Читать книгу Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 6

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»Mir tut es auch leid, Peterle. Aber du bist doch schon ein großer, verständiger Junge und kannst einsehen, daß es so das Beste für uns beide ist.« Volker Eckstein, der hochgewachsene sechsunddreißigjährige Vater des fast weißblonden Jungen runzelte die Stirn.

Ihm war der Entschluß nicht leicht gefallen, aber er wußte, es mußte sein. Marga, seine Frau, hatte ihre Familie wegen eines anderen Mannes verlassen, und nun mußte er eben sehen, wie er alleine zurechtkam.

Am meisten litt natürlich der zehnjährige Peter unter der Trennung von der Mutter, die im Überschwang der Gefühle sogar auf ihren Sohn verzichtet hatte.

Volker war natürlich auch nicht bereit gewesen, Peter, den er sehr liebte, herzugeben. Trotzdem konnte er sich nicht so um den Jungen kümmern, wie er es gern getan hätte, denn er mußte ja Geld verdienen. Nachdem seine Frau so einfach ohne Streit und ohne Vorwarnung gegangen war, hatte er es in Rothenburg nicht mehr ausgehalten. Zum Glück hatte er in der Tageszeitung das Inserat einer Maibacher Baufirma gelesen, die einen qualifizierten Prokuristen suchte.

Sofort hatte er sich beworben, und nach einem Vorstellungsgespräch, das seiner Meinung nach sehr gut verlaufen war, hatte man ihm den Vertrag vorgelegt.

Bei seiner Fahrt durch Maibach war er dann auch auf ein Hinweisschild gestoßen, das ihn von der Existenz eines privaten Kinderheims unterrichtete, das ihm wie gerufen kam.

Heute nun wollten sich Vater und Sohn, die inzwischen nach Maibach übersiedelt waren, dieses Kinderheim ansehen, denn die Zeit drängte. In einer Woche mußte Volker Eckstein bei der Firma Braun und Sohn anfangen. Bis dahin mußte geregelt sein, was während seiner Arbeitszeit mit seinem Sohn Peter geschah.

»Ich will aber nicht in ein Kinderheim«, begehrte der Junge auf und stampfte mit dem Fuß: »Das sieht ja aus, als ob ich noch ein Baby wäre. Ich kann gut allein zu Hause bleiben, bis du am Abend kommst.«

»Das glaube ich dir sogar, mein Sohn. Trotzdem hätte ich in meinem Büro keine Ruhe, wenn ich dich allein in der Wohnung wüßte. Nein, Peterle, es hilft nichts. Wir werden es uns wenigstens ansehen. Vielleicht gefällt es dir dort besser als du denkst. Und jetzt beeile dich, sonst kommen wir zu spät.«

Peter rührte sich nicht. Er hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und schaute seinem Vater bitterböse beim Auspacken ihrer restlichen Habseligkeiten zu. »Wo ist nur mein gutes Hemd hingekommen«, ärgerte sich Volker und legte die Kleidungsstücke fein säuberlich auf den Wohnzimmertisch. »Ich habe es doch selber in die Tasche hineingetan.«

Peter grinste zufrieden. Er hätte seinem Vater ja helfen können, denn er wußte, wo das Hemd versteckt war. Aber damit hätte er nur sich selbst geschadet, denn er wollte um keinen Preis in dieses Heim.

»Peterle, warum lachst du?« fragte der Mann erstaunt. Schon eine ganze Weile hatte er seinen Sohn beobachtet, und der zufriedene Gesichtsausdruck des Jungen hatte ihn stutzig gemacht.

»Peter! Rück sofort mein Hemd heraus. Du weißt genau, daß wir nach Sophienlust fahren müssen. Ich habe mit der Heimleiterin, einer gewissen Frau Rennert, bereits einen Termin fest vereinbart. Die Frau war übrigens sehr nett. Und jetzt gib das Hemd her.«

Volker Eckstein verstand sonst jeden Spaß, aber seit Marga ihn verlassen hatte, fühlte er sich so leer und ausgelaugt, daß er sich am liebsten ins Bett gelegt hätte, um nichts mehr hören und sehen zu müssen.

Das aber ging natürlich nicht, denn er mußte ja für sich und seinen Sohn sorgen. Marga konnte für sich selbst aufkommen, denn sie hatte von ihren Eltern ein nicht unbeträchtliches Vermögen geerbt, das ihr zumindest für die nächsten Jahre ein sorgenfreies Leben garantierte.

»Hier hast du dein Hemd, Vati. Aber gern gebe ich es dir nicht, das kannst du mir glauben.« Zerknirscht und offensichtlich mit größtem Widerwillen hielt Peter seinem Vater das Gewünschte hin. Die dunklen Augen des Zehnjährigen waren zu schmalen Schlitzen zusammengepreßt, und um seinen Mund zuckte es.

»Schau, Peterle«, versuchte es Volker Eckstein noch einmal und setzte sich auf den einzigen Stuhl, der sich bis jetzt in seinem Schlafzimmer befand. »Wir zwei Männer müssen doch zusammenhalten, wenn wir beieinander bleiben wollen. Siehst du das ein?«

»Ja, Vati«, kam die leise Antwort. Der Junge mit dem wirren blonden Haar schaute hartnäckig auf den Boden. Nichts sah er ein, und verstehen konnte er es schon gar nicht, warum auf einmal alles so anders war. Noch an Weihnachten war die Mami bei ihnen gewesen, und sie hatten zusammen gelacht, gesungen und Geschenke ausgepackt. Und jetzt?

»Und weil wir zusammenhalten, darum mußt du jetzt auch in das Kinderheim, vorausgesetzt natürlich, daß es einigermaßen passabel ist«, schränkte Volker ein, um seinen Sohn wenigstens ein bißchen zu trösten.

»Aber wenn es mir nicht gefällt, dann darf ich wieder mit dir zurückfahren, einverstanden?«

»Du sollst nicht mit mir handeln, mein Sohn«, grollte der Mann, obwohl er insgeheim schmunzeln mußte. Was würde er nur anfangen, wenn Marga den Jungen mitgenommen hätte? Für wen würde er dann noch arbeiten gehen? Sein ganzes Leben hätte dann seinen Sinn verloren.

Ein Blick auf seine Armbanduhr sagte ihm, daß sie sich beeilen mußten, wenn sie den Termin noch einhalten wollten. Rasch schlüpfte er aus dem bequemen Pullover und zog das weiße Hemd an. Die Krawatte saß ein bißchen schief, aber das beachtete er in der Eile gar nicht mehr.

»Los jetzt, Peter, zieh deine Schuhe an, damit wir endlich gehen können.« Volker Eckstein holte die Tasche, in die er die nötigsten Dinge seines Sohnes gepackt hatte, denn er hoffte inständig, daß das mit dem Kinderheim klappen würde.

Murrend band sich Peter die Schuhe zu und stand dann auf. »Ich weiß jetzt schon, daß es mir dort nicht gefällt.«

Volker hatte bereits die Eingangstür der vor kurzem gemieteten Wohnung geöffnet und war im Begriff zu gehen. Ihm war dieser Gang mindestens ebenso unangenehm wie seinem Sohn, und darum wollte er ihn auch so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Schweigend marschierten Vater und Sohn die Stufen hinunter und stiegen in das Auto ein. »Du wirst sehen, Peterle...«, versuchte es Volker noch einmal, aber der Junge winkte nur ab.

»Gib dir keine Mühe, Vati. Du mußt genauso erst abwarten wie ich«, antwortete er altklug.

Volker lächelte. »Du hast recht, Peter. Wir werden erst alles ganz genau prüfen, bevor wir uns entschließen. Übrigens habe ich gehört, daß zu diesem Kinderheim auch noch ein Tierheim gehören soll. Das wäre doch was für dich, oder nicht?«

Peter zuckte die Schultern. »Schon«, gab er dann zu, aber seine Miene blieb unbeweglich. »Aber das bringt mir ja nichts, wenn ich viel lieber zu Hause bei dir wäre.«

Volker Eckstein beschloß, daraufhin nichts mehr zu sagen. Es fiel ihm auch beim besten Willen nichts ein, was er noch als Pluspunkt hätte anführen können.

»Und wie soll das mit der Schule weitergehen?« fragte der Junge nach einer Weile aggressiv. Er hatte bereits die Wegweiser entdeckt, die das Kinderheim Sophienlust ankündigten.

»Jetzt warte doch erst mal ab. Das müssen wir alles mit Frau von Schoenecker besprechen. Soviel ich mitbekommen habe, ist sie für alles verantwortlich. Dann wird sie uns auch sagen können, wie du in die Schule kommst.«

»Du weißt aber, daß ich nächstes Schuljahr ins Gymnasium will. So etwas gibt es in diesem Maibach bestimmt nicht.«

»Jetzt hör aber auf mit deiner Unkerei, Peter. So langsam reißt mir nämlich der Geduldsfaden, das kann ich dir sagen. Wenn dieses Kinderheim nichts ist, dann nehme ich dich selbstverständlich wieder mit. Aber wenigstens ansehen können wir es uns doch.« Volker wurde nun wirklich ärgerlich. Ihm fiel es ja auch nicht leicht, seinen Sohn bei fremden Leuten unterzubringen. Aber in diesem Fall ging es eben nicht anders. Peter war noch zu jung, um für sich selbst zu sorgen, während er selbst bei der Arbeit war.

»Da vorne das hohe, schmiedeeiserne Tor, da werden wir hinmüssen«, überlegte Volker laut, während er auf den zweiten Gang herunterschaltete.

»Schon möglich«, gab Peter mürrisch zu und fuhr sich noch rasch mit den Fingern durch seine lockigen Haare.

Volker beobachtete es aus den Augenwinkeln, und mit schmerzhafter Deutlichkeit wurde er wieder an Marga erinnert. Auch sie hatte sich ihre blonden Locken immer so zurückgestrichen, wenn sie erregt oder wütend gewesen war.

Entschlossen zog Volker Eckstein die Handbremse an, nachdem er den Wagen vor dem Tor geparkt hatte. Er war gespannt, was sie in dem großen Haus, von dem er noch kaum etwas erkennen konnte, erwartete.

Kindergeschrei schallte zu ihnen herüber, und Peter horchte erstaunt auf. Das hatte er nicht erwartet, daß Kinder in einem Kinderheim auch lustig sein konnten.

»Komm, mein Sohn, dann stürzen wir uns mal in die Höhle des Löwen. Fressen werden die uns bestimmt nicht gleich, und wenn es gefährlich werden sollte, dann flüchten wir einfach.«

Peter verzog den Mund, aber es wurde kein rechtes Grinsen daraus. Irgendwie war ihm unbehaglich zumute, obwohl ihm die ganze Umgebung eigentlich gut gefiel. Die hohen alten Bäume rauschten bedächtig im Frühlingswind, und der weiße Kies knirschte unter den Schritten von Vater und Sohn.

Es hätte alles so schön und interessant sein können, wenn dieses prächtige Gebäude, das an das alte Herrenhaus, das es einmal war, erinnerte, nicht gerade ein Kinderheim gewesen wäre.

Und dann sah er sie. Ein kleines Stück vom Haus entfernt war eine ganze Schar Kinder aller Altersklassen. Unbeschwert spielten sie, turnten und bauten Burgen in dem großen Sandkasten. Unbändige Lust, mit ihnen zu spielen, überkam den Jungen, der noch nie besonders kontaktfreudig gewesen war.

Sofort merkte Volker, was seinen Sohn bewegte, denn er hatte dessen sehnsüchtigen Blick wohl gemerkt. Fast hatte er den Eindruck, daß dieses Sophienlust genau das Richtige war für Peter, der für sein Alter viel zu ernst und verschlossen war. Vielleicht würde er hier aus sich herausgehen und Anschluß an andere Kinder finden.

»Willst du nicht zu ihnen hinübergehen, während ich das Büro der Heimleiterin suche? Vielleicht kannst du dich schon mal mit ihnen anfreunden.«

Zögernd schaute Peter zu seinem Vater auf. Sein Gesicht war ungewöhnlich blaß, aber das kam von der inneren Zerstreutheit. Volker kannte das von seinem Sohn.

»Wenn du meinst, Vati, dann geh ich halt. Aber… aber du läßt mich nicht allein hier, versprich mir das.«

»Keine Angst, Peterle. Wenn ich mit dieser Frau von Schoenecker gesprochen habe, dann komme ich sofort zu dir und erzähle dir alles. Dann können wir uns immer noch überlegen, was zu tun ist.«

Volker winkte seinem Sohn zu, der langsam auf die Kinderschar zuging, dann machte er sich zielstrebig auf den Weg zu der breiten Freitreppe, die er immer wieder bewundernd anschauen mußte. So ein herrliches, herrschaftliches Haus und dieser wunderbare Park, dessen Ende gar nicht abzusehen war, das beeindruckte ihn. Wie wurde aus so einem pompösen Besitz ein Kinderheim?

Leise quietschte die Tür, als er sie öffnete. Verwundert blieb der Mann in der Halle stehen, die sofort einen behaglichen Eindruck auf ihn machte. Vor dem offenen Kamin lag ein großes Bärenfell, und rechts davon stand ein Tisch, ein bequemes hochlehniges Sofa und mehrere passende Sessel, die mit braunem Leder bezogen waren. Es war angenehm kühl in diesem Raum, der der Mittelpunkt des Kinderheims war.

»Kann ich Ihnen helfen?«

Überrascht schaute Volker Eckstein, der ganz in die Betrachtung der Bilder an den Wänden vertieft war, auf und entdeckte die hübsche junge Frau, die die teppichbespannte Treppe herunterkam. Der Kleidung nach mußte sie eine Krankenschwester oder sonst irgendeine Aufsichtsperson sein, stellte er für sich fest.

»Mein Name ist Eckstein«, antwortete Volker zögernd. »Ich bin angemeldet.«

»Ach ja, Herr Eckstein, guten Tag. Frau Rennert hat mir von Ihrem Anruf erzählt. Ich bin Schwester Regine. Kommen Sie bitte mit. Frau von Schoenecker erwartet Sie.«

Regine Nielsen, eine blonde, aparte Frau von achtundzwanzig Jahren, führte Volker Eckstein zum Biedermeierzimmer, in dem Denise von Schoenecker gewöhnlich ihre Gäste empfing. Die Kinderschwester klopfte kurz an und ließ dann den Mann eintreten.

»Herr Eckstein«, stellte sie ihn noch vor und zog sich dann aber zurück.

Die Frau, die sich bei seinem Eintreten erhoben hatte, war groß und schlank, und ihr schwarzes Haar, das in weichen Wellen bis auf die Schultern fiel, verlieh ihr ein apartes, temperamentvolles Aussehen.

»Guten Tag, Herr Eckstein. Ich bin Denise von Schoenecker. Bitte, kommen Sie doch näher.« Freundlich reichte ihm die Frau ihre Hand und deutete auf den zierlichen weißen Biedermeierstuhl, der vor ihrem Schreibtisch stand.

»Haben Sie Ihren Sohn mitgebracht?« fragte die Verwalterin, als der Besucher immer noch schwieg.

Volker nickte. »Ja, Peter ist im Park bei den anderen Kindern. Ich hoffe, Sie haben nichts dagegen.«

»Aber natürlich nicht.« Denise lächelte verbindlich. Ihr gefiel dieser etwas ernste Mann zwar gut, aber sie wurde nicht so recht schlau aus seinem Verhalten.

»Peter ist...« Der Mann brach ab und kratzte sich verlegen am Kinn. »Er wollte eigentlich nicht so recht hierher«, gestand er dann.

»Das ist verständlich. Welches Kind geht schon gern in ein Kinderheim«, antwortete Denise. »Aber ich bin sicher, daß sich Peter schnell bei uns eingewöhnen wird. Bis jetzt haben sich noch alle Kinder eingelebt, auch wenn sie sich am Anfang gegen einen Aufenthalt bei uns gesträubt haben. Unser Heim ist auch nicht mit anderen zu vergleichen«, fuhr Denise nicht ohne Stolz fort. »Wir leben mehr wie eine große Familie zusammen. Das merken die Kinder bald.«

»Als meine Frau uns vor gut zwei Monaten verließ, da wußte ich nicht, was ich anfangen sollte. Zuerst gab ich die Wohnung auf, denn dort erinnerte uns alles an Marga. Das Angebot der Firma Braun und Sohn erschien mir wie ein Geschenk des Himmels und ab übernächster Woche arbeite ich dort als ein Prokurist.«

»Das ist ein sehr guter Betrieb«, stimmte Denise zu und machte sich ein paar Notizen. »Wie hat Peter eigentlich die Trennung von seiner Mutter verkraftet?«

»Ach, eigentlich ganz gut, soweit ich das beurteilen kann. Nur manchmal fällt mir auf, daß sein Blick ganz leer und ausdruckslos wird. Und wenn ich ihn darauf anspreche, dann stottert er, daß ich ihn kaum verstehen kann.«

»Armer Junge«, murmelte die Verwalterin mitfühlend. »Peter leidet wahrscheinlich mehr als Sie ahnen. Er kann es nur nicht zeigen, daher die Sprachstörungen und der abwesende Blick. Hoffentlich können wir ihm helfen.« Denise von Schoenecker legte Volker Eckstein den Aufnahmebogen hin, den er noch unterschreiben mußte.

Einen Augenblick lang zögerte der Mann noch. Das schlechtes Gewissen plagte ihn, weil er Peter versprochen hatte, erst noch mit ihm darüber zu sprechen, ehe er sich entschied.

Aber in seiner Situation gab es nicht viel zu entscheiden, weil er gar keine andere Möglichkeit hatte. Er mußte Peter hierlassen, weil er niemanden kannte, der sonst für den Jungen sorgen sollte.

Grenzenlose Wut auf Marga überkam ihn. Er knirschte mit den Zähnen, weil er das Gefühl hatte, alles zerschlagen zu müssen, um sich auf diese Weise abzureagieren.

Denise ahnte, was in dem Mann vorging, der plötzlich bleich geworden war. Er tat ihr leid, aber mehr noch bemitleidete sie den Jungen, den sie noch gar nicht kannte.

»Sie können ganz beruhigt sein, Herr Eckstein. Ihrem Sohn wird es hier gefallen, da bin ich ganz sicher. Und Sie dürfen ihn auch so oft besuchen, wie Sie mögen und Zeit haben.«

»Ach, da fällt mir noch etwas ein, das ich Sie fragen muß.«

Er lächelte ein bißchen. »Peter hat es mir extra ans Herz gelegt. Wie ist das mit der Schule? Nächstes Jahr möchte mein Sohn aufs Gymnasium, falls er gut genug abschneidet.«

»Und wo ist da das Problem? Maibach hat eine sehr gute Volksschule, in die mein Sohn Henrik übrigens auch noch geht. Nächstes Jahr wird er auch, vorausgesetzt er schafft es, aufs Gymnasium überwechseln. Haben Sie Peter noch nicht angemeldet?«

»Das werde ich in absehbarer Zeit tun«, gab Volker ein bißchen kleinlaut zu. Er hatte es total vergessen, aber das war nicht weiter verwunderlich, nach allem, was in den letzten Wochen auf ihn eingestürmt war.

»Mit dem Schulweg wird es auch keine Schwierigkeit geben. Zu unserem Kinderheim gehören rote Kleinbusse, mit denen unsere Kinder in die Schule gefahren und auch wieder abgeholt werden. Sie sehen also, daß Sie sich gar keine Sorgen zu machen brauchen. Möchten Sie sich jetzt noch die Räume ansehen?« fragte die Gutsbesitzerin, nachdem Volker Eckstein den Aufnahmeantrag unterschrieben hatte.

Volker nahm dankend an und ließ sich von Denise durch das ganze Haus führen. Er war überrascht, wie gemütlich und vor allem kindgerecht die Zimmer eingerichtet waren.

»Da wird sich mein Peter bestimmt wohl fühlen«, gestand er, als sie sich in der Halle voneinander verabschiedeten.

»Das glaube ich auch. Am besten, ich begleite Sie noch durch den Park, dann können Sie mir Ihren Sohn gleich vorstellen.«

Peter saß bei den anderen Kindern am Sandkasten und schaute ihnen beim Spielen zu. Selbst beteiligte er sich daran nicht, aber das war auch nicht weiter verwunderlich. Als Einzelkind war er nicht besonders kontaktfreudig.

Als er seinen Vater mit Frau von Schoenecker auf ihn zukommen sah, stand er sofort auf und lief ihnen entgegen.

»So, du bist also der Peter«, sagte Denise freundlich und reichte dem Jungen die Hand. »Grüß dich, Peter. Wie ich sehe, hast du dich mit einem Teil unserer Kinder schon angefreundet.«

Schüchtern gab der Junge der fremden Frau seine Hand, die noch ganz sauber war.

Ein enttäuschter Blick traf seinen Vater, der unbehaglich daneben stand. Volker wußte, was er zu bedeuten hatte, und er kam sich abgrundtief schlecht vor. Am liebsten hätte er seinen Sohn auf der Stelle wieder mitgenommen.

»Also, Peterle, morgen abend komme ich wieder. Sei schön lieb und halt die Ohren steif.« Zärtlich wühlte er in dem dichten Haar seines Sohnes. Dann drehte er sich hastig um und ging davon. Er konnte den beinahe verächtlichen Blick seines Sohnes nicht mehr ertragen.

*

Seufzend packte Denise von Schoenecker die letzten Sachen, die sie noch in dem Schrank vorfand, in die Tasche, die sie mitgebracht hatte. Heute mußte die kinderliebe Frau eine traurige Pflicht erfüllen. Sie sollte den kleinen Haushalt von einer früheren Angestellten von Sophienlust auflösen, die vor einer Woche an einer unheilbaren Krankheit gestorben war.

Agnes, das fünfjährige Töchterchen von Gisela Müller, stand mit hinter dem Rücken verschränkten Ärmchen dabei und beobachtete neugierig das Treiben der fremden Frau. Sie war ein niedliches Mädchen mit fast schwarzen Kulleraugen und dunklem, stark gelocktem Haar.

»Du wirst staunen, Agnes, wie schön es in Sophienlust ist«, erzählte Denise der Kleinen, die willig mit dem Kopf nickte.

»Ich freue mich auch schon darauf, Tante Isi«, antwortete das Mädchen artig. »Kommt die Mami auch mit?«

»Nein, Herzchen, die Mami kann nicht mitkommen. Weißt du, sie ist jetzt im Himmel. Der liebe Gott hat sie ganz dringend gebraucht, darum nehme ich dich jetzt zu mir. Ich habe schon ganz viele Kinder. Es wird dir sicher gut gefallen.«

»Da hast du bestimmt auch viel Arbeit«, stellte das Mädchen treuherzig fest. »Meine Mami sagt immer, daß ich ihr soviel Arbeit mache, daß sie es gar nicht schaffen kann.«

»Weißt du, Herzchen, deine Mami war sehr krank und müde. Darum hat sie das gesagt. Aber jetzt geht es ihr wieder gut.« Denise zog eine Schublade des kleinen Schreibtisches auf. Vielleicht waren auch hier noch Dinge darin, die Agnes später einmal brauchen würde.

»Was ist denn das?« Überrascht holte die Frau ein schon ziemlich zerlesenes Album heraus, das sich bei genauerem Hinsehen als Photoalbum entpuppte. Denise blätterte kurz darin, aber dann klappte sie es doch wieder zu. Die Bilder weckten wehmütige Erinnerungen in der Frau, denn sie hatte Gisela Müller immer sehr gern gehabt.

Als die junge Frau dann überraschend von Sophienlust weggegangen war, da hatte Denise es lang nicht verstehen können. Sie hatte wohl vermutet, daß da ein Mann dahinterstecken mußte, aber warum Gisela so ein Geheimnis daraus gemacht hatte, das war ihr nicht ganz klar gewesen.

»So, das meiste hätten wir«, stellte die Verwalterin nach einer Weile erleichtert fest. Sie trug die beiden Taschen und den kleinen Koffer zur Eingangstür und ging dann noch einmal durch alle Zimmer. Die Möbel würde die Hausbesitzerin zum Sperrmüll geben, denn allzuviel waren sie bestimmt nicht mehr wert. Und die meisten persönlichen Dinge hatte Denise schon eingepackt.

»Agnes, wo steckst du denn?« Suchend schaute sich Denise von Schoenecker um. Gerade hatte sie das Kind noch gesehen, und nun war es plötzlich verschwunden.

»Agnes?« Aus dem Schlafzimmer hörte die Frau hastiges Hin- und Herlaufen. Was tat die Kleine nur?

Vorsichtig schlich Denise zur Tür. »Was ist denn, Schätzchen?«

»Ich kann meinen Teddy einfach nicht finden, den mir die Mami gekauft hat«, klagte das Mädchen. »Gestern war er noch da, und jetzt ist er fort.«

»Bestimmt haben wir ihn schon eingepackt, Agnes. Wenn wir zu Hause sind, werden wir gleich nachsehen, einverstanden?«

Aber das Mädchen schüttelte den Kopf. »Ohne meinen Teddy darf ich nicht weggehen«, beharrte sie. »Meine Mami hat gesagt, ich darf ihn nicht verlieren, weil er viel Geld gekostet hat.«

Seufzend schaute sich Denise um. Sie konnte sich beim besten Willen nicht an einen Teddy erinnern. Eingepackt hatte sie ihn auf jeden Fall nicht. Aber wo sollte sie ihn suchen?

Sie ging zum Fenster und schaute auf die Straße hinunter. Der Feierabendverkehr hatte bereits eingesetzt, und jetzt, Anfang März, begann es noch immer ziemlich früh zu dämmern.

Nachtfahrten waren für Denise ein Greuel, aber heute würde sie nicht drum herumkommen. Sie mußte noch den Teddy suchen, den Agnes unbedingt mitnehmen wollte.

»Wo hast du ihn denn hingelegt? Kannst du dich nicht mehr erinnern?«

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Vielleicht hat ihn die Mami mitgenommen.«

»Ja, vielleicht, Herzchen«, antwortete Denise, der diese Möglichkeit wie ein Rettungsanker vorkam. »Dann brauchen wir ihn aber auch nicht mehr länger zu suchen. Komm, Agnes, du wirst in Sophienlust soviel Spielsachen finden, daß du den Teddy nicht mehr vermissen wirst.«

Das bildhübsche Mädchen mit den wirren dunklen Locken zuckte die Schultern. »Ich hätte ihn aber so gern.« Sie machte ein paar Schritte auf die Frau zu. Plötzlich hellte sich ihre Miene auf. »Ich weiß«, jubelte sie und rannte davon. Wenige Sekunden später kam sie mit ihrem Teddy auf den Arm zurück. »Er hat in Mamis Bett geschlafen. Jetzt ist es mir wieder eingefallen.«

Das Mitleid mit dem kleinen, heimatlosen Kind trieb Denise die Tränen in die Augen. Zärtlich preßte sie den schmächtigen Körper des Mädchens an sich. »Kleine Agnes«, flüsterte sie, »du sollst es wunderschön haben in Sophienlust, das verspreche ich dir.«

Sie nahm das Mädchen bei der Hand, und dann gingen sie einträchtig zum Auto, das Denise vor dem Haus geparkt hatte. Frau Gerold, die Hauswirtin, hatte schon die Koffer und Taschen hinuntergetragen und auf dem Gehweg abgestellt.

»Sie wissen ja, was mit dem Rest zu machen ist«, sagte Denise mit einem bedeutungsvollen Blick auf Agnes.

»Selbstverständlich, Frau von Schoenecker. Es tut mir ja so leid. Fräulein Müller war ein so reizendes Persönchen. Ich kann gar nicht glauben...«

»Leben Sie wohl, Frau Gerold. Und danke, daß Sie sich um Agnes gekümmert haben.« Die beiden Frauen reichten sich die Hände, und auch Agnes wollte sich von der Frau verabschieden, die so lieb zu ihr gewesen war.

Sie drückte der alten Frau einen schmatzenden Kuß auf die Wange. »Auf Wiedersehen, Tante Gerold. Ich komme dich bald mal besuchen.« Winkend verschwand Agnes im Fond des Autos, während sich die Hauswirtin verstohlen eine Träne aus dem Gesicht wischte.

Vorsichtig lenkte Denise von Schoenecker den Wagen durch die belebten Straßen von Murrhardt. Hier also hatte Gisela die letzte Zeit gelebt.

Für einen Augenblick sah Denise die schmächtige junge Frau vor sich, wie sie ihr damals, vor fast sechs Jahren, die Hand gegeben und sich bedankt hatte. Schon damals war Gisela immer bleich und mager gewesen, aber niemand hatte gewußt, welch furchtbare Krankheit in ihr geschlummert hatte. Sie war glücklich gewesen, oder zumindest hatte sie so getan. Denise war sich da nicht ganz sicher.

Von diesem Tag an hatte sie nichts mehr von Gisela Müller gehört. Bis vorgestern, als Frau Gerold sie angerufen und ihr von Giselas Tod erzählt hatte. Die Sorge um ihr Kind hatte die Mutter bis zum letzten Atemzug belastet, und nur das Versprechen der Hauswirtin, sofort Denise von Schoenecker zu verständigen, wenn sie nicht mehr am Leben war, hatte die Kranke einigermaßen beruhigen können.

Zuerst hatte Frau Gerold nicht gewußt, wo sie diese Frau suchen sollte, aber dann hatte ihr bei der Beerdigung eine andere Frau erzählt, daß Gisela früher in Sophienlust beschäftigt gewesen war. Und durch diese Information war die gutmütige Hauswirtin dann an die richtige Adresse gekommen.

»Nein, von einem Mann weiß ich nichts«, hatte Frau Gerold auf Denises vorsichtige Fragen geantwortet. »Aber Fräulein Müller war bereits im dritten Monat schwanger, als sie hier einzog. Sie hatte keine Arbeit, und so übertrug ich ihr hier im Haus einige Aufgaben, für die ich sie dann auch entlohnte, damit sie leben konnte. Gisela war mir fast wie eine Tochter, die mir das Schicksal ja leider nie vergönnt hat.«

Ganz in Gedanken versunken bog Denise bei Sulzbach in die B 14 ein. Auch hier herrschte ziemlich reger Verkehr, denn die Leute fuhren wie immer um diese Zeit von der Arbeit nach Hause. Jeder hatte es eilig, kaum einer schaute nach links oder nach rechts.

Agnes hielt ihren geliebten Teddy im Arm und flüsterte ihm ständig etwas zu.

Denise lächelte, als sie einen Augenblick lang das Kind im Rückspiegel beobachtete. Agnes war ein bezauberndes Mädchen, das die Herzen der anderen Kinder von Sophienlust bestimmt und rasch für sich gewinnen würde.

Als sie an Oppenweiler vorbeifuhren, war es bereits finstere Nacht. Die Straßenlaternen warfen gespenstische Schatten auf den Gehweg, und Denise brauchte jetzt volle Konzentration. Gut eine halbe Stunde Fahrzeit lag noch vor ihnen, bis sie endlich in Sophienlust waren. Die Frau war froh, daß Agnes auf dem Kindersitz schlief.

Links von ihnen lag Backnang mit seinen unzähligen Lichtern. Und rechts dehnten sich Wiesen und Felder, die man jetzt in der Dunkelheit jedoch nicht erkennen konnte. Denise aber erinnerte sich gut daran, denn sie war schon öfter mit ihrem Mann Alexander und ihren beiden Söhnen Nick und Henrik hier spazierengegangen.

Nun konnte das Viadukt nicht mehr allzu fern sein, überlegte Denise und hoffte, daß die Ampel auf grün zeigen würde, wenn sie kam. Schon seit Monaten wurde die Straße verbreitert und der Verkehr an der Baustelle durch eine Ampelanlage geregelt.

Müdigkeit stieg in der Frau auf, und die Augen fielen ihr fast zu. Am liebsten hätte sie das Radio eingeschaltet, aber damit hätte sie womöglich Agnes aufgeweckt.

Natürlich war die Ampel auf rot. Langsam ließ Denise den Wagen ausrollen, bis er knapp vor dem Hindernis zum Stehen kam. Sie befand sich ganz allein auf der Brücke, die ziemlich hoch lag. Nur eine Lampe, die vorübergehend hier aufgestellt war, spendete spärliches Licht.

Und plötzlich sah sie es. Der Schreck fuhr Denise durch alle Glieder. Sie blieb einen Moment wie erstarrt sitzen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen.

Eine Gestalt schwang sich über das Geländer, und die Verwalterin des Kinderheims fürchtete schon, daß die Person jeden Augenblick abstürzen könnte. Aber noch stand sie, an das Geländer geklammert und schien zu zögern.

Nun gab es für Denise kein Halten mehr. Hier war jemand lebensmüde, und sie war die einzige weit und breit, die helfen konnte. Zumindest versuchen mußte sie es.

Leise öffnete sie die Autotür und stieg aus. Zum Glück war die Straße an dieser Stelle breit genug, daß notfalls andere Autos an ihr vorbeifahren konnten. Tausend Gedanken wirbelten der Frau durch den Kopf, während sie rasch auf die andere Straßenseite hinüberlief. Hoffentlich kam sie nicht zu spät, und hoffentlich machte sie jetzt keinen Fehler. Das Leben eines Menschen hing davon ab, wie sie sich verhielt.

Denise wußte, daß man Lebensmüde nicht erschrecken durfte. Aber ansprechen mußte sie diesen Menschen, der sich offensichtlich in höchster Not befand.

»Warum wollen Sie es tun?« fragte sie leise.

Als die Person sich umdrehte, erkannte Denise, daß es sich um eine Frau handelte, oder besser noch um ein Mädchen. Auf dem Kopf trug es eine Schildmütze, die ihm ein jungenhaftes Aussehen verlieh. Die schlanke Gestalt steckte in einem dunklen Overall, der dieses Aussehen noch unterstrich. So war sie bei der herrschenden Dunkelheit kaum zu erkennen, und auch Denise hätte das Mädchen nicht bemerkt, wenn nicht die Ampel gerade auf rot umgeschaltet und sie dadurch Zeit gehabt hätte, sich ein wenig umzusehen.

»Gehen Sie weg. Lassen Sie mich in Ruhe«, kam die hastige Antwort. »Verschwinden Sie endlich.«

»Warum wollen Sie es tun?« wiederholte Denise ihre Frage von vorhin. Vorsichtig umfaßte sie den Oberarm des Mädchens.

»Sie können mich nicht aufhalten, also verschwinden Sie.«

»Da haben Sie recht«, gab Denise zu. »Wenn Sie wirklich springen ­wollen, dann kann ich es nicht verhindern. Aber Sie sind sich ja gar nicht sicher, ob Sie das wirklich wollen, sonst wären Sie längst gesprungen.«

»Haben Sie eine Ahnung.« Die Unbekannte lachte bitter auf. »Ich habe es mir lange überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß das für mich die einzige Lösung ist. Für mich gibt es jetzt keinen Platz mehr auf dieser Welt. Mein Leben ist kaputt, weil der Mann, den ich liebe, tot ist.«

Insgeheim atmete Denise schon ein bißchen auf. Wenigstens war die junge Frau bereit, zu reden. Und das war immerhin schon etwas, denn dann bestand zumindest ein bißchen Hoffnung.

»Und Sie meinen, das ist nun Grund genug, Ihr Leben wegzuwerfen, als ob es keinen Wert mehr hätte? Glauben Sie mir, irgendwie wird es auch für Sie weitergehen.« Denise wußte, daß ihre Worte hart klangen, aber mit Mitleid hätte sie dieser Unglücklichen nicht helfen können.

»Und Sie meinen, mir Vorhaltungen machen zu müssen? Sie haben ja gar keine Ahnung, wie hart das Leben sein kann. Jochen war der einzige Mann in meinem Leben, der mir ein bißchen Geborgenheit, ein bißchen Liebe geschenkt hat. Und jetzt ist er tot, tot für immer. Und ich bleibe allein zurück, mit seinem Kind unter dem Herzen, von dem er noch nicht einmal etwas gewußt hat.« Trocken schluchzte sie auf und wagte einen ängstlichen Blick in die Tiefe.

»Kommen Sie doch, ehe Sie noch abstürzen«, versuchte es Denise noch einmal. »Sie wollen eigentlich gar nicht springen, sonst hätten Sie es längst getan. Warten Sie, ich helfe Ihnen.«

Aber die junge Frau wehrte sich noch immer. »Hauen Sie endlich ab mit Ihren klugen Reden, die mir auch nicht helfen können. Ohne Jochen hat mein Leben keinen Sinn mehr.«

»Und sein Kind? Was meinen Sie, was Ihr Jochen sagen würde, wenn er wüßte, daß Sie sein Kind umbringen wollen? Ich glaube nicht, daß er das verstehen würde.«

Wieder schaute die Lebensmüde zögernd in die Tiefe. Ein kalter Schauer rann über ihren Körper, und Denise spürte das Beben, das auch auf sie selbst übergriff. Sie wußte, daß sie es sich niemals würde verzeihen können, wenn sie hier versagte.

Die Ampel schaltete auf Grün um, und in der Ferne sah sie die Scheinwerfer eines Autos, das sich langsam näherte. Anscheinend hatte der unbekannte Fahrer begriffen, daß er sich beeilen mußte, wenn er noch durchfahren wollte, denn er gab plötzlich Gas und kam rasch auf sie zu.

Denise betete inständig darum, daß er sie bemerken und ihr zu Hilfe eilen würde, aber nichts dergleichen geschah. Ohne anzuhalten, fuhr das Auto an ihnen mit abgeblendeten Scheinwerfern vorbei.

Die Enttäuschung trieb Denise Tränen in die Augen. noch fester hielt sie den Arm des Mädchens umklammert, das jeden Moment in den Abgrund stürzen konnte.

»Bitte, kommen Sie zurück. Dann können wir über alles in Ruhe reden«, bat sie.

Die Fremde gab keine Antwort. Sie schien zu überlegen.

»Ich bin sicher, daß wir gemeinsam einen Ausweg finden werden.«

»Niemals!« Plötzlich begann das fremde Mädchen zu weinen, und jetzt wußte Denise, daß sie gewonnen hatte.

»Ein Leben ohne Jochen ist für mich kein Leben mehr. Er war mein ein und alles.«

»Sie sind noch sehr jung und haben das Leben noch vor sich«, sagte Denise mitfühlend. »Sehen Sie, ich habe ein kleines Mädchen im Auto. Agnes ist fünf Jahre alt, ihre Mami ist vor einer Woche an einer schrecklichen Krankheit gestorben. Die Kleine hat keinen Vater, weil niemand ihn kennt. Seinen Namen hat die Mutter mit ins Grab genommen. Wie gern hätte Gisela gelebt und selbst für ihr Kind gesorgt. Aber das Schicksal hat es eben anders bestimmt. Ich habe Agnes gesagt, daß der liebe Gott ihre Mami im Himmel dringend gebraucht hat. Vielleicht braucht er Ihren Jochen auch.«

Ein kleines trauriges Lächeln stahl sich über das schmale Gesicht des weinenden Mädchens, und Denise stellte überrascht fest, wie hübsch es eigentlich war.

»Haben Sie noch Eltern oder Geschwister?«

»Nein, niemanden mehr. Darum wollte ich auch Schluß machen. Es hat ja doch alles keinen Sinn mehr.« Sie taumelte. In letzter Sekunde konnte Denise sie noch aufhalten.

»Jetzt kommen Sie endlich zurück. Sie haben sich doch längst für das Leben entschieden.«

»Für was für ein Leben denn? Eine ledige Mutter ohne Heim und ohne Zukunft. Was ist das für ein Leben, das mich erwartet, das ich meinem Kind bieten kann? Mit Jochen zusammen wäre das etwas geworden, aber so? Nein, nein, es ist zwar lieb von Ihnen gemeint, aber das ist die beste Lösung. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.«

»Jetzt seien Sie aber vernünftig«, antwortete Denise härter, als sie beabsichtigt hatte. Damit aber hatte sie genau den richtigen Ton getroffen. »Sie sind nicht allein, denn ich bin ja auch noch da. Wahrscheinlich war es Schicksal, daß wir uns begegnet sind. Ich leite ein privates Kinderheim, das meinem Sohn gehört. Wenn Sie möchten, dann werden Sie und Ihr Kind bei uns ebenfalls ein schönes Plätzchen finden, solange Sie wollen.«

»Sie haben Arbeit für mich?« fragte das Mädchen ungläubig und begann tatsächlich, über das Geländer zu steigen. »Oder wollen Sie mich bloß von hier weglocken, damit ich nicht hinunterspringe?« Ihr Blick wurde schon wieder mißtrauisch.

»Jetzt kommen Sie schon. Merken Sie nicht, daß es anfängt zu regnen? Ich habe keine Lust, wegen Ihnen bis auf die Haut naß zu werden.« Nur schnell weg vom Geländer, schoß es Denise durch den Kopf, und sie zog die Fremde eilig zu ihrem wartenden Auto.

»Und jetzt verraten Sie mir, wie Sie heißen«, sagte sie erleichtert, als sie endlich beide im Auto saßen. Denise kam sich vor, als hätte sie einen langen Waldlauf hinter sich, so müde war sie. Voller Sehnsucht dachte sie an ihren Mann Alexander und an ihr weiches warmes Bett, das noch mindestens zwei Stunden auf sie würde warten müssen.

Zuerst galt es, Agnes unterzubringen, und dann wollte sie sich auch noch um dieses verzweifelte Mädchen kümmern, ehe sie an ihre eigenen Bedürfnisse denken konnte.

»Ich heiße... Sabine Kroff«, antwortete das Mädchen leise und rieb seine schmalen Hände gegeneinander. Überhaupt war die junge Frau sehr zierlich, ja, fast mager, das sah Denise jetzt erst, als sie neben ihr saß.

»Und ich bin Denise von Schoenecker. Die Kinder von Sophienlust nennen mich Tante Isi, und wie ich sehe, sind Sie ja auch noch fast ein Kind. Also, wenn Sie möchten, dann dürfen Sie mich auch so nennen.«

Sabine lächelte dankbar. »Sie wollen mir also wirklich helfen, ... Tante... Isi? Gibt es so etwas überhaupt noch, oder bin ich schon längst tot und im Himmel?«

»O nein, Sabine, so schnell geht das nun auch wieder nicht. Eine Weile müssen Sie schon noch auf unserer guten Erde bleiben, und ich bin sicher, daß die Zeit kommen wird, wo es Ihnen wieder gefällt.«

»Vielleicht haben Sie recht«, schluchzte Sabine plötzlich auf und preßte die Hände vors Gesicht.

»Sind wir schon da, Tante Isi?« Verschlafen rieb sich die kleine Agnes die Augen. »Meine Mami! Ist meine Mami doch noch mit uns gekommen?« rief das Kind überrascht aus. »Tante Isi, warum weint meine Mami denn?«

Fest umklammerte Denise das Lenkrad. Die Geschehnisse des heutigen Tages drohten über ihre Kraft zu gehen, dabei war sie noch nicht mal am Ziel.

Als sie endlich die Lichter von Sophienlust erblickte, hätte sie am liebsten vor Freude geweint.

*

»Ja, ich komme ja schon.« Hartnäckig schrillte das Telefon weiter, und die junge, gutaussehende Frau in dem weinroten Morgenrock erhob sich aus ihrem bequemen Sessel. Sie hatte kurze, blonde Haare, die sich an den Schläfen leicht kringelten. Ihre Haut war blaß und ihre Gesichtszüge ebenmäßig.

»Eckstein«, meldete sie sich, und ihre Stimme vibrierte vor Erregung.

»Hallo, Marga. Ich bin es, Manfred. Wie sieht es aus? Hast du heute nachmittag Zeit für mich?«

»Dumme Frage«, antwortete die Frau grimmig. »Für dich habe ich immer Zeit. Was glaubst du, weshalb ich meinen Mann verlassen habe.«

»Laß bitte deine makaberen Witze, Marga. Du weißt, daß ich für solche Anzüglichkeiten nichts übrig habe.« Die Stimme des Mannes klang verärgert.

»Tut mir leid, Manfred, ich wollte dich nicht beleidigen. Was hast du vor heute?« Sie versuchte, ihn abzulenken, und es gelang ihr auch.

»Eigentlich nicht viel. Ich dachte, wir gehen ins Lamm zum Mittagessen. Gegen Abend können wir dann in die Stadt fahren, nachdem wir unseren Nachmittagsspaziergang hinter uns haben, und dort gepflegt dinieren gehen. Was hältst du davon? Den Tag können wir ja dann mit einem schönen Kinofilm ausklingen lassen.«

»Einverstanden, Manfred. Wann kommst du?«

»So etwa in zwei Stunden. Ich bin im Büro noch nicht ganz fertig, aber bis dahin kann ich es schon einrichten.«

»Gut, Manfred. Du, ich freue mich.« Atemlos wartete sie auf seine Antwort, aber er sagte nicht das, was sie sich erhofft hatte.

»Also dann, bis nachher. Ich muß mich beeilen, wenn ich es schaffen will. Mach dich ein wenig hübsch für mich.«

Ehe Marga noch antworten konnte, hatte er schon aufgelegt. Wie immer, wenn sie mit Manfred Brecht gesprochen hatte, blieb ein schaler Nachgeschmack zurück, der ihr leichtes Unbehagen verursachte. Aber ich liebe ihn doch, sagte sich die Frau immer wieder, bis sie davon überzeugt war.

Seufzend ließ sie sich in den Sessel fallen und schlürfte genüßlich den Kaffee, der inzwischen bereits kalt geworden war. Sie merkte es nicht einmal.

Gedankenverloren hielt sie ein Bild in ihren Fingern mit den rot lackierten Nägeln, das das Gesicht eines hübschen blonden Jungen zeigte.

»Wie mag es dir wohl gehen, Peterle?« sagte sie etwas wehmütig und hauchte einen Kuß auf den lachenden Mund des Kindes. Wie hatte sie nur so dumm sein und auf ihren Sohn verzichten können, fragte sie sich wohl zum hundertsten Mal. Peter war ihr ganzer Stolz gewesen und ihm hatte auch ihre ganze Liebe gehört.

Ob Volker gut mit dem Jungen zurechtkam? Sicher, denn Peter war ein williges, folgsames Kind. Ob er sie, seine Mutter, wohl vermißte?

Nachdenklich betrachtete Marga ihre gepflegten Hände. Wie lange hatte sie sich die Nägel nicht mehr lackiert, hatte keine Zeit und auch kein besonderes Interesse für ihr Äußeres gehabt.

Und nun? Nun hatte sie nur noch Zeit. Sie wußte schon morgens, wenn sie aufstand, nicht, was sie machen sollte. Vor Langeweile stieg sie dann meistens nach dem Frühstück wieder ins Bett, denn vor elf Uhr rief Manfred niemals an. Und ohne den Mann erfüllte sie gähnende Leere.

Marga konnte sich gar nicht vorstellen, was sie früher ohne ihn angefangen hätte. Zugegeben, Volker war ja ganz nett gewesen, und er hatte sie auch immer, wie man so schön sagt, auf Händen getragen, aber war das wirklich alles, was sie noch vom Leben zu erwarten hatte?

Jetzt endlich konnte sie so leben, wie sie es sich früher manchmal erträumt hatte, wenn die Eintönigkeit des Alltags wie ein reißender Wolf über sie hergefallen war. Sie konnte tun und lassen, was sie wollte.

Und trotzdem. So richtig glücklich war sie auch jetzt nicht, denn sie hatte dafür auf etwas verzichten müssen, das ihr Manfred Brecht nicht ersetzen konnte, nämlich ihre Familie.

Gegen elf Uhr begann Marga, sich für ihre Verabredung herzurichten. Seit sie sich von Volker getrennt hatte, legte sie größten Wert auf ihr Äußeres, denn Manfred war erst achtundzwanzig Jahre alt, sie selbst dagegen schon fast einunddreißig.

Manfred lachte zwar immer, aber sie selbst störten die drei Jahre Altersunterschied doch ganz empfindlich. Deshalb versuchte sie, sich so vorteilhaft und jugendlich wie nur möglich zu kleiden. Zum Glück hatte sie noch das Sparbuch von ihrer Mutter, auf dem sich eine schöne Summe angesammelt hatte. Das andere Vermögen, das die Eltern ihr als einziger Tochter hinterlassen hatten, war fest angelegt. Aber wenn sie Manfred Brecht je heiraten sollte, dann würde sie es schon flüssig machen. Vorläufig jedoch reichte noch das Sparbuch für ihre kleineren und größeren Wünsche.

Nachdenklich stand die Frau vor ihrem Kleiderschrank und überlegte, was sie anziehen sollte. Sonderlich groß war ihre Auswahl nicht, aber alles, was sie besaß, war schick und mit Geschmack ausgewählt. Marga entschied sich für einen roten Strickrock und dem dazu passenden Pullover mit weiten Ärmeln.

Dann bürstete sie ihr kurzes Haar, bis es glänzte, und zog mit einem dezenten Stift ihre vollen Lippen nach. Als es klingelte, war Marga Eckstein gerade fertig.

»Du kommst wie gerufen, Manfred«, sagte sie freudig erregt und bot ihm ihre Wange zum Kuß an, obwohl sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre. Aber sie sagte sich, daß es bestimmt nicht klug wäre, ihm ihre Liebe zu sehr zu zeigen.

»Gut siehst du aus, Marga. Man sieht dir dein Alter überhaupt nicht an«, zog er sie auf und grinste. Mit seinen schwarzen Haaren und den leuchtend blauen Augen war er mehr ein südländischer Typ, dem die Frauenherzen nur so zuflogen.

Manfred hatte schon etliche Freundinnen gehabt, aber nur von einer trug er das Bild noch in seiner Brieftasche. Diese eine aber war nicht sie, Marga, obwohl sie ein bißchen Ähnlichkeit mit seiner ersten großen Liebe hatte. Vielleicht war das auch der Grund, warum er mit allen Mitteln versucht hatte, sie für sich zu gewinnen.

»Können wir gehen? Ich habe schon einen Bärenhunger«, gestand er und zog die Frau dann ganz sanft an sich.

»Ich bin fertig, Liebling. Oder meinst du, daß noch etwas an mir fehlt?« Kokett drehte sich Marga vor ihm im Kreis, damit er sie von allen Seiten bewundern konnte. Beifallheischend blieb sie dann vor ihm stehen und schaute ihn mit blitzenden Augen an.

»Fabelhaft siehst du aus, Marga. Ich kann es nur immer wiederholen. Man sieht dir dein Alter überhaupt nicht an.«

»Jetzt reicht es aber, Manfred Brecht. Wenn du mich unbedingt verärgern willst, dann mach nur weiter so.« Beleidigt zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück.

»Sei doch nicht so empfindlich, Liebling«, rief ihr Manfred noch nach, aber sie drehte sich nicht mehr nach ihm um. Marga wußte ganz genau, daß er ihr gleich folgen würde. Das machte er nämlich immer so, denn es erhöhte den Reiz und die Spannung, die für sie beide so wichtig war.

Tatsächlich wurde schon nach wenigen Augenblicken vorsichtig die Schlafzimmertür geöffnet, und der Mann streckte seinen Kopf herein.

Als Marga ihn nur wortlos anstarrte, holte er aus seiner Tasche ein weißes Taschentuch und schwenkte es in der Luft. »Frieden«, sagte er dann lachend und kam vollends ins Zimmer. »Ich verspreche dir hoch und heilig, daß ich dich heute nicht mehr ärgern werde. Erst morgen wieder.«

»Schuft«, stieß Marga zwischen den Zähnen hervor, aber dann lachte auch sie. Sie konnte ihm nie lange böse sein.

»Können wir jetzt gehen, Ma­dame?« Er verneigte sich vor ihr und ergriff ihre Hand. »Oder möchtest du lieber...?«

»Ich habe ebenfalls einen riesigen Hunger. Ich glaube, wir sollten jetzt besser gehen, damit wir unser Programm einhalten können, das du für uns zusammengestellt hast. Wir schaffen es sonst nicht, denn der Verdauungsspaziergang ist sehr wichtig für mich.« Die Frau sprach hastig und abgehackt, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen. Sie war Manfred zwar rettungslos verfallen, aber zum Letzten hatte sie es noch nicht kommen lassen. Schließlich war sie noch verheiratet. Sie fragte sich nur, wie lange sich Manfred noch mit einer Geliebten zufriedengeben würde, die er nur platonisch lieben durfte.

Immerhin kannten sie sich schon seit fast einem Monat, und er hatte mehr als einmal darauf angespielt. Nur die Tatsache, daß sie noch verheiratet war, hatte ihn davon abgehalten, mit ihr darüber zu reden.

»Dann auf in den Kampf«, sagte Manfred betont lustig und zog sie an der Hand hoch. »Ich habe einen Tisch im Lamm bestellt. Du weißt ja, daß es mittags dort immer sehr voll ist.«

Nach außen schien wieder alles in Ordnung zu sein, aber beide wußten, daß ihre Beziehung ihnen nicht das gab, was sie sich am Anfang ihrer Bekanntschaft versprochen hatten.

*

»Wer hilft mir mit dem Osterstrauß?« fragte Sabine Kroff beim Mittagessen.

»Ich! Ich will auch!« erklang es von allen Seiten, und viele Hände schossen in die Höhe.

»Ich will auch mithelfen«, piepste die kleine Heidi Holsten, mit ihren fünf Jahren das jüngste der Dauerkinder von Sophienlust.

»Einverstanden«, sagte Sabine. »Wir haben genügend ausgeblasene Eier zum Anmalen. Und wenn es zu viele sind, dann machen wir eben zwei Sträuße.«

Die Kinder jubelten, denn sie freuten sich auf die Abwechslung.

Auch Sabine freute sich. Sie hatte sich gut eingelebt in den letzten drei Wochen, seit sie in Sophienlust lebte. Zwar hatte sie kein festes Aufgabengebiet, aber Denise von Schoenecker hatte ihr gesagt, daß sie sich um die Kinder kümmern und sich mit ihnen beschäftigen sollte, damit Schwester Regine ein bißchen entlastet wurde.

Vor allem die kleineren Kinder dankten es Sabine mit rührender Anhänglichkeit, daß sie ihnen ihre ganze Zeit widmete.

»Darf ich auch mithelfen?« fragte Agnes nach dem Essen. Das kleine Mädchen klammerte sich verstohlen an den Rockzipfel der jungen Frau, die das mutterlose Kind besonders in ihr Herz geschlossen hatte.

»Natürlich darfst du auch mithelfen«, antwortete sie und strich dem Mädchen zärtlich über den schwarzen Wuschelkopf. In diesem Augenblick fühlte sich Sabine restlos glücklich. Nur, wenn sie in manchen einsamen Momenten an Jochen dachte, dann traten ihr noch immer die Tränen in die Augen.

Überglücklich stürmte Agnes davon. Sie wollte Heidi suchen gehen, die in den letzten Tagen ihre Freundin geworden war. Zuerst hatte zwischen den beiden Mädchen eine geheime Rivalität bestanden, denn Schwester Regine hatte sich intensiv um das neue Kind gekümmert. Inzwischen aber war Heidi klargeworden, daß ihr Agnes gar nichts wegnahm, und so hatte sie sie schließlich sogar in ihr Herz geschlossen und gegen manche spielerisch gemeinte Angriffe der größeren Kinder verteidigt.

Kaum eine Stunde später trafen sie sich im Bastelzimmer, wo Sabine Kroff bereits alles hergerichtet hatte. Sie hatte Wasserfarben, Pinsel und Wasserbecher gleichmäßig verteilt und den langen, roh gezimmerten Tisch mit viel Zeitungspapier abgedeckt.

In mehreren großen Schüsseln befanden sich die leeren Eierschalen, die die Kinder anmalen und dann auf lange, noch kahle Buchenäste verteilen wollten.

»So, dann wollen wir also anfangen«, begann die junge Frau und nahm sich eines der Eier. Dann begann sie mit dem Pinsel bunte Blumen aufzumalen.

»Schön machst du das«, lobte sie Peter Eckstein, der neben ihr saß.

»Das hat mir meine Mami beigebracht. Wir haben das zu Hause auch immer gemacht«, berichtete er eifrig und mit geröteten Wangen.

»Schau, Sabine, ich hab schon eins fertig«, rief die kleine Heidi Holsten und hielt stolz ihr buntes Ei hoch.

»Das ist aber nicht schön, Heidi«, tadelte die fünfzehnjährige Irmela Groote, die mit ihren langen blonden Haaren nicht viel jünger aussah als Sabine selbst. Da Irmela ziemlich groß und schlank war, konnte man sie gut und gern für achtzehn halten. Sie lebte in Sophienlust, seit ihre Mutter nach dem Tode des Vaters wieder geheiratet hatte und mit ihrem zweiten Mann nach Bombay gezogen war.

»Irmela!« Pünktchen, die mit richtigem Namen eigentlich Angelina Dommin hieß, stieß die Freundin in die Seite. »Sie kann es eben nicht besser.«

Schuldbewußt senkte die ältere den Kopf. »Du hast recht. Ich habe mir nichts gedacht dabei.«

Aber Heidi achtete nicht auf das Gerede der großen Mädchen. »Dein Ei wird auch wunderschön, fast so schön wie meines«, lobte sie Agnes, die vor lauter Eifer rote Bäckchen bekommen hatte.

Strahlend schaute das kleine Mädchen mit den wirren schwarzen Locken nun auf. »Schau... Sabine«, sagte die Kleine zögernd und hielt nun ebenfalls ihr Kunstwerk hoch, das aus ganz kunterbunten Flecken, die teilweise sogar ineinander liefen, bestand.

»Ja, wirklich, Agnes, es ist wunderschön. Aber Heidis Ei ist auch ganz prima geworden.« Sabine atmete tief ein. Gerade hatten sich ihre Gedanken wieder auf Wanderschaft begeben. Noch immer holte die Erinnerung sie bei jeder Gelegenheit ein, obwohl sie sich redlich dagegen zur Wehr setzte. Aber es half einfach nichts. Jochen spukte Tag und Nacht in ihrem Kopf herum, da half auch kein Zusammenreißen. Zu frisch war noch die Wunde, die sein Tod in ihr hinterlassen hatte.

»Du bist auch traurig, Sabine, nicht wahr«, flüsterte Peter Eckstein mit unkindlichem Ernst. »Ich bin es auch, seit meine Mutti uns verlassen hat.« Die vollen roten Lippen des Zehnjährigen zitterten bedenklich.

Sabine Kroff strich ihm durch das wirre Blondhaar. »Nicht daran denken, Peter. Glaub mir, das wird irgendwann anders werden. Du wirst bald wieder lachen, und ich auch«, flüsterte sie gegen ihre Überzeugung.

»Mist!« Verbittert sprang Peter von seinem Stuhl auf. Er hatte das Ei so fest angefaßt, daß es in unzählige Teile zerbrochen war. »Das ist Kinderkram«, schimpfte er und lief hastig zur Tür.

Ehe Sabine noch etwas sagen konnte, war der Junge verschwunden. Die anderen Kinder schauten verdutzt drein, und keines getraute sich, etwas zu sagen. Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es plötzlich im Bastelzimmer geworden.

Sabine Kroff legte ihren Pinsel auf den Tisch. »Ich glaube, ich sollte nach ihm sehen«, sagte sie unsicher und schaute in die Runde.

Die größeren Kinder nickten zustimmend.

»Das wird das Beste sein«, meinte Pünktchen, die sich als Nicks Verehrerin in Gedanken bereits als zukünftige Heimleiterin sah. »Das passiert öfter bei neuen Kindern, daß sie Heimweh haben. Man muß ihnen zureden und sie trösten. Soll ich das machen, Sabine?« schlug sie freundlich vor, aber die Gefragte schüttelte den Kopf.

»Danke, Pünktchen, aber in diesem Fall gehe ich besser selber. Schließlich sind wir beide, Peter und ich, fast gleich lang hier. Vielleicht kann ich mich da besser in ihn hineinversetzen.«

»Du hast recht, Sabine. Daran habe ich gar nicht gedacht.«

Pünktchen widmete sich wieder ihrem Ei, das sie mit kunstvollen Ornamenten verzierte. Dabei dachte sie an Nick, den sie schon seit langem besonders ins Herz geschlossen hatte.

Dominik war Denise von Schoeneckers Sohn aus der ersten Ehe mit Dietmar von Wellentin. Von seiner Großmutter väterlicherseits hatte Nick das alte Herrenhaus geerbt mit der Auflage, daraus ein Kinderheim zu machen.

Das war dem Sechzehnjährigen, aber besonders seiner attraktiven Mutter, ausgezeichnet gelungen, denn Denise hing mit inniger Liebe an den armen verlassenen Kindern, die das alte Herrenhaus beherbergte.

Sabine Kroff ging nachdenklich die Treppe hinunter. Die Beleuchtung war schon eingeschaltet worden, denn an diesem düsteren Frühlingstag war die Abenddämmerung schon früh hereingebrochen. Der dicke Teppich verschluckte jedes Geräusch, und die behaglich eingerichtete Halle vermittelte dem Mädchen plötzlich so ein herrliches Gefühl von Vertrautheit, daß es für eine Weile ganz seinen Kummer vergaß.

Welch ein Glück hatte Sabine doch gehabt, als ausgerechnet Denise von Schoenecker sie an jenem Abend gesehen hatte. Wer weiß, was geschehen wäre, wenn niemand ihr Mut zugesprochen und sich niemand ihrer angenommen hätte. Ob sie dann wirklich gesprungen wäre?

Nachdenklich blieb Sabine auf der letzten Stufe stehen. Hätte sie es wirklich fertiggebracht, ihr Leben einfach wegzuwerfen? Ihres und das des Kindes, das sie erwartete? Es war ja auch Jochens Kind, das sie unter dem Herzen trug. Ein Stück von dem Mann, dem ihre ganze Liebe gehörte, die auch sein Tod nicht hatte auslöschen können.

Nein! Sie hätte gar nicht das Recht gehabt, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie mußte an das Kind denken, dem sie in sechs Monaten das Leben schenken würde. Jochen hätte es sicher nicht gutgeheißen, wenn sie sein Kind getötet hätte.

Sabine spürte, wie neue Kraft durch ihre Adern rann. Ja, jetzt gab es wieder einen Sinn zu leben, denn das Leben war schön, auch wenn sie Jochen noch immer schrecklich vermißte.

Sie straffte ihre schmalen Schultern, über die das lange, hellbraune Haar in weichen Wellen fiel, und ging durch die Halle auf die Ausgangstür zu.

Die Schwangere war sicher, daß sie Peter im Park vorfinden würde, obwohl das naßkalte Wetter bestimmt nicht zum Spielen einlud. Und Sabine behielt recht.

Sie sah den Jungen, der an einen Baum gelehnt stand und die Hände vors Gesicht gepreßt hatte. Als sie sich ihm vorsichtig näherte, schaute er nicht einmal auf.

»Peter, was ist denn?« fragte Sabine sanft und legte ihren Arm um die zuckenden Schultern des Jungen.

»Meine... meine Mutti...«, brachte der Junge gerade noch heraus, dann klammerte er sich voll Verzweiflung an Sabine Kroff, die ihn mitleidig festhielt.

»Ich kann mir gut vorstellen, wie dir zumute ist, Peter«, sagte Sabine leise und betete innerlich, daß ihr die rechten Worte einfallen mochten. Sie fühlte, wie ihre Hände vor Unsicherheit eiskalt wurden.

»Schau, Peterle, deine Mutti lebt noch und hat dich immer noch lieb. Auch sie ist bestimmt unglücklich, daß sie nicht so für dich sorgen kann, wie sie das gerne möchte.«

»Aber... aber mein Vati will mich auch nicht mehr haben«, schluchzte Peter und verbarg sein Gesicht an Sabines Schulter. Das Mädchen war nicht viel größer als er, obwohl Sabine doch schon erwachsen war.

»Das ist nicht wahr, Peter, und du weißt es auch«, tadelte das Mädchen sanft. »Dein Vati muß den ganzen Tag arbeiten, und deshalb hat er verständlicherweise keine Zeit für dich. Du wärest zu Hause immer allein, und niemand würde für dich sorgen. Da hast du es doch hier in Sophienlust viel besser. Oder meinst du nicht auch?«

Der Junge schüttelte den Kopf. »Es ist ja schön hier, das stimmt schon. Aber bei meinem Vati ist es trotzdem viel schöner. Ich könnte selbst kochen und putzen, dann wären wir wieder eine richtige Familie. Aber er will das nicht.«

Sabine fühlte, daß der Junge sich langsam beruhigte. »Meinst du, dein Vati ist glücklich ohne dich? Er vermißt dich bestimmt genauso sehr wie du ihn. Aber er weiß, daß es für euch beide der einzige Weg ist, also fügt er sich. Und du mußt eben auch versuchen, dich damit abzufinden, so wie wir alle«, murmelte Sabine und dachte voll Wehmut an ihren toten Geliebten.

»Du hast gut reden, Sabine. Du bist gern und freiwillig hier. Wenn es dir nicht mehr gefällt, dann kannst du gehen. Aber ich muß bleiben. Ich habe keine Mutti mehr. Sie kommt nie wieder, und mein Vati kommt auch nur zu Besuch.«

»Ich habe auch einen Menschen verloren, Peterle«, sagte Sabine sanft und wunderte sich, daß sie darüber sprechen konnte. »Ich habe den Mann verloren, den ich von Herzen liebe. Er ist tot. Und das Kind, das ich in einigen Monaten bekommen werde, hat von Anfang an keinen Vater. Du

siehst, andere Leute sind auch traurig.«

»Ist das wirklich wahr?« Der Junge blickte sie mit seinem tränenüberströmten Gesicht an. »Und ich dachte, alle hier wären glücklich, nur ich nicht.«

»Du Dummerchen. Jeder Mensch hat Probleme und Kummer, mal mehr und mal weniger. Das wirst du auch noch lernen.« Zärtlich strich ihm die junge Frau durch das Haar.

»Wie ich sehe, geht es meinem Sohn besser als mir. Er hat einen Tröster, oder besser eine Trösterin gefunden, im Gegensatz zu mir.«

Erschrocken drehte sich Sabine bei dem Klang der Männerstimme um. Sie hatte niemanden kommen hören. »Guten Abend, Herr... Eckstein«, grüßte sie dann verlegen. Sie wußte ja nicht, wieviel er von ihrer Unterhaltung mit seinem Sohn gehört hatte.

»Guten Abend, Sabine. Ich bin ja so froh, daß Sie sich um meinen Sohn kümmern. Er hat es wirklich nicht leicht.« Dann wandte er sich Peter zu, der strahlend abwartete, bis ihn sein Vater begrüßte.

»Wir... wir haben gebastelt, Vati. Einen wunderschönen Osterstrauß haben wir gemacht. Willst du ihn sehen, Vati?« fragte Peter eifrig.

»Na ja, er ist noch nicht ganz fertig.« Sabine senkte verlegen den Kopf, und ihre langen, braunen Haare, die sie meist offen trug, fielen wie ein seidiger Vorhang nach vorne.

Bewundernd schaute der Mann sie an. Ein beinahe zärtliches Gefühl strömte zu seinem Herzen. Sabine war ein bezauberndes Mädchen, fand er, nicht zuletzt, weil sie sich so besorgt seines Sohnes annahm, der oft von ihr erzählte.

»Sollten wir nicht lieber hineingehen? Es ist ziemlich kalt und feucht hier draußen.« Sabine strich ihr Haar zurück und schaute den Mann mit neu gewonnener Sicherheit an. Hätte sie allerdings gewußt, was er gerade gedacht hatte, dann hätte sie bestimmt nicht so offen seinen Blick erwidert.

»Das ist mir nur recht. Wissen Sie, Sabine, ich fürchte mich jedes Mal vor dem Feierabend. Seit mich meine Frau verlassen hat, kann ich ihn einfach nicht mehr genießen. Diese Einsamkeit in der Wohnung macht einen wahnsinnig.«

»Ich kann Sie gut verstehen, Herr Eckstein. Auch ich weiß, was Einsamkeit bedeutet. Mein Verlobter kam wenige Wochen vor unserer Heirat durch einen Unfall ums Leben. Seitdem ist...« Sabine brach ab, weil ihr plötzlich bewußt wurde, daß sie sich einem Fremden anvertraute und ihm ihre Probleme erzählte.

»Sie brauchen es mir nicht zu sagen, Sabine. Ich kann Sie auch so verstehen«, versuchte er unbeholfen, sie zu trösten. »Es ist immer schrecklich, wenn man einen geliebten Menschen verliert, auf welche Art auch immer. Den Schmerz kann erst die Zeit lindern.«

»Sie haben recht«, sagte die Schwangere leise und ging neben dem Mann auf das Herrenhaus zu, dessen helle Fassaden in der Dämmerung nur noch schemenhaft zu erkennen waren.

»Willst du schon einmal hineingehen, Peterle? Ich habe mit Sabine noch ein paar Worte zu reden«, sagte der Mann, als sie vor der breiten Freitreppe standen.

Der Junge nickte. »Ich werde den anderen Kindern beim Bemalen der Eier helfen. Vielleicht haben wir dann den Strauß fertig, bis du hereinkommst. Du kommst doch noch zu mir, Vati?« fragte er plötzlich beinahe ängstlich.

»Natürlich, Peter. Darum bin ich ja hier, nur wegen dir.«

Nun war der Junge beruhigt. Beschwingt stürmte er die Treppe hinauf und war wenige Augenblicke später im Haus verschwunden.

»Sie sind noch nicht lange in Sophienlust?« fragte er dann und schaute Sabine Kroff fragend an. Sie konnte es im Schein der altmodischen Laterne, die ganz in der Nähe sparsam ihr Licht verschenkte, erkennen.

»Ich bin einen Tag weniger hier als Peter. Frau von Schoenecker hat mich...« Sabine zögerte. »Sie hat mich von der Straße aufgelesen«, bekannte sie dann, obwohl es nicht ganz der Wahrheit entsprach. Aber die junge Frau wußte nicht, was sie sonst hätte sagen sollen, ohne zuviel von ihrem Schicksal zu offenbaren.

Volker Eckstein bemerkte das Zögern der jungen Frau an seiner Seite, und er respektierte es. Er konnte verstehen, daß man sein Herz nicht dem erstbesten ausschüttete.

Ihm erging es meist ebenso, nur bei dieser blutjungen Sabine, da empfand er anders. Er hatte plötzlich das Gefühl, ihr seine Lebensgeschichte erzählen zu müssen. Aber er bezwang es.

»Gehen wir auch hinein«, schlug er hastig vor, ehe er es sich wieder anders überlegte.

Sabine stimmte zu, aber es tat ihr leid um den vertrauten Augenblick, der mit einem Mal wieder vorbei war.

*

Manfred Brecht fühlte sich nicht besonders wohl in seiner Haut. Er befand sich auf dem Weg zu Marga, die bereits ungeduldig auf ihn wartete. Er aber wäre die weite Strecke am liebsten zu Fuß gegangen, anstatt mit dem Auto zu fahren, weil ihm vor der Begegnung mit seiner Geliebten graute. Er liebte sie schon längst nicht mehr, und in einer ehrlichen Minute hatte er sich eingestanden, daß er nur Gefallen an Marga Eckstein gefunden hatte, weil sie verheiratet war. Seine Gefühle für sie waren in dem Moment gestorben, als sie ihren Mann und ihren Sohn verlassen hatte, denn sie zu heiraten, kam für ihn nicht in Betracht.

Er hatte immer versucht, ihr klarzumachen, daß sie bei ihrer Familie bleiben und ihre Beziehung zueinander als schöne, aber vorübergehende Romanze betrachten sollte.

Aber sie hatte ja nicht auf ihn hören wollen und sogar eine Scheidung von ihrem Mann angestrengt, obwohl dieser sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte. Und nun lag die schwierige Aufgabe vor ihm, ihr seinen Entschluß mitzuteilen, denn Marga drängte auf Heirat, sobald sie erst mal geschieden war.

»Endlich, Manni. Ich dachte schon, du kommst gar nicht mehr.« Überschwenglich wurde er von der Frau begrüßt, die in einem eng anliegenden Modellkleid an der Wohnungstür stand.

Ärgerlich verzog Manfred Brecht das Gesicht. Wie er das haßte, wenn sie ihn so plump vertraulich Manni nannte. Diese Koseform seines Vornamens war ihm schon immer ein Greuel gewesen.

»Hallo, Marga. Entschuldige bitte, daß ich mich verspätet habe, aber es war so ein dichter Verkehr, daß ich höllisch aufpassen mußte, um nicht irgendeinen dieser Sonntagsfahrer auf die Hörner zu nehmen.« Er merkte selbst, daß diese Ausrede nicht den gewünschten Erfolg zeitigte.

»Komm herein, Manni, und laß diese Ausflüchte. Wenn du mir schon nicht die Wahrheit sagen willst, dann sei lieber still. Übrigens, was machen wir heute?« Zärtlich schmeichelte sie sich an ihn und schnurrte wie ein Kätzchen, obwohl sie sich insgeheim dabei dumm und fast kindisch vorkam. Aber sie glaubte, daß das einfach sein mußte, wenn sie Manfred nicht verlieren wollte.

»Ich habe noch keine Pläne geschmiedet.«

»Aber Manni«, murrte sie vorwurfsvoll und schob ihn ins Wohnzimmer. »Setz dich.« Sie deutete auf das bequeme Sofa, in dem man versank wie in einem Berg Watte.

»Heute ist Sonntag. Da hast du doch sonst immer bestimmt, was wir unternehmen werden.«

»Heute aber nicht.« Manfred Brecht runzelte ärgerlich die dichten, fast schwarzen Brauen. Seine Laune war auf dem Nullpunkt angelangt. »Müssen wir denn immer unterwegs sein? Wir könnten doch auch mal hierbleiben. Du kochst uns etwas, und am Nachmittag sehen wir uns ganz gemütlich den Film im Fernsehen an, den ich schon lange einmal sehen wollte.«

Marga verzog grimmig die rot geschminkten Lippen. »Das ist doch nicht dein Ernst?«

»Warum denn nicht? Ist es so ungewöhnlich, wenn ich einmal sonntags ausspannen möchte? Es muß doch nicht immer high life sein, wie du so schön sagst.«

»Du vergißt, daß ich die ganze Woche mutterseelenallein in meinen vier Wänden sitze. Da ist es nur natürlich, wenn ich wenigstens sonntags etwas erleben will. Oder kannst du das nicht verstehen?«

»Doch, natürlich verstehe ich dich, Marga. Aber mir scheint, du kannst dich nicht in meine Lage versetzen. Ich bin müde und hätte gern einmal einen freien Tag.« Er versuchte, einzulenken, weil ihm die Frau leid tat. Schließlich hatten sie sich einmal geliebt, zumindest glaubte sie das.

»Aber Manni, nun sei doch kein Spießer.« Sie trat hinter ihn und fuhr mit den Fingerspitzen durch sein dichtes schwarzes Haar. Früher hatte er das immer gemocht, das wußte Marga.

Heute aber reagierte er gar nicht darauf. Steif und unnahbar saß er da und schwieg. Mühsam versuchte er, seinen Zorn niederzukämpfen.

»Du sollst mich nicht Manni nennen«, preßte er dann zähneknirschend hervor. »Du weißt genau, daß ich diesen Kosenamen nicht ausstehen kann.«

»Aber Man...« Erschrocken brach sie ab und hielt sich die Hand vor den Mund. »Entschuldige, bitte. Aber du bist so anders heute. Ich weiß gar nicht, was ich falsch mache, daß du dich dauernd über mich ärgerst.«

»Es tut mir leid.« Manfred wußte nicht, wie er mit seiner Beichte beginnen sollte. Plötzlich tat ihm Marga unheimlich leid, denn es war doch eine schöne Zeit gewesen, die sie miteinander verbracht hatten.

»Schon gut. Wenn du nur wieder lieb zu mir bist«, gestand sie ihm großzügig. »Immerhin habe ich meine Familie verlassen für unsere Liebe. Das darfst du, dürfen wir, nie vergessen. Das ist eine gewisse Verpflichtung.« Marga merkte gar nicht, daß sie auf diese Art den Mann, den sie glaubte zu lieben, immer weiter von sich wegstieß.

Das war genau das, was Manfred Brecht nicht vertragen konnte, jemandem verpflichtet zu sein. Aber gerade das war es, was Marga ihm immer zu verstehen gab.

Es mußte etwas geschehen, und zwar bald, wenn er seine Ruhe wiederfinden wollte. Und das eine wußte Manfred genau, daß er sich nie wieder mit einer verheirateten Frau einlassen würde.

Irgendwie schonend mußte er es ihr beibringen, daß ihre Beziehung zu Ende war. Vielleicht konnte er damit dann sogar ihre Ehe noch retten, wenn ihr Mann sich einigermaßen einsichtig zeigte.

»Sieh mal, Marga. Ist dir nicht in letzter Zeit aufgefallen, daß wir uns immer öfter in den Haaren liegen und uns sogar auf den Wecker fallen?«

Die Frau erschrak, und ihre Augen weiteten sich unnatürlich vor Überraschung. Sollte das das Ende sein?

»So darfst du nicht reden, Manfred, das ertrage ich nicht. Du weißt, daß ich dich liebe und ohne dich nicht leben kann.«

»Mach doch bitte keine so großen Worte, Marga«, murmelte der Mann unangenehm berührt. »Ich wollte damit ja nur andeuten, daß an unserer Beziehung der erste Lack bereits ab ist. Das mußt du doch zugeben.«

»Gar nichts gebe ich zu!« Marga schrie es fast, und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung. »Ich weiß nur eines, daß du das Interesse an mir verloren hast. Aber ich denke gar nicht daran, so einfach kampflos auf alles zu verzichten. Zuerst hast du meine Ehe zerstört, und jetzt, wo ich bald die Scheidung in die Wege leiten kann, jetzt willst du mich fallenlassen, wie eine heiße Kartoffel. Nein, mein Lieber, so haben wir nicht gewettet.«

»Bitte, beruhige dich doch. Muß denn das ganze Haus hören, was wir miteinander zu besprechen haben?«

»Das ist ja nicht meine Schuld. Wer hat denn angefangen? Schließlich habe ich ein Recht darauf, zu erfahren, ob da eine andere Frau dahintersteckt.« Sie lachte böse auf. »Ich kann ja verstehen, daß du Abwechslung suchst, aber das hättest du dir früher überlegen müssen.«

»Jetzt wirst du gewöhnlich.« Manfred stand auf und ging zur Tür. »Wenn du dich wieder beruhigt hast, kannst du mich anrufen. Vielleicht können wir dann über alles reden. Nur eines versichere ich dir jetzt schon, nämlich daß keine andere Frau dahintersteckt.

»Dann... dann tut es mir leid, was ich gesagt habe. Bitte Manfred, bleib da und laß mich nicht allein. Ich will auch ganz lieb zu dir sein«, versuchte sie ihn umzustimmen. »Es ist bestimmt richtig, wenn wir es so machen, wie du gesagt hast. Wir sollten über unsere Beziehung sprechen, denn so kann es ja wirklich nicht mehr weitergehen.«

Zweifelnd schaute der Mann auf die Frau, die er einmal so reizvoll und begehrenswert gefunden hatte. Nun reizte ihn gar nichts mehr an ihr. Trotzdem folgte er ihrer Bitte und setzte sich wieder auf das Sofa, in dem er augenblicklich versank.

»So gefällst du mir schon viel besser, Manfred.«

Zufrieden registrierte er, daß sie diesmal auf seinen Kosenamen verzichtet hatte. Eigentlich war sie gar nicht so übel. Vielleicht sollte er die Aussprache doch noch eine Weile hinauszögern. Irgendwie schmeichelte es ihm, daß sie sich gar so sehr um ihn bemühte.

Er lächelte ein bißchen. »Was meinst du, sollen wir Essen gehen? Nachdem du dich schon so hübsch gemacht hast, wäre es schade, wenn ich dir den Sonntag so verderben würde.«

Erleichtert atmete Marga auf. Sie wußte genau, daß ihr Benehmen von vorhin gar nicht ihrem wirklichen Charakter entsprach, aber sie wußte selbst nicht, was in letzter Zeit mit ihr los war. Einmal fühlte sie sich himmelhochjauchzend glücklich, das andere Mal wieder zu Tode betrübt. Natürlich wirkten sich ihre wechselnden Stimmungen keineswegs positiv auf ihre Beziehung zu Manfred aus, der eher ruhig und ausgeglichen war.

»Du bist ein Schatz, Manni«, jubelte sie, aber dann verbesserte sie sich gleich, als sie sein ärgerlich verzogenes Gesicht sah. »Entschuldige, bitte, ich wollte natürlich Manfred sagen.«

»Schon in Ordnung. Also mach dich fertig, ich werde inzwischen meine Barschaft überprüfen, ob es für ein gepflegtes Mittagessen überhaupt reicht.« Sein Lächeln war zwar freundlich, aber es fiel trotzdem ziemlich unbeteiligt aus. Mit seinem Herzen war er jedenfalls nicht bei der Sache.

Im Gegenteil. Er schalt sich selbst einen Feigling, weil er die Stunde der Wahrheit, wie er sie nannte, immer wieder hinausschob. Aber es war nicht einfach, Marga den Laufpaß zu geben, denn sie verstand es ausgezeichnet, ihm Schuldgefühle einzuimpfen.

»Na, wie sieht es aus? Reicht es noch für ein Essen?« Die Frau hatte sich ihren eleganten Fuchsmantel um die schmalen Schultern gehängt, den ihr Volker, ihr Mann, noch zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatte. Damals war ihre Welt noch in Ordnung gewesen und in gelenkten Bahnen verlaufen. Jetzt aber war nichts mehr in Ordnung. Jeder Tag war voll neuer Abenteuer, voll Sehnsüchte, Glücksgefühle und Zweifel.

War es das, was Marga während ihrer Ehe vermißt hatte? Sie wußte es nicht, aber ihr war klar, daß sie sich jetzt nicht glücklicher als früher fühlte. Nur hektischer verlief ihr Leben, und zu denken hatte sie jetzt auch mehr als damals, als sie noch das biedere Hausmütterchen war, dessen Horizont sich ständig zwischen neuen Putzmitteln und den Fleischpreisen bewegte. Daß das auf die Dauer schiefgehen mußte, das war ja ganz logisch.

»Ach, stimmt ja, ich wollte nachsehen, wie es mit meiner Barschaft bestellt ist.« Ewas hastig zog Manfred seine Brieftasche heraus, während Marga ihn ziemlich belustigt dabei beobachtete.

»Wenn es nicht reichen sollte, dann werde ich mein Kleingeld auch noch dazulegen. Dann wird es bestimmt langen.«

Manfred grinste säuerlich. Nach genauerem Inspizieren wußte er, daß es reichen würde. »Wir können«, sagte er und erhob sich.

Er hatte nicht bemerkt, daß eine Fotografie aus dem kleinen Fach gefallen war, an die er schon gar nicht mehr gedacht hatte.

»Du hast etwas verloren.« Rasch bückte sich die Frau und hob das Bild auf. Dann betrachtete sie es argwöhnisch. Ein eisiger Schauder lief über ihren Rücken.

»Gib es her«, sagte Manfred in scharfem Befehlston. »Das geht dich gar nichts an.

»So? Meinst du?« fragte Marga gedehnt und wich ein paar Schritte zurück. »Aber ansehen werde ich es mir doch noch dürfen. Oder willst du mir das verbieten, jetzt, da ich es gefunden habe?«

Ihr Blick hing unverwandt an seinen Augen, bis er verlegen zur Seite schaute. Er hatte total vergessen, daß sich Giselas Bild noch immer in seinem Geldbeutel befand. Warum war es ausgerechnet jetzt herausgefallen? Hätte es nicht zu Hause passieren können? Dann hätte er es wenigstens unbemerkt wieder verschwinden lassen können.

Aber wozu? Schließlich war er Marga keine Rechenschaft schuldig. Sie waren schließlich nicht miteinander verheiratet.

»Wer ist denn das?« fragte sie unerwartet sanft und betrachtete das hübsche Frauengesicht mit ernsten Augen.

»Gib mir das Bild zurück. Du kennst die Frau ohnehin nicht.« Manfreds Stimme klang gefährlich leise, aber das machte auf die Frau keinen Eindruck. Die Eifersucht war zurückgekehrt, obwohl sie noch immer versuchte, sich zu beherrschen.

»Vielleicht kann ich sie kennenlernen?« Mühsam rang sie sich ein verbindliches Lächeln ab. »Oder ist sie womöglich meine Nachfolgerin?«

»Rede doch nicht solchen Unsinn, Marga, und gib mir endlich das Bild wieder.«

»Ich denke ja gar nicht daran. Jedenfalls nicht, bevor du mir nicht gesagt hast, wer das ist.«

Widerwillen stieg in dem Mann auf. Wie hatte er diese Frau nur reizvoll finden können?

»Also gut«, gab er dann nach, weil er endlich seine Ruhe haben wollte. »Aber das eine sage ich dir: Nach diesem Auftritt, den du dir jetzt wieder erlaubt hast, denke ich nicht im Traum daran, mit dir Essen zu gehen. Es tut mir leid, daß du dich umsonst umgezogen hast.«

»Aber das macht doch nichts«, ahmte sie seinen Tonfall nach und verzog ironisch die Lippen. »Dann gehe ich eben allein. Ich bin sicher, daß es mir auch ohne deine werte Gesellschaft ausgezeichnet schmecken wird. Also, wer ist diese Person?«

»Sprich nicht so abfällig. Sie ist eine sympathische junge Frau, die ich einmal geliebt habe.«

»Habe?« Sie lachte ungläubig auf. »Du willst mir weismachen, daß diese Liaison vorbei ist? Nein, mein Lieber, für so dumm brauchst du mich nicht halten.« Die blanke Eifersucht blitzte aus ihren Augen.

»Glaub es oder glaub es nicht. Mir ist das egal.« Er überlegte einen Augenblick, ehe er weitersprach.

»Ich habe Gisela sehr geliebt. Wir waren fast zwei Jahre zusammen.« Seine Augen bekamen einen fast träumerischen Ausdruck. »Dann hat sie sich plötzlich und ohne Grund von mir getrennt. Das ist jetzt über fünf Jahre her. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört, geschweige denn, sie wiedergesehen.«

Wie erwachend schaute er nach einer Weile auf, direkt in das betroffene Gesicht Margas, der ihre Heftigkeit von vorhin fast schon wieder leid tat.

Aber jetzt konnte Manfred kein Mitleid mehr mit ihr haben. »Das Bild«, forderte er leise, aber entschlossen. »Gib mir sofort das Bild, damit ich gehen kann.«

»Aber Manfred, bitte, so habe ich das doch nicht gemeint. Du mußt verstehen...«

»Muß ich das? Nein, ich glaube nicht, daß ich das muß. Gib mir die Fotografie.«

Margas Hand zitterte ein wenig, als sie ihm das Lichtbild reichte. »Es... es ist wirklich nicht so, wie du jetzt vielleicht denkst. Es war nur...«

»Ich weiß schon, Marga, und ich bin auch sehr froh darüber, daß du jetzt dein wahres Gesicht gezeigt hast. Ich möchte nicht mit dir brechen, denn ich weiß, wie hilflos du alleine bist. Trotzdem mußt du verstehen, wenn ich nur noch dein Freund sein will, mehr nicht.«

»Aber... aber Manfred, das kann doch nicht dein Ernst sein. Ich... ich wollte doch nur wissen...« Enttäuscht hielt sie inne. Damit hatte sie nicht gerechnet.

»Was stellst du dir unter einer... Freundschaft vor?« Unsicher forschte sie in seinem unbeweglichen Gesicht, das nichts von seiner inneren Aufruhr verriet.

»Ganz einfach«, antwortete Manfred leichthin und erhob sich, nachdem er das Bild wieder sorgfältig in seinem Geldbeutel verstaut hatte. »Wenn du mich brauchst, dann bin ich selbstverständlich für dich da. Aber du wirst dich damit abfinden müssen, daß ich keine Liebe mehr für dich empfinde.«

Marga hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand den Boden unter den Füßen weggezogen. Sie schwankte ein bißchen und hoffte inständig, daß Manfred sie stützen möge. Aber nichts dergleichen geschah. Gleichgültig schaute er zur Seite und steckte seinen Geldbeutel in die Hosentasche.

»Ich gehe jetzt. Entschuldige mich bitte. Ich habe noch etwas anderes vor.« Wie leicht ihm die Lüge über die Lippen kam!

»Dann liebst du diese Frau also doch«, knirschte Marga und würdigte ihn keines Blickes mehr. Sie ahnte, daß sie verloren hatte, aber noch wollte sie es nicht wahrhaben.

»Ruf mich an, wenn du mich brauchst, Marga. Ich habe dir meine Freundschaft angeboten und gedenke, mich daran zu halten.«

Die Frau stand da wie erstarrt. Sie brachte kein Wort mehr hervor, denn sonst hätte sie angefangen zu weinen. Und das wollte sie unter keinen Umständen. Mit einem Mal fiel alle Oberflächlichkeit von ihr ab, und sie wußte plötzlich, daß sie einer Scheinwelt nachgejagt war.

Marga erwachte erst wieder aus ihrer Erstarrung, als die Tür krachend ins Schloß fiel.

*

»Spielst du mit mir, Sabine?« Bittend schaute die kleine Agnes zu der jungen Frau auf.

Sabine Kroff preßte in einem plötzlichen Schwächeanfall die Hand an die Stirn, mit der anderen stützte sie sich an einem Baum ab, weil sie sonst bestimmt umgefallen wäre.

»Ja, Herzchen, gleich. Ich muß nur einen Augenblick ausruhen.« Sabine lächelte gequält. Schmerzhaft wurde sie wieder daran erinnert, daß sie bald für zwei sorgen mußte, für sich und Jochens Kind. Hoffentlich schaffte sie es, denn sie wußte, daß es nicht einfach werden würde.

»Bist du auch krank, so wie meine Mami? Der war auch immer schlecht, bis sie sie dann fortgebracht haben. Da hat sie gar nichts mehr mit mir geredet.« Ängstlich klammerte sich das Mädchen an Sabines Rockzipfel.

»Nein, Agnes, ich bin nicht krank. Es ist auch schon vorüber«, tröstete sie das kleine Mädchen, das erleichtert aufatmete. Sabine hatte wohl gemerkt, daß das Kind sie besonders ins Herz geschlossen hatte, vielleicht auch deshalb, weil sie beide am selben Tag nach Sophienlust gekommen waren.

»Hallo, Sabine und Agnes. Ich habe euch schon im Haus gesucht.«

»Guten Tag, Frau... Tante Isi.« Sabine errötete ein bißchen, denn sie hatte sich noch immer nicht an die vertraute Anrede gewöhnt.

»Hast du Henrik nicht mitgebracht, Tante Isi?« fragte Agnes treuherzig und reichte der gutaussehenden Frau artig ihr Händchen.

»Nein, Agnes, er konnte nicht mitkommen, weil er in die Schule mußte. Aber heute nachmittag wird er dich bestimmt besuchen.«

»Prima, dann können wir miteinander spielen.« Munter hüpfte Agnes davon und trällerte dabei ein Liedchen, das nur sie allein kannte.

»Sie ist richtig aufgeblüht, seit sie bei uns ist, findest du nicht auch, Sabine?«

»Ja, Sie haben recht, Frau von... Entschuldigung.«

»Das ist schon in Ordnung. Nenne mich ruhig so, wie du es möchtest. Jetzt hast du dich ja auch schon einigermaßen erholt und hier eingelebt, da können wir auch Freunde sein, ohne daß du mich Tante Isi nennst. Recht so?«

»Ja, sehr gern, Frau von Schoenecker. Ich... es wäre den anderen gegenüber vielleicht nicht ganz fair, wenn Sie mich bevorzugen«, murmelte Sabine verlegen. Trotzdem war sie froh, daß sie endlich mit Denise darüber sprechen konnte.

»Vielleicht hast du recht, Sabine. Aber damals, als ich dich kennenlernte, da hattest du eine Bezugsperson, eine Vertraute, sehr nötig. Inzwischen jedoch habe ich den Eindruck, daß du dein Leben ausgezeichnet meistern kannst.« Denise nickte dem Mädchen aufmunternd zu.

»Schon möglich«, gab Sabine zu und zuckte die Schultern. »Trotzdem wäre ich natürlich froh, wenn ich auch nach der Geburt meines Kindes noch eine Weile in Sophienlust bleiben könnte, bis ich etwas anderes gefunden habe.«

Forschend schaute die Verwalterin in das blasse Gesicht der jungen Frau. »Mir scheint, du hast mich falsch verstanden. Niemand will dich fortschicken. Ich hoffe, daß du dich hier sehr wohl fühlst und uns auch noch recht lange erhalten bleibst mit deinem Kind, auf das ich mich übrigens sehr freue.«

»Dann ist Ihnen besser zumute als mir, Frau von Schoenecker. Ich empfinde bis jetzt nur Angst, vor der Geburt und ganz besonders vor der Zukunft. Nie hätte ich gedacht, daß ich einmal eine ledige Mutter sein würde. Und jetzt...«

»In der heutigen Zeit ist das doch keine Schande mehr.« Denise war nun fast ärgerlich. »Du machst dir das Leben nur unnötig schwer, Sabine. Solange du willst, bist du in Sophienlust gut aufgehoben. Und, wer weiß, vielleicht findest du einen netten Mann, dem du dein Herz schenken kannst, und der dich und dein Kind so lieb hat, wie ihr beiden es verdient. Du darfst nur jetzt, gerade in deinem Zustand, nicht so den Kopf hängen lassen. Es ist für das werdende Leben sehr wichtig, daß du optimistisch bist. Glaube mir, es wird alles gut werden.« Die Gutsbesitzerin hatte den Arm um Sabine gelegt, und das Mädchen ließ es sich gern gefallen.

»Danke, Frau von Schoenecker«, sagte Sabine leise. »Ihre Worte haben mir Mut gemacht. Ich fürchtete schon, daß ich dann dieses Heim hier verlassen muß, denn eine richtige Aufgabe habe ich ja nicht. Man braucht mich weder in der Küche, noch darf ich beim Putzen helfen. Und trotzdem...«

»Jetzt reicht es aber, Sabine. Du tust mehr, als ich je zu hoffen gewagt hätte. Du kümmerst dich intensiv um die Kinder, die es bitter nötig haben. Peter hängt sehr an dir, und Agnes liebt dich. Ich bin wirklich froh, daß du hier bist.«

»Danke.« Sabine Kroff schaute glücklich zu der Frau auf, die sie fast um einen Kopf überragte. »Jetzt fühle ich mich hier in Sophienlust erst so richtig zu Hause.«

»Dann lauf schnell«, sagte Denise und ließ Sabine los. Sie waren inzwischen an der Freitreppe angekommen. »Schau nur, dort wartet Agnes schon auf dich. Sie hat die ganze Zeit sehnsüchtig zu uns herübergesehen.«

»Danke, Frau von Schoenecker. Vielen, vielen Dank für alles.«

Lächelnd schaute Denise der jungen Frau nach, die leichtfüßig auf Agnes zulief. Dann ging die Verwalterin nachdenklich ins Haus. Die Halle mit dem offenen Kamin war leer. Leise knisterte ein kleines Feuer und verbreitete behagliche Wärme und einen angenehmen Geruch nach Fichtenharz.

»Gut, daß Sie kommen, Frau von Schoenecker.« Regine Nielsen, die Kinder- und Krankenschwester von Sophienlust, schreckte Denise aus ihrer Versunkenheit.

»Ah, Schwester Regine. Ich habe Sie gar nicht kommen hören. Das Prasseln des Feuers hat eine Saite in mir zum Klingen gebracht, ich weiß nur nicht welche.« Die schwarzhaarige Frau lächelte freundlich, und Schwester Regine stellte insgeheim fest, wie hübsch Denise eigentlich war.

»Wollten Sie etwas Bestimmtes, Regine? Sie haben mich so erleichtert empfangen.«

Die junge blonde Frau nickte. »Es geht um Peter Eckstein.«

»Kommen Sie, gehen wir in mein Büro, da haben wir es gemütlicher«, bestimmte Denise und stieg die breite, teppichbespannte Treppe hinauf.

Das stilecht eingerichtete Biedermeierzimmer war ebenfalls gut geheizt. Der helle Raum strahlte eine gepflegte Gemütlichkeit aus, die ausgezeichnet zu Denise von Schoenecker paßte. Auch der Frau haftete ein Hauch Vornehmheit an, der aber in keiner Weise unangenehm wirkte.

»Setzen Sie sich doch, Regine.« Denise hängte ihren weißen Wollmantel in den Schrank und deutete dann einladend auf einen der hellen, zierlichen Stühle.

»Danke.«

»Es geht also um Peter Eckstein«, half Denise der jungen Frau weiter, die nachdenklich vor sich hin starrte. »Ich kann mir nicht vorstellen, daß der Junge etwas ausgefressen hat.« Die schwarzhaarige Frau lehnte sich bequem in ihrem Stuhl zurück.

»O nein, da kann ich Sie beruhigen, Frau von Schoenecker. Der Peter ist ein braver Junge, der uns allen eigentlich nur Freude macht. Nur...«

»Er wird einfach nicht warm hier in Sophienlust, stimmt’s? Schauen Sie mich nicht so überrascht an, Regine. Das ist mir selbst auch schon aufgefallen.«

»Ja, Sie haben recht. Über genau dieses Problem wollte ich mit Ihnen sprechen. Die einzige, die er an sich heranläßt, ist Sabine. Auch zu den anderen Kindern findet er keinen rechten Kontakt.«

»Wie lange ist Peter jetzt schon bei uns?« Denise machte sich ein paar Notizen auf ein Blatt Papier.

»Seit Mitte März, also fast sechs Wochen. Da fühlten sich die anderen Kinder meist schon hier zu Hause oder haben sich wenigstens schon einigermaßen eingelebt gehabt. Bei Peter ist das ganz anders. Ich habe sogar den Eindruck, daß er abends öfter weint.«

Etwas befremdet schaute Denise jetzt auf. »Und Sie haben sich nicht getäuscht?«

»Nein, ich glaube nicht. Er hat zwar meistens so getan, als würde er bereits fest schlafen, aber ich habe es trotzdem gemerkt.«

»Und was meinen Sie, was wir unternehmen sollen? Ich bin sicher, daß Peter seine Mutter und auch seinen Vater sehr vermißt. Bestimmt glaubt er, daß seine Eltern ihn abgeschoben hätten.«

»Das ist gut möglich«, stimmte Regine Nielsen zu. »Ich hätte an Peters Stelle sicherlich dieselben Gedanken.«

»Der arme Junge. Irgendwie müßte man ihm doch helfen können.« Denise legte ihren Stift in die Schale und schaute die Kinderschwester fragend an. »Was meinen Sie, Regine?«

»Ich weiß nicht, ob es da viele Möglichkeiten gibt. Das beste wäre natürlich, wenn Peter seine Mutter wieder hätte. Wenn ich mich nicht getäuscht habe, dann fängt er auch schon ein bißchen zu stottern an. Das ist ein sicheres Zeichen, daß ihm etwas sehr Wichtiges fehlt, nämlich die Mutterliebe.«

»Na ja, die können wir ihm natürlich nicht geben. Haben Sie schon mit Sabine über Peter gesprochen?«

»Nein, ich dachte, es wäre besser, wenn ich Sie zuerst informieren würde. Vielleicht wissen Sie einen Ausweg.«

»Das ist lieb von Ihnen, Regine, aber in diesem Fall kann nur die eigene Mutter helfen. Wir können dem Jungen zwar Liebe geben, aber die Mutter können wir ihm nicht ersetzen. Wenn der Herr Eckstein wieder zu Besuch kommt, dann sagen Sie ihm bitte, daß ich ihn dringend sprechen möchte.«

»Ja, Frau von Schoenecker. Ich bin wirklich froh, daß Sie die Sache in die Hand nehmen. Wir wissen uns wirklich keinen Rat mehr. Sogar Frau Rennert hat bereits die Waffen gestreckt. Und Sie wissen ja, daß sie sonst unbegrenzt Geduld hat, wenn es um ein verlassenes Kind geht.«

»Und dieses Mal hat alles keinen Sinn mehr?« Denise lächelte gütig und strich sich ihr langes glänzendes Haar zurück. »Wir werden das Kind schon schaukeln, oder deutlicher gesagt, wir werden uns Peter besonders annehmen. Ich werde mit Sabine darüber reden. Mir scheint, das Mädchen hat uns der Himmel geschickt.«

Regine nickte. »Ich bin auch immer wieder verwundert, wenn ich sehe, welch ein Geschick sie trotz ihrer Jugend hat, mit verlassenen oder traurigen Kindern umzugehen.«

»Es wird wohl auch eine Rolle spielen, daß sie selbst ein so schweres Schicksal erleiden mußte. Da wird man reifer und auch aufgeschlossener anderem Leid gegenüber.« Denise wußte, wovon sie sprach, denn auch sie war durch eine harte Schule gegangen. Von der Familie ihres ersten Mannes Dietmar von Wellentin war sie nicht anerkannt worden. Man hatte es ihr übelgenommen, daß sie vor ihrer Heirat Tänzerin gewesen war.

Erst nach dem Tod ihres Mannes war sie mit ihrem Sohn Nick von der Familie aufgenommen worden, und später hatte Sophie von Wellentin ihrem Enkelsohn sogar das herrliche Herrenhaus mit der Auflage vererbt, daß der Besitz zu einem Kinderheim umfunktioniert werden sollte.

»Es ist fast ein kleines Wunder, wie auch Agnes an Sabine hängt. Die ersten Tage hat das Kind niemanden an sich herangelassen, und erst, als sich Sabine von ihr das Bild der Mutter hat zeigen lassen, besteht zwischen den beiden eine innige Freundschaft.« Schwester Regine schaute nachdenklich auf ihre schmalen Hände. Die feingliedrigen Finger hatte sie ineinander verschlungen. Das tat sie meistens, wenn Probleme sie beschäftigten.

»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen, Schwester Regine. Ich bin sicher, es wird alles wieder in Ordnung kommen.« Denise spürte die Unsicherheit der jungen Frau.

»Hoffentlich haben Sie recht. Mir tut Peter so leid. Er ist ein lieber Junge, der es nicht verdient hat, daß man ihn abschiebt. Es geht mich zwar nichts an, aber ich muß Ihnen sagen, daß ich die Frau nicht verstehen kann. Wie kann man nur freiwillig die eigene Familie verlassen.«

»Sie liebt anscheinend einen anderen Mann mehr als ihren eigenen. So hat es mir jedenfalls Herr Eckstein erzählt, obwohl er sich auch dabei noch bemüht hat, seine Frau in Schutz zu nehmen. Ich finde seine Haltung bewundernswert.«

Die Verwalterin holte aus dem Schrank einen Schnellhefter, in dem sie alle Unterlagen über Peter Eckstein deponiert hatte. »Peters letztes Zeugnis ist gut, aber er war schon immer ein bißchen ein Einzelgänger, sagte sein Vater. Diese Eigenschaft scheint sich hier in Sophienlust noch verstärkt zu haben.«

»So sieht es aus«, gab die Kinderschwester zu. »Nicht einmal Heidi ist es bisher geglückt, ihn aus seiner Reserve herauszulocken. Und Sie wissen ja, wie hartnäckig unsere Heidi sein kann, wenn sie etwas erreichen will.«

»Ja, das stimmt.« Bei dem Gedanken an das zierliche, aber doch recht energische Persönchen, das alle hier im Kinderheim ins Herz geschlossen hatten, mußte Denise lächeln. Heidi Holsten war mit ihren fünf Jahren das jüngste der Dauerkinder, der Sonnenschein des ganzen Heimes.

»Ich glaube, Sie haben eben dasselbe gedacht wie ich. Wenn wir unsere Heidi nicht hätten.«

»So ähnlich, ja«, stimmte Denise lachend zu.

In diesem Augenblick fühlten sich die beiden Frauen wie Verbündete.

*

Marga Eckstein hatte lange gebraucht, bis sie sich zu einer Entscheidung hatte durchringen können. Und diese Entscheidung war ihr nicht leichtgefallen.

Von Volker, ihrem Mann, hatte sie erfahren, daß sich ihr gemeinsamer Sohn Peter in einem Kinderheim befand. Der Brief, den Volker ihr geschrieben hatte, war kurz und unpersönlich gewesen, und seltsamerweise hatte es ihr wehgetan.

Warum das so war, darüber konnte und wollte sie sich keine Rechenschaft ablegen, obwohl es sie ziemlich beunruhigt hatte. Jedenfalls war ihr spätestens danach klargeworden, was sie zu tun hatte. Sie mußte zu Peter.

Plötzlich konnte sie sich nicht mehr erklären, wie sie so eine Dummheit hatte begehen und ihr eigenes Kind hatte im Stich lassen können.

Sie hielt sich am Treppengeländer fest. Wenn sie es nur schon hinter sich hätte. Vor der Begegnung mit Manfred fürchtete sie sich, aber noch mehr dachte sie daran, daß Volker, ihr Mann, erfahren könnte, daß ihre Beziehung, für die sie ihre Familie aufgegeben hatte, gescheitert war.

Als sie vor der Wohnungstür stand, zögerte Marga. Ihr Herz klopfte ungewöhnlich rasch, was sie auf die Aufregung zurückführte. Sollte sie Manfred überhaupt behelligen, oder sollte sie lieber mit dem Zug fahren?

Nein, Marga entschloß sich, Manfred um diesen Gefallen zu bitten. Schließlich hatte er ihr seine Freundschaft und seine Hilfe angeboten. Die Demütigung wäre für sie unerträglich, wenn sie Volker zufällig begegnen würde, und sie dann noch dazu allein wäre. Was mußte das für eine Genugtuung für ihn sein.

Das Läuten der Klingel war so laut, daß die Frau in dem leichten Kamelhaarmantel zusammenzuckte. Sie unterdrückte den ersten Impuls, einfach davonzulaufen, aber dann bereute sie es, als sie das überraschte Gesicht ihres früheren Geliebten sah. Allzu glücklich schien er nicht zu sein.

»Du, Marga?« fragte er gedehnt und deutete dann einladend auf die Wohnzimmertür.

Marga spürte, wie sie vor Verlegenheit errötete. »Du... du mußt mir helfen, Manfred«, stieß sie hastig hervor und schlüpfte an ihm vorbei in die Wohnung.

»Ist etwas geschehen?« Manfred war sichtlich erleichtert. Er hatte schon befürchtet, daß die Frau dort anknüpfen wollte, wo sie vor ihrem Streit aufgehört hatten. Dazu aber war er nicht bereit.

»Ich muß nach Maibach. Peter lebt dort in einem Kinderheim. Das hätte Volker nie tun dürfen«, brach die Frau das verlegene Schweigen.

»Du hast kein Recht, deinen Mann anzuklagen.« Manfred setzte sich in einen der schweren, lederbezogenen Sessel und schlug die langen Beine übereinander. »Was sollte er denn mit dem Jungen anfangen, wenn er zur Arbeit muß?«

»Da... da hast du auch wieder recht«, gestand Marga kleinlaut. »Das habe ich mir gar nicht überlegt. Ich weiß nur, daß ich Peter aus dem Heim holen muß. Der arme Junge. Und ich bin schuld daran.« Unvermittelt begann die Frau zu schluchzen. Sie preßte ihre Hände vor das Gesicht.

»Hast du vielleicht ein Taschentuch für mich, bitte?«

Manfred reichte ihr das Gewünschte, und Marga tupfte sich das Gesicht ab. »Ich fühle mich so elend. So gemein und niederträchtig wie ich war, benimmt sich keine Mutter. Ich... ich kann es einfach nicht... verstehen, wie ich so... handeln konnte.«

»Ich glaube, ich kann dich verstehen. Dein Leben verlief in geordneten Bahnen, alles war Routine, Gewohnheit. Da kann man leicht den Blick für das Wesentliche verlieren.«

»Meinst du? War das wirklich der Grund? Ich dachte, ich sei in dich verliebt. Ohne dich konnte ich mir meine Zukunft gar nicht mehr vorstellen. Dabei hatte ich ja alles, was sich eine Frau nur wünschen kann. Und das habe ich aufgegeben für eine Scheinwelt.«

Marga schluchzte noch einmal auf, aber dann schien sie sich beruhigt zu haben. Ihr Entschluß stand fest. Sie mußte in dieses Kinderheim und Peter von dort heimholen.

»Wenn ich dir irgendwie helfen kann, Marga, dann sage es mir. Du weißt ja, daß ich zu dir halte, wenn du mich brauchst.«

»Darum bin ich ja gekommen. Bitte, Manfred, du mußt mit mir nach Maibach fahren. Ich könnte die Schande nicht ertragen, wenn Volker mich alleine dort sieht. Nie gönne ich ihm den Triumph, daß er recht gehabt hat.«

»Muß das sein?« Manfred stellte sich das ziemlich unangenehm vor, wenn er womöglich mit Margas Mann zusammentraf. Aber er hatte ihr Unterstützung versprochen, und er gedachte sein Versprechen auch zu halten, so schwer es ihm auch fiel.

»Also gut, wenn du unbedingt möchtest«, gab er nach, als sie heftig mit dem Kopf nickte.

»Ja, unbedingt«, brach es aus ihr heraus.

»Und wann?«

»Am liebsten gleich, wenn du Zeit hast.«

»Na ja.« Manfred fuhr mit den Fingern durch sein dichtes Haar. So schnell hatte er eigentlich nicht damit gerechnet. Aber vielleicht war es wirklich besser, wenn er das Ganze rasch hinter sich brachte.

»Also gut, wenn du es so eilig hast, dann fahren wir eben gleich. Ich muß mich nur noch schnell umziehen. Dort in der Schublade findest du Straßenkarten. Bitte such die richtige heraus. Ich kenne mich in der Gegend dort nämlich wirklich nicht so besonders aus.«

Nachdem der Mann im Schlafzimmer verschwunden war, kniete sich Marga vor dem halbhohen Schränkchen nieder und zog die Schublade auf, wie er es ihr aufgetragen hatte. Bald hielt sie die richtige Karte in den Händen, und sie stellte überrascht fest, daß Maibach gar nicht so weit von hier entfernt war. In knappen zwei Stunden müßten sie die Strecke geschafft haben.

»Wie lange hast du Zeit?« rief sie.

»Die Woche habe ich mir Urlaub genommen. Ich wollte endlich einmal ausspannen. Aber daraus wird nun wohl nichts mehr«, kam die Antwort aus dem angrenzenden Raum.

»Ich verspreche dir, daß ich dich nicht unnötig in Anspruch nehmen werde. Hauptsache, du begleitest mich nach Sophienlust.«

Etwa zehn Minuten später befanden sie sich schon auf dem Weg nach Maibach. Es war ein kühler Märztag, und die Sonne versteckte sich meist hinter grauen Wolken. Selbst zum Regnen war es zu kalt.

Die Wiesen waren noch braun vom vergangenen Winter, und auch die Bäume streckten ihre kahlen Äste noch ohne jedes Lebenszeichen in den verhangenen Himmel.

»Dieses schlechte Wetter ist auch nicht gerade dazu geeignet, meine trübe Stimmung aufzuhellen.« Marga hielt dieses peinliche Schweigen nicht mehr länger aus. »Es ist seltsam. Früher hat mir so etwas nichts ausgemacht. Aber seit ich mir selbst den Boden unter den Füßen weggezogen habe, belastet mich jede Kleinigkeit.«

Manfred schaute starr geradeaus. Er war froh, daß er sich auf die Straße konzentrieren mußte und somit einer Antwort enthoben wurde. Was hätte er darauf auch sagen sollen? Daß er sich mitschuldig fühlte an ihrem Schicksal und dem ihrer Familie? Und daß er insgeheim sogar hoffte, daß sie ihrem Mann begegnen und ihre Liebe zu ihm wieder erwachen würde? Aber das wäre zu schön, um wahr zu sein.

An einer Raststätte hielten sie kurz an. Manfred war eingefallen, daß er an diesem Morgen noch nicht einmal Kaffee getrunken hatte. Und ohne seinen traditionellen Frühstückskaffee war er nur ein halber Mensch, das redete er sich jedenfalls ein.

Auch Marga bestellte sich ein Kännchen, aber sie hatte nicht die Ruhe, es vollkommen auszutrinken. Unruhig schaute sie ständig auf ihre Armbanduhr.

»Du bist schon ein richtiges Nervenbündel, Marga. Das ist nicht gut. Du solltest dich jetzt nicht so hineinsteigern. Immerhin bist du schon Monate von deiner Familie getrennt, und es hat dir bisher nichts ausgemacht. Also reiße dich jetzt zusammen.«

»Du hast ja recht, Manfred. Aber plötzlich habe ich das Gefühl, als ginge es um Minuten. Ich habe schon viel zuviel Zeit versäumt.«

Hastig trank Manfred Brecht seine Tasse leer, dann bezahlte er. Anschließend marschierten sie im Laufschritt zum Parkplatz zurück. Der restliche Teil der Fahrt verlief schweigend. Nun bemühte sich auch Marga nicht mehr um ein Gespräch. Sie hing vielmehr ihren Gedanken und Erinnerungen nach, die sich ausnahmslos um Peter und ihren Mann Volker drehten. Ihr war, als würde sie gerade aus einem schweren Alptraum aufwachen und müßte feststellen, daß er bittere Wahrheit geworden war.

»Zehn Kilometer noch, dann haben wir es geschafft«, sagte Manfred plötzlich erleichtert und trat das Gaspedal tiefer durch. »Ich hatte mich eigentlich auf einen geruhsamen Urlaubstag eingestellt. Aber wer weiß, wofür es gut ist«, fuhr er dann in seinen Überlegungen fort.

»Nicht weit von hier muß das Kinderheim sein, in das Volker den Jungen gebracht hat. Am besten, wir fragen mal den Mann dort, in welche Richtung wir fahren müssen. Er weiß sicherlich, wo dieses Sophienlust ist.«

»Ja, da müssen Sie nur den hübschen bunten Schildern nachfahren. Die zeigen Ihnen den Weg ganz genau. Sie können es gar nicht verfehlen. Sophienlust ist ein wunderschönes Herrenhaus«, erklärte der alte, bärtige Mann und stützte sich auf seinen Stock. Unverhohlener Stolz leuchtete aus seinen wasserblauen Augen. »Den Kindern geht es dort wirklich sehr gut, und es fehlt ihnen an nichts. Sie werden sehen. Also immer den Schildern folgen.«

Manfred bedankte sich höflich und gab dann Gas. Das Kinderheim war tatsächlich ziemlich leicht zu finden.

»Diese geschnitzten Wegweiser sind wirklich hübsch«, stellte Marga überrascht fest. »Der Mann hat nicht übertrieben.«

»Zumindest sind sie originell«, gab Manfred zu und konzentrierte sich wieder auf die Straße, die allerdings kaum befahren war.

»Dort vorne scheint ein ziemlich herrschaftlicher Besitz zu sein. Vielleicht das Anwesen eines Grafen oder eines Barons«, vermutete die Frau und beugte sich ein Stück vor, um besser sehen zu können.

»Ich kann nichts erkennen«, murrte Manfred, dem immer unbehaglicher zumute wurde. Wie sollte er reagieren, wenn er womöglich Margas Mann begegnete? Es war doch immerhin möglich, daß er sich auch gerade hier aufhielt. Schließlich lebte der Mann hier in dieser Stadt.

Marga lachte nur, als er ihr seine Befürchtungen mitteilte. »Da brauchst du keine Angst zu haben. Volker ist ein Gentleman vom Scheitel bis zur Sohle. Er würde es sich niemals anmerken lassen, wenn er jemanden nicht leiden kann.«

»Dann bin ich ja beruhigt. Stell dir nur einmal vor, wie peinlich das wäre, wenn er uns vor all den Leuten und Kindern eine Szene machen würde.«

»Ich bin auf das Kinderheim gespannt, von dem der Mann so geschwärmt hat. Es wird doch nicht dieses prunkvolle Haus sein, dem wir uns immer mehr nähern?«

Sie waren sehr erstaunt, als sie entdeckten, daß es sich bei dem herrschaftlichen Gebäude mit dem riesigen Park drum herum wirklich um das Kinderheim Sophienlust handelte.

Sie ließen das Auto auf dem Parkplatz stehen und machten sich dann auf den Weg zu der breiten Freitreppe, die man von dem unteren Portal nur schlecht erkennen konnte.

Rechts und links standen hohe Bäume mit dicken Stämmen, die den breiten Kiesweg begrenzten. Der große Park war heute leer, denn die Kinder spielten bei diesem trüben Wetter lieber im Spielzimmer.

Verwundert schaute sich Marga um. »Ich kann es noch immer nicht glauben, daß es sich bei diesem pompösen Anwesen um ein Kinderheim handeln soll. Vielleicht haben wir uns doch verfahren.«

Manfred Brecht schüttelte den Kopf. »Das hier ist Sophienlust«, beharrte er. »Draußen am Tor ist es ja ganz groß angeschrieben. Dort drüben geht jemand. Ich werde die beiden einmal nach Peter fragen, wenn es dir recht ist.«

Marga schaute in die Richtung, in die ihr Begleiter zeigte. »Ich gehe mit«, sagte sie erfreut, aber dann blieb sie wie angewurzelt stehen. Ihr Blick hing wie festgefroren an den beiden Gestalten.

Es waren ein Mann und eine Frau, die sich angeregt zu unterhalten schienen. Die Frau war schlank und zierlich, und ihre Bewegungen waren graziös. Jetzt lehnte sie sich an den Mann, und der legte zärtlich seinen Arm um sie.

In der ersten Gefühlsaufwallung hätte sich Marga am liebsten auf die Frau gestürzt und ihr die Augen ausgekratzt. Denn der Mann, der das Mädchen an sich gepreßt hielt, war Volker!

»Manfred, bitte, bring mich wieder von hier weg«, stöhnte Marga und suchte verzweifelt nach der Hand ihres Begleiters. Sie hatte das Gefühl, als würde sich jeden Moment die Erde auftun und sie verschlingen.

Aber nichts dergleichen geschah.

Mitleidig führte Manfred die Frau zum Auto zurück. Damit hatte natürlich niemand gerechnet, daß sich Margas Mann so schnell mit einer anderen trösten würde.

Sie konnten ja nicht ahnen, daß Volker mit der blutjungen Sabine gar nichts im Sinn hatte. Ihn rührte lediglich das schwere Schicksal des Mädchens, und er war ihr auch dankbar, daß sie sich so herzlich um seinen Sohn Peter kümmerte.

Als es Sabine für einen Augenblick schummrig vor den Augen geworden war, da hatte er sie gestützt, weil sie sonst womöglich gefallen wäre.

Marga aber glaubte, daß sie Volker nun für immer verloren hätte. Und jetzt erst merkte sie, wie lieb sie ihn eigentlich noch hatte.

*

»Was ist denn los mit dir, du Schlafmütze? Wir hatten doch ausgemacht, daß wir zeitig losfahren.« Henrik lehnte ärgerlich sein Fahrrad an die Hausmauer.

»Ich bin gleich unten«, rief Peter Eckstein dem neuen Freund von oben zu. Er hatte ganz vergessen, auf die Uhr zu sehen und sich statt dessen in sein neues Buch vertieft, das ihm der Vater gestern gebracht hatte.

Für Karl May hatte Peter schon immer eine Schwäche gehabt, was Henrik nicht verstehen konnte.

»Sag mal, du bringst unsere ganzen Pläne durcheinander«, murrte der hübsche Junge mit dem braunen, etwas wilden Haarschopf. Seine grauen Augen blitzten ärgerlich.

»Entschuldigung«, sagte Peter versöhnlich und schnappte sich sein Rad. »Ich habe total vergessen, daß wir heute zum Waldsee fahren wollten.«

»Also, los jetzt.« Henrik war noch immer nicht ganz versöhnt.

Es war Peter ziemlich unangenehm, daß er den Freund verärgert hatte, denn er mochte Henrik wirklich gern. Eigentlich war er sein erster Freund überhaupt, darum wollte er es sich nicht mit ihm verderben. Seit er sich mit Henrik von Schoenecker so prima verstand, gefiel es ihm sogar ein bißchen in Sophienlust. Aber nur ein bißchen.

»Sei doch nicht sauer, Henrik. Ich verspreche dir, daß es nie wieder vorkommen wird«, rief er ihm zu, als er ihn endlich eingeholt hatte. Peter war ganz außer Puste.

»Schon gut.« Der jüngste Sohn Denise und Alexander von Schoeneckers konnte nie lange böse sein. Wenn er sich ärgerte, dann konnte er wohl aufbrausen und wettern wie Rumpelstilzchen, aber er war meist schnell wieder versöhnt.

Am Waldsee, der idyllisch versteckt mitten im Wald lag, fanden sie bereits die ersten Frühlingsboten. Unzählige Buschwindröschen bedeckten den Waldboden und reckten keck ihre kleinen, weißen Blütenkelche in die kühle Luft.

Die Jungen stiegen ab und lehnten ihre Fahrräder an einen Baum, der nahe am Ufer stand.

»Schau mal, dort drüben ist doch jemand. Was macht denn der in dem kalten Wasser?« Henrik legte den Zeigefinger an die Lippen, als Peter ihm etwas zurufen wollte. »Sei doch still«, schimpfte er leise. »Der hat irgendeine Gemeinheit vor«, stellte er fest. »Sieh nur, wie er sich immer wieder vorsichtig umschaut. Was der wohl in dem Sack hat?«

Peter legte die Hand über die Augen, um besser sehen zu können. »Jetzt bindet er einen länglichen Stein mit einer Schnur fest. Ich glaube, die Schnur hat er schon mit dem Sack verknotet. Mensch, das gibt’s doch nicht.«

»Was denn? Rede doch endlich.« Henrik konnte nichts Genaues erkennen, so sehr er sich auch bemühte.

»Ich... ich glaube, in dem Sack bewegt sich etwas.«

»Du spinnst«, stellte Henrik respektlos fest. »Was soll sich denn da bewegen? Oder meinst du...?«

»Genau. Der Mann hat irgendeine Schandtat vor, das spüre ich.« Peters Herz pochte vor Aufregung heftig gegen die Rippen. Er fieberte dem Moment entgegen, wo der Fremde den See verließ, damit er nachsehen konnte, was sich da bewegt hatte.

Mit einem lauten Klatsch fiel der Stein ins Wasser und zog den Sack mit sich in die Tiefe. Im Laufschritt rannte der Mann davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

»Jetzt aber schnell, ehe es zu spät ist«, bemerkte Henrik und stürmte auch schon los. Ratlos standen sie wenig später am Ufer und starrten auf die unbewegliche Oberfläche des Sees.

»Hier war es. Ich weiß es ganz genau«, beharrte Peter und ging noch einen Schritt näher.

In diesem Augenblick entdeckte es Henrik auch schon. »Luftblasen!« rief er überrascht aus. »Schau, da steigen Luftblasen auf.« Ohne darauf zu achten, daß seine Hosenbeine naß wurden, lief der Junge ein Stück in den See hinein, der hier zum Glück nicht sehr tief war.

»Warte, Henrik, ich komme mit«, rief Peter und stürmte hinterher, daß das Wasser nur so spritzte. »Puh, ist das kalt«, stellte der blonde Junge fest, als das Wasser ihnen bereits bis zu den Knien reichte. »Komm schneller, Henrik, wir dürfen nicht aufgeben. Es geht um Leben und Tod.«

Wie recht Peter hatte, stellten die Jungen erschrocken fest, als sie endlich das dicke Seil zu fassen bekamen, an dessen einem Ende noch immer der Stein hing und den Sack am anderen Ende am Grund festhielt.

»Ich hab es«, rief Henrik und zog den Sack nach oben, in dem irgend etwas Undefinierbares verzweifelt strampelte.

Peter hatte inzwischen den Knoten gelöst und ließ die Schnur ins Wasser zurückplumpsen.

Klägliche Laute drangen aus dem nassen Sack, und den beiden Jungen war es doch etwas mulmig zumute. Am Ufer angekommen, ließen sie ihre Beute erst einmal vorsichtig auf den weichen Sandboden gleiten.

»Mich friert’s wie einen nassen Hund«, jammerte Peter und schüttelte sich.

»Wir schauen erst nach, was wir gefunden haben, und dann radeln wir gleich nach Hause und ziehen uns um.« Abwartend stand Henrik neben dem Sack.

Peter rührte sich nicht. Auch ihm war nicht ganz wohl in seiner Haut.

»Dann mache ich es eben selbst.« Henrik zog vorsichtig den Sack auf und faßte hinein. Zum Vorschein kam ein kleines getigertes Kätzchen, das vor Kälte und Nässe zitterte und bebte.

»Er wollte es ertränken. So eine Gemeinheit«, murmelte Peter entsetzt und kniete sich jetzt ebenfalls hin. Rasch zog er seine Jacke aus und gab sie Henrik, der das Tierchen fürsorglich darin einwickelte.

»Wir nehmen die Katze mit und bringen sie ins Tierheim. Hans-Joachim wird sich um das Tierchen kümmern.« Henrik marschierte zu seinem Fahrrad zurück, und Peter folgte dem Freund.

Hans-Joachim von Lehn, Henriks Schwager, war Tierarzt und leitete das Tierheim Waldi & Co., das nicht weit von Sophienlust entfernt die letzte Zuflucht für so manches heimatlose Tier bedeutete.

Liebevoll nahm sich der junge sympathische Mann des kleinen Kätzchens an und versprach, Minzi, wie Henrik und Peter ihren kleinen Findling inzwischen getauft hatten, gesund zu pflegen.

»Den Mann sollte man anzeigen«, sagte Dr. von Lehn etwas später zu Andrea, seiner jungen, bezaubernden Frau.

»Wenn man nur wüßte, wer es war. Ich würde ihn weiß Gott was heißen.« Voller Mitleid streichelte die junge Frau das magere Kätzchen, das ihr Mann inzwischen abgetrocknet hatte.

»Das glaube ich dir aufs Wort, Liebling«, antwortete Hans-Joachim und grinste schelmisch. »Ich kann ein Lied davon singen.«

»Oh, sei still, du...«

Er verschloß ihren Mund mit einem zärtlichen Kuß.

*

»Was Peterle wohl sagen wird, wenn wir uns nach so langer Zeit wiedersehen?« Marga wollte nicht zugeben, daß sie sich vor einer Begegnung mit ihrem Sohn fürchtete. Was, wenn der Junge sie nicht sehen wollte.

Es würde ihr dann wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich seinen Wünschen zu fügen. Das aber wäre so furchtbar für die Frau, daß sie gar nicht wagte, daran zu denken.

Zu schwer lastete noch die Erkenntnis auf ihr, daß sie ihren Mann Volker wohl endgültig verloren hatte. Sie selbst legte inzwischen keinen Wert mehr auf die Scheidung, aber Volker würde sich nun sicher nicht mehr lange gedulden.

»Wir sind da.« Die ganze Fahrt über hatte Manfred geschwiegen. Jetzt tat es ihm fast schon leid, daß er Marga damals seine Hilfe angeboten hatte.

»Manfred, bitte...« Hilfesuchend schaute die Frau ihn an.

»Was ist, Marga? Du mußt dich schon deutlicher ausdrücken, wenn ich dich verstehen soll«, antwortete der Mann ungehalten. Er schloß den Wagen sorgfältig ab und öffnete dann seiner Begleiterin das Tor.

»Ich... wie soll ich es dir nur sagen? Es wäre mir lieber, wenn du... Ich meine, würdest du vielleicht hier im Park auf mich warten? Peter erschrickt sonst vielleicht, wenn da plötzlich ein fremder Mann mitkommt.«

»Aber natürlich warte ich hier auf dich. Wenn es sonst nichts ist.« Er schaute sich suchend nach einer Bank um, und in einiger Entfernung entdeckte er sogar eine.

»Ich werde mich dort drüben hinsetzen und mir die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Zum Glück ist heute besseres Wetter als gestern.«

Erleichtert atmete Marga auf und wickelte eine winzige Locke ihres kurzen Haares um den Finger. »Du bist ein Schatz, Manfred«, bekannte sie. »Schade, daß unsere Liebe schon nach so kurzer Zeit zerbrochen ist. Aber eine Freundschaft ist auch etwas sehr Schönes«, bekannte sie dann und lief eilig davon.

Sinnend schaute Manfred ihr eine Weile nach, ehe er sich auf den Weg zu der kleinen Bank machte, die voll von der Vormittagssonne angestrahlt wurde, die jetzt, Ende März, schon ziemlich Kraft besaß.

Er setzte sich, lehnte den Kopf zurück bis an den rauhen Baumstamm, und dann schloß er zufrieden die Augen. Er mußte kurz darauf eingeschlafen sein, denn das Kindergeschrei ganz in seiner Nähe ließ ihn plötzlich erschreckt zusammenfahren.

Als er die Augen öffnete, bot sich ihm ein bezauberndes Bild. Das Mädchen mit dem hellbraunen langen Haar, das er gestern schon in Begleitung Volker Ecksteins gesehen hatte, tanzte über den noch kahlen Rasen mit einem kleinen Mädchen, dessen kohlrabenschwarze Locken als erstes auffielen.

Er konnte sich gar nicht mehr losreißen von dem, was er da sah. Anscheinend hatten sie ihn noch nicht entdeckt, denn die junge Frau und das Kind spielten unbefangen und sangen dazu.

Volker Eckstein bewies Geschmack, das mußte Manfred zugeben. Dieses Mädchen war nicht nur bildhübsch, sie hatte bestimmt auch ein Herz voller Liebe, für das es sich lohnte, seine Freiheit aufzugeben.

So etwas wie Neid erfüllte den Mann, dem sein vergangenes Leben plötzlich sinnlos und oberflächlich erschien. So konnte und wollte er nicht mehr weitermachen. Sobald die Geschichte mit Marga erledigt war, wollte er sich daran machen, sein eigenes Leben zu ordnen. Und das mußte bald geschehen, denn schließlich war er ja auch nicht mehr der Jüngste.

Mit achtundzwanzig Jahren war er zwar im besten Mannesalter, aber auch für ihn blieb die Zeit nicht stehen. Also mußte er sich beeilen, wenn er...

Manfred grinste vor sich hin. Wohin verirrten sich denn seine Gedanken? Da sah er eine hübsche Person, und schon dachte er ans Heiraten und an eine Familie, was er bisher immer abgelehnt hatte.

Nun schienen die beiden auf ihn aufmerksam geworden zu sein. Das kleine Mädchen sagte etwas und deutete zu ihm herüber.

Manfreds Herz begann stürmisch zu klopfen. Ärgerlich schalt er sich einen Narren. Er tat schließlich nichts Verbotenes, denn er wartete auf eine Mutter, deren Kind hier in diesem Heim lebte.

Aber das war es gar nicht, was ihn so aus der Ruhe brachte. Auch die junge Frau schaute jetzt in seine Richtung, dann hob sie die Hand und winkte ihm zu.

Instinktiv winkte Manfred zurück. Dann aber ließ er abrupt seine Hand sinken. Was war los mit ihm? Suchend schaute Manfred sich um. Vielleicht hatte sie gar nicht ihn sondern Volker Eckstein gemeint.

Aber er stellte nach kurzer Zeit bereits fest, daß sich außer ihnen dreien niemand im Park befand. Ehe er sich recht besinnen konnte, stand die junge Frau mit dem niedlichen Mädchen schon vor ihm.

»Möchten Sie jemanden besuchen?« fragte Sabine freundlich, und ihr Lächeln erreichte sein Herz, das in den letzten Jahren schon ziemlich kühl geworden war.

»Nicht direkt«, wich Manfred aus und erhob sich. Dann reichte er Sabine höflich die Hand und stellte sich vor.

Auch die junge Frau nannte ihren Namen. »Und das ist unsere Agnes, der Sonnenschein von Sophienlust.«

Artig streckte das Mädchen ihm seine Hand hin, und Manfred bewunderte insgeheim die wunderschönen blauen Augen des Kindes. Irgendwie erinnerten sie ihn an jemanden, aber so sehr er sich auch das Hirn zermarterte, er kam nicht dahinter.

»Sie arbeiten hier in dem Kinderheim?« wandte er sich wieder an Sabine Kroff.

Das schöne Mädchen nickte.» Ja, seit zwei Monaten. Ich verdanke Frau von Schoenecker sehr viel, sogar mein Leben.« Erschrocken preßte Sabine die Hand vor den Mund. Das hatte sie eigentlich nicht sagen wollen, es war ihr nur so herausgerutscht.

Agnes bückte sich und begann, mit kleinen Hölzchen zu spielen, die auf dem Boden lagen.

»Wenn Sie eine Weile Zeit hätten, würde es mich freuen, wenn Sie sich zu mir setzten. Mögen Sie?«

»Sehr gern, danke«, antwortete Sabine und errötete. Sie fühlte sich ein wenig komisch, aber es war nicht unangenehm.

Was ist nur los mit mir? fragte sie sich, denn schließlich war der Mann ja ein Fremder für sie, den sie gerade eben erst kennengelernt hatte. Trotzdem machte er einen seltsam vertrauten Eindruck auf sie, als würden sie sich schon lange kennen.

»Darf ich Sie fragen, warum Sie hier sind, oder ist das ein Geheimnis?«

Manfred schwieg. Er überlegte scharf, was er antworten sollte, denn er nahm ja an, daß sie die Freundin von Margas Mann war. Und da mußte er natürlich seine Worte mit Bedacht wählen.

»Warum sollte es ein Geheimnis sein«, sagte er dann. »Ich habe eine Bekannte hergebracht, deren Sohn in diesem Heim lebt. Und nun warte ich, bis sie wieder zurückkommt. Das ist alles. Sie sehen also, gar nichts Geheimnisvolles.«

Sabine lächelte leicht vor sich hin. »Eigentlich ist es ja noch zu kühl zum Sitzen«, stellte sie fest.

»Bitte, bleiben Sie noch.« Manfred fühlte sich in ihrer Gesellschaft ausgesprochen wohl.

»Möchten Sie nicht lieber mit hineinkommen? Wir haben es in Sophienlust sehr gemütlich«, sagte Sabine nach einer Weile. Sie hatten beide eine ganze Zeitlang geschwiegen und Agnes bei ihrem Spiel beobachtet.

»Darf ich das denn?«

»Warum nicht?« fragte das Mädchen belustigt zurück. »Wir sind ein Kinderheim und kein Gefängnis.«

»Befriedigt Sie die Arbeit hier?« versuchte Manfred noch einmal, wenigstens ein bißchen was über sie zu erfahren. »So jung und hübsch wie Sie sind, müßten Sie doch auch noch leicht eine andere Arbeit finden.«

»Warum sollte ich? Ich fühle mich hier so wohl wie schon lange nirgends mehr. Außerdem brauche ich ein Heim für das Kind, das ich erwarte.«

Überrascht glitt sein Blick über ihre schlanke Gestalt. Diese Tatsache brachte ihn schon einigermaßen aus der Fassung. Er wollte schon nach dem Vater fragen, aber in letzter Sekunde besann er sich auf seine guten Manieren. Schließlich ging es ihn nichts an.

»Spielst du mit mir?« Agnes zupfte den Mann am Ärmel, daß der erschrocken zusammenfuhr.

»Sie brav, Agnes. Ich werde nachher wieder mit dir Mensch-ärgere-Dich-nicht spielen.«

»Ich will aber mit dem Mann spielen. Er sieht so lieb aus.« Agnes legte ihr Köpfchen schief und schaute Manfred treuherzig an.

Wieder stieg in dem Mann ein seltsam wehmütiges Gefühl auf, ein Hauch von Erinnerung, die er nirgends in seiner Vergangenheit unterbringen konnte.

»Und was möchtest du spielen, kleines Fräulein?« Manfred wunderte sich über sich selbst. Er konnte sich nicht erinnern, sich je etwas aus kleinen Kindern gemacht zu haben, und nun spielte er sogar mit einem wildfremden. Was war nur los mit ihm?

»Mutter und Kind«, antwortete Agnes, und Sabine lachte laut los. »Das wird wohl nicht gut möglich sein«, sagte sie dann mit einem schelmischen Seitenblick auf Manfred, der verdutzt das kleine Mädchen betrachtete.

»Dann Vater und Kind«, berichtigte sich Agnes sofort. Sie faßte den Mann vertrauensselig an der Hand. »Ich bin die Mutter und du bist das Kind«, sagte sie dann.

»Aber Schätzchen, du hast doch gerade gesagt, du wolltest Vater und Kind spielen.«

»Ach ja, richtig.« Agnes rümpfte ihr Stubsnäschen. »Dann bist du also der Vati und ich bin dein Kind. Und Sabine ist unsere Mami«, fügte sie dann noch rasch hinzu. »Kommt, Mami und Vati, gehen wir spazieren.« Sie zog so lange an den Händen der beiden Erwachsenen, bis diese sich tatsächlich erhoben.

Manfred Brecht kam sich vor wie mitten in einem Traum, aus dem er gleich erwachen würde. Aber dem war nicht so. Die kleine Agnes war ebenso Wirklichkeit wie die schöne Betreuerin Sabine.

Ob das Kind, das sie erwartete, von Volker Eckstein war? Aber das konnte nicht gut möglich sein, denn dann würde doch er für sie sorgen; und sie bräuchte nicht in diesem Kinderheim Unterschlupf suchen.

Nein, er spürte ganz genau, daß Sabine ein Geheimnis umgab. Aber direkt danach fragen wollte er sie nicht.

Als sie so nebeneinander hergingen merkte er, daß sie ein ganzes Stück kleiner war als er selbst. Ein gewisser Beschützerinstinkt erwachte in ihm, und am liebsten hätte er seinen Arm um sie gelegt. Aber etwas störte ihn, und als er genauer darüber nachdachte, stellte er fest, daß es das Kind war, das sie erwartete. Vielleicht war sie doch gebunden, oder der Mann hatte sie einfach sitzenlassen.

»Hat Agnes keine Eltern mehr?« fragte er, nur um das Schweigen zu unterbrechen. Das Kind hüpfte singend vor ihnen her.

»Die Mutter ist vor einigen Monaten an Blutkrebs gestorben. Den Vater kennt man nicht. Frau von Schoenecker hat die Kleine aus Murrhardt geholt. Übrigens finde ich, daß Agnes ein wenig Ähnlichkeit mit Ihnen hat. Sie ist ebenso ein südländischer Typ mit schwarzen Haaren und blauen Augen. Man könnte sie für Ihre Tochter halten.«

Manfred lachte gekünstelt auf.

»Sie machen Scherze«, sagte er dann und räusperte sich. »Wie alt sagten Sie ist die Kleine?« Ein leiser Verdacht stieg in ihm auf, den er aber immer wieder weit von sich schob. Diese Ähnlichkeit, auf die Sabine eben angespielt hatte, war ihm selbst auch schon aufgefallen.

»Fünf wird sie, die kleine Agnes. Wir alle mögen das Kind. Sie ist übrigens genauso lange in Sophienlust wie ich. An dem Tag, als Frau von Schoenecker Agnes aus Murrhardt abholte, traf sie auch auf mich.«

»Waren Sie etwa auch heimatlos?« Mitleidig schaute der Mann auf den schimmernden Haarschopf des Mädchens, das er ein ganzes Stück überragte.

»Heimatlos? Ja, so könnte man es nennen. Mein Verlobter kam zwei Tage vorher bei einem Unfall ums Leben, und ich hatte nicht einmal mehr Gelegenheit, ihm zu erzählen, daß er Vater werden würde. Aber... warum erzähle ich Ihnen das alles? Sie sind ja ein Fremder, und außerdem interessiert es Sie bestimmt nicht.«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Manfred und blieb plötzlich stehen. »Sagen Sie, Sabine, ich... würde Sie gern etwas fragen. Aber bitte, fassen Sie es nicht als Neugierde auf.«

»Fragen Sie ruhig, Manfred. Ich habe Ihnen ohnehin schon mehr von mir erzählt, als ich eigentlich wollte. Da kommt es darauf nun auch nicht mehr an.«

»Wie gut kennen Sie Volker Eckstein?«

»Überhaupt nicht. Er ist der Vater eines Jungen, der hier bei uns lebt.« Sabine schaute den Mann verständnislos an. »Warum möchten Sie das wissen?«

»Aber... er hat Sie doch gestern nachmittag umarmt. Ich habe es selbst gesehen.«

»Gestern?« Das Mädchen furchte die Stirn und schien nachzudenken. »Dann waren Sie gestern also schon einmal hier. Mit Ihrer Bekannten?«

»Ja«, gab Manfred zu. Hoffentlich fragte sie nicht weiter. Aber Sabine tat ihm nicht den Gefallen.

»Warum habe ich Sie dann nicht gesehen? Um welches Kind handelt es sich eigentlich? Soviel ich weiß, sind außer den Dauerkindern, die ständig hier leben, nur noch Agnes und Peter Eckstein hier. Peter bekommt jeden Abend Besuch von seinem Vater, und Agnes Müller hat keine Angehörigen mehr.«

»Müller?« echote Manfred verblüfft. »Die Kleine heißt Müller mit Nachnamen?«

»Ja. Ist das so außergewöhnlich?« Sabine nahm das Mädchen bei der Hand. »Wir gehen jetzt wieder hinein, Agnes. Es wird schon kühl«, sagte sie dann zu dem Kind.

»Nein, eigentlich nicht«, mußte Manfred zugeben und schalt sich selbst einen Phantasten. Warum nur mußte er ausgerechnet jetzt an Gisela denken? Etwa weil sie auch Müller hieß?

Er hatte damals, als sie sich so abrupt von ihm getrennt hatte, lange versucht, nach ihrem Verbleiben zu forschen, aber er hatte sie nicht mehr gefunden. Und dann war er eigentlich auch ganz froh gewesen, daß er seine Freiheit wieder genießen konnte.

Sicher war Gisela längst verheiratet und Mutter einer Schar von Kindern, für die sie sorgen konnte. Das war ja immer ihr Traum gewesen, an das erinnerte sich Manfred noch ganz genau.

»Ich muß jetzt mit Agnes hineingehen«, riß ihn Sabine aus seinen Erinnerungen.

Wie erwachend kehrten die Gedanken des Mannes in die Gegenwart zurück.

»Sie können gerne mit hineinkommen, wenn Sie möchten. Drinnen ist es wärmer«, sagte sie mit einem schelmischen Lächeln. Nicht einmal vor sich selber wollte Sabine zugeben, daß sie sich ungern von dem Fremden trennen wollte.

»Nein, danke, ich warte lieber hier. Sicher kommt meine Bekannte bald.«

Sabine zuckte etwas hilflos die Schultern. »Sag schön auf Wiedersehen, Agnes.«

Das Mädchen machte einen kleinen Knicks, und Manfred mußte lachen. »Daß es das heute noch gibt«, sagte er überrascht.

»Darf ich dir jetzt auch noch einen Kuß geben?« fragte die Kleine und stellte sich schon auf Zehenspitzen.

Ohne lange zu überlegen bückte sich Manfred und legte sogar für einen Augenblick den Arm um das kleine Mädchen, das ihm einen schmatzenden Kuß auf die Wange drückte.

Seltsamerweise empfand er es sogar als ausgesprochen angenehm, ja, er war gerührt von der Anhänglichkeit des Kindes. Es fiel ihm schwer, Agnes und Sabine zu verlassen, obwohl er sie vor kaum einer Stunde erst kennengelernt hatte.

»Ich... am liebsten würde ich wieder herkommen«, sagte er ein bißchen verlegen, als er Sabine zum Abschied die Hand reichte. Er konnte sich von dem warmen und klugen Blick ihrer grauen Augen kaum losreißen.

»Und warum tun Sie es dann nicht?« Sabine Kroffs Stimme klang ein bißchen atemlos.

»Darf ich denn?« Manfred merkte, wie einfältig seine Worte klangen. Und er merkte noch etwas. Nämlich, daß etwas in ihm vorging, was er noch nie erlebt hatte. Sollte das die Liebe sein?

Wie in Trance ging er die Freitreppe wieder hinunter. Er sah nicht mehr, daß ihm Agnes noch nachwinkte, und er hatte auch Marga Eckstein total vergessen. Er dachte auch nicht an sie, als er bereits in seinem Auto saß und in Richtung Maibach fuhr.

Seine Gedanken beschäftigten sich nur mit zwei Menschen: mit der blutjungen Sabine, die von einem toten Mann ein Kind erwartete, und mit dem kleinen Mädchen, dessen dunkles Lockenköpfchen zärtliche Gefühle in ihm wachrief.

Daß dieses Mädchen mit Nachnamen Müller hieß, konnte ja auch ein Zufall sein. Oder doch nicht?

Manfred umklammerte das Lenkrad so fest, daß seine Knöchel weiß hervortraten. Wenn dieses Mädchen tatsächlich Giselas Tochter war, dann...

Aber daran wagte Manfred Brecht gar nicht zu denken.

*

»Kommst du bald wieder, Mutti?« Erfolglos kämpfte Peter mit den Tränen, als sich Marga Eckstein von ihrem Sohn verabschiedete.

»Natürlich, mein Kleiner. Jetzt bin ich wieder da. Ich werde mir in Maibach eine kleine Wohnung suchen. Vielleicht darfst du dann an den Wochenenden zu mir kommen. Aber das muß ich noch mit Frau von Schoenecker klären.« Marga wußte nicht, wie sie den Jungen trösten sollte.

»Großes Ehrenwort?« Peter konnte noch immer nicht glauben, was ihm seine Mutter da versprach. Zu sehr hatte ihre überstürzte Flucht sein kindliches Vertrauen zerstört.

»Großen Ehrenwort, Peter«, versprach die Frau immer wieder. Ihre Schuldgefühle wuchsen ins Unermeßliche, und am liebsten hätte sie ihren Sohn gleich mitgenommen. Aber das ging natürlich nicht, das wußte sie ganz genau.

»Wenn du noch eine Weile wartest, dann kannst du Vati auch gleich begrüßen«, begann der Junge hoffnungsvoll.

Erschrocken zuckte Marga zusammen. Bloß das nicht, dachte sie entsetzt und griff hastig nach der Türklinke. »Das... Tut mir wirklich leid, Peter, aber jetzt muß ich mich etwas beeilen. Wenn es irgendwie geht, dann komme ich morgen wieder.« Wie von Furien gehetzt stürmte sie die Treppe hinunter.

»Ach, da bin ich aber froh, daß ich Sie noch treffe, Frau Eckstein. Schwester Regine hat mich verständigt, daß Sie da sind, und daraufhin habe ich mich gleich ins Auto gesetzt und bin herübergefahren. Mein Name ist Denise von Schoenecker. Ich bin die Verwalterin dieses Kinderheims, das eigentlich meinem Sohn gehört. Und Sie sind Peters Mutter, nicht wahr«, half Denise der verblüfften Frau weiter.

»Ja, ganz recht. Aber, entschuldigen Sie mich jetzt bitte, ich bin sehr in Eile.« Marga wollte an der Frau vorbeigehen, die ihr auf den ersten Blick bereits sympathisch war, aber Denise reagierte schneller.

»Es geht um Peter, und es ist sehr wichtig«, sagte sie eindringlich. »Ihr Sohn wird Ihnen doch ein paar Minuten wert sein.« Denise hatte nicht die beste Meinung von der Frau, die ihre Familie wegen eines anderen Mannes einfach im Stich gelassen hatte. Trotzdem bemühte sie sich, Marga nicht zu verurteilen, denn sie kannte ja die näheren Begleiterscheinungen nicht.

Peters Mutter aber hatte den Tadel in der Stimme der Verwalterin wohl bemerkt. »Natürlich habe ich Zeit«, murmelte sie verlegen und schaute betreten zu Boden.

»Es dauert wirklich nicht lange. Wir können uns hier in der Halle ein paar Minuten hinsetzen, wenn Ihnen das lieber ist.«

Marga zuckte die Schultern und folgte Denise zu der bequemen Sitzgarnitur.

»Peter hat uns sehr viel Sorgen gemacht. Schwester Regine hat einige Male festgestellt, daß er sich abends in den Schlaf geweint hat, und auch seine Leistungen in der Schule haben ziemlich nachgelassen. Ich glaube, daß das auf den Verlust seiner Mutter zurückzuführen ist. Erst jetzt, seit er mit meinem Sohn Henrik zusammen das Kätzchen gefunden hat, scheint es ihm etwas besser zu gehen.«

Betroffen schaute die Besucherin die Frau an. Das, was ihr Denise da sagte, verstärkte ihre Schuldgefühle nur noch, die sie Peter gegenüber ohnehin hatte.

»Es... es ist alles so schwierig«, machte sie einen schwachen Versuch, sich zu verteidigen. Aber sie wußte, daß es für ihr Handeln keine Entschuldigungen gab.

»Uns hier geht es nur um Peter. Ich dachte, wenn Sie wüßten, wie es um Ihren Sohn steht, dann könnten Sie vielleicht doch etwas mehr Zeit für ihn erübrigen.«

»O ja, Frau von Schoenecker, ich werde mein möglichstes tun. Sicher wissen Sie, warum... ich meine, wie das gekommen ist, daß mein Mann und ich uns auseinandergelebt haben.«

»Woher sollte ich das wissen, Frau Eckstein. Ihr Mann hat kein Wort gesagt, und das finde ich auch richtig. Es ist eine reine Privatangelegenheit.«

»Er hat wirklich nichts gesagt?« echote Marga ungläubig.

»Sie können mir ruhig glauben.« Denise lächelte. »Übrigens scheint er ebenfalls ziemlich unglücklich über den Verlauf seiner Ehe zu sein. Wenn er abends kommt, macht er meist einen niedergeschlagenen Eindruck.«

Innerlich mußte Denise schmunzeln. Hätte ihr Mann Alexander jetzt ihre Worte gehört, dann hätte er bestimmt wieder tadelnd seinen Finger gehoben. Aber er hatte ja recht, sie konnte es wirklich nie lassen zu versuchen, eine zerbrochene Ehe wieder zu kitten. Oft war ihr das sogar schon gelungen, aber manches Mal war eben doch nichts mehr zu retten gewesen. Aber sie hätte niemals Ruhe gehabt, wenn sie es nicht wenigstens versucht hätte.

»Wenn Sie sich da nur nicht getäuscht haben, Frau von Schoenecker. Ich habe meinen Mann selbst gesehen, wie er den Arm um eine andere Frau gelegt hat«, widersprach Marga bitter. In ihre Augen traten Tränen, die sie sofort energisch fortwischte.

»Das kann ich mir nicht vorstellen. Zu mir hat er nämlich vor wenigen Tagen erst gesagt, daß Peter alles sei, was ihm noch geblieben ist und was ihn am Leben hält. Und wenn ein Mann so etwas sagt, dann muß er schon sehr verzweifelt sein, meinen Sie nicht auch?«

»Schon«, gab die Besucherin zögernd zu. »Aber ich habe die beiden doch selbst gesehen, noch dazu in Ihrem Park.«

»Das ist nicht möglich. Ich kann mir nicht vorstellen, wer die Frau gewesen sein sollte.« Denise schüttelte den Kopf.

In diesem Augenblick wurde von draußen die Eingangstür geöffnet. Wie erstarrt schaute Marga auf die Frau und das Mädchen, die dann eintraten.

Sabine Kroff grüßte freundlich, und auch Agnes murmelte einen Gruß. Dann waren die beiden bereits in der Küche verschwunden.

»Das... das war sie«, sagte Marga schwach. Ihre Hände bebten, und ihr Herz klopfte wie rasend. »Diese Frau habe ich in den Armen meines Mannes gesehen.«

»Aber... das kann doch nicht sein.« Nun war Denise ratlos. Damit hatte sie natürlich nicht gerechnet. »Das ist unsere Sabine. Sie ist ein liebes Mädchen und hat ein sehr schweres Schicksal erlitten. Daß sie sich in die Arme Ihres Mannes flüchten sollte, das kann ich mir wirklich nicht vorstellen.«

»Ich habe sie gesehen«, beharrte Marga, nun doch schon ein bißchen unsicher geworden.

»Trotzdem erscheint mir die Deutung der Situation doch ziemlich unglaublich. Sie irren sich bestimmt. Sabine hat vor wenigen Wochen erst ihren Verlobten verloren. Da hat sie jetzt doch noch kein Interesse an einem anderen Mann, zumal sie ihren Jochen so sehr geliebt hat, daß sie sich sogar das Leben nehmen wollte.«

Marga konnte ein erleichtertes Aufatmen nicht unterdrücken. Aber trotzdem waren ihre Zweifel noch nicht ganz beseitigt. »Ich... ich muß darüber erst noch mal nachdenken. Jedenfalls danke ich Ihnen sehr, Frau von Schoenecker, daß Sie mir das gesagt haben. Darum will ich Ihnen jetzt auch etwas anvertrauen.«

Die Frau machte eine kurze, verlegene Pause, aber dann faßte sie sich doch ein Herz. »Es stimmt, daß ich meine Familie wegen eines anderen Mannes verlassen habe. Ich war damals so dumm, so geblendet, und ich hatte wohl so etwas Ähnliches wie Torschlußpanik. Bitte, glauben Sie nicht, daß ich mein Tun entschuldigen möchte. Im Gegenteil. Ich weiß, wie falsch alles war, wie herzlos. Na ja, und meinen Lohn habe ich dann auch bekommen. Alles ging in die Brüche, was ich mir von meinem neuen Leben erhofft hatte. Und, bitte lachen Sie jetzt nicht, ich bin sogar froh, ja, fast glücklich darüber.«

Denise schüttelte kaum merklich den Kopf. »Glücklich?« fragte sie verblüfft.

»Ja, glücklich. Denn ich habe die Liebe zu meinem Mann wiederentdeckt. Darum war ich ja auch so verzweifelt, als ich glauben mußte, daß er sich bereits mit einer anderen Frau getröstet hätte.«

»Ach, jetzt verstehe ich Ihre Aufregung. Aber da kann ich Sie, glaube ich, beruhigen. Vielleicht wäre es ohnehin das Beste, wenn Sie sich mit Ihrem Mann aussprechen würden.«

Abwehrend hob Marga Eckstein die Hände. »Das könnte ich nie. Bitte, verstehen Sie mich richtig, Frau von Schoenecker. Ich möchte zu gern wieder mit meinem Mann zusammen sein, aber ich will ihm nicht nachlaufen und ihn damit womöglich in Verlegenheit bringen. Es wäre furchtbar für mich, wenn er mich dann fortschicken würde.«

»Sie haben recht, Frau Eckstein, das wäre wirklich nicht schön. Trotzdem, finde ich, sollten Sie das Risiko eingehen.«

Marga Eckstein erhob sich hastig. »Nein, nein, das muß ich mir erst noch genau überlegen. So einfach ist das nicht. Und jetzt muß ich gehen, ehe Volker hier auftaucht. Vielen Dank, Frau von Schoenecker, ich bin wirklich froh, daß ich mit Ihnen gesprochen habe. Die Stunden seit gestern nachmittag, als ich Volker mit diesem Mädchen gesehen habe, werde ich mein ganzes Leben lang nicht mehr vergessen«, gestand sie. »Jetzt weiß ich erst, wie meinem Mann zumute gewesen sein muß, als ich ihn wegen Manfred...« Marga brach ab und errötete.

»Also, auf Wiedersehen. Ich nehme an, daß es mir morgen nachmittag reicht.« Beinahe fluchtartig lief Marga Eckstein davon, nachdem die Uhr laut und vernehmlich sechsmal geschlagen hatte. Jetzt konnte es nicht mehr lange dauern, bis Volker kam. Hoffentlich schaffte sie es noch rechtzeitig.

Aber das Schicksal wollte es anders. Gerade als sie die Freitreppe hinunterstieg, fuhr Volkers Wagen die breite Auffahrt herauf.

Entsetzt schaute sich die Frau um und wünschte sich in diesem Augenblick nichts sehnlicher, als daß sich der Boden unter ihren Füßen auftun und sie verschlingen möge. Aber nichts geschah.

Der Mann war mindestens ebenso verblüfft wie sie selbst. Flammende Röte schoß in sein Gesicht, die bald einer fast geisterhaften Blässe wich. Das konnte Marga trotz der einbrechenden Dämmerung noch erkennen.

»Was...« Volker räusperte sich. »Was machst du denn hier? Dich hätte ich niemals hier erwartet.«

Eine fast unheimliche Ruhe überkam Marga. Sie straffte die Schultern und holte tief Luft. »Ich habe unseren Sohn besucht. Hoffentlich hast du nichts dagegen.«

»Natürlich nicht. Noch ist die Besuchserlaubnis vom Gericht nicht geregelt.« Volker bemühte sich, seiner Stimme einen gleichgültigen Klang zu geben. Trotzdem konnte er ein leises Beben nicht unterdrücken.

Um erst einmal wieder sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden, begann er umständlich, das Auto zuzuschließen. Danach fühlte er sich etwas besser.

»Ich hoffe, du hast nichts dagegen, daß ich Peter hier untergebracht habe. Es bestand wirklich keine andere Möglichkeit, denn ich glaube, daß Peter noch zu jung ist, um für sich selbst sorgen zu können, während ich im Büro bin.«

»Ja, du hast recht, Volker«, gab seine Frau langsam zu. Dann machte sie ein paar unsichere Schritte in seine Richtung, damit sie nicht so laut reden mußten. »Ich habe mich eben davon überzeugt, daß man hier wirklich alles für die Kinder tut.«

Ein verlegenes Schweigen entstand, das Volker mit der Frage unterbrach, die ihm am meisten am Herzen lag. »Wie... wie geht es dir? Bist du glücklich geworden, Marga?«

Die Frau zuckte zusammen. Was sollte sie darauf antworten? Suchend schaute sie sich um, aber Manfred Brecht war nirgends zu entdecken. »Es geht so«, antwortete sie ausweichend und reichte ihm ihre Hand. »Aber jetzt muß ich wirklich gehen.«

Beinahe behutsam ergriff er ihre Rechte und hielt sie einen Augenblick länger als nötig fest. »Werden wir uns jetzt öfter sehen, hier in Sophienlust vielleicht?«

»Schon möglich«, entgegnete Marga leise, und ihr Herz machte einen freudigen Sprung. Warum konnte sie ihm nicht zeigen, wie sehr sie sich freute? Jetzt, in diesem Augenblick hätte sie ihren Fehler zugeben müssen, hätte sie ihm sagen müssen, daß sie zu ihrer Familie gehörte und nicht zu Manfred, von dem sie nur eine kurze Zeit geblendet gewesen war.

Aber sie schwieg, und der vertraute Augenblick verlor sich in der herabsinkenden Nacht. Sie spürte die Blicke ihres Mannes auf ihrem Rücken, als sie den Weg durch den dunklen Park hinunterlief. Am liebsten hätte Marga kehrtgemacht und sich schutzsuchend in seine Arme geworfen. Aber ihr Stolz hielt sie zurück. Noch war sie nicht ganz soweit, daß sie freimütig zugeben konnte, daß sie Schiffbruch erlitten hatte.

Die Straße war leer. Manfreds Auto weit und breit nicht zu sehen und von dem Mann selbst gab es auch keine Spur.

Ratlos blieb Marga stehen und schaute sich um. Wie sollte sie jetzt nach Maibach zurückkommen? Der Weg war ziemlich weit bis zu dem Hotel, in dem sie wohnten.

Sollte sie sich auf die Bank setzen und warten? Vielleicht würde Volker sie...

Grenzenlose Liebe und auch Reue erfüllten ihr Herz. Jetzt erst erkannte sie, was sie an ihrem Mann gehabt hatte. Wenn sie doch nur alles ungeschehen machen könnte. Sie wäre dann der glücklichste Mensch unter der Sonne.

Seufzend ließ sie sich auf der Bank nieder, die direkt an der hohen Mauer stand. Dann legte sie ihren Kopf zurück und betrachtete den schwarzen Himmel, an dem kein Stern zu sehen war.

Irgendwann fielen ihr die Augen zu.

*

Lange hatte Manfred Brecht mit sich gerungen, den ganzen Abend und auch den nächsten Tag noch. Daß die kleine Agnes mit Nachnamen ausgerechnet Müller hieß, verfolgte ihn. Aber noch mehr geisterte ein anderes Mädchen, eine junge Frau namens Sabine durch seinen Kopf und ließ keinem anderen Gedanken mehr Platz. Einerseits wollte er die beiden nie wiedersehen, weil sie ihn so aufwühlten, andererseits konnte er sich nicht vorstellen, so einfach sang- und klanglos Maibach zu verlassen, ohne nicht wenigstens noch einmal in Sophienlust gewesen zu sein.

Erst spät in der Nacht war ihm siedendheiß eingefallen, daß er Marga total vergessen hatte. Rasch war er in seinen Bademantel geschlüpft und hatte an ihre Zimmertür geklopft. Sie hatte ihm nicht geantwortet, obwohl er Licht gesehen hatte. Da war er wieder zurück in sein warmes Bett gegangen.

An diesem Morgen kam er erst spät zum Frühstück ins Speisezimmer des Gasthauses. Marga saß bereits am Tisch.

Manfred rechnete damit, daß sie ihm voller Zorn eine Szene machen würde, und er hatte sich innerlich schon so gut es ging gewappnet, aber als er sie dann so frisch und munter am Tisch sitzen sah, war ihm bereits aller Wind aus den Segeln genommen.

»Guten Morgen, Manfred«, grüßte sie ihn strahlend und deutete einladend auf den noch freien Stuhl neben sich.

Verblüfft ließ sich der Mann nieder. »Mir scheint, du hast ausgezeichnet geschlafen, Marga«, stellte er dann überflüssigerweise fest. »Ich... ich wollte mich entschuldigen wegen gestern abend.«

»Schon vergessen«, antwortete sie großzügig. »Eigentlich müßte ich dir sogar dankbar dafür sein, daß du mich einfach sitzengelassen hast.«

Nun verstand der Mann gar nichts mehr.

Manfred Brecht mußte ein derart verdattertes Gesicht gemacht haben, daß Marga auf einmal hellauf zu lachen begann. Sie sah in diesem Moment ungewöhnlich reizend aus, und Manfred verstand, warum er bis vor kurzem geglaubt hatte, sie zu lieben.

»Das mußt du mir schon näher erklären, Marga.« Manfred schüttelte den Kopf. »Das ist mir zu hoch. Am frühen Morgen kannst du von mir noch nicht solche Gedankensprünge erwarten.«

»Ach, Manfred, ich bin ja so glücklich«, flüsterte Marga und legte den Kopf zurück. »Ich könnte die ganze Welt umarmen.« Um ihre Lippen spielte ein zärtliches Lächeln.

»Darf ich den Grund deines überschäumenden Glücks erfahren?«

Die Wirtin kam und fragte ihn nach seinen Wünschen.

»Brot und Spiegelei, bitte. Und dazu einen dicken, schwarzen Kaffee ohne Milch und Zucker. Den habe ich heute dringend nötig.«

»Du Armer«, sagte Marga und legte ihre Hand tröstend auf die seine. »Hast du dir womöglich Sorgen um mich gemacht, nachdem dir meine Abwesenheit aufgefallen ist? Warum bist du eigentlich auf und davon?«

»Darüber habe ich mir selbst die ganze Nacht das Hirn zermartert, wie das geschehen konnte. Ich weiß es wirklich nicht. Ich kann dir nur sagen, daß es mir erst wieder eingefallen ist, als ich hier schon eine ganze Weile in meinem Zimmer war.«

Eine junge, schlanke Bedienung brachte Manfred das Frühstück und wünschte guten Appetit. Dann verschwand sie wieder.

Eine Weile aß Manfred, und obwohl sein Magen knurrte, schmeckte ihm das Frühstück nicht. Lustlos stocherte er an seinem Spiegelei herum.

»Was ist los, Manfred? Mir kannst du es ruhig sagen. Du bist doch gestern nicht grundlos aus Sophienlust verschwunden. Wenn wir wirklich Freunde sind, so wie du es mir angeboten hast, dann kannst du es mir doch anvertrauen. Ich komme ja auch mit jedem Kummer zu dir. Und daß du Kummer hast, das sehe ich dir doch an.«

»Mir scheint, du kennst mich besser als ich mich selbst. Ja, du hast recht. Seit gestern abend spukt mir etwas im Kopf herum, mit dem ich nicht fertig werde. Aber zuerst erzähl du, was dich so glücklich gemacht hat. Ich bin ehrlich gespannt. Das kann doch nicht nur die Begegnung mit deinem Sohn gewesen sein.«

»Doch, Manfred. Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr ich Peter vermißt habe. Es ist schon ein wunderbares Gefühl, wenn man ein Kind hat, das einen liebt und braucht. Ich weiß, daß du mir das nicht so recht nachempfinden kannst, weil du selbst kein Kind hast. Aber glaube mir, dieses Wiedersehen gestern war der schönste Tag in meinem Leben.«

»Ich kann dich schon verstehen, auch wenn du es mir nicht glaubst. Auch ich hatte gestern ein Erlebnis, das meine Vorstellungen von der Welt und von meinem Leben völlig über den Haufen geworfen hat.« Manfred Brecht schob entschlossen den Teller mit dem Brot zur Seite. »Ich kann einfach nichts essen«, stellte er beinahe verbittert fest.

»Dann muß es schon sehr schlimm sein.« Marga lächelte ein bißchen, wurde dann aber gleich wieder ernst. »Ich habe Volker getroffen.«

»Dachte ich mir’s doch. Du bist heute so ausgeglichen und zufrieden. Ganz die glückliche Ehefrau.«

»Werde nicht sarkastisch, das steht dir nicht«, tadelte die Frau und schob ihm den Teller mit dem Brot wieder hin. »Du solltest lieber ordentlich essen. Mir scheint, du wirst deine Kräfte brauchen.«

»Sag mal, kannst du hellsehen?«

Marga Eckstein lachte hell auf, wurde aber gleich wieder ernst. »Nein, das kann ich natürlich nicht, sonst hätte ich Volker und meinen Sohn niemals verlassen. Aber um dein Seelenheil erkennen zu können, bedarf es keiner hellseherischen Fähigkeiten. Du bist verliebt«, sagte sie ihm auf den Kopf zu, und Manfred Brecht zuckte zusammen.

»Wie kommst du darauf?«

»Ich kenne die Anzeichen. Nach fast zwölf Jahren Ehe ist man in dieser Richtung ein voll ausgebildeter Profi. Ich dachte es mir gleich, als du vorhin so miesepetrig den Raum betreten hast.«

»Marga, bitte, sprich nicht so laut.« Ärgerlich biß Manfred in eine Schnitte Brot. »Es müssen doch nicht alle Leute mithören, was wir beide miteinander reden.«

»Sieh dich doch um, Manfred. Wir sind ganz allein hier. Kein Mensch kann uns hören. Mir scheint, du bist völlig verwirrt.«

Manfred Brecht schaute sich um und mußte feststellen, daß Marga recht hatte. Niemand befand sich mehr im Speisesaal.

»Ich glaube, ich habe eine Tochter«, bekannte er unvermittelt.

»Du spinnst«, antwortete Marga ziemlich respektlos auf seine Eröffnung.

»Ich dachte mir, daß du das sagst. Das habe ich zuerst auch geglaubt. Aber dann habe ich es mir genau überlegt und bin zu dem Schluß gekommen, daß meine Vermutung gar nicht so abwegig ist. In dem Kinderheim, wo dein Sohn lebt, ist auch ein kleines Mädchen namens Agnes untergebracht. Sie ist ein bezauberndes Ding, und seltsamerweise habe ich das Mädchen sofort ins Herz geschlossen, obwohl ich sonst kein ausgesprochener Kinderfreund bin, das wirst du bezeugen können.«

Die Frau nickte und nippte an ihrem Schwarztee. »Ja, das stimmt, denn sonst hätte ich Peter wahrscheinlich mitgenommen.«

»Jedenfalls hat dieses Mädchen mich die ganze Nacht beschäftigt, so daß ich kaum zum Schlafen gekommen bin. Es hat blaue Augen und schwarze Locken, und zum Abschied hat die Kleine mir sogar einen Kuß gegeben, obwohl sie mich doch kaum kennt.«

»Und das ist alles? Oh, Manfred, nicht jedes Kind, das dir zum Abschied einen Kuß gibt, ist dein Kind.« Marga holte tief Luft und lehnte sich in ihrem Sessel zurück.

»Nein, natürlich nicht. Aber Agnes ist... sie heißt mit Nachnamen Müller. Und Gisela, du weißt doch, die Frau auf dem Bild, sie heißt auch Müller, oder besser, sie hieß so, denn Agnes’ Mutter ist tot.«

»Noch weißt du nicht genau, ob diese Agnes das Kind der Frau ist, die du gekannt hast«, versuchte die Frau ihm diese fixe Idee auszureden. »Aber wenn du es wirklich glaubst, dann gibt es einen ganz einfachen Weg, um es festzustellen. Du gehst einfach zu Frau von Schoenecker, das ist die Verwalterin des Kinderheims. Sie hat mir übrigens gestern auch sehr geholfen.«

»Ach, darum bist du so glücklich heute morgen?« Manfred füllte seine Tasse schon zum dritten Mal mit heißem, dampfendem Kaffee.

»Ja, deshalb auch. Frau von Schoenecker hat mir nämlich gesagt, daß diese Frau, die wir zusammen mit Volker gesehen haben, gar nicht seine Freundin sein kann. Sie hat nämlich erst vor kurzem ihren Verlobten verloren und noch gar keinen Sinn für eine neue Liebe. So hat es mir Frau von Schoenecker jedenfalls gesagt, und ich glaube ihr.«

»Das... das kannst du auch. Sabine ist nämlich ein ganz bezauberndes Mädchen«, stimmte ihr Manfred zu, und seine Augen schauten verträumt irgendwohin.

»Manfred!« Marga verschränkte die Arme ineinander und schaute den Freund entgeistert an. »Du bist ja verliebt. So kenne ich dich gar nicht.«

Aus weiter Ferne kehrten seine Gedanken zurück. »Ich bin ein Idiot, das wolltest du doch sagen, stimmt’s.«

»Nein, das stimmt nicht«, begehrte Marga auf. »Für was hältst du mich eigentlich? Mich hat es doch selbst erwischt.«

Manfred lachte bitter. »Und in wen hast du dich verschaut? Hoffentlich nicht wieder in mich.«

»Danke.« Marga ärgerte sich zwar, aber in Anbetracht der vergangenen Nacht konnte sie ihm nicht böse sein. »Du bist nicht gerade ein Kavalier. Trotzdem will ich dir sagen, wer dieses Mal mein Opfer ist, nämlich mein eigener Mann.«

Das Glücksgefühl in Margas Herzen war unbeschreiblich, als sie daran dachte, wie schön es gewesen war, in Volkers Armen zu liegen. Er hatte sie spät am Abend, als er Sophienlust verließ, schlafend auf der Bank gefunden. Dann hatte er sie zum Gasthaus gebracht, in dem sie ihr Zimmer hatte, und Marga hatte ihm auf seine vorsichtigen Fragen hin gestanden, daß ihre Beziehung zu Manfred Brecht nur eine Verblendung gewesen war.

Nur eines hatte Volker nicht getan, er hatte sie nicht gefragt, ob sie wieder zu ihm zurückkehren wolle. Das war der einzige Wermutstropfen in einem Meer von Glückseligkeit.

»Jetzt braucht ihr euch sicher nicht mehr scheiden zu lassen, wenn ich deinen entrückten Gesichtsausdruck richtig deute«, stellte Manfred fest, denn er hatte anscheinend ihre heimlichen Gedanken erraten.

»Ich weiß es nicht«, gestand Marga und stellte die Kaffeetassen zusammen, damit sie nur noch von der Wirtin geholt werden mußten. Sie merkte, wie sehr ihr die Hausarbeit in letzter Zeit gefehlt hatte. »Heute nachmittag werden wir uns wieder in Sophienlust treffen. Volker hat sich einen halben Tag frei genommen, und dann werden wir über unsere Zukunft sprechen«, sagte Marga hoffnungsvoll.

Sie sehnte sich nach ihrem Heim und nach einem intakten Familienleben, sie konnte es gar nicht erwarten. Selbst wollte sie den Vorschlag nicht machen, da hätte sie sich zu sehr geschämt. Außerdem hatte sie nicht vor, sich Volker aufzudrängen, denn es war bestimmt nicht einfach für ihn, sie nach allem, was gewesen war, wieder mit offenen Armen aufzunehmen und so zu tun, als wäre nichts geschehen.

»Ich fahre dich, Marga. Dann kann ich gleich mit dieser Frau von... wie sagtest du?«

»Frau von Schoenecker heißt sie, und sie ist eine ganz reizende Person, so verständnisvoll und hilfsbereit. Ich bin sicher, daß es die Kinder bei ihr gut haben.«

So kam es, daß zwei Menschen dem Nachmittag entgegenfieberten, denn er sollte entscheidend sein für ihr weiteres Leben.

Und noch einer schaute mindestens jede Viertelstunde auf die Uhr. Volker Eckstein hatte sich in einer schlaflosen Nacht zu einer Entscheidung durchgerungen. Er wußte, daß es für ihn nicht gerade leicht werden würde, die Vergangenheit zu vergessen. Aber er wußte, daß er es mit Margas Hilfe schaffen konnte.

*

Denise von Schoenecker war erstaunt, als ihr Schwester Regine einen Besucher meldete, der sie dringend wegen eines Kindes, das in Sophienlust lebte, zu sprechen wünschte.

Sofort legte sie den Aktenordner, den sie gerade nach wichtigen Unterlagen hatte durchsuchen wollen, zur Seite und schaute erwartungsvoll zur Tür, als Manfred Brecht etwas verlegen eintrat.

»Guten Tag, Herr Brecht.« Die schöne Frau reichte dem Mann ihre Hand, die dieser sofort ergriff. Auch er konnte sich der Ausstrahlung Denises nicht entziehen und mußte Marga insgeheim recht geben. Die Verwalterin war wirklich eine außergewöhnliche Frau.

»Entschuldigen Sie bitte, daß ich Sie störe, Frau von Schoenecker, aber Marga, ich meine, Frau Eckstein, riet mir, Sie aufzusuchen.«

»Und um was geht es? Bitte, nehmen Sie doch Platz.« Denise deutete auf einen schlanken, fast zierlichen Stuhl, der gegenüber ihres Schreibtisches stand.

Manfred setzte sich und schaute sich interessiert um. Das Biedermeierzimmer war stilecht eingerichtet, stellte er fest. »Bei Ihnen lebt ein kleines Mädchen namens Agnes Müller. Ich habe sie gestern kennengelernt.«

»Ja, unsere Agnes ist ein liebes Kind. Sie hatte es bisher nicht leicht in ihrem jungen Leben. Vor etwa drei Monaten ist ihre Mutter gestorben, und den Vater hat sie nie kennengelernt.«

»Ich... ich weiß, meine Frage wird Ihnen wahrscheinlich seltsam vorkommen, aber bitte, sagen Sie mir, wie die Mutter der Kleinen mit Vornamen hieß. Es ist sehr wichtig für mich.«

Denise merkte, wie aufgeregt der Mann war, und diese Nervosität übertrug sich auch auf sie. Manfred Brecht trug irgendein Geheimnis mit sich herum, und sie war sich sicher, daß sie es in den nächsten Minuten erfahren würde.

Die Frau sollte sich nicht getäuscht haben. Denise holte den dünnen Schnellhefter, der Agnes’ wenige Unterlagen enthielt wie Geburtsurkunde, Taufschein und noch ein paar andere amtliche Papiere. Außerdem lag noch ein Brief dabei, den die Mutter wenige Tage vor ihrem Tod an ihr kleines Töchterchen geschrieben hatte. Er sollte Agnes erst an ihrem achtzehnten Geburtstag ausgehändigt werden.

»Sie hieß Gisela Müller«, gab Denise die gewünschte Auskunft.«

»Also doch«, stieß Manfred Brecht atemlos hervor. »Ich... ich habe es geahnt und Sabine auch. Sie hat mich erst auf die Idee gebracht.«

Nun verstand Denise gar nichts mehr. »Wen meinen Sie? Sabine Kroff?«

»Ja, ja, Sabine. Sie hat gesagt, daß Agnes eine gewisse Ähnlichkeit hat mit mir. Und dann sagte sie auch noch, daß dieses Mädchen Müller heißt. Dann ahnte ich es – nein, ich wußte es.«

Mit bebenden Händen holte der Besucher seine Brieftasche hervor und entnahm ihr das Bild, das damals zu der Trennung von Marga geführt hatte. Er schaute in die ernsten Augen den hübschen Frau, die er einmal sehr geliebt hatte. Erinnerungen stiegen in ihm auf, die er mühsam zurückdrängte. »Hier, sehen Sie, Frau von Schoenecker.« Er reichte Denise das Bild. »War das Agnes’ Mutter?«

Denise neigte sich vor. Sie sah Giselas lächelnden Mund und ihre ernsten Augen, und Trauer überkam sie. So eine junge, blühende Frau und Mutter hatte sterben müssen.

»Ja, das ist sie«, antwortete Denise von Schoenecker leise. »Das war Agnes’ Mutter...«

»Dann... dann bin ich der Vater.« Manfreds Stimme versagte. »Ich... ich habe es geahnt«, stöhnte er nach einer Weile. »Warum nur hat sie mich damals verlassen?«

Damit hatte Denise nicht gerechnet. Dieses Geständnis des ihr fremden Mannes erschreckte sie zutiefst. Konnte sie ihm überhaupt glauben? Bis jetzt hatte er ihr als Beweis ja nur das Bild gezeigt.

Obwohl, eine gewisse Ähnlichkeit mit Agnes konnte sie dem Mann auch nicht absprechen. Unwillkürlich verglich sie seine Gesichtszüge mit denen des Kindes, und sie entdeckte manche Parallelen. Die leicht getönte Haut und die schwarzen, ein bißchen gelockten Haare hatte dieser Manfred Brecht ebenfalls. Außerdem waren seine Augen von dem gleichen unwiderstehlichen Blau, wie die von Agnes auch.

Möglich wäre es schon, aber das konnte auch Zufall sein. Außerdem, was wollte der Mann mit einem Kind anfangen, das er gerade eben erst kennengelernt hatte.

»Warum sind Sie sich da so sicher, daß Sie der Vater der Kleinen sind?« fragte Denise und forschte in dem zerfurchten Gesicht ihres Gegenübers.

Manfred Brecht zuckte zusammen. Er mußte sich erst mit dem Gedanken vertraut machen, Vater einer Tochter zu sein.

»Ich... das spüre ich irgendwie. Und Sabine hat es auch gesagt, daß eine Ähnlichkeit besteht. Sie wird staunen, daß sie recht behalten hat. Vielleicht sollte ich es ihr gleich sagen.« Voller Eifer wollte Manfred Brecht aufspringen. Die Aussicht, daß er gleich mit Sabine sprechen konnte, brachte den Mann in die Wirklichkeit zurück.

»Und dann werde ich Agnes zu mir nehmen. Sie soll es gut bei ihrem Vater haben. Ich werde sie für alles entschädigen, was sie bis jetzt hat entbehren müssen.« Manfred redete sich in Eifer und marschierte dann auf die Tür zu. »Wo finde ich, bitte, Fräulein Sabine?« fragte er dann.

»Nicht so eilig, Herr Brecht.« Auch Denise war aufgestanden. So einfach ließ sie sich nicht überrumpeln. Da konnte doch nicht einfach ein fremder Mann kommen und behaupten, er sei der Vater eines der Kinder von Sophienlust. Das mußte er erst einmal beweisen.

»Ja, Sie haben recht, Frau von Schoenecker. Ich habe mich noch nicht einmal für Ihre Hilfe bedankt, was ich hiermit nachholen möchte. Sie haben mir einen großen Dienst erwiesen, denn, bitte glauben Sie mir das, ich bin unendlich glücklich, daß ich ein Kind habe, noch dazu so ein bezauberndes Mädchen, wie es Agnes ist. Was gäbe ich dafür, könnte ich Gisela dafür danken.«

»Bitte, setzen Sie sich noch einmal, Herr Brecht«, entschied Denise ungerührt. Sie wußte, daß sie jetzt nicht nachgeben durfte. »Noch ist es ja nicht amtlich, daß Sie wirklich Agnes’ Vater sind. Irgendwie sollten Sie es schon beweisen.«

»Und wie soll ich das? Gisela ist tot, und sonst weiß es niemand. Bitte, sagen Sie mir, was ich machen soll, dann tue ich es sofort.« Manfred war De­nises Aufforderung nicht gefolgt, er stand unbeweglich da. Die Ruhe zum Sitzen hatte er nicht.

Denise dachte an Giselas Brief, aber dann verwarf sie den Gedanken gleich wieder. Der Brief gehörte Agnes, er war das letzte Vermächtnis einer toten Mutter an ihr Kind.

»Ich werde mir überlegen, was da zu tun ist, Herr Brecht. Sicher wird sich ein Weg finden. Ich werde Sie anrufen.«

Wie ein begossener Pudel stand Manfred mit hängenden Armen da. Er hatte damit gerechnet, daß er Agnes gleich mitnehmen konnte, und nun machte ihm diese Frau, die er zuerst so nett gefunden hatte, einen Strich durch die Rechnung.

Nach einem kurzen Gruß verließ er das Zimmer.

Es war früher Nachmittag, und der Park voll lärmender Kinder. Auch Sabine und Agnes entdeckte er inmitten der Kinderschar und konnte sich gar nicht von dem reizvollen Anblick trennen.

Plötzlich schien Agnes den Besucher gesehen zu haben. Aufgeregt zupfte sie an Sabines Schürze, und das Mädchen schaute nun ebenfalls zu ihm herüber.

Da hob Manfred die Hand und winkte ihnen zu. Sofort sprang Agnes auf und rannte zu ihm, so schnell es ihre dünnen Beinchen vermochten. Manfred breitete die Arme aus und fing das Kind auf.

»Spielen wir wieder?« fragte Agnes atemlos und lehnte ihr Lockenköpfchen an seine Wange. Ein feiner Duft nach Haarshampoo stieg dem Mann in die Nase, und ein zärtliches Gefühl stieg in ihm auf, daß er das Kind am liebsten nie wieder losgelassen hätte.

»Hallo, Herr Brecht. Sind Sie wieder mit Ihrer Bekannten hier?«

Manfred schüttelte den Kopf und stellte das Mädchen auf den zartgrünen Rasen. »Ja und nein. Ich habe Frau Eckstein mitgebracht. Sie hat sich offensichtlich mit ihrem Mann wieder ausgesöhnt«, begann er zu berichten, obwohl ihn Margas Geschichte überhaupt nicht interessierte. Aber ehe er mit Sabine über seine eigene sprach, mußte er erst einmal die Enttäuschung überwinden.

»Und jetzt gehen Sie wieder nach Hause?« half Sabine ihm weiter und wartete atemlos auf seine Antwort. Was war nur mit ihr geschehen? Was faszinierte sie nur an diesem Mann so sehr, daß sie seine Nähe suchte? So hatte sie bei Jochen empfunden, und nach seinem Tod alle diese Gefühle tief in ihrem Innern vergraben.

Und jetzt kam da einfach ein Fremder und rief Empfindungen in ihr wach, von denen sie geglaubt hatte, daß sie mit Jochen gestorben wären.

Sabine war verwirrt und glücklich zugleich.

»Ja, das werde ich wohl müssen, denn es gibt nichts mehr in Maibach, für das ich noch gebraucht würde.«

»Schade«, gab Sabine ein wenig verlegen zu und legte die Hand auf ihren Leib, dem man die gesegneten Umstände schon ein bißchen ansah. Sie war jetzt am Anfang des fünften Monats. Im November würde sie ihr Kind in den Armen halten.

Manfred bemerkte die schützende Geste der jungen Frau, und tiefes Mitleid überkam ihn. Ganz allein stand Sabine da, sie war bestimmt ebenso einsam wie er selbst. Eine beinahe verrückte Idee überkam ihn. Wenn er Sabine heiraten und ihr und ihrem Baby ein Heim bieten würde, dann konnte ihm auch diese Frau von Schoenecker nicht mehr verwehren, Agnes mitzunehmen, wenigstens als Pflegekind.

»Setzen wir uns dort in den Schatten?« fragte er Sabine, die sofort zustimmend nickte.

»Ja, gern«, gab sie zu. »Kaum ist es ein bißchen warm, suchen die Leute wieder den Schatten.« Sie lachte ein bißchen und nahm Agnes bei der Hand. Dabei bemerkte sie, daß Schwester Regine aufmerksam zu ihnen herüberschaute.

Da hob Sabine schnell die Hand und winkte der Kinderschwester zu, damit sie sah, daß alles in Ordnung war.

»Agnes ist meine Tochter«, begann Manfred unvermittelt, als sie sich gesetzt hatten.

»Das... das ist doch nicht möglich.« Die junge Frau wurde bleich. »Haben Sie es Frau von Schoenecker schon gesagt? Werden Sie Agnes jetzt mitnehmen?« Ihre Lippen bebten.

»Bitte, regen Sie sich nicht auf, Sabine.« Beinahe zärtlich nahm er ihre Hand in die seine. »Zur ersten Frage ja, und zur zweiten hoffentlich. Aber das kommt ganz auf Sie an.«

»Auf mich? Was kann ich denn dabei tun?«

»Frau von Schoenecker glaubt mir nicht, daß ich der leibliche Vater von Agnes bin, obwohl ich ihr das Bild von Gisela gezeigt habe. Sie war die Mutter meiner Tochter und sehr anständig. Es ist also gänzlich unmöglich, daß sie zu jener Zeit, als wir beide eng befreundet waren, noch einen anderen Mann kannte. Denn sie war ein wirklich anständiges Mädchen«, wiederholte er noch einmal.

»Dann werden Sie Agnes also doch mitnehmen.« Das war mehr eine Feststellung als eine Frage.

Manfred ging nicht darauf ein. Bewundernd blieb sein Blick an dem schönen Haar der jungen Frau hängen. Er mußte es einfach anfassen.

Er griff danach und ließ es durch seine Finger gleiten. Es fühlte sich wie Seide an und glänzte auch so. Derselbe Duft stieg ihm in die Nase, den er vorhin schon bei Agnes wahrgenommen hatte.

Plötzlich konnte er sich sogar vorstellen, mit Sabine ein ganzes Leben zu verbringen. Sie entsprach seinen Vorstellungen von seiner zukünftigen Frau.

»Sabine... ich... wollen Sie meine Frau werden?«

Die junge Frau zuckte zusammen. Hatte sie sich getäuscht, oder hatte er sie wirklich gefragt...

»Sie brauchen mir nicht gleich zu antworten, Sabine. Wenn Sie es sich wenigstens überlegen, dann bin ich schon froh.«

»Sagen Sie, Manfred, Sie erlauben sich keinen Scherz mit mir? Ich habe Ihnen doch erzählt, daß ich ein Kind erwarte. Das... das würden Sie dann mitheiraten.«

Manfred Brecht verzog seinen Mund zu einem traurigen Lächeln. »Ich habe auch ein Kind, das Sie dann mitheiraten würden, wenn Sie ja sagen. Es genügt ja, wenn wir uns gut leiden können. Und ich hoffe, daß ich Ihnen nicht unsympathisch bin.«

»Nein, das sind Sie wirklich nicht. Ich mag Sie gern, obwohl ich Sie noch nicht einmal eine Woche kenne. Aber meinen Sie, daß eine Ehe ohne Liebe gutgehen kann?«

»Wenn wir beide den festen Willen dazu haben, dann wird alles gut werden. Sie müssen auch an Ihr Kind denken, das einen Vater braucht. Ich möchte die Stelle gerne einnehmen.«

»Lassen Sie mir Zeit bis morgen, Manfred. Dann kann ich Ihnen eine Antwort geben.« Sabine erhob sich, eine seltsame Erregung hatte von ihr Besitz ergriffen.

Sie wußte, daß sie ja sagen würde, wenn er sie morgen noch einmal fragte.

*

»Marga.« Abwartend blieb Volker an der Tür stehen. Peter sprang von dem Stuhl auf, auf dem er gesessen hatte, und sauste auf seinen Vater zu.

»Vati, da bist du ja. Mensch, das finde ich klasse, jetzt sind wir wieder eine richtige Familie.« Stürmisch umarmte er den Mann, der im Moment nur Augen für die Frau hatte, die verlegen am Schreibtisch stand und die Schulhefte ihres Sohnes anschaute.

Volker Eckstein fuhr mit den Fingern zärtlich durch das wirre Blondhaar seines Sohnes. »Hallo, du Lausejunge. Endlich hast du deine Mami wieder.«

Marga schluckte ein paarmal, weil ihr vor Rührung die Tränen in die Augen stiegen. »Hallo, Volker«, sagte sie leise und schaute erwartungsvoll auf den Mann, der noch immer unbeweglich an der Tür stand. »Willst du nicht hereinkommen? Oder hast du Angst?« versuchte sie einen Scherz, auf den Volker bereitwillig einging.

»Natürlich habe ich Angst vor dir. Nach allem, was gestern geschehen ist, braucht dich das gar nicht zu wundern. Den Kopf hast du mir verdreht, das ist alles.«

Sie lachten alle beide, und Peter schaute glücklich von einem zum anderen. Plötzlich hatte er wieder Hoffnung, daß doch noch alles gut werden konnte. »Wenn ihr euch wieder vertragt, dann kann ich doch mit euch kommen. Ich will nicht mehr hierbleiben, obwohl es mir in dem Heim prima gefällt. Aber wenn wir alle drei zusammen sind, dann ist es noch viel, viel schöner.«

Volker ging nicht auf die Frage seines Sohnes ein, denn er wußte ja nicht, wie Marga darauf reagieren würde. Zwar hatte er gestern nacht den Eindruck gehabt, als sehne sie sich nach ihrer Familie zurück, aber er konnte sich auch getäuscht haben. Vielleicht gefiel ihr das Leben besser, wenn sie ungebunden war und die Freiheit genießen konnte. Es war ja immerhin möglich, daß sie die letzten Wochen auf den Geschmack gekommen war.

Den restlichen Nachmittag beschäftigten sich Marga und Volker hauptsächlich mit Peter, der es dankbar hinnahm, daß die Eltern sogar beide Zeit für ihn hatten. Als es draußen bereits dämmerte und es Zeit für Peter wurde, zum Abendessen hinunterzugehen, verabschiedeten sie sich schweren Herzens von ihrem Sohn, dem es ebenfalls nicht leichtfiel, die Eltern gehen zu lassen. Aber Peter tröstete sich damit, daß Mami und Vati am nächsten Tag wiederkommen wollten.

»Peterle ist richtig aufgeblüht, seit du ihn gestern besucht hast«, stellte Volker fest, als sie miteinander Sophienlust verließen. Einträchtig gingen sie langsam den Kiesweg hinunter durch den großen Park, denn Volker hatte sein Auto dieses Mal ebenfalls außerhalb des Heimgeländes geparkt.

»Bist du mit...« Volker räusperte sich verlegen. Noch immer nagte die Eifersucht an ihm, wenn er an diesen Manfred Brecht dachte, obwohl er dessen Auto nirgends entdecken konnte. »Bist du allein hier?« fing er den Satz noch einmal anders herum an.

»Manfred ist auch hier in Sophienlust. Aber sein Besuch hat nichts mit mir, mit uns zu tun.« Margas Herz schlug vor Freude schneller, als sie spürte, wie seine Hand vorsichtig nach der ihren faßte.

»Soll ich dich wieder zu deinem Gasthaus bringen so wie gestern nacht?«

»Warum zum Gasthaus?« Kokett schaute Marga ihren Mann an. »Möchtest du mir nicht lieber zeigen, wie du jetzt wohnst?«

Volker wurde ein bißchen verlegen. »Ach, da gibt es nicht viel zu sehen. Es ist ein typischer Männerhaushalt, an dem du nicht sehr viel Freude haben wirst. Du weißt doch, daß ich bei der Hausarbeit schon immer zwei linke Hände hatte. Und dementsprechend sieht es in der Wohnung aus.«

»Na, da wird es aber Zeit, daß sich jemand um dich kümmert. Wenn du nichts dagegen hast, dann werde ich diese Aufgabe übernehmen.«

Abwartend blieb Marga neben dem Auto stehen. Sie fieberte seiner Antwort entgegen, und sie fürchtete sie gleichzeitig. Was sollte sie tun, wenn Volker ihr Versöhnungsangebot ablehnte?

Aber der Mann dachte gar nicht daran. Er hatte nur darauf gewartet.

»Marga, ist das dein Ernst?« fragte er leise. Über das Autodach hinweg trafen sich ihre Blicke.

»Ja, Volker, ich meine es wirklich so. Und dieses Mal soll es ewig halten, wenn du mich noch haben willst.« Die Frau fühlte, wie ihre Stimme unsicher wurde. »Darf ich einsteigen?« fragte sie heiser.

»Ja, du darfst. Wenn du willst, dann fahre ich mit dir bis ans Ende der Welt«, antwortete Volker jubelnd. Er rannte fast um das Auto herum und öffnete ihr die Beifahrertür. Das hatte er früher nie getan.

Marga registrierte es mit einem zärtlichen Lächeln. Sie wußte ganz genau, daß er es mit der Zeit auch wieder bleiben lassen würde, und trotzdem freute sie diese kleine Geste der Zuneigung.

Volker hatte nicht übertrieben. Seine Wohnung sah wirklich aus wie eine Junggesellenbude. Überall stand Geschirr herum, das noch abgewaschen werden mußte, und Staub gewischt hatte die letzten Wochen bestimmt auch niemand.

»Es tut mir leid, Marga...« begann Volker leicht verlegen, als er ihren Seufzer hörte. »Du... du brauchst nicht sauberzumachen. Vielleicht lohnt es sich ja auch gar nicht.«

»Warum? Wie meinst du das?«

»Na ja, wenn wir wieder eine Familie sind, dann ist uns diese Wohnung ohnehin zu klein. Vielleicht sollten wir lieber anfangen, alles in Kisten zu verpacken, damit dann nicht alles zusammenkommt, wenn wir wieder umziehen. Ich... hätte da nämlich eine größere Wohnung in Aussicht. Ein Neubau, der nächsten Monat bezugsfertig ist.«

»Ein Haus?« fragte Marga ungläubig.

»Ja, so kann man sagen. Ein Kunde unserer Firma hat sich mit dem Bau etwas übernommen und kann nicht zahlen. Jetzt steht es zum Verkauf aus.«

»Aber, das können wir uns doch gar nicht leisten. Wie sollen wir denn das bezahlen?«

»Das ginge schon, wenn wir beide fest zusammenstehen. Ich könnte von meinem Arbeitgeber eine günstige Finanzierung bekommen, außerdem stehen uns von stattlicher Seite billige Darlehen zu, und... na ja, verdienen tue ich jetzt in meiner neuen Stelle auch nicht schlecht.«

»Und ich habe noch den größten Teil meines Erbes, das könnte ich auch zusteuern.«

Volker stand reglos mitten im Zimmer. Er konnte sein Glück noch gar nicht fassen. »Was wird Peterle dazu sagen? Das Haus hat einen kleinen Garten vorne, und hinten ein etwas größeres Stück Land, auf dem wir ein paar Erdbeeren und Tomaten anpflanzen können. Vorne machen wir dann nur Rasen und einige Büsche hin, damit der Junge auch genügend Platz hat zum Herumtollen. Vielleicht findet er dann auch Freunde.«

Unvermittelt drehte sich Marga um und begann zu schluchzen. Sie preßte die Hände vors Gesicht.

Sofort war Volker bei ihr. »Was... was hast du denn, Liebling? Ich dachte, du wärest ebenso glücklich wie ich?«

»Bin ich ja auch, es ist nur...«

»Nun komm, Schatz, sag es mir doch«, bat der Mann mit sanfter Stimme und zog die Frau auf den einzigen Stuhl in diesem Zimmer.

»Ich schäme mich so«, schluchzte Marga und verbarg ihr Gesicht in ihren Händen. »Warum habe ich mich nur so blenden lassen?«

»Schau, Liebling, das kann jedem passieren. Niemand ist gegen so etwas gewappnet, auch ich nicht.« Flüchtig dachte Volker an Sabine, die ihm eigentlich ganz gut gefallen hatte. Wer weiß, vielleicht wäre da, zumindest von seiner Seite aus, auch etwas geworden, wäre nicht Marga rechtzeitig zu ihm zurückgekehrt.

»Was sagst du?« Mit einem Schlag hörte die Frau zu weinen auf. »Das meinst du doch nicht im Ernst?«

»Aber Marga, natürlich meine ich es so. Irren ist menschlich, und du hast dich eben geirrt.«

»Ich meine das andere, das du gerade gesagt hast, daß es dir auch passieren könnte.« Eifersucht glomm in ihren Augen auf.

»Es könnte mir auch passieren, das habe ich gesagt, ja. Aber das heißt nicht... Ach Marga, jetzt lassen wir das leidige Thema und konzentrieren uns lieber auf das Wesentliche. Zuerst fahren wir zurück nach Sophienlust und holen unseren Peter ab. Er soll doch auch sehen, was für ein Haus wir kaufen wollen. Und dann fangen wir gleich an mit Packen, denn bis zum Monatsende sind es nur noch zwei Wochen. Vielleicht könnten wir auch schon einen Teil hinausbringen.«

»Oh, Volker, ich bin ja so glücklich«, jubelte Marga und fiel ihrem Mann vor Freude um den Hals.

*

Lange hatte Denise von Schoenecker überlegt, was sie tun sollte. Aber dann hatte sie sich doch nicht stark genug gefühlt, diese Entscheidung allein zu fällen. Wieder einmal mußte ihr Mann Alexander von Schoenecker ihr mit Rat und Tat zur Seite stehen.

»Glaubst du, daß Agnes die leibliche Tochter von diesem Manfred Brecht ist?« fragte Denise nach dem Abendessen, als sich ihr jüngster Sohn Henrik ausnahmsweise einmal frühzeitig in sein Zimmer zurückgezogen hatte.

»Das weiß ich nicht, Liebes, und mit glauben oder nicht glauben ist dir in dieser Sache nicht geholfen.«

»Also, ich könnte es mir schon vorstellen«, mischte sich Nick ein, der sechzehnjährige Sohn und eigentliche Besitzer des Kinderheims Sophienlust.

»Ich habe mir den Mann gestern genauer angesehen, als ich ihn im Park getroffen habe, und mir ist sofort die Ähnlichkeit zwischen den beiden aufgefallen.«

»Trotzdem ist das kein Beweis.« Denise verschränkte die Arme und lehnte sich zurück.

Das matte Licht der Lampe in dem rustikalen Eßzimmer tauchte den Raum in behagliche Wohnlichkeit.

»Ich dachte, du hättest einen Beweis«, begann Alexander von Schoenecker nach einer Weile.

»Das weiß ich eben nicht.« Denise runzelte nachdenklich die Stirn.

»Tu das nicht, Liebling, das schadet deiner Schönheit«, tadelte ihr Mann lächelnd. Er merkte wieder einmal, wie sehr er diese Frau auch nach den vielen Ehejahren noch liebte.

»Du hast recht wie immer«, gestand sie und lächelte ebenso zärtlich zurück, »aber das ist ein Problem, das mir ziemlich Kopfzerbrechen bereitet.«

»Ich merke es. Dabei könntest du es doch so einfach haben. Die Mutter dieses Kindes hat doch einen Brief hinterlassen, wenn ich richtig informiert bin.«

»Ja, das stimmt. Aber dieser Brief ist für Agnes bestimmt, wenn sie einmal achtzehn Jahre alt ist.«

»Und so lange willst du ihre Herkunft in ein Geheimnis hüllen und ihr vielleicht den richtigen Vater vorenthalten, nur weil sie noch nicht achtzehn ist? Meinst du wirklich, daß es Agnes lieber ist, wenn sie erst dann, in vielen Jahren, erfährt, daß dieser Manfred Brecht ihr Vater ist? Vielleicht ist der Mann dann schon über alle Berge, und das Mädchen steht dann allein auf der Welt. Ein Elternhaus kannst du ihr nicht ersetzen.«

»Das weiß ich«, gestand Denise kleinlaut.

»Also ich bin dafür, daß wir den Brief aufmachen.« Nick waren Geheimnisse schon von jeher zuwider gewesen.

»Das glaube ich dir aufs Wort, du Schelm«, tadelte Denise scherzhaft. »Aber je länger ich es mir überlege, desto mehr komme ich auch zu dem Schluß, daß wir einfach verpflichtet sind, den Brief zu öffnen. Bestimmt hat Gisela den Namen des Vaters aufgeschrieben, damit ihre Tochter später einmal weiß, woher sie stammt.«

»Auf was wartest du dann noch, Mutti?« fragte Nick eifrig und sprang auf. »Fahren wir gleich nach Sophienlust und sehen nach.«

»Halt, mein Sohn, nicht so eilig«, bremste sie Nicks Eifer. »Nicht wir fahren hinüber sondern ich, und zwar allein«, entschied Denise und erhob sich.

»Du hast doch nichts dagegen, Alexander?«

»Natürlich nicht. Ich finde deine Entscheidung unbedingt richtig, und je eher du dein Vorhaben in die Tat umsetzt, um so besser für alle Beteiligten.«

Denise von Schoenecker war innerlich aufgewühlt, als sie zu dieser späten Stunde Sophienlust betrat. Die Beleuchtung war auf ein Minimum begrenzt und verbreitete nur noch spärliches Licht. Kein Laut war mehr zu hören. Bestimmt lagen die Kinder schon längst in ihren Betten und schliefen fest.

Leise, damit sie niemanden störte, schlich Denise in ihr Arbeitszimmer hinauf. Aber offensichtlich hatte jemand auf sie gewartet, denn sie sah die Umrisse eines Menschen vor dem Fenster stehen.

»Sabine«, flüsterte Denise überrascht. »Wartest du etwa auf mich?«

»Ich bin ja so froh, daß Sie noch einmal gekommen sind, Frau von Schoenecker. Ich... ich weiß nicht, was ich machen soll.«

»Komm herein, da können wir besser reden.«

Denise schaltete die Deckenbeleuchtung ein. »So, und jetzt sagst du mir erst einmal, was du auf dem Herzen hast.«

Sabine setzte sich. »Herr Brecht hat mir einen Heiratsantrag gemacht.« Das Mädchen atmete erleichtert auf. Endlich war es heraus.

»Was hat er?« Denise machte ein verblüfftes Gesicht. »Kennst du ihn etwa schon länger?«

»Natürlich nicht. Erst seit... vier Tagen. Morgen will er sich die Antwort holen. Ich glaube, ich werde ihn heiraten.« Das Mädchen machte ein klägliches Gesicht. »Mein Kind braucht einen Vater, und sein Kind braucht eine Mutter«, sagte sie dann noch.

»Noch ist es ja nicht heraus, daß Agnes wirklich sein Kind ist«, widersprach Denise. »Und warum will er dich heiraten? Hat er von Liebe gesprochen?«

»Nein, das hat er nicht. Nur von gegenseitiger Achtung und Zuneigung. Das genügt mir auch. In meiner Lage darf ich nicht zu anspruchsvoll sein, außerdem liebe ich Jochen noch immer, auch wenn er tot ist.«

»Aber das genügt doch nicht für eine Ehe.«

»Mir reicht es.« Sabine starrte trotzig vor sich hin. »Außerdem ist er mir sympathisch, und er würde sicher gut für uns alle sorgen.«

»Der Mann will dich nur heiraten, damit er Agnes zu sich nehmen kann. Ich habe ihm nämlich gesag, daß er das Kind unter den gegenwärtigen Umständen gar nicht bekommt. Er kann nämlich nicht beweisen, daß er wirklich der leibliche Vater ist. Bestimmt will er auf diese Weise nur versuchen, Agnes als Pflegekind zu bekommen.«

»Auch das stört mich nicht. Ich habe Agnes ebenfalls ins Herz geschlossen und bin auch bereit, unter diesen Umständen... ich meine...«

»Ich weiß, was du meinst, Sabine.« Denise kam sich fast gemein vor, weil sie solche Sachen sagen mußte, die ihr innerlich widerstrebten. Aber sie sah keine andere Möglichkeit, Sabine vor einem großen Fehler zu bewahren. »Und, was glaubst du, wäre, wenn dieser Herr Brecht nun die Gewißheit hätte, daß Agnes seine leibliche Tochter ist? Meinst du, dann wollte er dich auch noch heiraten?«

Sabine schüttelte den Kopf. »Bestimmt nicht«, antwortete sie dann. »Aber er weiß es nicht und wird es auch nie erfahren. Und wenn er ein intaktes Familienleben aufweisen kann, dann darf er Agnes doch zumindest in Pflege nehmen, oder nicht?«

»Sicher, das glaube ich schon. Aber, und jetzt muß ich dir vielleicht sehr weh tun, es gibt einen Beweis, ob er nun der Vater ist oder nicht. Gisela Müller, mit der dein Manfred damals befreundet war, hat einen Brief für ihre Tochter hinterlassen. Und obwohl mir die ganze Geschichte nicht gefällt, sehe ich doch keine andere Möglichkeit, hinter die Wahrheit zu kommen, als diesen Brief zu öffnen. Aus diesem Grunde bin ich auch jetzt noch einmal hierher gekommen.«

»Dann wird sich bestimmt herausstellen, daß er der Vater ist. Ich spüre es.« Sabines Stimme klang müde und hoffnungslos.

»Soll ich es nicht tun?« fragte Denise voller Mitleid. In diesem Augenblick hatte die ältere Frau erkannt, daß sich Sabine in den Fremden verliebt hatte, es sich selbst aber noch gar nicht eingestand.

»Nein, das wäre nicht gut. Agnes hat ein Recht auf ihren Vater, und Manfred muß wissen, ob Agnes sein Kind ist. Auf mich brauchen Sie da keine Rücksicht zu nehmen, auch wenn er mich dann nicht mehr heiraten wird. Vielleicht wäre es wirklich ein Fehler gewesen.«

Denise holte aus der Akte den Brief und öffnete ihn vorsichtig. Zwei eng beschriebene Seiten kamen zum Vorschein, die Denise mit gemischten Gefühlen überflog.

Endlich hatte sie die Stelle gefunden, die sie gesucht hatte. Es stimmte wirklich, Manfred Brecht war der Vater der kleinen Agnes.

»Das Schicksal geht wirklich seltsame Wege«, murmelte die Verwalterin und faltete den Brief wieder zusammen. Dann steckte sie ihn vorsichtig in den Umschlag.

»Ich werde es Herrn Brecht morgen sagen müssen.«

»Bitte, Frau von Schoenecker, darf ich das tun? Das bin ich ihm und auch mir schuldig. Er soll nicht das Gefühl haben, daß er trotzdem noch zu seinem Wort stehen muß.« Nur mit Mühe konnte Sabine die Tränen zurückhalten, die ihr in die Augen stiegen.

*

Der nächste Morgen verkündete einen Märztag wie aus dem Bilderbuch. Schon zeitig in der Früh lachte die Sonne vom blauem Himmel herunter, und die ersten Stare, die ihren Weg aus dem Süden hierher gefunden hatten, zeterten und schimpften in den noch kahlen Ästen der Bäume.

Volker und Marga Eckstein waren schon sehr früh in Sophienlust, um ihren Sohn Peter abzuholen. Auch die kleine, getigerte Katze durfte mit in das neue Haus, denn Henrik hatte sie großzügig seinem Freund überlassen, obwohl ihm auch, wie er etwas wehmütig festgestellt hatte, die Hälfte davon gehörte. Schließlich hatte er sich bei der Rettungsaktion ebenfalls nasse Füße geholt.

Denise von Schoenecker, Schwester Regine und Frau Rennert, die Heimleiterin, hatten sich bereits in Positur gestellt, als Peter die letzte Tasche in den Kofferraum gestellt hatte. Als dann der Wagen langsam die Auffahrt hinabfuhr, winkten sie so lange, bis die Rücklichter nicht mehr zu sehen waren.

»Ich bin wirklich froh, daß es für Peter so gut ausgegangen ist. Ich glaube, er wäre hier nie richtig heimisch geworden.«

»Sie haben sicher recht, Frau Rennert«, stimmte Denise zu. »Der Peter ist ein ziemlich sensibles Kind, das einen bleibenden Schaden davongetragen hätte, wenn sich die Eltern nicht mehr versöhnt hätten.«

Auch Schwester Regine schloß sich dieser Meinung an, und dann gingen die drei Frauen zurück ins Haus.

Wenn nur die Sache mit diesem Herrn Brecht, der ihr sogar sympathisch war, und der armen Sabine schon ausgestanden wäre, schoß es Denise von Schoenecker durch den Kopf.

In diesem Augenblick hörte sie draußen Stimmen. Eilig lief sie die Treppe hinauf in ihr Arbeitszimmer. Etwas überraschte Blicke von Schwester Regine und Frau Rennert folgten ihr.

Denise hatte richtig vermutet. Manfred Brecht war bereits hier, und Sabine hatte ihn abgepaßt. Sie standen sich vor der Freitreppe gegenüber und unterhielten sich.

Arme Sabine! Es war eine schwere Mission, die sie nun erfüllen mußte.

»Kommen Sie, Sabine, gehen wir ein kleines Stück«, schlug Manfred vor und hakte sich bei dem Mädchen unter. Er war sich sicher, daß sie sein Angebot nicht ausschlagen würde.

»Haben Sie es sich überlegt?«

Sabine nickte. »Ja, ich habe lange darüber nachgedacht, Manfred, und ich danke Ihnen auch für Ihr Angebot. Bitte denken Sie nicht, daß ich Sie nicht mag, aber meine Antwort ist nein.«

»Sabine!« Abrupt blieb Manfred stehen. »Das ist doch nicht Ihr letztes Wort.«

»Doch, Manfred. Glauben Sie mir, ich habe mir die Entscheidung nicht leichtgemacht. Aber ich muß Ihnen jetzt etwas gestehen, und danach werden Sie mir recht geben, daß mein Entschluß doch richtig war. Agnes ist Ihre Tochter, und niemand kann Sie daran hindern, das Kind zu sich zu nehmen.«

»Und woher wissen Sie das?« fragte der Mann verblüfft. »Ich habe doch gestern mit Frau von Schoenecker gesprochen, und sie hat mir etwas ganz anderes erzählt.«

»Das ist inzwischen hinfällig. Frau von Schoenecker ist gestern abend noch eingefallen, daß Gisela Müller einen Brief an ihr Kind hinterlassen hat, der erst an Anges’ achtzehnten Geburtstag geöffnet werden sollte. Da aber Sie plötzlich auftauchten und sich als leiblicher Vater ausgaben, blieb Frau von Schoenecker gar nichts anderes übrig, als den Brief zu öffnen. Und da stand es drin.«

Sabine holte tief Luft, aber die Klammer um ihre Brust lockerte sich kein bißchen.

»Das kann doch nicht möglich sein. Jetzt haben wir es schwarz auf weiß, daß Agnes mein Kind ist. Oh, Sabine, Sie können sich nicht vorstellen, was das für mich bedeutet, ein Kind zu haben. Mein Leben war so leer und sinnlos, und eine Frau zum Heiraten habe ich nicht gefunden. Trotzdem habe ich jetzt ein Kind von Gisela. Sie war die einzige, die ich vielleicht geheiratet hätte. Aber sie verschwand ganz spurlos, und ich weiß bis heute nicht warum.«

Sabine war fast am Ende ihrer Kraft. Als sie die Freude in Manfreds Gesicht sah, wußte sie, daß er sie, Sabine, vergessen hatte. Sie war wieder allein.

Trotzdem bemühte sie sich, ihn nicht merken zu lassen, wie es in ihr aussah. Aber es fiel ihr unendlich schwer.

»Wann werden Sie Agnes abholen?« fragte sie leise, und ihre Stimme vibrierte.

Manfred merkte es im Überschwang seiner Gefühle gar nicht. »Ich weiß es noch nicht. Am liebsten würde ich sie jetzt gleich mitnehmen, aber das wäre sicher nicht gut für das Kind. Zuerst sollte sie sich ein bißchen an mich und an den Gedanken, daß ich ihr Vater bin, gewöhnen, sonst könnte es ihr womöglich eher schaden.«

Bei der Vorstellung, daß sie Manfred in den nächsten Tagen womöglich noch öfter sehen mußte, hatte Sabine das Gefühl, als würde ihr der Boden unter den Füßen weggezogen. Sie konnte einfach nicht mehr.

»Ich... ich muß jetzt wieder hineingehen. Bitte, entschuldigen Sie mich, Herr Brecht.« Sie wollte davonlaufen, aber Manfred bekam sie gerade noch an der Hand zu fassen. Er spürte, daß diese eiskalt war.

Am liebsten hätte er jetzt schützend seinen Arm um die bleiche bebende Gestalt gelegt, aber das getraute er sich nicht. Vielleicht wollte Sabine das nicht.

»Und... und was wird jetzt aus uns?« Im ersten Moment wußte er gar nicht, warum er das fragte. Jetzt hatte er Sabine doch gar nicht mehr nötig. Agnes war sein Kind, das stand fest. Er konnte es also mitnehmen, sobald alles gerichtlich geregelt war.

Liebevoll glitt sein Blick über das schöne Mädchen, dessen Augen angstvoll auf ihn gerichtet waren. Sabine kam ihm schöner und begehrenswerter denn je vor, und auch das Kind, das sie von einem anderen Mann erwartete, störte ihn nicht. Im Gegenteil, er konnte es sich wunderbar vorstellen, bald eine große Familie um sich zu haben.

Dieses kleine Wesen, das bald das Licht der Welt erblicken sollte, liebte er fast schon so sehr, als wäre er dessen wirklicher Vater.

»Sabine, möchtest du nicht trotzdem... Ich... ich will dich nicht überrumpeln, aber könntest du dir nicht doch vorstellen, mit mir verheiratet zu sein? Wir wären eine große Familie, und, ich verspreche es dir, ich würde nie etwas von dir verlangen, wenn du es nicht auch willst.« Manfred hatte sie geduzt, ohne daß es ihm aufgefallen war. Aber die Furcht, sie zu verlieren, kaum daß er sie gefunden hatte, ließ ihn alles vergessen.

Sabine schaute ihn ungläubig an. »Aber... du liebst mich doch gar nicht«, sagte sie stockend.

»Wer behauptet denn so etwas?« Sein Mund verzog sich zu einem vorsichtigen Lächeln. Noch war er sich seiner Sache nicht sicher.

»Du hast es doch gestern selbst gesagt.«

»Ja, das war gestern. Da wußte ich es ja auch noch nicht, wie lieb ich dich inzwischen gewonnen habe. Und wenn du mich auch nur ein bißchen magst, dann sehe ich unsere Zukunft in rosaroten Farben.«

Sie waren stehengeblieben und schauten sich an. Sabine konnte noch immer nicht glauben, was sie gehört hatte.

»Ich weiß jetzt, was du dachtest, mein kleiner Engel. Du wolltest es mir leichtmachen, weil du glaubtest, daß ich dich nun nicht mehr haben wollte, nachdem sich herausgestellt hatte, daß Agnes wirklich mein Kind ist. Du hast ein großes Herz, Binchen, und ich glaube, du wirst eine wundervolle Mutter sein für all die Kinder, die wir noch zusammen bekommen werden. Aber das eine sage ich dir, wir werden sie alle gleich lieb haben.«

»Ja, Manfred, das werden wir.« Sabine jubelte. Sie konnte kaum atmen vor lauter Glück.

Dann stürzte sie in seine ausgebreiteten Arme.

»Na, wie haben wir das wieder hingekriegt.« Resolut stemmte Frau Rennert, die unbemerkt Denises Zimmer betreten hatte, die Hände in die Hüften.

Die beiden Frauen standen am Fenster und beobachteten die jungen Menschen, die sich noch immer eng umschlungen hielten.

»Ja, das war wieder einmal eine Meisterleistung von uns«, stimmte Denise zu. Dann lächelten sie sich vielsagend an.

Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman

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