich nicht weiß, wann sie weggefahren sind. Ich weiß ja überhaupt nicht …« Nina stockte. Mit einem Mal war ihr eine rettende Idee gekommen. Da war doch diese Schar fröhlicher Kinder gewesen. Wie hieß schnell das Heim? Sophienlust. Und es lag in Wildmoos.
Nina kannte zwar die Adresse nicht, aber sie würde hinfinden. Sie würde sich eben durchfragen. Das einzige Hindernis war, dass sie nicht wusste, ob man Stefan aufnehmen würde. Doch sie würde es versuchen.
Seit Nina das Kinderheim eingefallen war, klammerte sie sich daran wie an einen Strohhalm. Sie holte Stefans Koffer hervor und schickte sich an, die Habseligkeiten des Jungen einzupacken.
Stefan verfolgte ihr Tun mit erschrockenen Augen. »Du bist böse auf mich«, sagte er tonlos. »Jetzt willst du mich auch nicht mehr haben.«
»O doch, Stefan«, entgegnete sie.
»Aber du packst meine Sachen ein. Du willst mich fortbringen. Falls du mich zu Tante Martha bringen willst, wirst du kein Glück haben«, prophezeite er trotzig. »Tante Martha will mit mir nichts mehr zu schaffen haben.«
»Keine Angst, ich bringe dich nicht zu Tante Martha. Dort, wohin wir jetzt fahren, wird es dir sicher gefallen.«
»Wie sieht es dort aus?«
Nina musste zugeben, dass sie das nicht wusste. »Aber die Kinder haben einen so lustigen Eindruck gemacht«, meinte sie.
»Welche Kinder?«
»Vorläufig mag ich dir noch nichts erzählen. Ich weiß ja nicht, ob es klappen wird«, erwiderte Nina ausweichend. Sie verfrachtete Stefan und seinen Koffer auf den Rücksitz ihres kleinen Wagens und fuhr los in Richtung Wildmoos. Nur ein einziges Mal musste sie anhalten, um nach dem Weg zu fragen. Kurz darauf stand sie vor dem großen schmiedeeisernen Tor, dem Eingang zum Kinderheim Sophienlust.
»Den Koffer lassen wir einstweilen im Auto«, sagte Nina zu Stefan. Dann fasste sie den Jungen an der Hand und ging mit ihm auf das Herrenhaus zu.
Ein freundliches Hausmädchen führte die beiden in die Halle und bat sie zu warten. Stefan blickte sich neugierig um, doch er kam nicht dazu, seine Eindrücke zu verarbeiten, denn das Mädchen war zurückgekehrt und bat sie ins Büro.
»Frau Rennert ist im Moment nicht anwesend, aber Sie können mit Frau von Schoenecker sprechen«, sagte Lena dabei.
Nur mit Mühe gelang es Nina, ihre Verlegenheit niederzukämpfen, als sie Frau von Schoenecker gegenüberstand. »Ich habe gehört … Frau von Lehn hat mir erzählt, dass Sie Kinder aufnehmen, Kinder, die …«, stotterte sie.
»Nehmen Sie doch Platz«, sagte Denise von Schoenecker. »Ist das Ihr Sohn?«
»Nein, Stefan ist nicht mein Sohn. Er ist nicht verwandt mit mir. Das heißt, er …« Nina wurde rot. In Stefans Gegenwart konnte sie unmöglich über dessen Herkunft reden. »Vielleicht könnte Stefan in der Halle warten«, murmelte sie unglücklich.
»O nein«, widersprach Denise ihr lebhaft. »Er kann während unseres Gesprächs mit den Kindern spielen. Sie sind drüben bei den Tennisplätzen. Ich werde das Hausmädchen bitten, ihn hinzuführen.«
Nachdem Stefan mit Lena das Büro verlassen hatte, schöpfte Nina tief Atem. Nun musste sie reden.
»Ich heiße Leskowitsch. Nina Leskowitsch«, stellte sie sich etwas ungeschickt vor, während ihre Stimme vor Aufregung zitterte. »Mein Mann … Ach, ich weiß nicht, wo ich beginnen soll.«
»Wie wäre es, wenn Sie mit Stefan beginnen würden?«, schlug Denise von Schoenecker vor.
»Ja, Stefan. Er stand eines Tages vor meiner Wohnungstür – nein, er saß auf der Treppe, als ich mit Carlo heimkam.«
Nina schilderte nun die Ereignisse der letzten Woche, allerdings in einem solchen Durcheinander, dass Denise nicht imstande war, die Zusammenhänge sofort zu erfassen. »Wieso – wer ist nun Stefans Vater?«, fragte sie benommen.
»Rudi. Da bin ich ziemlich sicher. Hier, das ist der Zettel, der im Briefkasten steckte.« Nina zog die Mitteilung von Tante Martha aus der Handtasche und reichte sie Frau von Schoenecker, die sie mit gerunzelter Stirn las. »Nicht sehr aufschlussreich«, meinte sie dabei. »Waren Sie schon bei der Polizei?«
»Bei der Polizei? Nein. Das ist es ja! Zuerst dachte ich doch nicht daran, und jetzt … Ich schäme mich so«, bekannte Nina leise. Selbst Denise von Schoenecker gegenüber war es ihr schwergefallen, die Geschichte ihrer Ehe zu enthüllen. Sie kam sich verächtlich und minderwertig vor, obwohl die Schuld nicht bei ihr, sondern bei Rudi lag.
»Es ist alles so verworren«, klagte Nina. »Wenn mein Mann zurückkäme, dann wüsste ich, wie er zu Stefan steht. Aber so …«
»Nun, es ist verständlich, dass Sie den Jungen nicht bei sich haben wollen«, sagte Denise.
»Oh, darum geht es nicht«, entgegnete Nina schnell. »Ich würde Stefan sofort behalten, aber ich habe nicht genügend Zeit für ihn. Stefan ist so lebhaft …« Sie erzählte, wie Carlo entflogen, Stefan beinahe aus dem Fenster gefallen und die Feuerwehr gekommen war.
Denise konnte sich ein leichtes Lächeln nicht verbeißen. »Ja, so sind Buben eben«, bemerkte sie, als Nina am Ende ihrer Schilderung angelangt war. »Wir werden Stefan gern in Sophienlust aufnehmen, vorausgesetzt, dass seine Eltern, Herr und Frau Reiter, ihn nicht für sich beanspruchen. Überhaupt bedarf der Fall einiger Klärung. Die Urlaubsreise der Eltern, Tante Martha, Stefans Auftauchen in Ihrer Wohnung – das ist alles rätselhaft. Die Polizei muss unbedingt Nachforschungen anstellen. Aber erschrecken Sie nicht, ich werde die Sache in die Hand nehmen und erst einmal Polizeiwachtmeister Kirsch verständigen.«
»Oh, danke«, sagte Nina. Mehr brachte sie nicht heraus.
»Selbstverständlich kann Stefan gleich bei uns bleiben. Besitzt er irgendwelche Kleidungsstücke?«
»Ja. Ich habe sogar seinen Koffer mitgenommen. Das war wohl voreilig von mir, weil ich nicht wusste … Außerdem habe ich morgen frei und wollte mit Stefan einen Ausflug machen. Aber ich war so entsetzt … Erst im nachhinein ist mir eingefallen, dass Stefan sich hätte schwer verletzten können.« Nina schwieg.
Für Denise war offensichtlich, dass der Schock auch jetzt noch bei der jungen Frau nachwirkte. »Lassen Sie Stefan ruhig hier«, meinte sie beruhigend. »Wenn Sie wollen, können Sie ihn morgen zu dem beabsichtigten Ausflug abholen.«
Nina war erleichtert. Nicht nur, weil ihr die Sorge um Stefan genommen worden war, auch die Tatsache, dass sie sich einmal alles hatte von der Seele reden können, empfand sie als Wohltat. Und nun brauchte sie nicht einmal mehr vor den Fragen der Polizei zu bangen. Ihre eigene Lage war zwar noch genauso ungewiss wie zuvor, denn am Zustand ihrer Ehe hatte sich nichts geändert, aber das erschien ihr im Moment nebensächlich. Hauptsache war, dass Stefan gut und sicher untergebracht war.
Der Junge wirkte zwar etwas betrübt, als Nina ihm erklärte, dass sie ihn in Sophienlust zurücklassen würde, doch seine Miene heiterte sich sehr schnell wieder auf. »Dann darf ich vielleicht den Wintergarten sehen?«, fragte er hoffnungsvoll. »Heidi«, er sah sich nach dem kleinen Mädchen um, »Heidi hat mir erzählt, dass dort auch ein Papagei ist.«
»Ein Papagei?«, fragte Nina alarmiert. »An deiner Stelle würde ich ihm aus dem Weg gehen, Stefan. Sonst kommst du womöglich wieder auf die Idee, ihn aus dem Käfig herauszulassen.«
»Aber nein, wo denkst du hin«, verwahrte sich Stefan.
»Niemals verüben Kinder zweimal hintereinander den gleichen Streich«, sagte Denise mit unterdrückter Stimme zu Nina. »Stefan wird sich etwas Neues einfallen lassen.«
»O nein, hoffentlich nicht«, erwiderte Nina.
»Keine Angst, wir sind ihm bestimmt gewachsen«, erklärte Denise lächelnd.
*
Denise hielt ihr Versprechen und verständigte Wachtmeister Kirsch, der Stefans Fall weiterreichte. Es dauerte nicht lange, bis eine Antwort aus Wien eintraf, die Herr Kirsch sofort Frau von Schoenecker oder Frau Rennert mitteilen wollte. Doch die Heimleiterin war an diesem Morgen nach Maibach gefahren und Denise hielt sich in Schoeneich auf. Herr Kirsch wandte sich daher an Schwester Regine.
Diese hatte an diesem Tag ihr neues Dirndl angezogen, weil sie vorhatte, am Vormittag während die größeren Kinder in der Schule waren, mit Heidi und Stefan einen kleinen Spaziergang durch den Wald zu machen. Doch als sie mit den Kindern in die Halle kam, stieß sie auf Wachtmeister Kirsch, der erklärte, eine wichtige Mitteilung für sie zu haben.
»Lauft inzwischen voraus, aber bleibt im Park. Ich komme bald nach«, sagte Schwester Regine zu den Kindern und betrat, gefolgt von Herrn Kirsch, das Büro der Heimleiterin.
»War das eben Stefan Reiter? Der kleine Junge vorhin?«, erkundigte sich der Polizist.
»Ja.«
»Seinetwegen bin ich hier.«
»Gibt es Neuigkeiten über seine Eltern?«, fragte die Kinderschwester.
»Ja. Aber leider keine guten.«
»O weh! Stimmt es also, dass sie den Jungen abschieben wollen?«
»Nein. Es ist etwas Schlimmeres geschehen. Die Eltern sind auf ihrer Urlaubsreise mit dem Flugzeug verunglückt. Die Mutter ist schon nach ein paar Tagen gestorben, der Vater – Erwin Reiter – liegt in Athen im Krankenhaus und ringt noch immer mit dem Tod.«
»Wie schrecklich! Aber Erwin Reiter – ist er nun Stefans Vater oder nicht? Und was ist mit dieser ominösen Tante Martha, die Stefan angeblich nach Maibach gebracht hat?«
»Auch über sie weiß ich Bescheid«, erklärte Herr Kirsch. »Sie heißt Martha Kern und ist Herrn Reiters Schwester. Die Eltern haben ihr Stefan vor Antritt ihrer Reise anvertraut. Sie wurde gleich nach dem Absturz verständigt und ist daraufhin nach Athen geflogen.«
»Und? Hat sie mit ihrem Bruder gesprochen?«
»Nein. Er war bewusstlos. Aber man hat sie zu ihrer Schwägerin gelassen. Und so dürfte die Angelegenheit ihren Lauf genommen haben.«
»Inwiefern?«
»Martha Kern hat der Polizei in Wien ohne Umschweife mitgeteilt, dass sie seit der Unterredung mit ihrer Schwägerin nichts anderes mehr im Sinn gehabt habe, als Stefan loszuwerden. Sie scheint beinahe Hassgefühle gegen den Jungen entwickelt zu haben. Ilse Reiter, ihre Schwägerin, hat ihr nämlich auf dem Sterbebett anvertraut, dass Stefan nicht Erwin Reiters Sohn, sondern das Ergebnis eines vorehelichen Fehltritts sei. Dann ist Ilse Reiter gestorben. Martha Kern war offensichtlich wütend auf die Verstorbene, die ihren Bruder betrogen hatte. Gegen Ilse Reiter konnte sie begreiflicherweise nichts mehr unternehmen, also hat sich ihr Hass auf den armen Stefan übertragen.«
»Oh …, das … Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll. Es klingt hässlich, aber ich finde, es war unklug von Ilse Reiter, ihrer Schwägerin die Wahrheit zu gestehen. Ich denke da vor allem an Stefan. Für ihn wäre es besser gewesen, wenn seine Mutter weiterhin die Tatsachen verheimlicht hätte. Aber wahrscheinlich wollte sie ihr Gewissen erleichtern.«
»Nein, ich glaube nicht, dass das ihre Beweggründe waren. Aus den Angaben, die Frau Kern der Polizei gemacht hat, ging hervor, dass Frau Reiter überzeugt war, dass auch ihr Mann sterben würde. Und damit hatte sie nicht so unrecht. Es steht immer noch schlimm um Erwin Reiter. Seine Überlebenschancen dürfen gering sein. Kurz und gut, Stefans Mutter wollte ihren Sohn nicht gänzlich verwaist zurücklassen. Sie hat Martha Kern gebeten, sich an Rudi Leskowitsch zu wenden.«
»Dann hat Stefans Tante Martha also in Frau Reiters Sinne gehandelt?«
»Ich bezweifle, dass man das so bezeichnen kann. Sie hätte Stefan nicht so ohne Weiteres herbringen dürfen, sondern erst einmal Herrn Leskowitschs Stellungnahme abwarten müssen. Man weiß doch gar nicht, ob … Natürlich nimmt man nicht an, dass eine Sterbende lügt, noch dazu in einem solchen Fall.«
»Sie meinen, es ist gar nicht erwiesen, dass Ilse Reiter die Wahrheit gesagt hat und dass Herr Leskowitsch Stefans Vater ist?«
»Genau das.«
»Frau Leskowitsch hat in dieser Beziehung keine Zweifel. Es scheint, dass der Junge seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten ist«, sagte Schwester Regine mit einer Spur von Ironie.
»Na ja – dann. Trotzdem hat Martha Kern herzlos gehandelt. Sie hat zwar angegeben, dass sie an Rudi Leskowitsch geschrieben habe, aber die Antwort hat sie nicht abgewartet.«
»Ja, es war herzlos«, stimmte Schwester Regine dem Polizeibeamten zu. »Ich halte es für geradezu infam, dass er hier in Maibach seinen Vater finden würde. Wenn er das Wort ›Vater‹ hört, denkt Stefan ausschließlich an Erwin Reiter.«
»Natürlich. Wie sollte es auch anders sein? Eine traurige Sache ist das. Wir wissen jetzt, was mit den Eltern geschehen ist, aber was aus Stefan werden soll …« Herr Kirsch ließ den Satz unvollendet.
»Stefan bleibt selbstverständlich in Sophienlust«, sagte Schwester Regine. »Ich werde Frau von Schoenecker und Frau Rennert alles berichten, was Sie mir erzählt haben. Die beiden Damen werden sicher der gleichen Meinung sein wie ich, nämlich, dass Stefan hier am besten aufgehoben ist.«
Schwester Regine blickte auf die Uhr, und Wachtmeister Kirsch erhob sich und verabschiedete sich.
Schwester Regine folgte ihm ziemlich hastig hinaus ins Freie, wo sie sich suchend nach den Kindern umsah. Die Unterredung mit Herrn Kirsch hatte einige Zeit in Anspruch genommen, und die Kinder waren nirgends zu sehen. Aber die Kinderschwester machte sich deshalb keine besonderen Sorgen. Im Park hatten die Kinder wenig Gelegenheit, etwas anzustellen, und dass sie sich ohne Aufsicht eines Erwachsenen nicht daraus entfernen dürfen, war Heidi oft genug eindringlich klargemacht worden.
Die Kinderschwester machte sich auf die Suche, wobei sie wiederholt laut die Namen Stefan und Heidi rief.
»Ja, wir kommen schon«, vernahm sie Heidis Stimme aus einiger Entfernung, und gleich darauf konnte sie hören, dass Heidi ihrem Spielgefährten befahl: »Komm endlich! Lass den dummen Weiher. Den kannst du dir ein anderes Mal auch ansehen. Jetzt wollen wir in den Wald gehen.«
»Gleich«, erwiderte Stefan. »Erst möchte ich sehen, was das dort ist. Schau, dort – das Rote.«
»Das wird ein Goldfisch sein. Komm jetzt, Stefan! Schwester Regine! Hilfe!« Jetzt schrie Heidi aus Leibeskräften, und die Kinderschwester rannte keuchend in die Richtung, in der der Weiher lag.
»Stefan ist in den Weiher gefallen!«, schrie Heidi überflüssigerweise, denn das Geräusch, das die Kinderschwester gehört hatte, ließ keinen Zweifel offen über das, was geschehen war.
Schwester Regine streifte schnell ihre Schuhe ab und sprang Stefan nach. Der Weiher war nicht tief, aber sein Boden war glatt und schlüpfrig. So kam es, dass die junge Frau ausrutschte und der Länge nach ins Wasser fiel. Während sie sich aufrichtete, krabbelte Stefan aus eigener Kraft ans Ufer zurück. Schwester Regine tat das gleiche und sah dann traurig an sich herab.
Heidi kleidete die Gefühle der Kinderschwester in Worte: »O weh, dein schönes neues Kleid! Es ist ganz nass geworden.«
»Ja, ich triefe.« Schwester Regine rieb an der rosa Schürze herum und seufzte: »Ich fürchte, diese grünen Flecken werden nicht mehr wegzubringen sein.«
»Am Ärmel der Bluse sind auch welche«, verkündete Heidi ungebeten.
Schwester Regine betrachtete den Ärmel, der kurz zuvor noch fleckenlos weiß gewesen war. Dann fiel ihr Blick auf Stefan, der ebenso tropfnass dastand wie sie, dem dieser Zustand aber nichts auszumachen schien. Das Wasser floss aus seinen Haaren und rann über sein Gesicht, sodass er blinzeln musste.
»Hast du viel Wasser geschluckt?«, fragte Heidi besorgt.
»Nein, gar keins. Ich bin bloß außen nass«, erwiderte Stefan.
»Und wie!«, sagte Schwester Regine. »Nicht nur nass, sondern auch schmutzig.«
»Warum hast du nicht gefolgt?«, tadelte Heidi. »Ich habe dir doch gesagt, du sollst kommen. Kaum dreht man dir den Rücken zu, musst du auch schon etwas anstellen.«
Schwester Regine lächelte unwillkürlich bei Heidis Worten, die das Kind irgendwie einmal aufgeschnappt haben musste.
»Du bist schuld, dass Schwester Regine ihr Kleid verdorben hat«, fuhr Heidi fort.
»Aber wieso?«, fragte Stefan erstaunt. »Warum ist Schwester Regine denn auch in den See gestiegen?«
»Na, weil sie dich herausholen wollte. Außerdem ist das kein See, sondern bloß ein Weiher«, belehrte Heidi den Jungen.
»Egal, ob See oder Weiher, wir müssen uns umziehen«, versuchte die Kinderschwester die Debatte zu beenden.
Aber Heidi war noch nicht fertig. »Wieso bist du überhaupt hineingefallen, Stefan?«
»Ich wollte den Fisch anfassen, den Goldfisch«, erklärte er. »Aber er ist weggeschwommen, und ich habe ihn nicht erwischt.«
»Wie kann man nur so dumm sein. Ein Fisch lässt sich doch nicht anfassen.«
»Heidi!«, mahnte Schwester Regine. »Tu nicht so, als ob du noch nie ins Wasser gefallen wärst. Das, was Stefan passiert ist, hätte genauso gut dir zustoßen können«, dämpfte sie das kleine Mädchen. Dann sammelte sie ihre Schuhe ein und schickte sich an, zum Haus zurückzugehen.
Die Kinder folgten ihr, wobei Stefans Schuhe bei jedem Schritt, den er machte, quatschende Geräusche von sich gaben. »Ha, das ist lustig«, meinte der Junge.
»Da bin ich anderer Ansicht«, widersprach Schwester Regine ihm. »Ich bin froh, dass wenigstens meine Schuhe trocken geblieben sind. Mein Dirndl ist … Aber ich will nicht jammern. Gott sei Dank ist die Sache glimpflich abgelaufen. Aber du darfst nicht so unvorsichtig sein. Du hättest ertrinken können.«
»In diesem …, diesem Weiher doch nicht«, entgegnete Stefan. »Das Wasser war ganz seicht.«
»Schon in seichteren Gewässern sind Leute ertrunken. Aber reden wir lieber nicht davon. Versprich mir, dass du in Zukunft vorsichtiger sein wirst.«
»Ja«, sagte Stefan leise. Nun war er nachdenklich geworden. Ähnliche Worte hatte erst vor ein paar Tagen Tante Nina zu ihm gesagt. Er wollte ja wirklich nicht schlimm sein, und er hatte auch nicht die Absicht gehabt, in den Weiher zu fallen. Der Fisch war schuld daran. »Ich wollte nicht ins Wasser fallen, und ich wollte auch nicht, dass du hineinfällst«, murmelte er. »Ich …, ich werde mich bemühen, und so etwas nicht mehr machen.«
»Hoffentlich«, erwiderte Schwester Regine mit einiger Skepsis. »Oh, nicht weinen! Es ist ja alles gut.« Sie zog den Jungen, der nun von Reue gepackt wurde, an sich.
»Du bist nass genug, Stefan«, schaltete sich Heidi wieder ein. »Wenn du weinst, wirst du noch nasser.«
»Schwerlich«, lautete Schwester Regines Kommentar zu Heidis Feststellung.
Nachdem sie wieder im Haus waren, wurde Stefan von Lena in die Badewanne gesteckt, wogegen er nicht zu protestieren wagte. Auch Schwester Regine zog sich in ein Badezimmer zurück, um gründlich zu duschen. Anschließend ging sie daran, ihr Dirndl auszuwaschen, aber der Erfolg war gering. Die Schürze war nicht mehr zu retten.
Später erfuhren auch die größeren Kinder von dem Missgeschick, denn Heidi erzählte ihnen alles haarklein.
»Schade um das schöne Dirndl. Schwester Regine tut mir leid«, sagte Pünktchen.
»Ja, mir auch. Dabei hat sie sich so darüber gefreut«, meinte Irmela.
»Ihr Mädchen habt nichts anderes als Kleider im Kopf«, rügte Nick. »Was bedeutet schon ein Dirndl? Viel wichtiger ist, dass niemand ertrunken ist.«
»Es fertigzubringen, im Weiher zu ertrinken, ist schon ein besonderes Kunststück«, bemerkte Pünktchen wegwerfend. »Das Schlimmste, das Stefan passieren kann, ist, dass er einen tüchtigen Schnupfen bekommt.«
»Und ein Schnupfen geht wieder vorbei«, knüpfte Irmela an Pünktchens Bemerkung an. »Aber Schwester Regines Dirndl …«
»Hört auf damit!« Nick hielt sich demonstrativ die Ohren zu. »Dass ihr keine anderen Sorgen habt!«
Die zwölfjährige Angelika hatte bis jetzt geschwiegen, aber nun meinte sie: »Wie steht es eigentlich mit eurem Taschengeld? Ich habe noch ein wenig übrig. Vielleicht, wenn wir alles in einen Topf werfen …«
»Ja, das ist eine prima Idee. Schwester Regine ist immer so lieb zu uns. Jetzt hätten wir Gelegenheit, ihr eine Freude zu machen. Wir wollen unser Geld zusammenlegen und ein neues Dirndl für sie kaufen«, sagte Pünktchen.
»Na, ob das …«
»Du musst dich ja nicht daran beteiligen, Nick«, unterbrach Pünktchen den Jungen spitz.
»Warum wollt ihr mich nicht mitmachen lassen?«, fragte Nick daraufhin etwas beleidigt.
»Weil du dich für Kleider nicht interessierst, und weil du offensichtlich Einwände gegen unseren Plan hast.«
»Aber nein. Ich habe nur überlegt, ob das neue Dirndl eine Überraschung für Schwester Regine sein soll.«
»Sicher. Wenn wir ihr vorher etwas davon sagen, wird sie es nicht erlauben.«
»Aber wie wollt ihr es anstellen, dass das Dirndl passt? Ihr wisst doch die Größe nicht.«
Pünktchen konnte über so viel männliche Unwissenheit nur den Kopf schütteln. »Selbstverständlich wissen wir Schwester Regines Größe und Kleidernummer«, erklärte sie sanft. »Außerdem werden wir in dem Geschäft, in dem wir das Dirndl kaufen, vereinbaren, dass Schwester Regine es umtauschen kann, falls es nicht passt.«
»Na ja, wenn ihr meint?« Nick gab sich geschlagen. Dann aber fiel ihm ein neuer Einwand ein. »Glaubt ihr, dass wir genügend Geld zusammenbekommen? In meiner Kasse herrscht eine ziemliche Ebbe.«
Nicks Bruder Henri war um einen Ausweg nicht verlegen. »Wir bitten einfach Mutti, dass sie uns den Rest gibt«, schlug er vor.
Das taten sie dann auch. Denise fand den Plan der Kinder vorzüglich und erklärte sich spontan bereit, nicht nur die fehlende Barschaft zu ergänzen, sondern auch mit Pünktchen und Irmela nach Maibach zu fahren, um dort den Einkauf zu tätigen.
»Wollt ihr auch mitkommen?«, fragte sie ihre Söhne.
Nick und Henrik tauschten einen Blick des Einverständnisses, und Nick sagte: »Ehrlich gestanden, lieber nicht. Wir wären euch ja doch nur im Weg, da wir von Dirndln absolut nichts verstehen.«
Später, nachdem sie in Maibach erfolglos sechs einschlägige Geschäfte abgeklappert hatten, war Denise froh, dass ihre Söhne es abgelehnt hatten, sie zu begleiten. Nick und Henrik hätten kaum so viel Geduld aufgebracht, wie die Mädchen.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Denise die beiden Mädchen. »Wir waren in allen zuständigen Geschäften, und ich kenne kein weiteres Geschäft, in dem es Dirndl gibt. Ihr müsst euch entscheiden.«
»Ach, ich weiß nicht«, sagte Pünktchen unentschlossen.
Man hatte ihnen in den sechs Läden Dirndl aller möglichen Farben und Stilrichtungen vorgelegt. Es hatte solche gegeben, deren Schnitt sich in alte Trachten anlehnte, und solche, die ganz und gar modern waren. Sie waren gemustert, bestickt und aus einfarbigem Leinen gewesen. Aber ein Manko hatten sie alle gehabt: Keine rosa Schürze.
»Dieses blaue mit der weißen Stickerei und der weißen Bluse und Schürze war doch recht hübsch«, erinnerte sich Denise.
»Ja, aber die Schürze war nicht rosa«, erwiderte Pünktchen unerbittlich.
»Wenn ihr unbedingt Rosa dabeihaben wollt, warum nehmt ihr dann nicht das Dirndl mit dem rosa Rock und dem braunen Oberteil?«
»Meinst du das mit der gelblichen Bluse und der gelblichen Schürze?«
»Ja, genau das meine ich, Pünktchen«, sagte Denise.
»Es hat recht schön ausgesehen«, gab Pünktchen widerwillig zu. »Sollen wir es kaufen?«
»Ja. Wenn ihr noch länger zögert, sperren die Geschäfte zu, und wir kommen mit leeren Händen nach Hause. Ich brauche euch wohl nicht darauf aufmerksam zu machen, dass Nicks Kommentar in diesem Fall spöttisch ausfallen wird.«
»Aber wird dieses Dirndl Schwester Regine auch gefallen? Wird sie damit zufrieden sein?«
»In diesem Punkt kann ich euch beruhigen«, sagte Denise. »Es wird ihr gefallen.«
Sie war es dann auch. Schwester Regine war so gerührt, dass sie keine Worte fand.
»Hoffentlich macht es nichts, dass es nicht genauso aussieht, wie das andere«, sagte Irmela zaghaft. »Wir haben alle Läden durchstöbert, aber wir haben kein gleiches gefunden.«
»Oh, es ist wunderschön«, beteuerte Schwester Regine ein wenig heiser. »Viel schöner, als das andere war. Aber wie soll ich euch danken? Ich verdiene doch gar nicht, dass ihr für mich euer Geld ausgebt und …«
»Doch. Du verdienst es!«, rief Vicky. Angelikas jüngere Schwester. »Weißt du nicht, wie lieb wir dich alle haben?« Sie umarmte die Kinderschwester, der beinahe die Tränen kamen.
»Ich habe euch auch lieb«, murmelte Schwester Regine. Dann riss sie sich zusammen, drängte die Tränen zurück und sagte: »Und ich verspreche euch, dass ich auf dieses Dirndl besser achten werde. Wenn ich in den Weiher springen muss, ziehe ich es vorher aus.«
Alle lachten. So war es den Kindern von Sophienlust gelungen, die Folgen von Stefans Unüberlegtheit aus der Welt zu schaffen und obendrein Schwester Regine eine große Freude zu machen. Das braune Dirndl war wirklich schön und saß wie angegossen. Aber das Schönste war für Schwester Regine, dass die Liebe, die sie den Kindern entgegenbrachte, von ihnen erwidert wurde.
*
Im Gegensatz zu Pünktchens Prophezeiung hatte das unfreiwillige Bad im Weiher für Stefan keinerlei Folgen. Er bekam nicht einmal die Spur eines Schnupfens.
Stefan hatte sich von Anfang an mit allen Kindern gut verstanden und sich schnell in Sophienlust eingelebt. Er spielte gern mit Heidi, die im gleichen Alter war wie er. Noch lieber war er aber mit Henrik beisammen, zu dem er bewundernd aufblickte.
Den Tod seiner Mutter hatte man ihm bisher verheimlicht. Stefan fragte zwar häufig nach seinen Eltern, aber die Kinder konnten auf diese Fragen nichts erwidern, da sie nichts wussten, und die Erwachsenen gaben ausweichende Antworten. So ahnte der Junge auch nicht, dass der Mann, den er für seinen Vater hielt, noch immer im Krankenhaus lag.
Der einzige Besuch, den Stefan erhielt, war Tante Nina. Sie ließ es sich nicht nehmen, ihn jeden Sonntag aufzusuchen und ihn zu einem Spaziergang oder Ausflug abzuholen.
Nina hatte erkannt, dass sie sich jedes Mal auf das Zusammensein mit Stefan freute und den Sonntag die ganze Woche über ungeduldig herbeisehnte. Diesen Tag widmete sie uneingeschränkt dem Jungen, der allmählich zu einem festen Bestandteil ihres Lebens wurde.
Denise von Schoenecker sah diese Entwicklung mit Genugtuung. Sie fand es erfreulich, dass Nina Leskowitsch den Sohn ihres Mannes so lieb gewonnen hatte. Das würde Stefan den Verlust seiner Mutter ein wenig erträglicher machen. Außerdem hoffte Denise, dass es Nina gelingen würde, ihren Mann zugunsten des Jungen zu beeinflussen.
Doch es kam anders. Als Nina schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, Rudi jemals wiederzusehen, erschien er eines Abends mit seinen Koffern in der Wohnung. Er begrüßte sie so herzlich, als sei nicht das Geringste zwischen ihnen vorgefallen.
»Diesmal hat es etwas länger als sonst gedauert«, bemerkte er beiläufig, »aber dafür sind mir etliche gute Abschlüsse gelungen.«
»Ach!« Nina befand sich in einem Zwiespalt. Am liebsten wäre sie über ihren Mann hergefallen und hätte ihn mit Vorwürfen überschüttet. Doch die Vernunft sagte ihr, dass das wenig Sinn hatte. Einen Streit heraufzubeschwören, war das Letzte, was sie sich wünschte. Ein behutsames Vorgehen war ratsamer und würde eher zum Ziel führen.
»Und wie geht es dir?«, fragte Rudi. »Hast du dir die Zeit vertrieben?«
»Die Zeit vertrieben? O ja, das habe ich. Das kann man wohl sagen«, erwiderte sie bedeutungsvoll.
Rudi lachte unbekümmert. »Du versuchst anscheinend mich eifersüchtig zu machen. Aber das wird dir nicht gelingen. Ich weiß, dass ich mich auf dich verlassen kann.« Er wollte sie küssen, doch sie trat einen Schritt zurück.
»Du bist meiner zu sicher. Du denkst, du kannst dir alles erlauben«, murmelte sie.
»Aber, Ninaschätzchen! Spielst du vielleicht auf diesen dummen Streit an? Du musst doch wissen, dass ich es nicht böse gemeint habe. Ich war gereizt und schlecht aufgelegt, aber das hat sich wieder gegeben. Du kannst mir doch deswegen nicht ernstlich böse sein.«
»Deswegen nicht«, sagte Nina leise.
Er horchte auf. »Weswegen sonst?«, fragte er mit angespannter Miene.
Nina schwieg. Rudi war so unverhofft bei ihr aufgetaucht, dass sie erst einmal überlegen musste, wie sie beginnen sollte.
Er beobachtete sie eine Weile und fragte dann: »Sind irgendwelche Briefe für mich eingetroffen? Etwas Außergewöhnliches?«
Sie glaubte einen lauernden Tonfall aus seiner Stimme herauszuhören, nahm jedoch an, dass sie sich getäuscht hatte. »Nein, nur die üblichen Prospekte und zwei Nummern von der Zeitschrift, die du abonniert hast«, erwiderte sie. »Ich habe alles auf deinen Schreibtisch gelegt.«
»Also hast du gewusst, dass es mir mit dem Streit nicht ernst war und dass ich wieder zurückkommen würde«, triumphierte er.
»Ich habe es gehofft«, entgegnete Nina ernst.
»Na, dann ist doch alles in bester Ordnung!«, rief er aus. »Ich bin wieder da, weil ich es ohne dich nicht ausgehalten habe. Du hast ja keine Ahnung, welche Sehnsucht ich nach dir hatte.«
»So?«
»Und dir scheint es nicht anders ergangen zu sein. Also, gib schon zu, dass du dich über die reuige Heimkehr deines Mannes freust!«, rief er und zog dabei eine komische Grimasse, um Nina zum Lachen zu bringen.
Aber sie reagierte nicht. In ihrem Kopf kreiste einzig und allein das Problem Stefan.
»Na, was ist?«, fragte Rudi ungeduldig. »Warum stehst du herum und machst so ein Gesicht? Wir wollen etwas unternehmen. Zieh dich um! Nein, warte, erst musst du sehen, was ich dir mitgebracht habe.«
Mechanisch nahm Nina das Päckchen, das er ihr reichte, entgegen und riss das Papier herab. Das Geschenk entpuppte sich als elegantes und gewiss teures Handtäschchen.
»Hast du ein passendes Kleid und passende Schuhe dazu?«, erkundigte sich Rudi besorgt.
»Ob ich was …? Ach so, ja, wahrscheinlich.«
»Dann beeile dich!«
»Nein, Rudi, ich möchte heute nicht ausgehen«, erklärte Nina fest. »Ich muss mit dir reden.«
»Was soll das? Du weißt, dass ich lange Diskussionen verabscheue. Sie führen zu nichts. Ich habe bereits zugegeben, dass der Streit unlängst meine Schuld war. Was willst du mehr? Gut, ich entschuldige mich. Es tut mir wirklich leid.«
»Wirklich?«
»Ja. Aber damit sollte der Fall nun wohl erledigt sein. Oder bist du nachtragend?«
»Ich? Nachtragend? Nein. Gerade du müsstest das längst wissen. Ich fürchte, wir reden aneinander vorbei. Es geht jetzt nicht um mich und um den dummen Streit, den wir vor deiner Abreise hatten.«
»Nein? Ist …, ist vielleicht sonst etwas vorgefallen?« Rudi schien sich plötzlich unbehaglich zu fühlen. Bisher war er noch nie ins Stottern geraten oder um ein Wort verlegen gewesen. Aber genau das war im Moment der Fall.
Nina holte tief Luft. »Hast du vor deiner Abreise einen Brief von einer gewissen Martha Kern erhalten?«, fragte sie und bemühte sich, dabei ruhig zu bleiben.
Rudi gab ihr keine Antwort, sondern setzte sich in einen Fauteuil und zog eine Zigarettenpackung und sein Feuerzeug hervor. »Wo ist der Aschenbecher, der sonst immer auf dem Tisch hier steht?«, fragte er dabei.
Nina holte den Aschenbecher, der aus Bleikristall und ziemlich schwer war, und stellte ihn mit einem hörbaren Knall auf den Tisch.
Rudi zündete sich mit aufreizender Langsamkeit eine Zigarette an.
»Hast du nicht gehört? Ich habe dich etwas gefragt?«, drängte Nina.
»Ja«, erwiderte er gedehnt. »Ich habe schon verstanden. Ich habe einen Brief von Martha Kern erhalten, aber es geht mir nicht ein, wie du zu dieser Frage kommst.«
»Warum hast du mir nichts von diesem Brief erzählt?«, forschte Nina weiter.
»Zum Kuckuck, was sollen diese Andeutungen? Erkläre dich deutlicher. Hat diese Martha Kern einen zweiten Brief geschrieben, und hast du ihn geöffnet?«
»Nein, sie hat nicht geschrieben. Zumindest nichts, was man als Brief bezeichnen könnte. Sie hat zu wesentlich drastischeren Maßnahmen gegriffen.«
»Was? So rede endlich! Willst du mich auf die Folter spannen?«
»Martha Kern hat deinen Sohn Stefan vor unsere Wohnungstür gestellt, sodass ich beim Heimkommen über ihn stolpern musste«, erklärte Nina knapp.
Rudi starrte sie an. »Das ist Unsinn«, sagte er nach einer Weile mühsam. »Ich habe keinen Sohn.«
»Ach, Rudi«, erwiderte Nina mit müder Stimme, »du kannst mir nichts vormachen. Du hast einen Sohn, der Stefan Reiter heißt.«
»Stefan Reiter? Nie gehört.«
»Stell dich nicht so an. Stefans Tante hat dir einen Brief geschrieben. Ich weiß zwar nicht, was darin stand, aber ich kann es mir so ungefähr vorstellen.«
»Nun ja, diese Frau hat mir geschrieben, das habe ich ja bereits zugegeben. Aber in dem Brief stand nichts als blanker Unsinn. Dummes Gefasel, ihren Neffen betreffend. Er sei nicht der Sohn ihres Bruders, sondern ein Kuckucksei, das ihre Schwägerin in die Ehe eingeschmuggelt habe. Einfach lachhaft.«
»Ich finde es nicht lachhaft. Warum hast du den Brief nicht beantwortet?«
»Weil ich mich nicht erpressen lasse. Diese Frau hatte aber nichts anderes im Sinn. Sie drohte, mich zur Rechenschaft zu ziehen. Eine Frechheit! Ich bin schließlich kein Verbrecher.«
»Nein, natürlich nicht.« Unversehens sah sich Nina in die Defensive gedrängt. »Was hast du nach Erhalt des Briefes unternommen?«
»Nichts. Ich habe ihn einfach ignoriert.«
»Aber, Rudi! Wenn sie dich zu Unrecht beschuldigte. Aber nein, das ist nicht möglich …«
»Du stellst dich also gegen deinen eigenen Mann und hältst zu dieser Martha Kern?«
»Ich muss. Stefan …«
»Ich bin von dir zutiefst enttäuscht. Du glaubst also wirklich, dass ich ein uneheliches Kind habe?«
»Wenn jemand von uns beiden das Recht hat, enttäuscht zu sein, dann bin ich es«, wies Nina ihren Mann zurecht. »Ja, ich bin überzeugt, dass Stefan dein Sohn ist«, erklärte sie fest.
»Nina! Wie kannst du diesen ungerechtfertigten Beschuldigungen nachgeben?«
»Sie sind nicht ungerechtfertigt. Vergiss nicht, dass ich Stefan, zum Unterschied von dir, gesehen habe.«
»Und?«
»Er sieht dir ähnlich.«
»Mein Gott! Wenn auch eine gewisse Ähnlichkeit vorhanden ist, was besagt das schon?«, meinte Rudi mit einer wegwerfenden Handbewegung.
»Stefan ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten.«
Jetzt war Rudi doch betroffen und für kurze Zeit sprachlos. Dann murmelte er: »Das kann ein Zufall sein.«
»Ich glaube nicht an solche Zufälle. Merkst du nicht, dass leugnen keinen Sinn hat? Es wäre viel besser, wenn du mir endlich die Wahrheit anvertrauen würdest.«
Rudi rauchte mit ein paar hastigen Zügen seine Zigarette zu Ende und lehnte sich dann zurück. »Setz dich«, bat er Nina. »Solange du vor mir stehst und mich ansiehst, als wäre ich ein unappetitliches Insekt, bin ich überhaupt nicht fähig, etwas zu sagen.«
Nina setzte sich auf die Kante eines Stuhles und sah ihren Mann nachdenklich an. »Ich habe noch nie erlebt, dass du nicht fähig bist, etwas zu sagen«, stellte sie fest.
»In diesem Fall schon. Nachdem ich diesen Brief gelesen hatte, war ich wie vor den Kopf geschlagen. Ich habe nie im Leben eine Ilse Reiter gekannt …«
»Rudi!«
»Unterbrich mich nicht. Ich habe den Brief zerknüllt und in den Papierkorb geworfen. In diesem Moment war ich fest davon überzeugt, dass er nichts anderes als unverschämte Lügen enthalte. Erst später fiel mir ein, dass ich einmal eine flüchtige Bekanntschaft mit einem Mädchen namens Ilse angeknüpft hatte.«
»Gar so flüchtig kann diese Bekanntschaft nicht gewesen sein«, warf Nina bissig ein.
»Doch. Zumindest von meiner Seite aus. Ich habe diese Ilse – der Zuname ist mir inzwischen total entfallen – also, ich habe Ilse in irgendeinem kleinen Nest in Österreich kennengelernt. Sie verbrachte dort ihren Urlaub. Was kann ich dafür, dass sie gleich zu allem bereit war? Sie hätte auch nein sagen können. Aber sie war auf ihren Verlobten böse, der seinen Urlaub hatte verschieben müssen, und ließ sich nur zu gern von mir trösten. Dieses dumme Ding scheint sich Hoffnungen gemacht zu haben, mich dranzukriegen …«
»Rudi! Du sprichst von einer Toten!«
»Das habe ich ganz vergessen«, gab er ein wenig beschämt zu. »Jedenfalls bedeutete sie mir nichts. Es war nur eine kleine Abwechslung, aber sie hat sich mir geradezu aufgedrängt«, meinte er entschuldigend, da Ninas Gesicht einen bitteren Ausdruck angenommen hatte.
»Was würdest du sagen, wenn ich den Männern, die sich mir schon aufgedrängt haben, nachgegeben hätte? Hältst du mich für ein Mauerblümchen, das keinerlei Aufmerksamkeit erregt?«
»Aber nein, im Gegenteil. Du bist schön und charmant, und ich weiß das zu schätzen. Aber dass du mit anderen Männern … Nein, das ist absurd. Das wäre ja Betrug!«
»Und bei dir? Was ist es da?«
»Haben wir dieses Thema nicht bereits zur Genüge erörtert? Ich habe angenommen, dass du meinen Standpunkt akzeptiert hättest. Ich lasse mich nun einmal nicht an die Leine legen«, meinte er gereizt. »Du hast keinen Grund zur Klage. Ich habe dich nie vernachlässigt.«
»Und wenn es mich trotzdem kränken würde?«
»Weshalb? Ich habe dir erklärt, dass mir keine dieser Frauen auch nur das Geringste bedeutete. Auch diese Ilse nicht. Trotzdem war ich töricht genug, ihr auf ihr Drängen hin meine Anschrift zu verraten. Wenn ich geahnt hätte, was daraus für Komplikationen entstehen würden, hätte ich mich beizeiten aus dem Staub gemacht.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen.«
»Du brauchst gar nicht ironisch zu werden. Du hast ja keine Ahnung, was dieses Mädchen im Sinn hatte. Sie wollte mich doch wirklich einfangen, aber da ist sie bei mir an den Falschen geraten.«
»Einfangen? Wie meinst du das?«
»Sie hat verlangt, dass ich sie heirate.«
»Aber, Rudi, wann … Stefan ist jetzt fünf Jahre alt. Das alles muss vor ungefähr sechs Jahren passiert sein, und damals waren wir schon verheiratet …«
»Natürlich waren wir verheiratet. Aber ebenso natürlich habe ich ihr diese Tatsache zu Beginn unserer Bekanntschaft nicht auf die Nase gebunden. Sie wäre sonst kaum so entgegenkommend gewesen.«
Nina schüttelte sich, aber sie biss sich auf die Lippen. Rudi musste erst mit seiner Erzählung zu Ende kommen, dann würde sie …
Nina wusste im Augenblick selbst noch nicht, was sie tun würde. Sie war sich über ihre eigenen Gefühle nicht im Klaren. Es konnte doch unmöglich Ekel sein, was in ihr hochstieg.
»Erzähle weiter«, forderte sie ihren Mann tonlos auf.
»Nachdem zwei Monate vergangen waren und ich längst nicht mehr an sie dachte, schrieb sie mir. Der Brief strotzte nur so von Vorwürfen. Warum ich mich nicht mehr gemeldet hätte – und so weiter. Zum Schluss kam die Eröffnung, dass sie schwanger sei und von mir erwarte, dass ich die Konsequenzen daraus ziehe.«
»Hm. Und was hast du getan?«, fragte Nina, als Rudi stockte.
»Gutmütig, wie ich bin, fuhr ich sogleich nach Wien. Dort wohnte Ilse nämlich. Brr – ich mag nicht mehr daran denken. Diese Heulerei, nachdem ich ihr klargemacht hatte, dass eine Heirat nicht infrage käme. Einmal beschuldigte sie mich in der unsinnigsten Weise, dann wieder flehte sie mich an, ihr zu helfen, weil ihre Eltern so streng seien und sie aus dem Haus werfen würden. Sie glaubte wohl, mich auf diese Art mürbe zu bekommen, aber da hatte sie sich getäuscht. Ich blieb standhaft.«
»Und darauf bist du noch stolz!«, rief Nina voll Empörung aus.
»Gerade du solltest darüber froh sein. Oder wäre es dir recht gewesen, wenn ich mich von dir hätte scheiden lassen, um dieses unscheinbare Mädchen zu heiraten? Nicht, dass ich auch nur einen Augenblick lang diese Absicht gehabt hätte. Ich hätte Ilse niemals geheiratet, und auf gar keinen Fall, um meine Pflicht als Vater zu erfüllen. Kinder sind mir lästig. Ich will meine Ruhe haben.«
»Deine Ruhe? Du? Wo dir kein Trubel laut genug sein kann?«
»Das ist etwas anderes. Auf Kindergeplärr lege ich jedenfalls keinen Wert. Und das habe ich Ilse auch klipp und klar erklärt.«
»Du hast dich wie ein Scheusal verhalten. Das arme Mädchen so im Stich zu lassen …«
»Aber nein, ich habe sie nicht im Stich gelassen. Ich habe mich pausenlos nach einer Adresse umgehört, und als ich endlich eine hatte, war sie entsetzt und wollte nichts davon wissen.«
»Eine Adresse?«, warf Nina fragend ein.
»Stell dich nicht so dumm. Eine Adresse von einem Arzt natürlich, der bereit war, eine Abtreibung durchzuführen?«
»Wie herzlos«, murmelte Nina.
»Herzlos? Na, hör einmal – ich hätte doch dafür gezahlt. Ich bot ihr das nötige Geld an, aber sie lehnte ab. Dumm von ihr, aber so war sie nun einmal.«
»Was war weiter?«
»Nichts. Nachdem ich ihr meinen Standpunkt auseinandergesetzt hatte, ist ihr wohl aufgegangen, dass sie mit ihrem Gejammer bei mir nicht durchkommen würde. Ich bin dann abgereist und habe von ihr nichts mehr gehört. Aber sie scheint einen Narren gefunden zu haben, der sie geheiratet hat. Diesen Erwin Reiter.«
»Rudi, du …, du bist einfach widerlich«, stieß Nina hervor.
Er zuckte mit den Schultern.
»Weil ich das ausspreche, was ich denke?«, fragte er. »Ich bin eben kein Heuchler.«
»O doch. Du hast mir den Brief von Frau Kern unterschlagen …«
»Der Brief war einzig und allein an mich gerichtet.«
»Aber du hättest mir etwas davon sagen müssen.«
»Ich wollte dich nicht beunruhigen. Ich gebe zu, der Brief trug die Schuld daran, dass ich so gereizt und unfreundlich zu dir war. Schließlich dachte ich, dass es das Beste wäre, für eine Weile zu verschwinden. Ich hoffte, dass die Sache inzwischen im Sande verlaufen würde.«
»Da hast du dich getäuscht. Martha Kern hat Stefan hergebracht. Sie ist nicht gewillt, länger für ihn zu sorgen. Nachdem die Mutter des Jungen tot ist, bist du derjenige, der die Verantwortung für ihn zu übernehmen hat.«
»Nein. Da weigere ich mich ganz entschieden.« Rudi griff erneut nach dem Zigarettenpäckchen und zündete sich eine zweite Zigarette an.
Nina sah auf ihre Finger, die sie ineinander verschlungen hatte. In ihrem Inneren kämpften zweierlei Gefühle. Einerseits war sie nun so weit, dass Rudi sie anwiderte. Sie fragte sich, wieso sie jemals Liebe für ihn hatte empfinden können. Er war herzlos und egoistisch. Und doch war er ihr Mann. Das Pflichtgefühl gewann schon wieder die Oberhand. Und da war ja auch noch Stefan. Nina war gesonnen, für sein Wohl oder für das, was sie für sein Wohl hielt, zu kämpfen. Stefan zuliebe war sie bereit, bei Rudi zu bleiben. Der Junge sollte für den Verlust seiner Mutter entschädigt werden. Sie selbst wollte sich bemühen, ihm die Mutter zu ersetzen. Aber dazu brauchte sie Rudi. Sie musste bei ihrem Mann Verantwortungsgefühl für seinen Sohn erwecken.
»Stefan ist ein sehr netter Junge«, begann sie. »Ich bin überzeugt, wenn du ihn erst einmal siehst, wirst du ihn lieb gewinnen.«
»Quatsch, der Bengel kann mir gestohlen bleiben.«
»Rudi, es ist dein Sohn. Wir müssen Stefan bei uns aufnehmen und uns um ihn kümmern.«
»Ich verstehe dich nicht. Was hast du mit Stefan zu tun? Dich geht er doch nichts an. Sei froh, dass ich ihn ablehne.«
»Ich bin aber nicht froh darüber. Stefan tut mir leid. Was immer ich auch gegen seine Mutter vorzubringen hätte – die Arme ist tot. Toten darf man nichts Schlechtes nachsagen. Sie können sich nicht mehr wehren. Ich habe nur deine Version der Angelegenheit gehört, Stefans Mutter würde wohl anders davon sprechen. Aber das ist zweitrangig. In erster Linie geht es um den Jungen. Er braucht ein Zuhause.«
»Möglich. Aber nicht bei uns.«
»Wo denn?«
»Was weiß ich? Wo ist er eigentlich jetzt? Hast du seine Tante dazu überreden können, ihn wieder mitzunehmen?«
»Nein.« Nina erzählte ihrem Mann von Sophienlust.
»Na, dann ist er ohnehin gut aufgehoben«, sagte Rudi, als Nina mit ihrem Bericht fertig war. »Was willst du mehr? Lass ihn in Sophienlust.«
»Kannst du es denn nicht begreifen?«, rief Nina. »Stefan ist dein Kind, dein Sohn! Du kannst ihn nicht in Sophienlust lassen. Es ist deine Pflicht, für ihn zu sorgen. Schließlich hast du ihn in die Welt gesetzt.«
»Und für dieses kurze Vergnügen soll ich nun büßen?«, fragte Rudi höhnisch. »Ich hatte nicht die Absicht, ihn in die Welt zu setzen, wie du es so schön nennst, und ich lehne daher auch jegliche Verantwortung für den Jungen ab.«
»Das kann nicht dein Ernst sein.«
»Es ist mein Ernst. Du solltest mich gut genug kennen, um zu wissen, dass ich mir nicht irgendeinen Bengel auf den Hals lade.«
»Stefan ist nicht irgendein Bengel. Ach, wenn du wüsstest, wie sehr er dir gleicht«, seufzte Nina. Allerdings nur im Äußeren, Gott sei Dank nicht im Wesen, fügte sie bei sich hinzu.
»Schluss jetzt. Ich will kein Wort mehr über den Jungen hören«, erklärte Rudi.
»Das wird schwer möglich sein«, entgegnete Nina. »Du kannst den Kopf nicht länger in den Sand stecken und die Sache auf sich beruhen lassen. Man wird Alimente von dir fordern.«
»Wer sollte Alimente fordern?«
»Was weiß ich? Vermutlich die Vormundschaftsbehörde. Einstweilen lebt Erwin Reiter noch. Offiziell gilt er als Stefans Vater. Aber wenn er stirbt, wird die Sache wohl ins Rollen kommen.«
»Soll sie«, sagte Rudi kalt. »Ich werde es auf einen Vaterschaftsprozess ankommen lassen. Natürlich werde ich dabei kein Wort von dem, was ich dir eben anvertraut habe, fallenlassen. Ich bleibe einfach dabei, dass ich niemals eine Ilse Reiter gekannt habe.«
»Wie schlecht du bist!«, rief Nina erschüttert aus.
»Weil ich mich meiner Haut wehre? Weil ich wegen dieser dummen Geschichte keine finanziellen Einbußen auf mich nehmen will?«
»Du bist auch sonst nicht gerade sparsam …«
»Nein, das bin ich nicht. Aber ich will für mein Geld einen Gegenwert bekommen.«
»Die Liebe deines Kindes …«
»Das ist alberne Gefühlsduselei«, unterbrach er sie.
»Dann wirst du es auch als Gefühlsduselei bezeichnen, dass Ilse Reiter auf dem Sterbebett ihre Schwägerin gebeten hat, Stefan dir anzuvertrauen, damit der Junge nicht völlig verwaist aufwächst.«
»Ja, dieses blöde Gewäsch stand auch in dem Brief. Ich habe es satt. Und dir erkläre ich, dass ich nahe daran bin, die Geduld zu verlieren. Es wird gut sein, wenn du den Jungen mir gegenüber nie wieder erwähnst.«
»Ich werde mich daran halten«, erwiderte Nina leise.
Rudi sah auf die Uhr. »Wie viel unnütze Zeit wir vertrödelt haben«, murrte er. »Jetzt ist es zu spät, um noch auszugehen.«
»Ich habe nicht die Absicht, mit dir auszugehen. Nie wieder«, betonte Nina.
»Was soll das heißen?«, fuhr er auf.
»Es ist aus. Alles. Es ist zu Ende«, sagte Nina. Es kam ihr vor, als habe sie acht Jahre lang neben einem Fremden gelebt. Freilich hatte sie Rudis Charakter gekannt und auch gewusst, dass er oberflächlich, leichtfertig und vergnügungssüchtig war. Doch für sie hatten stets seine guten Eigenschaften im Vordergrund gestanden, an die sie sich geklammert und mit denen sie sich getröstet hatte. Nie hätte sie Rudi einer wirklichen gemeinen Handlungsweise für fähig gehalten.
Aber nun hatte sie den Beweis dafür, dass sie sich geirrt hatte. Rudi war gewissenlos und durch und durch egoistisch. Er hatte, ohne mit der Wimper zu zucken, ein Mädchen ins Unglück gestürzt. Unwillkürlich fragte sich Nina, ob Ilse Reiter die Einzige war, gegen die er sich derart gemein benommen hatte.
»Was ist aus?«, fragte Rudi.
Nina blickte ihn an, als ob sie ihn noch nie gesehen hätte. »Du fragst noch?«, flüsterte sie. »Merkst du denn nicht, dass ich deine Gegenwart kaum mehr ertragen kann? Am liebsten würde ich … Oh, ich glaube, ich würde dich am liebsten umbringen.« Ihre Stimme hatte sich immer mehr gesteigert. Nun schrie Nina.
»Du bist hysterisch«, stellte Rudi gelassen fest.
»Möglich. Und wenn du nicht auf der Stelle gehst, werde ich wahnsinnig.«
»Wirfst du mich hinaus?«
»Ja. Ich habe genug von dir, genug – für immer. Ich will dich nie mehr sehen.«
»Überlege dir gut, was du sagst«, drohte er. »Es könnte sonst sein, dass ich deinem Wunsch nachkomme.«
»Tu das, aber möglichst schnell.«
»Nina, du bist überreizt«, versuchte er nun einzulenken. »Du weißt nicht, was du redest.«
»Es stimmt, dass ich überreizt bin. Trotzdem weiß ich, was ich rede.« Nina war es gelungen, die Beherrschung zurückzuerlangen.
Sie wusste, sie musste Rudi zeigen, dass es ihr mit allem, was sie sagte, vollkommen ernst war. »Ich werde mich von dir scheiden lassen. Ich will nicht länger mit einem derart gewissenlosen Menschen verheiratet sein. Ich kann es einfach nicht mehr ertragen.«
»Das ist Unsinn, Nina. Nur wegen dieses Jungen, den ich nicht einmal kenne und den ich auch nie kennenlernen will? Ich beginne ihn zu hassen. Er hat sich in unsere Ehe gedrängt …«
»Und ich beginne dich zu hassen«, unterbrach Nina ihren Mann heftig.
»Nina! Du sprichst mit mir, mit deinem Rudi …«
»Sei still!«
»Hast du vergessen, wie viel Spaß wir miteinander hatten?«
Nein, das hatte sie nicht vergessen. Aber jetzt ging es nicht um einen Spaß, sondern um ernstere Dinge, die Rudi nicht wahrhaben wollte.
»Gut, ich bin mit der Scheidung einverstanden«, sagte er schließlich, da Nina beharrlich schwieg. »Aber nur, weil ich weiß, dass du es bereuen wirst. Du wirst mich vermissen, und eines Tages wirst du mich anflehen, dich wiederzunehmen.«
*
Stefan ahnte nichts von alledem. Nina besuchte ihn nach wie vor in Sophienlust und trug ihm gegenüber immer eine heitere Miene zur Schau. Der Junge wusste nicht, dass er indirekt die Schuld an dem Zerwürfnis zwischen ihr und ihrem Mann trug.
Denise von Schoenecker hingegen wusste Bescheid. Ihr hatte Nina sich anvertraut. Einerseits deshalb, weil sie jemandem ihr Herz ausschütten musste, andererseits, weil sie Frau von Schoenecker in Bezug auf Stefan um Rat fragen wollte.
»Mein Mann – bald muss ich sagen, mein geschiedener Mann – hat sich geweigert, Stefan anzuerkennen«, berichtete Nina. »Solange er nicht dazu gezwungen wird, ignoriert er den Jungen. Was soll man da machen?«
Denise überlegte nur kurz. »Nichts«, erwiderte sie. »Wir wollen abwarten. Ich habe auch eine Neuigkeit. Im Gegensatz zu Ihnen eine erfreuliche. Allen düsteren Prophezeiungen zum Trotz beginnt Erwin Reiter sich langsam zu erholen. Beinahe könnte man an ein Wunder glauben. Die Ärzte hatten ihn nämlich schon aufgegeben.«
»Ich sehe nicht ein, was Erwin Reiters Genesung mit Stefan zu tun hat«, warf Nina zögernd ein, obwohl sie natürlich ahnte, worauf Frau von Schoenecker hinauswollte.
»Erwin Reiter hat sich bisher für Stefans Vater gehalten. Vielleicht verzeiht der dem Jungen, der nichts dafür kann. Ich meine, vielleicht hat Erwin Reiter Stefan weiterhin gern. Sie selbst tragen dem unschuldigen Kind ja auch nicht den Fehltritt seiner Eltern nach.«
»Nein. Ich habe Stefan gern«, bestätigte Nina. »Gerade deshalb würde mich kränken, wenn Erwin Reiter ihn von Sophienlust wegholen und nach Wien oder sonstwohin bringen würde.«
»Das darf Sie nicht kränken. Es wäre für Stefan die günstigste Lösung. Das Kind hängt an seinen Eltern. Es weiß noch nicht, dass es die Mutter verloren hat. Wenn es wenigstens den Vater behalten dürfte, wäre das ein Glück.«
»Ja, gewiss«, sagte Nina beschämt. »Ich muss vor allem Stefans Wohl im Auge behalten. Nur – ein wenig habe ich gehofft … Ich meine, ich habe mit dem Gedanken gespielt, Stefan die Mutter zu ersetzen. Wahrscheinlich war das anmaßend von mir.«
»O nein«, beruhigte Denise die junge Frau. »Nicht anmaßend. Aber dieses Vorhaben würde sich sowieso schwer durchführen lassen. Bedenken Sie doch, wie wenig Zeit Sie für den Jungen aufwenden können.«
Nina nickte. »Das ist mir bewusst«, erwiderte sie. »Aber ich habe gedacht, wenn Stefan älter und vernünftiger geworden ist und zur Schule geht …«
»Bis dahin ist noch Zeit«, sagte Denise, und da sie Nina nicht jede Hoffnung rauben wollte, wiederholte sie: »Wir wollen abwarten.« Dann betrachtete sie Nina nachdenklich und sagte: »Sie sind so hübsch. Bei Ihren Zukunftsplänen dürfen Sie nicht außer Acht lassen, dass Sie aller Wahrscheinlichkeit nach bald wieder heiraten werden. Ihr künftiger Mann wird keine Freude haben, wenn Sie ein fremdes Kind mit in die Ehe bringen.«
Nina sah Denise von Schoenecker zuerst verständnislos an, dann widersprach sie heftig: »Nein, ich werde nie wieder heiraten. Das eine Mal hat mir gereicht.«
Denise lächelte und enthielt sich eines weiteren Kommentars.
*
Stefan zeigte im Übrigen wenig Neigung, vernünftiger zu werden. Er schien doch ein wenig von der Unbekümmertheit seines Vaters geerbt zu haben. Allerdings nicht im schlechten Sinne. Er war an allem interessiert, ohne an irgendwelche möglichen bösen Folgen zu denken.
»Man darf ihn nicht aus den Augen lassen«, seufzte Schwester Regine. »Gestern hat er versucht, den höchsten Baum von Sophienlust zu erklettern. Es ist ihm auch gelungen. Er war so flink, dass er schon halbwegs oben war, bevor mir seine Absicht klar wurde.«
»Von welchem Baum sprichst du?«, erkundigte sich Henrik. »Ich möchte auch hinauf. Was der kleine Stefan fertigbringt, schaffe ich noch lange.«
»Das glaube ich dir aufs Wort«, erwiderte Schwester Regine trocken. »Es besteht aber keinerlei Notwendigkeit für dich, es zu beweisen.«
»Stefan hast du es erlaubt«, schmollte Henrik.
»Ich habe es ihm nicht erlaubt«, verwahrte sich die Kinderschwester. »Aber wie hätte ich ihn daran hindern sollen? Ich konnte ihm doch nicht gut nachklettern. Solange er oben war, habe ich nicht einmal gewagt, mit ihm zu schimpfen, aus Angst, er könnte erschrecken und herunterfallen. Ich war ungeheuer erleichtert, als er von selbst wieder herunterkam. Beinahe hätte auch ich seinetwegen die Feuerwehr verständigt.«
»Schade, dass du das nicht getan hast. Es wäre ein Heidenspaß gewesen.«
»Für euch vielleicht. Oder nein, ihr hättet nichts davon gehabt, ihr wart ja in der Schule.«
»Die dumme Schule. Froh werde ich sein, wenn endlich die Ferien beginnen«, seufzte Henrik, im Moment von Stefan abgelenkt. Er kam jedoch sogleich wieder auf das ursprüngliche Thema zurück. »Sonst hat er nichts angestellt?«, fragte er.
»Nein. Was willst du denn noch alles hören?«
»Nichts. Aber wenn ich in Sophienlust bin, werde ich dir helfen, auf Stefan aufzupassen«, erbot sich der Junge.
»Du?«, fragte Schwester Regine gedehnt, denn es fielen ihr sämtliche Streiche ein, die Henrik sich schon geleistet hatte. Sie war der Ansicht, dass gerade Henrik nicht so besonders geeignet war, auf einen Jüngeren aufzupassen, sprach das aber nicht aus, da sie Henrik nicht kränken wollte.
Die kommenden Ereignisse zeigten dann jedoch, dass sie Henrik in Gedanken Unrecht getan hatte. Gerade ihm gelang es, eine Dummheit Stefans, die schwerwiegende Folgen hätte haben können, zu vereiteln.
Das Wetter war strahlend schön, ein sonniger Tag folgte auf den anderen. Schwester Regine war bestrebt, diese günstige Wetterlage auszunützen. Sie schickte die Kinder so oft wie möglich ins Freie. Aber nachdem diese ein paar Tage hindurch im Park von Sophienlust herumgetollt hatten, wurde ihnen der Aufenthalt innerhalb des Grundstücks langweilig. Sie lechzten nach Abwechslung.
»Gehen wir baden«, schlug Nick vor.
»Ich weiß nicht«, zögerte Schwester Regine, »das Wasser im Waldsee wird noch recht kalt sein.«
»Was macht das schon?«, rief Nick ungeduldig aus. »Keiner von uns ist zimperlich.«
»Das nicht, aber Fabian und Pünktchen sind ein wenig erkältet. Ich möchte nicht, dass sie sich eine Halsentzündung zuziehen. Andererseits kann man aber von ihnen nicht verlangen, dass sie euch beim Baden zusehen. Das wäre zu hart.«
Diesem Argument beugte sich Nick widerspruchslos. »Wir werden uns etwas anderes ausdenken«, meinte er. »Für einen längeren Ausflug ist der Nachmittag zu kurz …«
»Wie wäre es mit einer kleinen Wanderung in die nächste Umgebung?«, fragte Irmela.
»Ach, das ist fad«, tat Henrik diesen Vorschlag ab. »Höchstens, wenn uns Andrea einladen würde …«
»Da ist heute nichts zu machen. Sie ist nicht zu Hause«, sagte Nick. »Aber wir könnten den Waldweg nehmen, der zum Hof des Lechnerbauern führt. In dieser Gegend waren wir schon lange nicht.«
»Weil sie schrecklich öd ist«, maulte Henrik. »Dort ist nichts los. Nur Felder gibt es.«
»Ja«, rief Pünktchen lebhaft dazwischen. »Und Mohnblumen und Kornblumen. Ich möchte gar zu gern einen bunten Strauß pflücken.«
»Ich auch«, stimmte Irmela ihr zu. »Und zu Hause werde ich den Strauß dann malen«, beschloss sie.
»He, du hast ja noch keinen, und du wirst auch keinen bekommen!«, rief Henrik, aber er wurde von den anderen einfach überstimmt.
»Fast habe ich Sehnsucht nach einem gelben Weizenfeld, das im Wind leise wogt«, meinte Irmela versonnen. »Es stimmt einen so sommerlich.«
»Es ist noch zu früh. Der Weizen ist noch nicht gelb«, stellte Henrik kritisch fest. »Und außerdem weht heute kein Wind«, setzte er noch hinzu. Er fügte sich jedoch dann und trottete etwas missmutig hinter den anderen her, die mit beschwingten Schritten durch den Wald liefen. Schwester Regine führte die beiden Jüngsten, Heidi und Stefan an der Hand.
»Puh – müsst ihr so rennen? Mir ist heiß«, klagte Henrik, aber die Aussicht auf einen schönen bunten Feldblumenstrauß beflügelte die Mädchen, und die anderen Jungen wurden von deren Begeisterung mit fortgerissen.
Als sie bei den Feldern, die zwar nicht im Wind wogten, an deren Rändern aber rote Mohnblumen leuchteten, angekommen waren, suchte Schwester Regine nach einem schattigen Plätzchen. Sie fand es unter einem breiten Ahornbaum.
»Ich werde mich hierhersetzen«, meinte sie. »Ihr könnt nach Herzenslust Blumen pflücken, aber tretet nicht in das Getreide.«
Henrik hatte an den Blumen nur wenig Interesse. Er ging ein Stück den ausgetrockneten, von rissigen Sprüngen durchzogenen Feldweg bergauf und sah sich dabei nach Grillenlöchern um. Obwohl er etliche dieser Tiere in allernächste Nähe zirpen hörte, konnte er jedoch kein einziges entdecken und auch keine Spur von ihrer Behausung. Übelgelaunt gab er die Suche schließlich auf. Es wäre viel gescheiter gewesen, zu Hause zu bleiben und die neuen Rollschuhe auszuprobieren, dachte er. Na, morgen würde er klüger sein und sich auf keine Wanderung einlassen. Das Dumme war nur, dass Rollschuhlaufen allein keinen Spaß machte. Ob er versuchen sollte, Stefan diese Kunst beizubringen? Ja, das werde ich morgen tun, beschloss er. Ich werde ihm meine alten Rollschuhe borgen. Die genügen für den Anfang.
Henrik kehrte um und ging den Weg wieder zurück, in der Absicht, Stefan von dem Glück, das ihm bevorstand, sofort zu erzählen. Dabei stolperte er beinahe über seinen älteren Bruder, der auf einem schmalen Rasenstreifen neben einem Kleefeld lang ausgestreckt auf dem Rücken lag, an einem Grashalm kaute und in den Himmel starrte.
»Hast du nichts anderes zu tun, als faul da herumzuliegen?«, fragte Henrik.
»Was sollte ich denn sonst tun?«, erwiderte Nick gähnend. »Ich sehe mir die Wolken an. Schau einmal – die dort, die sieht aus wie ein frisch getrimmter weißer Pudel.«
»Nein, wie ein dummes Schaf«, widersprach Henrik ihm grollend. »Warum pflückst du eigentlich keine Blumen?«, spottete er. »Du warst ja vorhin ganz scharf darauf.«
»O nein, ich nicht«, stellte Nick ruhig richtig. »Ich bin nur darauf eingegangen, weil ich bemerkt habe, dass es den Mädchen Freude macht. Übrigens ist es recht angenehm, faul im Gras zu liegen. Versuch es doch auch.«
»Ich doch nicht«, sagte Henrik störrisch und ging weiter, um Stefan zu suchen.
Nach kurzer Zeit traf er ein paar von den übrigen Kindern, unter ihnen Heidi, die schon so viele Blumen ausgerupft hatte, dass sie den Strauß kaum noch in ihren kleinen Händen halten konnte. »Wo ist Stefan?«, fragte Henrik das Mädchen, denn meist steckte der Junge in Heidis Nähe.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Heidi und schaute sich um. »Hier ist er nicht«, meinte sie dann.
»Das sehe ich selbst«, entgegnete Henrik unwirsch.
»Vielleicht ist er bei Schwester Regine«, vermutete Pünktchen.
Doch Henrik brauchte nur einen kurzen Blick in Schwester Regines Richtung zu werfen, um zu merken, dass Pünktchens Vermutung nicht zutraf. Die Kinderschwester hatte Kopf und Rücken an den Stamm des Ahorns gelegt und die Hände um die angezogenen Knie geschlungen. Sie schien ebenso wie Nick in die Betrachtung der über den Himmel ziehenden Wolken versunken zu sein, und sie war allein.
»Ob ich Schwester Regine nach Stefan fragen soll?«, überlegte Henrik. »Nein, lieber nicht, womöglich gerät sie in Unruhe. Aber ich muss den Jungen finden, bevor er einen Unfug anstellt.«
Henrik lief zurück, um mit Nick zu beratschlagen. Dabei stieß er auf Fabian, der auf seine Frage erwiderte: »Ja, ich war mit Stefan beisammen. Wir haben Verstecken gespielt, aber Stefan hat sich so gut versteckt, dass ich ihn nicht gefunden habe. Ich habe gerufen, aber er hat nicht geantwortet. Wahrscheinlich wartet er so lange, bis ich ihn finde. Aber ich mag nicht mehr suchen. Er soll aus seinem Versteck herauskommen.«
Nun rief Henrik nach Stefan, aber ohne Erfolg.
»Nick muss uns suchen helfen«, meinte Henrik und eilte den Weg hinauf, wo er Nick noch in der gleichen Stellung antraf, in der er ihn verlassen hatte. Er stieß ihm mit der Fußspitze in die Seite, worauf Nick unwillig auffuhr.
»Lass das bleiben«, knurrte er. »Oder hast du Lust auf eine Rauferei? Lass dir nur gesagt sein, ich schone dich nicht. Bei mir ziehst du den Kürzeren.«
»Als ob ich das nicht wüsste«, erwiderte Henrik ärgerlich. »Aber warte nur, bis ich größer bin. Und jetzt erhebe dich endlich, und hilf uns, Stefan zu suchen.«
»Ist er euch abhandengekommen?«, fragte Nick träge.
»Er hat mit Fabian Verstecken gespielt und sich so gut versteckt, dass Fabian ihn nicht gefunden hat«, erklärte Henrik.
»Na, dann lasst ihn doch. Er wird schon zum Vorschein kommen. Wahrscheinlich will er Fabian bloß necken.«
»Ich habe aber so ein ungutes Gefühl«, meinte Henrik.
»Unsinn«, widersprach Nick ihm. »Es ist so still und friedlich hier. Im Wald kann er sich auch nicht verlaufen. Die Bäume stehen hier so schütter, dass man sich unmöglich verirren kann.«
»Ruf wenigstens einmal nach ihm«, bat Henrik. »Du bist schon groß, vor dir hat er wahrscheinlich mehr Respekt und kommt zum Vorschein, wenn er dich hört.«
»Also gut, von mir aus.« Nick rief laut Stefans Namen, aber auch er bekam keine Antwort. Achselzuckend wandte er sich an Henrik. »Du hast dich geirrt. Auch vor mir hat er keinen Respekt.«
»Komisch!« Henrik fuhr sich durch seinen braunen Haarschopf. »Hoffentlich führt er nichts im Schilde.«
»Na, du hast es notwendig, so etwas zu vermuten«, meinte Nick lachend.
»Eben weil ich weiß, wie schwierig es ist, ständig brav und besonnen zu sein, mache ich mir Sorgen«, sagte Henrik unruhig. »Aber du bist wahrscheinlich schon zu alt, um dich in Stefan hineinzuversetzen.«
»Diese Bemerkung war unfair«, entgegnete Nick. »Also gut, ich werde euch helfen, Stefan zu suchen. Hier ist er nicht vorbeigekommen. Ich hätte ihn bemerkt. Fangen wir mit unserer Suche dort an, wo Stefan und Fabian gespielt haben.«
Henrik und Fabian befolgten Nicks Anweisungen. »Hm, hier führt ein Weg direkt zum Hof des Lechnerbauern. Vielleicht war Stefan neugierig und ist diesen Weg entlanggelaufen. Wir wollen uns trennen«, ordnete Nick an. »Du, Fabian, läufst zu Schwester Regine und den anderen. Möglicherweise ist Stefan zu ihnen zurückgekommen. Henrik und ich werden diesen Weg hier weiterverfolgen. Henrik soll zum Bauernhof gehen, und ich werde die Abzweigung, die kurz davor nach Bachenau führt, durchsuchen.«
Fabian lief davon, und Nick ging mit weit ausholenden Schritten über den Feldweg. Es war ihm selbst unbegreiflich, aber er fühlte, dass er von der Unruhe seines Bruders angesteckt worden war.
Henrik lief keuchend hinter Nick her, aber er dachte nicht daran, Nick aufzufordern, langsamer zu gehen. So kamen die beiden zu der Weggabelung.
»Lauf hinüber zum Haus und erkundige dich dort«, befahl Nick. »Doch halt, nein, warte.« Er hob die rechte Hand und beschattete damit seine Augen, um sie gegen die Strahlen der tiefstehenden Sonne zu schützen. »Schau dort – der Traktor«, rief er Henrik zu. »Und daneben … Oh Gott!«
»Stefan! Wirst du das wohl bleiben lassen!«, brüllte Henrik aus voller Kehle.
Doch Stefan hörte nicht. Er war zu sehr damit beschäftigt, den Traktor zu erklettern.
»Bleib unten«, schrie Nick. »Das Ding kann jeden Augenblick umfallen und dich unter sich begraben.«
Aber Stefan hatte inzwischen bereits den Sitz des Fahrzeugs erklommen. Er bemerkte die heranstürmenden Jungen nicht und war auch taub gegen ihre Rufe. Seine Konzentration galt einzig und allein dem Traktor, der nur darauf zu warten schien, von ihm in Betrieb genommen zu werden.
»Halt, Stefan! Bist du wahnsinnig?«, schrie Nick. »Stell das sofort wieder ab!«
Der Traktor hatte sich langsam in Bewegung gesetzt und rollte nun auf Nick und Henrik zu. Jetzt erst erblickte Stefan die beiden.
»Stell das ab! Hörst du nicht?«
»Ich kann nicht! Ich weiß nicht, wie«, schluchzte Stefan.
»Geh aus dem Weg, Henrik«, befahl Nick. »Er fährt genau auf uns zu.«
»Aber Nick, wir müssen ihn stoppen! Wir können ihn nicht weiterfahren lassen!«, schrie Henrik voll Entsetzen.
»Nein. Aber es hat wenig Sinn, wenn du dich vor den Traktor wirfst. Ich werde versuchen … Lass mich los! Hör auf, dich an mich zu klammern!«
Nick versetzte seinem Bruder einen Stoß, sodass er in das Weizenfeld taumelte. Dann nahm er einen kurzen Anlauf und war mit einem Sprung oben auf dem Traktor neben Stefan. Der Protestschrei blieb Henrik im Halse stecken. Noch bevor er die Situation erfasst hatte, hatte Nick die Maschine schon zum Stillstand gebracht, und die Gefahr war vorüber.
»Nick! Was hast du gewagt!«, rief Henrik. »Du hättest …, hättest …, mir ist schlecht«, klagte er.
»Ja, du bist recht blass«, äußerte Nick.
»Du auch, du bist käseweiß«, stammelte Henrik mit zitternder Stimme.
»Mir ist auch nicht besonders gut«, gab Nick zu, sprang jedoch trotzdem ziemlich sicher auf den Boden und hob Stefan aus dem Traktor.
Auch Stefan war bleich. Er schien einen gelinden Schock erlitten zu haben, denn er brachte kein Wort hervor.
»Am liebsten würde ich …, würde ich …«, grollte Henrik.
»Ich kann mir vorstellen, was du am liebsten tun würdest«, unterbrach Nick ihn. »Aber lass den kleinen Kerl zufrieden. Er ist genauso erschrocken wie wir.«
»Na, hoffentlich ist es ihm eine Lehre.«
Nick schüttelte den Kopf. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen. »Ich fürchte, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllen. Überlege doch einmal. Du musst aus eigener Erfahrung wissen, dass es für einen kleinen Jungen immer wieder Dinge gibt, denen er nicht widerstehen kann und die er unbedingt erforschen muss.«
»Na ja, irgendwie hast du recht«, räumte Henrik ein. »Ein Pech, dass ausgerechnet ein Traktor hier herumstehen musste. Aber warum bist du nicht bei Fabian geblieben, sondern weggelaufen?«, fragte er Stefan.
»Ich wollte sehen, was hinter dem großen Feld ist«, erwiderte Stefan.
»Du bist eine wahre Plage«, seufzte Henrik. »In Zukunft werden wir dich an die Leine legen müssen.«
»An die Leine legen? Wie einen Hund?«, erkundigte sich Stefan interessiert.
»Henrik macht nur einen Witz«, meinte Nick abschwächend. Doch allem Anschein nach hätte Stefan gar nichts dagegen einzuwenden gehabt, an die Leine gelegt zu werden. Er war enttäuscht, dass Henrik diesen Vorschlag nicht ernst gemeint hatte.
»Dann könnte ich nichts mehr anstellen«, sagte er. »Ich möchte so gern brav sein, und allen – ganz besonders Tante Nina – immer nur Freude machen«, ergänzte er sehnsüchtig.
Als Schwester Regine von Stefans neuestem Streich erfuhr, geriet sie noch nachträglich in Aufregung. »Furchtbar«, stöhnte sie. »Aber es ist mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen, dass Stefan einen Traktor finden und starten könnte. Du hast Schlimmes verhindert, Nick. Wenn du nicht gewesen wärst …
»Das Verdienst gebührt Henrik«, wehrte Nick ab. »Ihm ist Stefans Abwesenheit aufgefallen. Er hat die Suche nach ihm veranlasst.«
»Das stimmt. Aber ich hätte nicht den Mut aufgebracht, auf den Traktor zu springen«, erklärte Henrik.
»Ein so lebhaftes Kind wie Stefan haben wir schon lange nicht mehr gehabt«, meinte Schwester Regine und seufzte leise.
»Ja, er ist ein tatendurstiger kleiner Bursche«, stimmte Nick zu, und in seiner Stimme klang Bewunderung mit.
*
Nina schmiedete Urlaubspläne. Ihr Urlaub war zwar erst Mitte August fällig, aber das Durchblättern der bunten Prospekte lenkte sie ein bisschen von den jüngsten Ereignissen ab. Sie war von Rudi geschieden worden. Die Scheidung war glatt über die Bühne gegangen, doch tief in ihrem Inneren saß nun ein Stachel, der schmerzte.
Es war sonderbar, es hatte kaum zehn Minuten gedauert – und eine achtjährige Ehe war gegenstandslos geworden. Rudi war großzügig gewesen. Er hatte weder auf die Wohnung, noch auf eines der gemeinsam angeschafften Möbelstücke Anspruch erhoben.
»Was soll ich mit dem Kram?«, hatte er Nina achselzuckend gefragt.
»Aber es sind doch auch deine Sachen.«
»Diese Dinge sind mir gleichgültig. Was anderes wäre es, wenn du deinen Entschluss rückgängig machen würdest.«
»Nein«, hatte Nina mit einer ihr fremden Härte erwidert. »Ein weiteres Zusammenleben mit dir ist …, ist unmöglich.«
Sie wusste, dass Rudi sie nicht verstehen konnte. Er hielt ihren Scheidungswunsch für eine Laune, die sie eines Tages bereuen würde. Er begriff einfach nicht, dass es sein Verhalten gegen Stefan war, das sie abstieß. Sie aber hatte erkannte, dass zwischen ihr und Rudi Welten lagen, die sich nicht überbrücken ließen. Bisher hatte sie das nicht wahrhaben wollen, doch Stefan hatte ihr die Augen geöffnet. Ihre eigene Lebensauffassung war ganz anders als die von Rudi. Er hatte hauptsächlich sein Vergnügen im Sinn, während sie sich nach einem ruhigen Familienleben mit Kindern sehnte.
Dazu ist es nun zu spät, dachte Nina resignierend. Rudi war nicht der richtige Mann für mich, aber ich möchte auch keinen anderen haben. Es würde ja doch nur mit einem neuerlichen Reinfall enden. Ich habe genug von den Männern, von der Ehe – und eigentlich von allem.
Nina fand das Leben widerwärtig und beschwerlich. Sie war enttäuscht und niedergedrückt. Die Zukunft hatte keinen Hoffnungsschimmer für sie. Es gab niemanden, der zu ihr gehörte. Niemand würde sie vermissen – außer vielleicht Stefan. Der Junge wartete jeden Sonntag ungeduldig auf ›Tante Nina‹ und stürzte bei ihrem Eintreffen begeistert auf sie zu. Ja, Stefan hatte sie lieb.
Entschlossen widmete sich Nina wieder den Reiseprospekten. Sie wollte Stefan fragen, ob er mit ihr ans Meer fahren wolle. Die Nordsee wäre für den Jungen geeignet, überlegte sie. Oder sollten sie lieber in den Süden fahren? Stefan sollte die Entscheidung treffen.
Doch dann kam alles ganz anders.
Nina erwachte am Sonntagmorgen sehr zeitig. In letzter Zeit schlief sie schlecht und litt unter schlimmen Träumen, sodass sie am Morgen keinen Versuch unternahm, weiterzuschlafen, sondern lieber aufstand und sich anzog. Dabei betrachtete sie sich kritisch im Spiegel. Sie war nicht eitel, aber es überraschte sie, dass der Kummer und die Nächte, in denen sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere gedreht hatte, ihr gutes Aussehen in keiner Weise beeinträchtigt hatten. Sie hätte blass und abgezehrt wirken müssen, aber das war nicht der Fall. Im Gegenteil, durch die häufigen Spaziergänge mit Stefan war ihre Haut leicht gebräunt, und ihr Gesicht hatte eine frische und gesunde Farbe angenommen.
Um sich zu betäuben, hatte Nina nicht nur Reiseprospekte besorgt, sondern sich auch zwei neue Kleider gekauft. Eines davon, ein weißes mit schmalen roten Streifen, zog sie nun aus dem Schrank und probierte es an. Es stand ihr gut, doch sie konnte sich an dem Anblick trotzdem nicht erfreuen. Wozu mache ich mich eigentlich hübsch? dachte sie. Es gibt ja niemanden mehr, dem ich gefallen will.
Mit diesen Gedanken machte sich Nina auf den Weg nach Sophienlust. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, mit Stefan eine längere Autofahrt zu unternehmen, aber es war ein sehr heißer Tag. Nina geriet sogar auf der kurzen Fahrt von Maibach nach Sophienlust ins Schwitzen. Deshalb beschloss sie, von ihrem Plan Abstand zu nehmen.
»Was machen wir heute?«, wurde sie von Stefan begrüßt. »Oh, du bist so schön angezogen. Haben wir etwas Besonderes vor?«
»Nein«, erwiderte Nina. »Es ist so heiß. Ich würde mich am liebsten hier im Park auf eine Bank setzen und dir beim Spielen zusehen.«
Das war nun nicht nach Stefans Geschmack, aber Schwester Regine, die herbeigekommen war und mit Nina einen kurzen Gruß getauscht hatte, meinte: »Ich finde die Idee von deiner Tante Nina gut.«
»Allein spielen ist fad«, maulte Stefan.
»Wir könnten dir Heidi zur Gesellschaft dalassen«, sagte die Kinderschwester und wandte sich dann erklärend an Nina: »Wir sind eben dabei, zu einer längeren Wanderung aufzubrechen. Wir wollen erst am Abend wieder heimkommen. Für Stefan und die kleine Heidi wird das wahrscheinlich beschwerlich werden, aber die größeren Kinder haben sich diesen Ausflug so sehr gewünscht.«
»Wenn Heidi mit mir spielt, bleibe ich gern da«, meldete sich Stefan.
»Gut.« Schwester Regine war erleichtert, richtete sich noch einige warnende Worte an Nina, die Stefan betrafen. »Achten Sie gut auf ihn. Er ist so aufgeweckt.« Dann schilderte sie schnell den Zwischenfall mit dem Traktor. Nina erschrak heftig. »Gut, dass ich nicht an Nicks Stelle war«, seufzte sie. »Ich hätte nicht so schnell reagiert. Der Junge muss einen besonderen Schutzengel haben.«
Stefan hatte mit hängendem Kopf zugehört. »Ich werde nie wieder etwas anstellen«, versprach er. »Ich wollte gar nicht mit dem Traktor fahren.«
»Ist ja schon gut.« Nina zog den Jungen an sich und drückte ihm einen Kuss auf die Stirn. »Heute wird es dir leichtfallen, brav zu sein. Hier ist kein Traktor und auch sonst nichts, was dich in Versuchung führen könnte.«
Schwester Regine dachte unwillkürlich an den Weiher, sagte jedoch nichts, da Stefan – getreu seinem Versprechen – diesen Ort seit seinem unfreiwilligen Bad gemieden hatte.
»Jedenfalls bleibe ich den ganzen Tag mit dir und Heidi zusammen«, bekräftigte Nina und zerstreute damit Schwester Regines geheime Ängste.
»Was spielen wir?«, fragte Stefan, nachdem die Kinderschwester mit den größeren Kindern, die mit festen Schuhen und Rucksäcken versehen waren, zu ihrer Wanderung aufgebrochen war.
»Was möchtest du denn gern spielen? Mach einen Vorschlag«, forderte Heidi ihn auf.
»Wie wäre es mit Federball? Vor den anderen traue ich mich nicht, weil ich immer danebenschlage«, bekannte Stefan. »Aber heute sind wir allein. Wir können üben.«
»Gut. Abgemacht«, sagte Heidi.
»Wo wollt ihr denn die Schläger und die Federbälle hernehmen? Ihr hättet früher daran denken sollen. Jetzt ist Schwester Regine gegangen«, meinte Nina.
»Das macht nichts«, rief Heidi. »Frau Rennert ist da. Komm, Tante Nina, du hast sie heute noch nicht begrüßt. Bei der Gelegenheit können wir sie gleich um das Federballspiel bitten.«
Kurz darauf begannen die beiden Kinder mit viel Ambition zu spielen. Leider waren beide in der Kunst des Federballspielens ungeübt, sodass Heidi nach ungefähr zehn Minuten ihren Schläger auf den Boden warf und ärgerlich ausrief: »Du schießt absichtlich so hoch, dass ich den Ball nicht treffen kann.«
»Nein«, wies Stefan diese Anschuldigung zurück. »Der Ball fliegt von alleine so hoch.«
»Nur bei dir. Bei mir nicht.«
»Dafür haust du ihn in die Erde, wenn du ihn erwischt hast, was aber nur selten passiert«, zahlte Stefan es ihr mit gleicher Münze zurück.
»Ich kann nichts dafür, dass ich ihn fast nie erwische. Ich strecke mich doch so in die Höhe. Ich bin schon ganz ausgedehnt.«
Nina hatte Erbarmen. »Wie wäre es, wenn ich abwechselnd mit einem von euch spielen würde?«, schlug sie vor. »Ich glaube, ich kann den Ball so platzieren, dass er leicht zu erwischen ist.«
Dieses Angebot wurde von beiden Kindern freudig angenommen. Sie wechselten einander ab. Während das eine spielte, sah das andere zu und ruhte sich dabei aus. Nur Nina geriet schon langsam außer Atem.
»Puh, ich kann nicht mehr«, rief sie nach einer Stunde. »Dabei wollte ich heute einen geruhsamen Tag verbringen. Versucht es jetzt wieder einmal miteinander. Vielleicht geht es nun besser.«
Die Kinder zeigten guten Willen. Heidi hatte etwas größere Fortschritte gemacht, und murrte nun auch nicht mehr, wenn Stefan den Federball kraftvoll in die Wolken schoss.
Plötzlich ließ Stefan den Schläger fallen.
»Was ist? Bist du müde? Hören wir auf?«, erkundigte sich Heidi.
Doch Stefan achtete nicht auf sie. »Vati, das ist doch Vati«, sagte er leise. Staunen lag in seiner Stimme.
Verblüfft blickte Nina auf. Doch da rannte Stefan auch schon mit einem Jubelruf auf den hochgewachsenen Mann zu, der langsam näher kam.
Nina wurde von den widerstreitendsten Empfindungen bestürmt. Der Mann musste Erwin Reiter sein. Würde er Stefan jetzt zurückweisen?
Nina konnte diesen Gedanken nicht zu Ende denken, denn in diesem Augenblick warf sich Stefan in Erwin Reiters Arme und wurde von ihnen hochgenommen.
Er weiß nichts, fuhr es Nina durch den Sinn. Seine Schwester hat ihm nichts von dem Geständnis seiner Frau erzählt. Aber woher weiß er, dass sich Stefan in Sophienlust aufhält?
Nina erhob sich und sah Erwin Reiter entgegen. Der Besucher hatte den Jungen nicht wieder auf den Boden gesetzt, sondern trug ihn, wobei Stefan einen Arm um seinen Hals geschlungen und den Kopf auf seine Schulter gelegt hatte.
»Sind Sie die Heimleiterin?«, fragte Erwin Reiter die junge Frau.
Er hat eine angenehme Stimme, dachte Nina, obwohl er natürlich nicht so gut aussieht wie Rudi. Kein Mann tut das. Verwirrt fuhr sie sich über die Stirn. Was fiel ihr ein, diesen Fremden mit ihrem geschiedenen Mann zu vergleichen? Das Kapitel Rudi war ein für alle Mal beendet – für sie selbst und auch für Stefan, der nie etwas davon erfahren sollte. Aber würde Erwin Reiter schweigen, wenn er die Wahrheit erfuhr? Vielleicht. Er sah zwar nicht so gut aus wie Rudi, aber dafür war etwas an ihm, was ihr unwillkürlich Vertrauen einflößte. Er war groß, hatte braune Haare und ruhige graublaue Augen. Sein Gesicht war blass, und um seinen Mund waren harte Linien eingegraben, wahrscheinlich Folgen der kaum überstandenen Krankheit.
»Sind Sie die Heimleiterin?«, wiederholte er seine Frage, die bisher unbeantwortet geblieben war.
»Ich? Nein.«
»Das ist Tante Nina!«, schaltete sich Stefan ein.
»Ich bin Nina Leskowitsch«, sagte Nina und sprach nun schnell weiter. »Die Heimleiterin ist Frau Rennert. Sie ist in ihrem Büro. Ich werde Sie hinführen.«
»Aber, Tante Nina, hast du denn vergessen, was Tante Ma gesagt hat?«, fragte Heidi vorwurfsvoll. »Sie hat gesagt, dass sie mit Tante Carola, Onkel Wolfgang und den Zwillingen zum See geht. Sie sind längst weg. Sie hat doch auch gesagt, dass Magda uns um ein Uhr das Essen richten wird und dass wir allein essen müssen.«
»Ach ja, das hatte ich doch wirklich vergessen«, murmelte Nina. »Zu dumm …« Dieser Bemerkung war nicht zu entnehmen, ob sie auf ihre Vergesslichkeit oder Frau Rennerts Abwesenheit anspielte.
»Ich werde selbstverständlich warten, bis Frau Rennert zurückkommt«, stellte Erwin Reiter fest.
»Natürlich musst du warten, Vati. Du musst doch alle kennenlernen. Auch Schwester Regine und die Kinder. Heidi ist die Einzige, die heute hiergeblieben ist, weil sie auch noch zu klein für eine Wanderung ist«, erklärte Stefan.
»Ja, ich bin Heidi«, zirpte das kleine Mädchen. Es machte einen Knicks und streckte Erwin Reiter die Hand hin, die dieser ergriff und schüttelte. Dann wandte er sich wieder an Nina. »Habe ich richtig verstanden? Sie sind Frau Leskowitsch?«, fragte er.
Da sie ihren Namen vorhin nur undeutlich ausgesprochen hatte, war diese Frage berechtigt. Aber es lag ein Unterton darin, der Nina noch mehr verwirrte. Oder bildete sie sich das bloß ein?
Statt zu antworten, sagte Nina etwas zusammenhanglos: »Dort drüben ist eine Laube mit Tischen und Sesseln. Wir könnten uns niedersetzen. Stefan ist schwer. Sie werden ermüden, wenn Sie stehen und ihn auf dem Arm halten. Komm, Heidi!« Wie um Schutz zu suchen, fasste sie nach Heidis Hand und ging mit dem kleinen Mädchen zu der Laube. Erwin Reiter folgte ihr mit Stefan.
In der Laube entdeckte Heidi ein vergessenes Malbuch und einige Buntstifte. Diese Dinge nahmen sofort ihre Aufmerksamkeit in Anspruch. Sie kniete sich auf einen Sessel und begann zu malen.
Nina setzte sich auf einen anderen Sessel. Sie war unruhig. Überlegungen und Kombinationen wirbelten durch ihren Kopf. Wenn Herr Reiter nicht von Martha Kern die Wahrheit erfahren hatte, musste man sie ihm mitteilen, denn inzwischen wussten schon zu viele Leute davon. Sollte sie … Nein, unmöglich. Das brachte sie nicht über die Lippen. Wenn nur Frau von Schoenecker, Schwester Regine oder Frau Rennert anwesend wären! Ausgerechnet heute waren sie alle nicht da.
Nina wagte es kaum, Erwin Reiter anzublicken, aus lauter Furcht, er könnte eine Frage stellen, die zu beantworten sie sich außerstande fühlte.
Doch einstweilen dachte Erwin Reiter nicht daran, Fragen zu stellen. Er hatte sich auf einen Sessel gesetzt und Stefan vor sich hin gestellt. »Nun lass dich einmal ansehen«, sagte er. »Du bist in der langen Zeit ein tüchtiges Stück gewachsen.«
»So?« Für Stefan war es eine Selbstverständlichkeit, dass er wuchs. Aber eine andere Frage bewegte ihn. »Wo ist Mutti? Warum ist sie nicht mit dir gekommen?«
Erwin Reiter stieß einen tiefen Seufzer aus. »Weißt du es denn nicht? Hat es dir niemand gesagt?« Er brach ab.
»Niemand hat etwas gesagt«, meinte Stefan verwundert. Noch war er ahnungslos. Doch die Stimme seines Vaters hatte so sonderbar geklungen, dass er Angst bekam. »Wo warst du so lange?«, fragte er daher. »Ihr habt gesagt, dass ihr nur vierzehn Tage ausbleibt. Die müssen doch längst vorbei sein. Ich habe so lange gewartet. Auf Mutti und auf dich. Wann kommt Mutti?«
»Mutti … Mutti kann nicht kommen«, sagte Erwin Reiter leise.
»Dann will ich zu ihr!«, rief Stefan. Regelrechte Panik ergriff ihn nun. Sein Vati und auch Tante Nina benahmen sich ganz anders, als er gewohnt war. Nur Heidi beschäftigte sich unbekümmert mit ihrem Malbuch. Sie hatte ihre Umgebung vergessen und sah und hörte nichts.
»Ich will zu meiner Mutti!«, wiederholte Stefan.
Nina stand auf und beugte sich zu dem Jungen hinab. »Du …« Ihre Stimme versagte, sie musste sich räuspern. »Du kannst nicht zu deiner Mutti. Ich hätte es dir längst sagen sollen, aber ich habe es nicht übers Herz gebracht …«
»Es ist nicht Ihre Aufgabe, es ihm zu sagen«, fiel Erwin Reiter ihr ziemlich barsch ins Wort. »Ich bin nicht sicher, ob ich Ihren Namen richtig verstanden habe, und Sie haben meine diesbezügliche Frage übergangen. Sind Sie Frau Leskowitsch?«
»Ja.«
»Was haben Sie mit Stefan zu schaffen?«
»Ich? Nichts. Ich wollte nur helfen.«
»Das glaube ich Ihnen nicht. Ihr Name sagt mir genug«, bemerkte er hintergründig.
Nina erschrak. Wusste er doch Bescheid? Und was wusste er? Dass Rudi Leskowitsch Stefans wirklicher Vater war? Verdächtigte er sie am Ende, gegen Stefan eingenommen zu sein?
Nina suchte nach Worten, um die Situation zu klären, fand aber keine. Außerdem vereitelte Stefans Anwesenheit jegliche Rechtfertigung ihrerseits. In Gegenwart des Jungen konnte sie nicht sprechen.
Stefan war dem Wortwechsel der Erwachsenen verständnislos gefolgt. Warum war Vati so unfreundlich zu seiner lieben Tante Nina? Doch dieser Gedanke wurde sofort in den Hintergrund gedrängt. Vati hatte ihm noch immer nicht erzählt, wo Mutti war.
»Ist Mutti krank?«, fragte er bange.
»Nein, nicht krank«, erwiderte Erwin Reiter tonlos. »Sie ist im Himmel.«
»Im Himmel?« Stefan verstand nicht gleich. »Aber wieso?«
Nina fühlte grenzenlos Mitleid in sich aufsteigen. Aber sie blieb im Hintergrund. Erwin Reiter hatte sie zurückgewiesen. Sie wollte sich nicht ein zweites Mal einmischen, obwohl sie sich danach sehnte, Stefan in die Arme zu nehmen und ihn zu trösten.
Allmählich begriff der Junge. »Sie ist im Himmel«, wiederholte er leise. »Bedeutet das, dass sie …, dass sie gestorben ist?«
Erwin Reiter nickte, und Stefan brach in lautes Schluchzen aus. Nun konnte Nina sich nicht länger zurückhalten. Sie eilte auf Stefan zu, doch Erwin Reiters finsterer Blick ließ sie innehalten. So streckte sie nur die Hand aus, um Stefan leicht über die blonden Haare zu streichen.
Nun war Heidi aufmerksam geworden. Sie ließ ihr Malbuch im Stich, rutschte vom Sessel und lief zu Stefan. »Du darfst nicht weinen«, versuchte sie den Jungen zu beschwichtigen. »Du hast doch uns. Du kannst immer in Sophienlust bleiben. Tante Isi erlaubt es bestimmt.«
»Ich will aber zu Vati und Mutti«, schluchzte Stefan.
»Dein Vati ist ja ohnehin bei dir«, sagte Heidi. »Du hast es gut. Du hast einen Vati und Tante Nina.«
Doch in seinem Schmerz hörte Stefan nicht auf das Mädchen.
Nina zog Heidi aus der Laube. »Wir wollen die beiden allein lassen«, flüsterte sie dem Kind zu.
Dagegen hatte Heidi nichts einzuwenden. Stefans Vater, der so ernst und blass war, war ihr ein bisschen unheimlich. Sie wusste auch nicht, wie sie sich Stefan gegenüber, der eben noch so lustig gewesen war, verhalten sollte.
»Wie spät ist es eigentlich?«, erkundigte sich Heidi plötzlich.
Nina sah mechanisch auf ihre Armbanduhr und erwiderte: »Halb zwei.«
»Ist das später als eins?«, fragte Heidi.
»Natürlich. Ach so, du kennst die Uhr noch nicht.«
»Ist es sehr viel später als eins?«
»Nein, nur eine halbe Stunde.«
Heidi atmete auf, drängte jedoch Nina zur Eile an. »Schnell, wir müssen zum Haus.«
»Wieso hast du es auf einmal so eilig?«, fragte Nina zerstreut.
»Muss ich dich schon wieder erinnern? Magda wartet mit dem Essen auf uns.«
»Eigentlich habe ich noch gar keinen Hunger«, wehrte Nina ab.
»Du musst trotzdem essen«, erklärte Heidi unerbittlich. »Sonst wird Magda böse. Stefan hätte auch mitkommen müssen, aber ich habe mich nicht getraut, etwas zu sagen. Der Arme. Glaubst du, sein Vati lässt ihn in Sophienlust, oder nimmt er ihn mit?«
Nina blieb erschrocken stehen. Heidis unbekümmert ausgesprochene Worte berührten sie tief. »Er wird Stefan mitnehmen. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
»Bleib nicht stehen. Magda wird schimpfen«, sagte Heidi und zog Nina weiter.
Das Mittagessen war ausgezeichnet, und Heidi widmete sich mit Behagen ihrer Portion. Nina hingegen achtete nicht auf das, was sie aß. Sie war mit ihren Gedanken weit weg. Er wird ihn mitnehmen, hämmerte es in ihrem Kopf. Dann habe ich niemanden. Doch gleich darauf wies sie sich selbst zurecht. Ich darf nicht so denken. Ich muss mich für Stefan freuen. Wenigstens ist ihm der Vater erhalten geblieben.
»Warum lässt du dein Eis auf dem Teller zerrinnen?«, mahnte Heidi. »Schmeckt es dir nicht? Du wirst unsere Magda kränken.«
Nina zwang sich, auf Heidis Geplapper einzugehen. Das kleine Mädchen war so lieb und harmlos, es verdiente, dass man sich mit ihm beschäftigte und es gern hatte.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Heidi, als sie die Mahlzeit beendet hatten. »Ob wir nach Stefan sehen sollten?«
»Ich – nein«, entgegnete Nina. »Er hat ja seinen Vater. Wir lassen die beiden lieber in Ruhe.«
»Spielst du mit mir Federball?«
»Gern.«
Sie holten das Federballspiel und spielten so lange, bis beide zum Umfallen müde waren. Dann setzten sie sich auf eine Bank.
Nina verspürte das Verlangen, sich die Nase zu putzen. »Wo habe ich denn meine Handtasche gelassen?«, überlegte sie.
»Ich weiß es. Ich hole sie!«, rief Heidi. Sie lief weg und kehrte gleich darauf mit der Tasche, die sie bewundernd begutachtete, zurück. »Eine schöne Tasche ist das«, bemerkte sie. »Darf ich sie auch innen ansehen?«
»Ja, gewiss.« Nina holte ihr Taschentuch aus der Tasche und überließ sie dann Heidi, die darinnen kramte.
»Was ist denn das? Diese bunten Bilder?«, fragte Heidi gleich darauf und zog die Reiseprospekte, die Nina gesammelt hatte, hervor. »Das viele Wasser – ist das das Meer?«
»Ja. Gefallen dir die Bilder? Magst du sie behalten?«
»Ja. Brauchst du sie nicht mehr?«
»Nein, ich brauche sie nicht mehr«, erwiderte Nina niedergeschlagen. Sie war erleichtert, als sie endlich die fröhlichen Stimmen der Kinder, die von ihrem Ausflug heimkehrten, vernahm.
Schwester Regine war mitten unter ihnen. Als ihr Blick auf Nina und Heidi, die Hand in Hand dastanden, fiel, erstarrte sie. »Wo ist Stefan? Er hat doch nicht …«
Trotz ihres Kummers musste Nina lächeln. »Nein, er hat nichts angestellt«, erwiderte sie.
»Stefans Vati ist gekommen«, platzte Heidi heraus. »Sie sind in der Laube. Stefan hat geweint, weil seine Mutti im Himmel ist, und Tante Nina hat gemeint, wir sollten Stefan und seinen Vati allein lassen.«
»Ich werde sofort nach den beiden sehen«, sagte Schwester Regine. »Geht einstweilen ins Haus und zieht euch die staubigen Schuhe aus«, befahl sie den Kindern, die nur zögernd gehorchten, da sie auf Stefans Vater neugierig waren. Sie ahnten natürlich nichts von Stefans verwickelten Familienverhältnissen.
»Ich darf mich nun verabschieden.« Nina küsste Heidi und schickte sich an zu gehen.
»Bleiben Sie! Wollen Sie denn nicht mit Stefans Vater …« Die Kinderschwester stockte. »Ich nehme an, es handelt sich um Herrn Reiter und nicht um …«, fuhr sie unsicher fort.
»Ja, es handelt sich um Herrn Reiter«, bestätigte Nina.
»Wollen Sie nicht mit ihm reden?«
»Nein. Ich fürchte, das würde nur Unstimmigkeiten heraufbeschwören. Ich habe den Eindruck, dass Herr Reiter den Jungen gern hat und dass es ihm gleichgültig ist, wer der leibliche Vater ist.«
Mehr wollte Nina nicht sagen. Mechanisch lenkte sie ihre Schritte zu ihrem Wagen, den sie neben dem Parktor von Sophienlust abgestellt hatte. Später konnte sie nicht angeben, wie sie nach Hause gelangt war. Sie war in das Auto eingestiegen und heimgefahren, aber sie hatte diese Handlungen automatisch ausgeführt. Sie waren nicht in ihr Bewusstsein gedrungen.
Zu Hause fiel Nina in ihr Bett und schlief sofort ein. Sie schlief tief und traumlos aus Erschöpfung. Sie wollte nicht mehr nachdenken, weder über sich selbst, noch über Rudi, noch über Stefan.
Am nächsten Morgen stand Nina wie gewöhnlich auf und ging ihrer Arbeit nach. Zu Mittag eilte sie nach Hause, zwang sich dazu, ein paar Bissen hinunterzuschlingen, beschäftigte sich eine Weile mit Carlo und kehrte schließlich, als sich die Mittagspause ihrem Ende zuneigte, in den Blumenladen zurück. In ihrem Tagesablauf gab es keine Änderung. Er war gleich geblieben. Trotzdem war da eine Lücke, die Nina fast zur Verzweiflung trieb. Mit der Vorfreude auf die Sonntage war es vorbei. Es gab keine Pläne mehr zu schmieden. Ihr Leben hatte jetzt nicht einmal mehr ein kurzfristiges Ziel.
Am Abend machte sich Nina daran, den Wohnzimmerschrank auszuräumen und Überflüssiges auszusortieren und wegzuwerfen. Das war eine Tätigkeit, die ihr eher lästig war, aber jetzt brauchte sie etwas, was ihre Gedanken wenigstens oberflächlich in Anspruch nahm. Gerade, als das Zimmer das Stadium größter Unordnung angenommen hatte, läutete jemand an der Wohnungstür. In der Annahme, dass es die Nachbarin sei, die sich etwas ausleihen oder ihr den neuesten Klatsch mitteilen wolle, eilte Nina zur Tür und öffnete.
Unangenehm berührt wich sie zurück. »Sie sind es!«, begrüßte sie ihren Besucher in einem ablehnenden Tonfall.
»Ich bin gekommen, weil ich mich bei Ihnen entschuldigen muss«, sagte Erwin Reiter.
»Kommen Sie herein«, bat Nina ihn notgedrungen. Sie legte keinen Wert darauf, mit ihm im Hausgang zu reden, wo neugierige Augen sie beobachten konnten. Eigentlich legte sie auch keinen Wert darauf, mit ihm zu reden, aber trotzdem war sie höflich genug, ihn ins Wohnzimmer zu bitten. Erst als er schon in der Tür stand und sein erstaunter Blick auf die Bücherstapel und den im ganzen Raum verstreuten Kram fiel, erinnerte sie sich an ihre eben unterbrochene Beschäftigung.
Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann überlegte sie, dass sie Herrn Reiter keine Erklärung schuldig war. Sein Besuch regte sie auf und brachte ihr mühsam aufrechterhaltenes Gleichgewicht durcheinander. Je schneller er wieder ging, desto besser. Vielleicht würde die Ungemütlichkeit des Raumes dazu beitragen. Aber einen Platz zum Niedersetzen musste sie doch freimachen. So nahm sie einen Stoß alter Zeitschriften, zwei Fotoalben und ein leeres Osterei aus Pappe von einem der Fauteuils und bot Erwin Reiter diese Sitzgelegenheit an. Sie selbst begnügte sich mit einem Fellhocker, den sie nur von einem darüber hingeworfenen Staubtuch zu befreien brauchte.
»Ich halte Sie von Ihrer Arbeit ab«, bemerkte er.
Nina schwieg. Was hätte sie auch sagen sollen? Sie war zu ehrlich, um Freundlichkeit oder wenigstens Entgegenkommen vorzutäuschen. Umgekehrt konnte sie auch schlecht sagen: »Ja, Sie halten mich auf. Ich möchte, dass Sie sofort wieder gehen.« Das wäre ungezogen gewesen und hätte nicht einmal der Wahrheit entsprochen. Denn er hielt sie ja nicht auf. Ihre Betriebsamkeit hatte nur als Zuflucht gedient. In Wirklichkeit konnte das Zimmer ruhig tagelang in einem unaufgeräumten Zustand bleiben. Außer ihr selbst sah es niemand, und ihr war im Moment alles gleichgültig.
»Ich fürchte, ich habe Sie gestern ziemlich schlecht behandelt«, begann er von Neuem. »Ich wusste nicht … Ich habe angenommen, dass Sie Stefan nicht mögen und dass Ihre Anteilnahme, als ich ihm den Tod seiner Mutter mitteilen musste, bloß Heuchelei war.«
Nina fuhr zornig auf. »Wie können Sie es wagen, mir so etwas zu unterstellen.«
»Ich entschuldige mich ja deswegen«, sagte er ernst. »Ich gebe zu, ich war voreingenommen. Sie machten einen – wie soll ich mich ausdrücken – einen schuldbewussten Eindruck auf mich. Und dazu kommt doch Ihr Name. Sie müssen doch die Frau von Rudi Leskowitsch sein.«
»Ja – nein. Ich bin inzwischen geschieden.«
»Ach so.« Offenbar fand er keine passende Bemerkung zu dieser Mitteilung.
»Dann wissen Sie also …, dann hat Ihnen also Ihre Schwester die letzten Worte von Stefans Mutter wiederholt«, sagte Nina nach einer kurzen Pause zögernd. »Ich meine, weil Sie über Rudi und …, und über Stefan Bescheid zu wissen scheinen«, fügte sie unter leichtem Stottern hinzu.
»O ja, ich weiß Bescheid«, bestätigte er. »Und gewiss länger als Sie. Sind Sie schon lange geschieden?«
»Nein.«
»Dann habe ich mich mit meiner Vermutung also nicht getäuscht. Stefan trägt die Schuld daran.«
»In gewisser Weise«, gab Nina ehrlich zu. »Aber das soll nicht heißen, dass ich deshalb auf Stefan böse bin. Keineswegs, ich …«
»Ich bin inzwischen darüber aufgeklärt worden, dass Sie Stefan gernhaben«, unterbrach er sie. »Ich habe heute mit Frau von Schoenecker gesprochen. Dabei ist mir klar geworden, dass ich Ihnen zu Dank verpflichtet bin.«
»O nein, das sind Sie nicht«, sagte Nina.
»Stefan selbst schwärmt geradezu von Ihnen«, fuhr Erwin Reiter fort. »Dabei muss sein Erscheinen für Sie ein Schock gewesen sein. Frau von Schoenecker hat mir erzählt, dass Sie ihn vor der Wohnungstür fanden.«
»Ja.«
»Marthas Handlungsweise war unverzeihlich«, stieß er zähneknirschend hervor. »Wir haben ihr das Kind anvertraut, und sie hat versucht, den Buben an Fremde abzuschieben.«
»Nicht an Fremde«, warf Nina vorsichtig ein.
»Dann wussten Sie von Stefans Existenz? Hat Ihnen Ihr Mann gebeichtet?«
»Nein, ich war ahnungslos. Aber als ich Stefan sah … Er sieht Rudi sehr ähnlich.«
»Davon will ich nichts hören«, wehrte der Besucher ab. »Stefan bleibt mein Kind. Außerdem wurde mir berichtet, dass Ihr geschiedener Mann nicht gerade darauf erpicht ist, für Stefan die Verantwortung zu übernehmen.«
»Er hat sich geweigert, das Kind zur Kenntnis zu nehmen«, sagte Nina betrübt.
»Umso besser. Niemals wäre es zu derartigen Verwicklungen gekommen, wenn Martha sich nicht eingemischt hätte. Wenn die arme Ilse nur geschwiegen hätte! Martha, mit ihren starren Ansichten, war die Letzte, der sie sich anvertrauen durfte.«
»Und Sie? Sie haben Ihrer Frau verziehen?«, fragte Nina.
»Da gab es nichts zu verzeihen. Schließlich habe ich Ilse ja aus freien Stücken geheiratet.«
»Ja, aber …«
»Ich glaube, Sie unterliegen einem Missverständnis. Ilse hat mir nie etwas verheimlicht. Ich wusste schon vor unserer Heirat, dass das Kind, das sie erwartete, nicht von mir war. Sie hat mir die ganze unselige Affäre mit dem sauberen Herrn Leskowitsch gebeichtet.«
»Oh, bitte …«
»Ich kann über Ihren ehemaligen Mann nicht gut sprechen. Er ist ein schäbiger, gemeiner Mensch. Verzeihen Sie. Ihnen gegenüber werde ich mich zurückhalten, aber nach allem, was Ilse mir erzählt hat, musste ich ihn hassen, obwohl ich vielleicht nicht ganz schuldlos war. Ich werde Ihnen erklären, wie alles begann.«
»Das brauchen Sie nicht.«
»O ja. Sie sollen nicht schlecht über Stefans Mutter denken. Wir waren verlobt und hatten vor, gemeinsam in den Urlaub zu fahren. Alles war geplant, die Zimmer waren bestellt, da musste ich meinen Urlaub verschieben. Es gab eine größere Umstellung im Betrieb, und ich wollte nicht ausgerechnet in dieser Zeit auf meinen Urlaub bestehen. Möglicherweise war ich auch zu ehrgeizig. Ich bin Programmierer. Ilse jedenfalls hat mir die Absage bitter übel genommen. Sie warf mir vor, dass ich die Arbeit einem Zusammensein mit ihr vorziehen würde. Diese Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage, aber Ilse war logischen Argumenten nicht zugänglich. Wir gingen im Unfrieden auseinander, und Ilse fuhr aus Trotz allein in den Urlaub. Dort begegnete ihr dann das Unheil. In ihrer Unerfahrenheit glaubte sie, die große Liebe zu erleben. Rudi Leskowitsch war charmant und witzig, aufmerksam und unterhaltend. Er strotzte nur so von Vorzügen, die ich nicht aufzuweisen hatte. Er vermittelte Ilse das Gefühl, begehrt und bewundert zu werden. Es mag Ihnen dumm erscheinen, aber sie ist darauf hereingefallen.«
»Es erscheint mir nicht dumm«, sagte Nina leise. »Auch ich … Nun, es ist vorbei.«
»Das Erwachen war für Ilse grausam. Sie war schwanger, und er dachte nicht im Traum daran, die Konsequenzen zu ziehen und sie zu heiraten. Bis dahin hatte sie ja keine Ahnung, dass er schon verheiratet war.«
Nina konnte sich nicht verkneifen, eine Zwischenfrage zu stellen: »Und wenn Rudi sie geheiratet hätte? Wäre Ihnen das recht gewesen?«
»Mir? Nein. Ich liebte Ilse doch. Aber wenn es ihr Glück bedeutet hätte, hätte ich wohl oder übel auf sie verzichtet. Doch das stand ja nicht zur Debatte. Sie war allein und hilflos. Ilse war immer ein Mädchen mit festen Prinzipien. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemals in eine solche Situation zu geraten. An ihre Eltern konnte sie sich nicht wenden. Was blieb ihr also anderes übrig, als sich mir anzuvertrauen und mich um Hilfe zu bitten?«, meinte er beinahe entschuldigend.
Nina hatte dazu nichts zu sagen. Ich hätte vermutlich anders gehandelt, dachte sie. Ich wäre zu stolz gewesen, ausgerechnet den betrogenen Verlobten um Hilfe zu bitten. Aber sie sprach diese Meinung nicht aus. Sie war niemals in eine derartige Bedrängnis geraten. Woher sollte sie wissen, wie sie sich verhalten hätte?
»Drei Wochen später waren wir verheiratet«, fuhr Erwin Reiter fort. »Als Stefan zur Welt kam und sich als gesunder, kräftiger Junge entpuppte, habe ich mich aufrichtig gefreut. Natürlich haben wir niemandem die Wahrheit erzählt. Ilse hätte sonst als unmoralisches Weib und ich als gehörnter Trottel dagestanden.«
»Wie nüchtern Sie die Sache betrachtet haben«, staunte Nina.
»Nüchtern? Ja, vielleicht ist das mein Fehler. Ilse hat mir manchmal Ähnliches vorgeworfen. Aber ich habe eben für romantischen Firlefanz nichts übrig. Trotzdem waren wir glücklich. Es klingt arrogant, aber ich bin sicher, dass Stefan nie etwas vermisst hat. Dabei brauchte ich mich gar nicht darum zu bemühen, ihm ein Vater zu sein. Ich fühlte einfach so.«
»Und Ilse? Hat sie etwas vermisst?«, fragte Nina leise.
»Ich weiß nicht, ob sie die Episode mit Rudi Leskowitsch je vergessen hat«, erwiderte er langsam. »Jedenfalls hat sie sich nie etwas anmerken lassen. Sie schien durchaus zufrieden zu sein. Sie war eine gute Hausfrau, Ehefrau und Mutter. Sie war so häuslich und in ihren Ansprüchen eher bescheiden. Eigentlich war sie gar nicht der Typ, der die Aufmerksamkeit eines Schürzenjägers auf sich zieht. Manchmal habe ich mich gefragt, was Ihr Mann an ihr gefunden hat.«
Nina hätte es ihm sagen können. Eine flüchtige Bekanntschaft, eine kleine Abwechslung. Selbstverständlich unterließ sie es, Erwin Reiter darüber aufzuklären.
»Ja, wir waren die ganzen Jahre über eine recht glückliche Familie«, wiederholte er versonnen. »Wenn dieses fürchterliche Unglück nicht passiert wäre … Aber ich will Sie damit nicht belasten. Im Moment geht es nur um Stefan.«
»Sie wollen ihn mitnehmen – nach Wien?«, fragte Nina beklommen.
»Ob ich will oder nicht, spielt leider keine Rolle«, entgegnete er. »Ich kann nicht. Es existiert niemand, der für Stefan sorgen würde. Meine Eltern sind nicht mehr am Leben, Ilses Eltern sind gesundheitlich dazu nicht in der Lage, und Martha bekommt den Buben nie wieder in ihre Obhut.«
»Sie wird ihn kaum haben wollen.«
»Oh, sie hat ihre Haltung inzwischen bereut. Ich hätte sie am liebsten erwürgt, als sie mir in einem Tonfall, in dem man niemals über eine Verstorbene reden sollte, eröffnete, dass Ilse mich betrogen habe. Auf die Frage nach dem Jungen erwiderte sie kalt lächelnd, dass sie ihn fortgeschafft habe, weil er nun nicht mehr zu unserer Familie gehöre. Ich habe ihr ins Gewissen geredet und nach längerem Hin und Her endlich herausbekommen, dass sogar die Polizei eingeschaltet worden war, und dass Stefan sich in Sophienlust aufhält. Martha kann nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sein, als sie den Jungen vor Ihrer Wohnungstür zurückließ«, grollte er.
»Und wo soll Stefan bleiben?«, fragte Nina ungeduldig. Martha Kerns geistiger Zustand interessierte sie überhaupt nicht, umso mehr aber Stefans Zukunft.
»Das eben ist das Problem«, antwortete Erwin Reiter. »Frau von Schoenecker hat mir angeboten, Stefan in Sophienlust zu behalten. In dem Kinderheim hat er Ablenkung und wird schneller über den Tod seiner Mutter hinwegkommen.«
Der Besucher hatte das in einer Art gesagt, als ob er sich selbst beschwichtigen wollte. Nina fühlte das und fragte: »Aber in Wirklichkeit möchten Sie ihn mitnehmen?«
»Ja. Es fällt mir schwer, mich von ihm zu trennen. Denn darauf würde es hinauslaufen. Wildmoos ist von Wien so weit entfernt, dass ich Stefan nicht oft werde besuchen können. Einstweilen habe ich noch Krankenurlaub. Den werde ich hier verbringen. Ich habe mir in einem Gasthof in Wildmoos ein Zimmer genommen. Aber sobald mein Urlaub zu Ende ist, muss ich abreisen. Ich habe verschiedene Möglichkeiten erwogen, sie aber wieder verworfen. Ich kann Stefan untertags nicht ohne Aufsicht lassen …«
»Nein, unmöglich!«, rief Nina. »Ich spreche aus Erfahrung«, ergänzte sie lächelnd.
»Ich muss also Frau von Schoeneckers Angebot dankbar ergreifen«, sagte er. »Dabei möchte ich Sie um Unterstützung bitten. Stefan hat Sie lieb gewonnen. Fast jeden zweiten Satz beginnt er mit ›Tante Nina‹. Es wäre schön für ihn, wenn Sie ihn so wie bisher besuchen würden.«
»Das werde ich gern tun«, sagte Nina. »Nur, eines Tages werden Sie Stefan ja doch wegholen.«
*
Aber am folgenden Sonntag hielt Nina sich von Sophienlust fern. Sie hatte ihre anfängliche Antipathie gegen Erwin Reiter zwar überwunden, doch solange Erwin Reiter sich in Wildmoos aufhielt, wollte sie ihm seinen Sohn ganz überlassen. Neben seinem Vater werde ich Stefan nicht abgehen, dachte sie.
Als am späten Nachmittag das Telefon läutete, wunderte sie sich, denn der Anrufer war Erwin Reiter. Er erkundigte sich, warum sie nicht zum Kinderheim gekommen sei. Stefan habe sie sehnlichst erwartet.
»Ich habe Stefan angedeutet, dass Sie wahrscheinlich etwas anderes vorhatten«, sagte Erwin Reiter entschuldigend. »Aber der Junge hat das nicht akzeptiert. Er lag mir so lange in den Ohren, bis ich ihm versprach, Sie anzurufen. Wäre es vielleicht doch noch möglich, dass Sie kommen? Wir sind im Gasthof ›Zum grünen Krug‹, im Garten. Wenn es sich irgendwie einrichten lässt und wenn es Sie denn nicht zu sehr stört …«
»O ja, es lässt sich einrichten«, erwiderte Nina freudig erregt und fuhr sofort nach Wildmoos.
»Na, endlich«, wurde sie von Stefan ein wenig vorwurfsvoll begrüßt. »Wir warten schon stundenlang auf dich. Ich habe in der Früh Schwester Regine gebeten, dir auszurichten, wo ich bin. Aber du bist nicht gekommen. Dabei weiß ich genau, dass heute Sonntag ist und dass du Zeit hast.«
»Stefan!«, mahnte sein Vater. »Du kannst Tante Ninas Freizeit nicht für dich allein beanspruchen.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht wollte sie den Tag mit jemand anderem verbringen.«
»Oh! Wolltest du das? Warst du vielleicht bei jemand anderem?«
Nina lachte, denn Stefans Frage klang beinahe so wie die eines eifersüchtigen Liebhabers. »Nein, ich war bei niemandem«, versicherte sie. »Ich habe nur geglaubt, dass dir die Gesellschaft deines Vatis genügt und dass du mich nicht brauchst.«
»Ja, es ist fein, dass Vati da ist«, erwiderte Stefan, »aber trotzdem möchte ich dich auch bei mir haben.« Sein Gesichtchen nahm einen trüben Ausdruck an. »Ich glaube, dass drei Wochen gar nicht lange dauern«, sagte er. »Eine ist schon vergangen. Da bleiben nur mehr zwei. In zwei Wochen reist Vati wieder nach Wien – und ich muss dableiben.«
»Du bist doch gern in Sophienlust«, meinte Nina. »Denk nur an die Kinder und an eure lustigen Spiele.«
»Ja, schon. Aber bei Vati bin ich auch gern. Und bei dir auch«, ergänzte er.
»Man kann nicht alles haben«, sagte Nina. »In zwei Wochen«, fuhr sie nachdenklich fort, »da wäre Mitte August. Genau zu der Zeit ist mein Urlaub fällig.« Entschlossen wandte sie sich an Erwin Reiter und erzählte ihm von ihrem Plan, den Urlaub gemeinsam mit Stefan zu verbringen.
Das Gesicht Erwin Reiters nahm dabei einen bedenklichen Ausdruck an, der Nina nicht entging. »Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass Sie dagegen sind«, schloss sie lahm. »Das Risiko, Stefan mit einer für Sie fremden Frau ans Meer fahren zu lassen, ist Ihnen wohl zu groß, obwohl ich Stefan behüten würde.«
»Das glaube ich Ihnen«, erwiderte er. »Und ich bin auch nicht dagegen. Nur hätte ich Ihrem Plan einen anderen Vorschlag entgegenzusetzen. Muss es unbedingt das Meer sein? Es mag egoistisch von mir sein, aber es würde mich unsagbar freuen, wenn Sie mich mit Stefan nach Wien begleiten würden.«
»Ach …, ich …«
»Sag ja, Tante Nina. Bitte, sag ja! Ich würde dir in Wien alles zeigen, unsere Wohnung und den Spielplatz, einfach alles. Bitte, fahr mit mir und Vati nach Wien.«
Nina zauderte, aber Stefan seinen Wunsch abzuschlagen, war beinahe unmöglich. Zögernd sagte sie: »Also gut. Aber du darfst nicht traurig sein, wenn wir nach zwei Wochen Wien wieder verlassen und nach Wildmoos fahren. Ich habe nämlich nur zwei Wochen Urlaub, und du selbst hast vorhin festgestellt, dass das nur eine kurze Zeit ist.«
»Immerhin, besser als gar nichts«, meinte Stefan.
»Und was soll ich mit Carlo machen?«
»Den nehmen wir mit. Oder willst du ihn ins Tierheim Waldi & Co bringen? Ich würde ihn lieber mitnehmen.«
»Ich auch. Aber ob ich ein Hotel finde, das mich zusammen mit Carlo aufnimmt?«
»Aber Tante Nina, du brauchst doch kein Hotel! Du kannst ja bei uns wohnen. Unsere Wohnung ist sehr groß.«
»Nein, das geht nicht.«
»Ich schließe mich Stefans Einladung an«, unterstützte Erwin Reiter seinen Sohn. »Unsere Wohnung ist wirklich sehr groß, aber Sie brauchen nicht zu befürchten, dass wir Sie in Ihrem Urlaub irgendeine Arbeit tun lassen. Dreimal in der Woche kommt eine Putzfrau und räumt auf. Wer ist eigentlich Carlo?«
»Carlo ist Tante Ninas Papagei. Er ist grün und hat Federn und kann eine Menge reden. Einmal …«
»Ich kann die Einladung deines Vaters nicht annehmen«, unterbrach Nina den Jungen, bevor er noch richtig in Fahrt kam.
»Tante Nina, bitte«, bettelte Stefan. »Vati, sag du ihr, dass sie bei uns wohnen muss.«
»Ja, Sie müssen«, sagte Erwin Reiter lächelnd. »Sie brauchen keinerlei Bedenken zu haben. Ich werde mich in diesen zwei Wochen bei Martha einquartieren.«
Stefan riss die Augen auf: »Bei Tante Martha? Warum? Bei uns ist doch Platz genug.«
»Das schon. Aber – äh – die Nachbarn, die Leute würden reden. Dem will ich Tante Nina nicht aussetzen.«
»Wieso würden die Leute reden?«
»Ach, das tun sie immer. Lass mich jetzt in Ruhe.«
Dazu war Stefan nicht bereit. »Was würden die Leute reden?«
»Was weiß ich«, murmelte Erwin Reiter böse.
»Wenn du das nicht weißt, warum ziehst du dann zu Tante Martha? Hast du sie lieber als Tante Nina?«
»Nein.« Erwin Reiter war von seinem Sohn rettungslos in die Enge getrieben worden.
»Dann bleib bei uns, statt zu Tante Martha zu ziehen«, meinte Stefan folgerichtig.
»Nein, ich …« Erwin Reiter griff nach dem einzigen Rettungsanker, der sich ihm anbot. »Ich habe eine Abneigung gegen Papageien. Ich bin allergisch dagegen. Und nun, quäl mich nicht länger«, befahl er, da er merkte, dass Stefan darauf brannte, ihm die Abneigung gegen Papageien auszureden.
Nina hatte sich aus der Debatte herausgehalten aus dem einfachen Grund, weil eine Einmischung ihrerseits zu peinlich gewesen wäre. Sie hätte einen Aufenthalt in einem Hotel vorgezogen, denn es war ihr unangenehm, Erwin Reiter aus seiner Wohnung zu vertreiben, doch sie wusste sehr wohl, dass sie Stefans naiver Beredsamkeit nicht gewachsen war.
Zum Glück nahm Stefan nun die Papageienallergie seines Vaters als gegeben hin. Er war von freudiger Erwartung ergriffen und schwätzte drauflos, was er Tante Nina alles zeigen würde. Nur wenn die Rede auf seine tote Mutter kam, fiel ein Schatten über sein Gesicht. Dann bemühte sich Nina, ihn durch geschickte Zwischenfragen auf andere Gedanken zu bringen.
*
Die Zeit bis zu Ninas Urlaub verging rasch. Sie kam gar nicht so recht zur Besinnung, sondern wurde von Stefan einfach mit fortgerissen. Erst als sie sich bereits auf der Fahrt nach Wien befand, kam sie dazu, unvermeidliche Überlegungen anzustellen. Wohin soll das alles führen?, dachte sie. Ich muss mich in Acht nehmen, sonst …
Doch auch diesmal konnte sie den Gedankengang nicht zu Ende denken. Stefan, der den Rücksitz mit Carlo und dessen Käfig teilte, langweilte sich. Er forderte Nina auf, mit ihm zu wetten, ob sie auf der Autobahn mehr grüne oder mehr gelbe Autos überholen würden.
»Und was ist mit den roten, blauen, weißen, grauen und braunen?«, fragte Nina lächelnd.
»Die interessieren mich nicht«, erwiderte Stefan. »Wenn ich groß bin, kaufe ich mir einen großen knallgelben Wagen. Nicht so einen faden wie der Vati oder so einen kleinen, wie du ihn hast. Du bist doch nicht beleidigt, Tante Nina?«, unterbrach er sich.
»Falls du auf mein Auto anspielst, nein«, erwiderte sie. »Aber hast du auch bedacht, dass ein großer Wagen viel Geld kostet? Woher wirst du das nehmen?«
»Vati …«
»O nein«, meinte Erwin Reiter lachend, »das Geld wirst du dir schon selber verdienen müssen.«
»Also, dann verdiene ich es eben selbst«, erklärte Stefan etwas großspurig.
»Einstweilen wirst du dich aber mit einem faden Vehikel zufriedengeben müssen«, meinte Erwin gleichmütig.
»Wenn dein Auto wenigstens nicht grau, sondern so schön hellgrün wie das von Tante Nina wäre«, seufzte Stefan. »Schade, dass Tante Nina nicht mit ihm fährt.«
»Dann würde sie nicht bei uns sitzen«, meinte Erwin. »Wäre dir das lieber?«
»Nein, gar nicht!«, rief Stefan.
Sie waren vor der Abfahrt übereingekommen, dass Nina ihren Wagen in Maibach lassen und bei der Rückfahrt mit Stefan den Zug benutzen würde. Diese Lösung war ihr bequemer erschienen. Sie fühlte sich in Erwins ›fadem Vehikel‹ auch durchaus wohl, und die Reise verlief angenehm.
Nur ein kleiner Zwischenfall brachte Nina in Verlegenheit. Zu Mittag hielten sie bei einem Restaurant, um zu essen. Stefan griff als Erster nach der Speisekarte, was die Kellnerin zu der Bemerkung veranlasste: »Kannst du überhaupt lesen? Gib die Speisekarte lieber deiner Mutti.«
Nina spürte, wie sie rot wurde. Zum Glück beachtete Stefan das nicht, denn er war beschämt, weil er noch nicht lesen konnte. Erwin überspielte den Zwischenfall geschickt, indem er sagte: »Na, sei ein Kavalier, Stefan, und gib Tante Nina die Speisekarte. Du brauchst dir nichts daraus zu machen, dass du noch nicht lesen kannst. Du wirst es in der Schule lernen.«
*
Als sie Erwin Reiters Wohnung betraten, war es an Nina, beschämt zu sein. Voll Unbehagen dachte sie daran, dass sie ihn, ohne zu zögern, in ein Wohnzimmer gebeten hatte, in dem es drunter und drüber gegangen war. In seinem Wohnzimmer lag dagegen nichts Unnützes herum. Die Möbel waren zum Teil alte kostbare Biedermeierstücke, und von der Decke hing ein Kristalllüster herab.
Stefan riss seine Kappe vom Kopf und schleuderte sie treffsicher gegen den Lüster, wo sie an einer der Kerzen hängen blieb. »So, nun sieht es hier schon gemütlicher aus«, stellte er erleichtert fest.
Im Stillen gab Nina ihm recht, während Erwin achselzuckend meinte: »Frau Hanna wird keine Freude an dir haben. Das ist unsere Putzfrau«, erklärte er Nina.
Stefan schlenderte zu einer Kommode. Er streckte die Hand aus und zog ein Foto in einem Silberrahmen, das dort stand, näher zu sich heran. »Mutti«, sagte er leise. Dann nahm er das Bild und brachte es Nina. »Schau her, das ist meine Mutti«, sagte er. »Ist sie nicht schön?«
»Sehr schön«, bestätigte Nina mechanisch. Dann erst betrachtete sie das Foto eingehender. Es war ein Hochzeitsfoto. Erwin Reiter wirkte darauf verkrampft und unnatürlich. Die Frau an seiner Seite aber lächelte. Es war ein etwas leeres und nichtssagendes Lächeln. Man sah ihr die Schwangerschaft nicht an. Sie wirkte zart und zerbrechlich in dem weißen Brautkleid. Die kunstvoll aufgebaute Lockenfrisur stand ihr nicht sonderlich, und auch die in die Stirn hängenden weißen Blüten waren nicht gerade kleidsam.
»Sehr schön«, wiederholte Nina trotzdem und gab Stefan das Bild zurück. Es wäre ihr lieber gewesen, sie hätte es nicht gesehen. Unbegreiflicherweise erweckte es Groll in ihr. Es war Rudis Schuld, dachte sie. Er hat das Mädchen verführt. Aber sie hat sich willig verführen lassen, flüsterte eine andere Stimme in ihr.
Ninas Blick fiel auf Stefan, und sie atmete tief auf. Was auch in der Vergangenheit gewesen war – es war vorbei. Das Kapitel Rudi hatte sie sowieso abgeschlossen. Und wenn nun das Ergebnis seiner Untreue vor ihr stand, höchst lebendig und zu jeglichem Unfug bereit, so konnte sie sich daran nur freuen. Sie hatte Stefan aufrichtig lieb. Es wäre schade, wenn es ihn nicht geben würde, gestand sie sich ein. Dann brauchte ich mir über die Zukunft keine Sorgen zu machen. Ich würde ihn nicht hergeben müssen.
»Komm, ich zeige dir mein Zimmer«, sagte Stefan. »Es steht auch eine zweite Couch darin. Die könntest du benutzen. Bitte, schlafe bei mir«, bettelte er.
»Wenn es dich nicht stört, gern«, versprach Nina.
»Stören – wieso? Du wirst mir am Abend eine lange, lange Geschichte erzählen, und wenn ich nicht gleich einschlafen kann, noch eine zweite.«
»Halt, halt«, dämpfte Erwin seinen Sohn. »Vergiss nicht, dass Tante Nina Urlaub hat. Du darfst dir von ihr nicht ununterbrochen Geschichten erzählen lassen.«
»Aber das tut sie doch gern«, sagte Stefan unschuldig. »Oder nicht, Tante Nina?«
»O doch«, erwiderte sie lächelnd.
»Es wird langsam Zeit, dass ich Martha aufsuche«, meinte Erwin. »Möchtest du sie auch besuchen?«, fragte er den Jungen etwas zögernd.
»Nein. Ich habe viel wichtigere Dinge vor. Ich muss Tante Nina unseren Spielplatz zeigen, dann wollen wir in den Prater gehen. Sie muss sich auch den Tiergarten anschauen …«
»Na, das Programm, das du zusammenstellst, ist wohl eher für deinen eigenen Genuss bestimmt«, neckte Erwin seinen Sohn.
»Wieso? Glaubst du, dass Tante Nina lieber Tante Martha besuchen würde?«
»Nein, das will ich nicht«, schaltete Nina sich schnell ein.
»Tante Martha würde sich über meinen Besuch auch nicht freuen«, stellte Stefan nun fest. »Sie mag mich nicht mehr.«
»Aber Stefan, da irrst du dich. Du hast das alles falsch verstanden«, versuchte Erwin einzulenken.
Stefan zog die Stirn kraus. »Eigentlich habe ich gar nichts verstanden«, überlegte er. »Warum ist sie mit mir zu Tante Nina gefahren?«
»Stefan, ich … Das ist zu kompliziert für dich.«
»Ich bin nicht böse, weil Tante Martha mich zu Tante Nina gebracht hat. Nein, gar nicht. Ich bin froh. Tante Nina habe ich nämlich viel lieber«, fuhr der Junge nachdenklich fort. »Aber trotzdem finde ich, dass Tante Martha komisch war.«
»Manche Leute sind eben ab und zu komisch«, stellte Erwin ruhig fest. »Hinterher bereuen sie es meist. Ich werde also Tante Martha Grüße von dir ausrichten«, schloss er diplomatisch.
»Meinetwegen«, gestattete Stefan großmütig.
Erwin unternahm keinen weiteren Versuch, seinen Sohn zu einem Besuch bei Tante Martha zu überreden, und auch Nina gegenüber erwähnte er seine Schwester nicht mehr.
Nina genoss ihren Urlaub. Dank Stefans Walten sah die Wohnung bald nicht mehr unbewohnt und unpersönlich aus. Im übrigen unterschied sich das Kinderzimmer vom Wohnzimmer insofern, als es mit hellen praktischen Möbeln und bunten Tapeten ausgestattet war.
Stefan führte Nina stolz seine Schätze vor, deren Prunkstück eine elektrische Eisenbahn darstellte. Nina fand nichts dabei, sich neben Stefan auf den Fußboden zu kauern und ihm beim Aufbau der großen Anlage zu helfen. Es machte ihr beinahe ebenso viel Spaß, damit zu spielen, wie Stefan.
In der Küche fühlte sie sich hingegen weniger wohl. Sie bereitete für Stefan und sich die Mahlzeiten zu, wobei am Abendessen auch Erwin teilnahm. Obwohl Stefan nicht oft von seiner Mutter sprach, hatte Nina manchmal das Gefühl, dass die Tote wie ein Schatten hinter ihr stehe. Bei jedem Teller, jedem Topf, den Nina in die Hand nahm, musste sie an Ilse Reiter denken. Über die Art dieser Gedanken war sie sich selbst nicht im Klaren. War es Eifersucht? Unsinn, tat sie diesen Verdacht ab. Wer würde auf eine Verstorbene eifersüchtig sein? Schuldbewusstsein? Nein, in dieser Hinsicht war ihr Gewissen rein. Als sie sich um Stefan gekümmert hatte, hatte sie vollkommen uneigennützig gehandelt.
Doch trotz dieser Überlegungen war Nina jedes Mal froh, wenn sie der Küche den Rücken zukehren konnte. Zu sehr kam sie sich gerade in diesem Raum wie ein Eindringling vor.
*
Die vierzehn Tage vergingen schnell, allzu schnell. Wie vorauszusehen gewesen war, fiel Stefan der Abschied von seinem Vater schwer. Mit tränenüberströmtem Gesicht bat er Nina: »Können wir denn nicht hierbleiben?«
Nina schüttelte nur stumm den Kopf.
»Einen Tag wenigstens noch.«
»Ach, Stefan, was hättest du denn davon? Morgen wärst du genauso traurig wie heute.«
»Warum bleiben wir denn nicht für immer hier? Es ist doch schön bei uns. Du selbst hast gesagt, dass dir unsere Wohnung gefällt. Wozu willst du überhaupt nach Maibach zurückfahren? Bleib doch lieber mit mir da.«
»Das ist völlig ausgeschlossen«, sagte Nina schärfer, als sie beabsichtigt hatte. »Ich muss nach Maibach zurück. Dort ist mein Zuhause. Ich habe dort meine Arbeit und meine Wohnung. Und du bist in Sophienlust gut aufgehoben. Die kleine Heidi wird dich gewiss schon sehnsüchtig erwarten«, versuchte sie Stefan den Abschied zu erleichtern.
»Ich freu mich ja auf Heidi und die anderen«, sagte Stefan und bemühte sich mannhaft, das Schluchzen, das immer wieder in ihm hochkam, zu unterdrücken. »Aber Vati … Vati ist so weit weg.«
»Sobald ich mir freinehmen kann, werde ich dich besuchen«, versprach Erwin ihm. »Außerdem werde ich nachdenken und nach einer anderen Lösung suchen. Es muss eine Möglichkeit geben …«
»Ja, wenn Tante Nina in Wien bleiben würde …«
»Ich habe dir bereits erklärt, dass das unmöglich ist«, fiel Nina dem Jungen beinah heftig ins Wort.
»Du hast gehört, dass Tante Nina von diesem Vorschlag nichts wissen will«, sagte Erwin mit eigentümlich belegter Stimme. »Lass sie also zufrieden, und sei nicht undankbar.«
Diese Zurechtweisung bewirkte, dass Stefan eine Weile schwieg. Dann meinte er zaghaft: »Ich will bald schreiben lernen, damit ich dir wenigstens Briefe schreiben kann.«
Stefans Stimmchen hatte bei diesen Worten so trübselig und verzweifelt geklungen, dass Nina sich einschaltete. »Du brauchst dich mit dem Schreibenlernen nicht zu beeilen. Ich werde das für dich erledigen. Du sagst mir, was du deinem Vater mitteilen willst, und ich werde es für dich niederschreiben.«
»Und wenn Vati mir einen Brief schickt? Wirst du mir den vorlesen?«, fragte Stefan.
»Freilich. Und wenn ich nicht da bin, wird es Schwester Regine tun.«
»Nein, du musst mir Vatis Briefe vorlesen«, beharrte Stefan eigensinnig.
Um Stefan nicht zu enttäuschen, wagte Nina keine Widerrede. So entwickelte sich in der Folge eine lebhafte Korrespondenz zwischen ihr und Erwin Reiter. Anfangs beschränkte Nina sich darauf, wirklich nur das niederzuschreiben, was Stefan ihr diktierte. Aber Stefans Diktate waren mitunter etwas verworren und bedurften einer ausführlichen Erklärung. Erwin Reiters Antworten waren nicht ausschließlich an Stefan gerichtet. Im Gegenteil, der größere Teil war für Nina bestimmt. Allmählich schwang in den Briefen eine freundschaftliche Note mit, die Nina aber gar nicht auffiel, denn sie hatte sich daran gewöhnt.
Ihr Leben verlief eintönig. Nach der Scheidung von Rudi hatte sie sich auch von den Kolleginnen und Freundinnen abgekapselt. Irgendwie empfand sie die Scheidung als Makel, und auf keinen Fall wollte sie sich bedauern lassen. So bildeten in ihrer Einsamkeit die Besuche in Sophienlust und die Briefe von Erwin Reiter die einzigen Höhepunkte. Bis sich eines Tages Rudi erneut in ihr Leben einzuschalten versuchte. Er rief bei ihr an.
Als das Telefon läutete, war Nina verwundert. Sie erwartete keinen Anruf. Und als sie dann abhob und Rudis Stimme vernahm, fiel ihr beinahe der Hörer aus der Hand.
Nachdem er erklärt hatte, dass er zufällig in Maibach sei und sich nach ihrem Ergehen erkundigen wolle, lud er sie zum Abendessen ein. Ohne zu zögern lehnte Nina ab.
»Wer wird denn so nachtragend sein!«, rief er. »Nina, Schatz, was kannst du gegen ein zwangloses Zusammensein einzuwenden haben? Wir brauchen doch nicht Feinde zu sein. Überlege es dir.«
Er nannte ihr die Adresse des Hotels, in dem er abgestiegen war. Allem Anschein nach war er überzeugt, dass sie seine Einladung doch noch annehmen würde.
Mit bebenden Händen legte Nina den Hörer auf. Dann stand sie minutenlang vor dem Apparat und starrte ihn an, als ob er ihr eine Antwort auf die Zweifel, die sie quälten, geben könnte. Es ließ sich nicht leugnen, dass es sie reizte, Rudis Einladung anzunehmen. Sie hatte genug von den allein in ihrer Wohnung verbrachten Abenden, die sich endlos dahinzogen. Es verlangte sie danach, wieder einmal ein hübsches Kleid anzuziehen. Sie war jung und lebhaft und sehnte sich danach, unter Menschen zu sein.
Wie hatte Rudi gesagt? Ein zwangloses Zusammensein? Nein, dagegen ließ sich nichts einwenden. Oder doch? Unentschlossen nagte Nina an ihrer Unterlippe. Rudis Anblick allein würde die alten Wunden wieder aufreißen. Und wenn er die Absicht hatte, es nicht bei dem einen Abendessen bewenden zu lassen? Wenn er sie um eine weitere Zusammenkunft bat? Würde sie die Festigkeit aufbringen, abzulehnen?
Entschlossen wandte sich Nina vom Telefon ab. Sie würde die nötige Festigkeit aufbringen, jetzt, sofort. Sie durfte Rudi nicht treffen. Mit ihm beisammen zu sein, würde einem Verrat an Stefan gleichkommen und letzten Endes mir selbst neuen Kummer einbringen, setzte sie in Gedanken hinzu.
*
Ein paar Tage nach diesem Anruf, der Nina beinahe um ihr seelisches Gleichgewicht gebracht hätte, stellte sich ein Besucher bei ihr ein. Es war Erwin Reiter, und er kam genauso unerwartet wie beim ersten Mal. Doch diesmal konnte Nina mit einem aufgeräumten Wohnzimmer aufwarten.
Er sah sich lächelnd darin um, sodass Nina fragte: »Haben Sie erwartet, wieder über herumliegende Bücherstöße zu stolpern?«
Ihre Frage klang etwas bissig, sodass er sich beeilte, zu erwidern: »Nein, nein, obwohl ich zugeben muss, dass es mich beeindruckte. Ich fand es außergewöhnlich und charmant. Ich meine, die meisten Frauen hätten gezögert, jemanden in einen Raum zu bitten, der derart …, derart …«
»Ja, ich weiß«, sagte Nina hastig. »Aber ich muss Sie enttäuschen. An meiner Handlungsweise war nichts Charmantes. Ihr Besuch war mir einfach gleichgültig, ja sogar …« Diesmal war sie es, die das Wort, das sie hatte aussprechen wollen, schnell hinunterschluckte.
»Zuwider?«, ergänzte er an ihrer Stelle.
Nina schlug die Augen nieder.
»Und heute?«, fragte er drängend. »Ist Ihnen mein Besuch heute auch zuwider?«
»Nein«, entgegnete Nina langsam. Dann fügte sie hinzu: »Wie gefällt Ihnen Stefan? Er entwickelt sich prächtig, nicht wahr? Er ist gesund und braun gebrannt.«
»Es freut mich, das zu hören«, sagte Erwin. »Ich habe Stefan nämlich noch nicht gesehen.«
»Waren Sie denn noch nicht in Sophienlust?«
»Nein. Ich wollte …, ich wollte zuerst mit Ihnen sprechen. Vielleicht können Sie sich denken, was ich Sie fragen möchte.«
»Nein, ich … Nein, ich habe keine Ahnung«, sagte Nina mit mühsam beherrschter Stimme.
Er seufzte. »Möglicherweise habe ich mich getäuscht«, murmelte er entmutigt. »Aber in Ihren Briefen …« Er warf ihr einen fragenden Blick zu und begann von Neuem, als sie hartnäckig zu Boden blickte. »Der jetzige Zustand ist unhaltbar. Gewiss. Stefan hat es gut in Sophienlust. Aber im Grunde genommen ist es nicht notwendig, dass er sich in einem Kinderheim aufhält. Schließlich hat er einen Vater.«
»Ja, aber Rudi …«
»Oh, seien Sie still. Ich rede nicht von Ihrem sauberen Rudi Leskowitsch, den Sie allem Anschein nach nicht vergessen können. Wenn ich von Stefans Vater spreche, meine ich selbstverständlich mich«, erklärte Erwin Reiter zornig.
»Es ist nicht wahr, dass ich Rudi nicht vergessen kann«, rechtfertigte sich Nina aufgebracht.
»Umso besser«, erwiderte Erwin. »Vielleicht besteht also doch die Hoffnung, dass Sie auf meine Bitte eingehen.«
»Ihre Bitte? Was für eine Bitte?«
»Eigentlich ist es die gleiche, die Stefan bereits in Ihrem Urlaub ausgesprochen hat. Nämlich die, dass Sie mit ihm in Wien bleiben.«
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, es geht nicht. Ich kann nicht alle Brücken hinter mir abbrechen. Ich müsste meinen Beruf aufgeben, und wovon sollte ich dann leben?«
»Wovon? Ich verdiene genug«, entgegnete er verständnislos. »Es hat bisher für drei gereicht, also werden wir auch in Zukunft damit auskommen.«
Bisher hatte Nina ihm stumm gelauscht, doch jetzt fand sie ihre Stimme wieder: »Das ist unmöglich! Glauben Sie, ich will mich von Ihnen aushalten lassen!«
»Ilse war auch nicht berufstätig«, wandte er ein.
»Aber Ilse war Ihre Frau!«
»Freilich. Und du … Solltest du mich etwa gar missverstanden haben? Ich habe dich gebeten, mich zu heiraten.«
Nina schnappte nach Luft. »Nein, das …, das stimmt nicht. Von Heiraten habe ich nichts gehört«, murmelte sie schwach.
»Aber ich habe es gemeint. Was sonst hätte meine Aufforderung, mit Stefan nach Wien zu kommen, bedeuten sollen? Beinahe hätte ich dich schon in deinem Urlaub gefragt, aber damals kannten wir uns erst so kurz, und außerdem hatte ich Angst, dass du die Scheidung von deinem Mann noch nicht überwunden hättest.«
Nina war wie betäubt. »Kennen wir uns denn jetzt länger?«
»Kommt es darauf an? Ich liebe dich. Es war Liebe – nein, nicht auf den ersten, aber immerhin auf den zweiten Blick. Als ich dein unaufgeräumtes Zimmer betrat …«
»Dass Unordnung einem einen Heiratsantrag einträgt, hätte ich nie gedacht«, flüsterte Nina. Sie wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Es kam alles so überstürzt. Erwin hatte sie überrumpelt. Nach der Enttäuschung mit Rudi hatte sie sich vorgenommen, nie wieder einen Mann ernst zu nehmen. Aber konnte man Erwin mit Rudi überhaupt vergleichen? Rudi war flatterhaft und unbeständig. Erwin schien das genaue Gegenteil zu sein. Nina gestand sich ein, dass er ihr gefallen hatte, nicht erst auf den zweiten, sondern auf den ersten Blick. Wenn er damals nicht so unfreundlich gewesen wäre … Aber nein, verliebt hätte sie sich nicht in ihn. Sie wehrte sich gegen ein derartiges Gefühl, sie wollte kein zweites Mal enttäuscht werden.
Zögernd sah sie zu Erwin auf, doch das, was sie in seinen graublauen Augen las, ließ sie den Blick sofort wieder verwirrt senken. »Es ist nicht möglich, es kann nicht sein«, murmelte sie.
»Dass ich dich liebe? Warum kann das nicht sein?«
»Ilse …«
»Ja, ich habe Ilse gerngehabt. Aber es war nicht so wie bei dir. Ich musste sie beschützen. Sie war so hilflos. Sie brauchte mich, und ich hatte immer Angst, dass sie allein nicht mit dem Leben fertig werden würde. Das war der Hauptgrund für meine Heirat mit ihr. Aber bei dir ist das anders. Dich liebe ich aus ganzem Herzen.«
»Und Stefan?«
Er lächelte. »Du darfst nicht glauben, dass ich dich nur heiraten will, um Stefan eine Mutter zu geben. Nein, das was ich mir wünsche, ist für Stefan eine Mutter und für mich eine Frau, die ich liebe. Beides habe ich in dir gefunden.«
»Ach, Erwin. Ich bin so unsicher, ob …«
Er hinderte sie daran, den Satz zu beenden, indem er sie in die Arme nahm und küsste.
Und plötzlich war Nina nicht mehr unsicher. Wie eine Erleuchtung kam ihr die Gewissheit, dass Erwin der Mann war, den das Schicksal für sie bestimmt hatte.
Alles, was früher gewesen war, hatte keine Bedeutung mehr.
*
»Wisst ihr es schon? Stefan wird uns verlassen«, sagte Heidi niedergeschlagen.
»Wir wissen es«, entgegnete Henrik. »Aber warum machst du so ein kummervolles Gesicht? Stefan ist nicht zu bedauern, es wird ihm gut gehen.«
»Ja. Sein Vati nimmt ihn mit nach Wien. Und Tante Nina wird seine neue Mutti«, meinte Heidi sehnsüchtig.
»Bist du gar eifersüchtig, Heidi?«, fragte Schwester Regine hellhörig.
»Ein bisschen«, gab Heidi zu.
»Das hast du nicht nötig. Du gehörst zu uns. Wir haben dich alle sehr, sehr lieb.«
»Und ich habe euch alle lieb!«, rief Heidi und drückte der Kinderschwester einen feuchten Kuss auf die Wange.