Читать книгу Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman - Marisa Frank - Страница 9

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»Ich muß sofort Herrn Kayser sprechen!«

Birgit Keller stellte das Filigrankästchen, das sie für eine Kundin aus dem Schaufenster genommen hatte, zurück und drehte sich um. Vor ihr stand eine Frau von Mitte Fünfzig. Sie trug ein graues, ziemlich altmodisches Tweedkostüm und halbhohe Pumps. Die Finger ihrer linken Hand umfaßten den Griff einer unförmigen Tasche.

»Herr Kayser hat gerade Geschäftsbesuch«, sagte Birgit freundlich. »Viel­leicht kann ich Ihnen auch helfen. Um was handelt es sich denn bitte?«

»Sie können mir ganz gewiß nicht helfen, trotzdem danke für Ihr Angebot.«

Das Gesicht der Frau drückte eiserne Entschlossenheit aus. Sie ging zum Ladentisch und trommelte aufgeregt mit den Fingern darauf herum.

»Wenn Sie warten wollen, nehmen Sie doch bitte einen Moment Platz.« Birgit wies auf einen hochbeinigen Gobelinstuhl, der neben einem buntbemalten Bauernschrank stand.

»Danke!« Die Frau setzte sich und stellte die große Handtasche neben sich. »So geht’s nicht weiter«, schimpfte sie leise vor sich hin. »Ich bin ja allerhand gewohnt, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich bin doch nicht das Dienstmädchen einer Zehnjährigen. Ich…«

Die Ladenglocke schlug an. Eine junge Frau in einem hellen Sommerkleid kam herein. »Oh, Frau Berger!« rief sie überrascht aus. »Wie schön, daß Sie uns wieder mal besuchen.«

»Besuchen? Nein, Fräulein Mahler, das ist kein Besuch«, entgegnete Elfriede Berger erregt und sprang auf. »Ich kündige! Ich laß mir das nicht länger gefallen. Ich…«

Die zum Büro führende Tür öffnete sich und ein hochgewachsener, sehr schlanker dunkelhaariger Mann trat in Begleitung eines anderen in den Ladenraum. Beim Anblick Frau Bergers huschte ein Schatten über sein Gesicht.

»Herr Kayser, ich…« Frau Berger stürzte auf ihn zu.

»Einen Augenblick, Frau Berger, bitte«, unterbrach sie der Geschäftsmann und begleitete seinen Besucher auf die Straße hinaus. Durch das Schaufenster konnte Birgit Keller sehen, wie er sich von ihm verabschiedete. »So, jetzt habe ich Zeit für Sie«, sagte er, als er in das Geschäft zurückkam. »Bitte!« Er wies in sein Büro.

Elfriede Berger griff nach ihrer Handtasche und marschierte kampfbereit vor ihm her. Jede ihrer Gesten drückte absolute Unnachgiebigkeit aus.

»Wer ist denn diese Frau?« erkundigte sich Birgit, nachdem Herr Kayser die Tür hinter sich geschlossen hatte.

»Seine Haushälterin«, erwiderte Karin Mahler. Sie begann, ein chinesisches Arzneischränkchen abzustauben, das von einem Kunden bestellt und am Nachmittag abgeholt werden sollte. Beinahe zärtlich fuhr sie mit dem Tuch über das zarte Golddekor. »Wahrscheinlich ist sie gekommen, um sich wieder einmal über Adina zu beschweren.«

»Wer ist Adina?« fragte Birgit. Sie hörte diesen Namen zum ersten Mal.

»Stimmt, das können Sie ja noch nicht wissen, Frau Keller«, sagte Karin. »Sie arbeiten ja erst seit heute bei uns.« Sie warf einen kurzen Blick auf die Bürotür. Durch die dicke Polsterung drang kein Laut. »Adina ist die zehnjährige Tochter unseres Chefs«, fuhr sie fort. »Das heißt, sie müßte jetzt bald elf sein. Ein Kind, das es faustdick hinter den Ohren hat. Frau Berger ist die fünfte Haushälterin innerhalb von zwei Jahren. Lange wird sie sicher nicht mehr bleiben. Adina schafft sie alle.«

»Man wird doch vor einer Zehnjährigen nicht davonlaufen«, meinte Birgit leicht zweifelnd. Vorsichtig packte sie eine zarte Chrysanthemenschale aus der Quing-Periode in ein mit Holzwolle gepolstertes Kästchen.

»Sie kennen Adina nicht«, erklärte Karin Mahler. »Dieses Gör ist die Bosheit in Person, auch wenn es ihr Vater nicht wahrhaben will. Ist aber auch kein Wunder, denn wenn er dabei ist, spielt sie den Engel, aber kaum kehrt er ihr den Rücken, zeigt sie ihr wahres Ich.«

»Herr Kayser ist Witwer, nicht wahr?«

Karin Mahler nickte. »Seine Frau starb vor zwei Jahren an einer Blutvergiftung. Es hat ihn schwer getroffen. Es hat lange gedauert, bis er wieder Lachen konnte. Manchmal tut er mir schrecklich leid.«

»Und Adina?« Sie muß doch auch sehr unter dem Verlust ihrer Mutter leiden.«

Ein verächtliches Lächeln umspielte Karins Lippen. »Adina kennt nur sich selbst. Ich war damals mit auf der Beerdigung. Das Mädchen hat nicht einmal geweint.«

»Das muß nicht heißen, daß…«

»Bei Adina schon«, unterbrach Karin ihre Kollegin. »Wenn Sie dieses Mädchen erst einmal kennengelernt haben, ich meine, ohne ihren Vater, denken Sie sicher auch anders darüber. Ich…« Das Klingeln des Telefons hinderte sie daran, weiterzusprechen. »Antiquitätengeschäft Kayser«, meldete sie sich. »Ja, Herr Kayser ist da. Einen Augenblick bitte.«

Drinnen im Büro nahm Wolfgang Kayser den Hörer ab.

»Bitte entschuldigen Sie, Frau Berger«, wandte er sich an seine Haushälterin. »Kayser!… Ja, natürlich, Herr Siebrands, Sie können sich darauf verlassen. Mein Geschäftsfreund in New York hat die Lieferung des Renoir fest zugesagt… Ja, in etwa vier Wochen… Nein, das geht in Ordnung. Auf Wiederhören!« Er legte den Hörer wieder auf.

»Ich kündige, Herr Kayser«, sagte Elfriede Berger. Sie wirkte jetzt entschieden ruhiger als noch vor einigen Minuten. »Ich kann so einfach nicht mehr weitermachen. Ich habe ja schon vor jedem neuen Tag Angst. Und das habe ich wirklich nicht nötig, Herr Kayser. Gute Haushälterinnen sind gesucht.«

»Sie werden doch nicht vor einem Kind davonlaufen«, erwiderte Wolfgang Kayser und gebrauchte damit fast dieselben Worte wie Birgit Keller. »Ich werde mir Adina noch einmal vorknöpfen.«

Die Lippen der älteren Frau umspielte ein beinahe verächtliches Lächeln. »Nichts für ungut, Herr Kayser, aber was hätte das für einen Sinn? Wie oft haben Sie schon mit Ihrer Tochter gesprochen. Sie macht Ihnen ja doch nur wieder etwas vor, und wer dabei auf der Strecke bleibt, das bin ich. Nein, ich habe es endgültig satt.«

»Aber wir brauchen Sie doch, Frau Berger«, versuchte es Wolfgang Kayser auf eine andere Art. »Adina genauso wie ich.«

»Adina braucht mich nicht, das hat sie mir heute wieder einmal rigoros erklärt. Für sie bin ich nur ein Diensttrampel, der zu tun hat, was das gnädige Fräulein befiehlt. Aber nicht mit mir!« Elfriede Berger spielte nervös mit dem Griff ihrer Handtasche. »Ich verlasse noch heute Ihr Haus und ziehe vorläufig zu meiner Schwester. Und ich gehe jede Wette ein, schon nächste Woche habe ich eine neue Stelle. Eine Stelle, wo ich mich nicht von einer Zehnjährigen und ihrer Großmutter herumkommandieren las­sen muß.«

»Was ist mit meiner Schwiegermutter?«

»Nichts weiter, als daß sie bestimmt zehnmal pro Tag anruft und sich erkundigt, ob ich auch alles richtig mache.« Erregt preßte sie die Lippen zusammen.

»Ich werde auch mit meiner Schwiegermutter sprechen.« Wolfgang Kayser faltete die Hände auf der Schreibtischplatte. »Ich weiß, es ist nicht leicht, mit meiner Schwiegermutter auszukommen. Sie macht es einem manchmal sehr schwer, aber sie meint es nur gut. Sie…«

»Sie wird mich nicht mehr tyrannisieren, Herr Kayser.« Elfriede Berger stand entschlossen auf. »Ab heute ist Schluß damit. Sie werden sich wohl oder übel nach einer anderen Haushälterin umsehen müssen. Allerdings bezweifle ich, daß Sie in unserer Gegend noch jemand finden werden, der bereit ist, bei Ihnen zu arbeiten.« Die Haushälterin stützte sich auf die Schreibtischplatte. »Damit will ich keineswegs etwas gegen Sie sagen, Herr Kayser. Sie sind schon in Ordnung. Aber was den Rest Ihrer Familie betrifft… Adina gehörte einmal eine richtige Tracht Prügel, das ist mein Rat an Sie. Wenn Sie jetzt nicht endlich hart durchgreifen, werden Sie später ernten müssen, was Ihre Schwiegermutter sät. Ich bin überzeugt, daß hinter Adinas Verhalten zum größten Teil Ihre Schwiegermutter steckt. Sie…«

»Lassen Sie doch bitte meine Schwie­germutter aus dem Spiel«, fiel ihr der Geschäftsmann ins Wort. »Vergessen Sie nicht, daß Adina ein Kind ist, das ohne Mutterliebe aufwachsen muß.«

»Ich hatte auch keine Mutter, aber wehe ich hätte es einmal gewagt, meiner Großtante gegenüber frech zu werden.«

»Zwischen damals und heute besteht doch ein riesengroßer Unterschied«, sagte Wolfgang Kayser. »Ich bin nicht dafür, Kinder zu dressieren.«

»Ich auch nicht, aber trotzdem sollten Kinder die Achtung gegenüber anderen lernen.« Elfriede Berger richtete sich auf. »Na ja, das Ganze geht mich nichts mehr an, Herr Kayser. Es ist Ihre Tochter, und Sie müssen wissen, was Sie tun.«

»Und wenn ich Ihr Gehalt erhöhe?«

Elfriede Berger schüttelte den Kopf. »Es ist nicht so, daß ich nicht wüßte, in welcher Zwickmühle Sie stecken, Herr Kayser, aber selbst wenn Sie mir einige hundert Euro mehr geben würden, ich könnte nicht bleiben.«

»Dann bleibt mir nichts anderes übrig, als es zu akzeptieren«, meinte Wolfgang Kayser resignierend.

Er brachte Elfriede Berger zur Tür und schlug dann im Telefonbuch die Stellenvermittlung nach.

*

»Du hättest ihre Augen sehen sollen, Großmama, als ich ihr sagte, daß sie sich um ihren eigenen Kram kümmern soll.« Adina setzte sich in einen der zierlichen Sessel, die um einen weißen Tisch auf der Terrasse standen.

»In meiner Jugend hatten die Dienstboten wenigstens noch Anstand«, erwiderte Vilma Stein. Sie schenkte ihrer Enkelin Schokolade ein. »Ich verstehe deinen Vater nicht, mein Kind. Ich hätte diese anmaßende Person längst entlassen.«

»Für Vati ist doch die Hauptsache, daß die Wohnung in Ordnung ist. Alles andere kümmert ihn nicht«, meinte Adina. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie ihre langen weißblonden Haare nach hinten. »Warum kannst du nicht bei uns wohnen, Großmama? Mit dir wäre es viel schöner.« Ihre blauen Augen glänzten. »Kannst du nicht mit Vati sprechen? Für ihn wäre es doch auch besser, wenn du bei uns wärst.«

»Dein Vater hat darüber seine eigene Meinung«, erklärte Vilma Stein. Sie und ihr Schwiegersohn hatten sich noch nie sonderlich verstanden. Es war ihr noch immer unerklärlich, was ihre Tochter an ihm gefunden hatte.

»Weißt du, was ich mir zum Geburtstag wünsche?« fragte Adina.

»Nein, was ist es denn?«

»Ein Pferd!«

Vilma Stein schluckte. »Was willst du denn mit einem Pferd, Kind?« fragte sie und schüttelte leicht den Kopf.

»Cordula hat von ihren Eltern zu Weihnachten eine Stute geschenkt bekommen. Sie kann jetzt immer ausreiten. Zweimal hat sie mich schon reiten lassen.«

»Cordulas Eltern haben einen riesigen Besitz, da können sie sich schon ein Pferd halten, aber weder dein Vater noch ich besitzen viel Grund und Boden.« Vilma Stein reichte ihrer Enkelin ein Nußhörnchen. »Ich glaube, diesen Wunsch können wir dir nicht erfüllen.«

Adina verzog das Gesicht. »Wenn ich es mir aber so wünsche«, sagte sie. »Cordula bekommt immer alles, was sie sich wünscht. Letztes Jahr durfte sie ganz allein nach England fliegen.«

»Soweit ich mich erinnere, hat sie in England Verwandte und hat die Ferien bei ihnen verbracht.«

»Schon, aber ich bin noch nie allein geflogen.«

Vilma Stein mußte lächeln. »Stell dir vor, Adina, es gibt noch viele Kinder, die niemals geflogen sind«, sagte sie. »Man sollte mit seinen Wünschen immer auf dem Boden der Realität bleiben. Es hat keinen Sinn, Luftschlösser zu bauen, die dann wie Kartenhäuser zusammenbrechen.« Sie nippte an ihrem Kaffee. »Was habe ich früher für deine Mutter Luftschlösser gebaut… Und wie ist alles gekommen? Sie hat deinen Vater geheiratet und sich um meine Wünsche überhaupt nicht gekümmert. Jetzt ist sie… Na, lassen wir das, Adina. Hast du Lust, mit mir am Freitag ins Konzert zu gehen?«

»O ja!« Adinas Augen leuchteten. Sie liebte Musik über alles. »Vielleicht kommt Vati auch mit.«

»Wir können ihn ja mal fragen«, meinte die Großmutter, doch es klang alles andere als glücklich.

»Was soll ich anziehen, Großmama?« Adina nagte an ihrer Unterlippe. »Eigentlich habe ich gar kein gescheites Kleid mehr. Das Blaue mit den Spitzen und den Puffärmeln habe ich schon so oft angehabt.«

»Du bekommst ein neues, Liebes«, sagte Vilma Stein nachsichtig. »Wir fahren morgen nach Maibach rein und sehen, was wir für dich kaufen können.«

»Ein langes Kleid, Großmama!«

»Es muß nicht unbedingt lang sein, Adina«, meinte Frau Stein. »Um lange Kleider zu tragen, wirst du später noch oft Gelegenheit haben.« In Gedanken sah sie bereits ihre Enkelin auf großen Gesellschaften tanzen.

»Ich…« Adina sprang auf. »Vati!« rief sie und lief Wolfgang Kayser entgegen. »Du, Vati, Großmama will mit mir am Freitagabend ins Konzert gehen. Kommst du auch mit? Bitte!«

»Mal sehen«, erwiderte Wolfgang. »Frau Berger war vor zwei Stunden bei mir im Geschäft.« Er sah seine Tochter streng an. »Hattest du mir nicht versprochen, immer nett und höflich zu ihr zu sein?«

»Bin ich doch auch, Vati.«

»Mußt du auch noch schwindeln Adina?« fragte der Vater.

Vilma Stein war ebenfalls aufgestanden. »Wie kannst du behaupten, daß Adina schwindelt, Wolfgang?« fragte sie. »Wie wäre es, wenn du dir erst einmal anhören würdest, was deine Tochter zu der ganzen Sache zu sagen hat. Warum bist du so davon überzeugt, daß Frau Berger die Wahrheit sagt? Mir war diese Frau noch nie sympathisch.«

»Keine unserer Haushälterinnen war dir bis jetzt sympathisch, Schwiegermutter«, erwiderte der junge Mann. »Mir gibt es jedenfalls zu denken, daß Frau Berger die fünfte Haushälterin war, die wir innerhalb von zwei Jahren hatten.«

»War?« fragte Adina.

»Ja, sie hat fristlos gekündigt.«

»Dann sind wir sie endlich los«, stellte das Mädchen zufrieden fest. »Ich konnte ihr nie was rechtmachen, immer hatte sie etwas auszusetzen. Heute auch.«

»Gut, dann erzähle mir bitte, was heute vorgefallen ist«, forderte der Vater sie auf.

»Komm, setzen wir uns wieder«, schlug Vilma Stein vor. »Wolfgang, du trinkst doch eine Tasse Kaffee mit?«

»Ja, danke!«

»Adina, geh bitte in die Küche und bitte Marianne, uns noch ein Gedeck und frischen Kaffee zu bringen«, forderte Vilma Stein ihre Enkelin auf.

»Gut, Großmama!« Adina entfernte sich.

»Es gibt viele Eltern, die sich ein Kind wie Adina wünschen würden«, bemerkte Vilma Stein. »Sie ist nicht nur bildhübsch und gescheit, sondern hat auch ein erstklassiges Benehmen. Ich gehe gern mit ihr aus.«

»Frau Berger ist da gänzlich anderer Meinung«, sagte Wolfgang. »Ich habe sie nicht gern gehen lassen, aber mir blieb nichts anderes übrig. Schließlich kann ich sie nicht zwingen, sich von einer Zehnjährigen tyrannisieren zu lassen.«

»Und daß sie deine Tochter schikaniert hat, scheint dir völlig gleichgültig zu sein«, meinte Vilma Stein. »Adina hat mir oft erzählt, wie sie von ihr hin- und hergehetzt worden ist. Adina ist kein kleines Kind mehr. Sie ist auf dem Weg, eine reizende junge Dame zu werden. Man kann sie nicht herumkommandieren wie eine Fünfjährige.«

»Aber eine Frau im Alter Frau Bergers kann man wohl kommandieren?« fragte Wolfgang Kayser schärfer als beabsichtigt.

»Eine Haushälterin!«

»Auch eine Haushälterin ist ein Mensch mit Gefühlen, die man verletzen kann«, meinte Wolfgang. »Kein Wunder, daß Adina Angestellten gegenüber so gleichgültig ist. Du bestärkst sie ja noch darin.«

»Jetzt bin ich wieder schuld.«

»Streitet ihr euch?« fragte Adina. Sie kam auf die Terrasse gelaufen. »Ich möchte nicht, daß ihr euch zankt.« Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen. »Marianne bringt gleich das Gedeck und den Kaffee.«

»Das ist nicht mehr nötig«, erklärte der Antiquitätenhändler. »Ich muß ins Geschäft zurück. Ich bringe dich nur vorher nach Hause. Gegen sieben bin ich dann auch da.«

»Wolfgang, willst du das Kind wirklich mutterseelenallein im Haus lassen?« fragte Vilma Stein. »Ich könnte ja ein paar Tage zu euch kommen. Wenigstens solange, bis du eine neue Haushälterin hast.«

»Großmama könnte doch auch für immer bei uns wohnen«, warf Adina ein. »Das wäre ’ne Wucht, Vati.« Sie lehnte sich an Wolfgang. »Mit Großmama zu Hause, müßtest du dir nie wieder Sorgen um mich machen.«

»Wir können es Großmama nicht zumuten, ihre Ruhe aufzugeben und zu uns zu ziehen«, sagte Wolfgang Kayser rasch. »Sie würde es schon bald bereuen.«

»Das glaube ich kaum, Wolfgang«, wandte die Betroffene ein. »Was könnte es Schöneres für mich geben, als mich um Adina zu kümmern.« Sie strich ihrer Enkelin durch die weißblonden Haare. »Schließlich ist sie alles, was mir von meiner Tochter geblieben ist.«

»Nein, Schwiegermutter, ich kann dieses großherzige Angebot nicht annehmen«, erwiderte Wolfgang. »Adina, verabschiede dich jetzt von deiner Großmutter.«

»Auf Wiedersehen!« Das Mädchen schlang die Arme um Vilmas Hals.

»Auf Wiedersehen, mein Liebling! Und wenn etwas ist, dann ruf mich an oder setz dich gleich in ein Taxi, ja?« Vilma Stein küßte Adina auf die Stirn. »Du weißt, daß du jederzeit zu mir kommen kannst.«

Adina nickte. »Ich hab’ dich schrecklich lieb, Großmama«, sagte sie. »Ich ruf dich heute abend an.«

»Fein.« Die ältere Frau drückte ihre Enkelin noch einmal an sich.

»Auf Wiedersehen!« Wolfgang reichte seiner Schwiegermutter die Hand.

»Auf Wiedersehen«, entgegnete Vilma Stein kühl. Sie sah ihm ins Gesicht. »Ich wünschte, du würdest bei deinen Entscheidungen öfter an das Kind denken, Wolfgang«, sagte sie. »Vergiß nicht, es wurde dir von Ellen anvertraut.«

»Ich bin überzeugt, in Ellens Sinne zu handeln«, antwortete Wolfgang. »Ellen hätte niemals geduldet, aus Adina einen Menschen zu machen, der auf andere herabsieht.«

»Du mußt wissen, was du tust«, meinte Vilma Stein. Sie begleitete Tochter und Vater zum Wagen, der vor der Villa geparkt war. »Vergiß nicht mich anzurufen«, rief sie ihrer Enkelin noch zu, als diese in den Fond stieg.

Adina machte es sich bequem. Schweigend starrte sie aus dem Fenster, während ihr Vater Gas gab und den Wagen auf die Straße zusteuerte. Erst nach einigen Minuten fragte sie: »Warum kannst du Großmama nicht leiden?«

»Großmama und ich haben uns noch nie sehr gut verstanden«, erwiderte der Vater wahrheitsgemäß. »Sie hätte es lieber gesehen, wenn deine Mama einen anderen Mann geheiratet hätte. Aber was immer sie dir vielleicht auch darüber erzählt, Adina, Mama und ich waren sehr glücklich miteinander.«

»Habt ihr euch nie gestritten?«

»Ab und zu schon, aber Streit kommt in den besten Familien vor«, sagte der Mann. »Weißt du noch, wie schön es war, wenn wir zusammen in den Urlaub gefahren sind?«

»Mutti hat mir das Schwimmen beigebracht«, erwiderte Adina. »Abends sind wir spazierengegangen und haben Eis gegessen. Und einmal in Italien sind wir ins Kino gegangen und haben uns die Aristocats angesehen. Wir haben überhaupt nichts verstehen können, trotzdem war es schön.«

»Mama hat dich sehr lieb gehabt.«

»Adina nickte. »Ich sie auch.«

»Sie wäre sehr traurig, wenn sie wüßte, wie ungezogen du zu Frau Berger gewesen bist.« Wolfgang Kayser warf einen Blick in den Rückspiegel, aber statt Reue las er Trotz in Adinas Gesicht.

»Sie war überhaupt nicht nett zu mir«, sagte die Zehnjährige. »Großmama gibt mir auch recht.«

»Großmama hat bezüglich diesen Dingen noch eine sehr altmodische Meinung. Heute ist es zum Glück nicht mehr so, daß Hausangestellte kein Recht haben, ihre Meinung zu sagen. Und wenn Frau Berger dich gebeten hat, deine Sachen wegzuräumen, so war das völlig in Ordnung.«

»Zu was ist sie denn da?«

»Um den Haushalt sauberzuhalten und auf dich zu achten. Als Frau Berger vor drei Monaten zu uns kam, hatte sie den Vorsatz, dir auch etwas die…« Wolfgang unterbrach sich. Er hatte sagen wollen, dir auch etwas die Mutter zu ersetzen, doch das brachte er nicht über die Lippen. »Sie wollte dir auch eine Freundin sein, doch scheinbar hast du ihr nie die Chance gegeben, dir näherzukommen. Schade, daß Frau Berger nicht schon früher mit mir darüber gesprochen hat.«

»So schlimm war ich gar nicht. Wenn sie sagt, ich sei immer ungezogen gewesen, dann lügt sie«, protestierte Adina. »Aber ich brauche mir auch nicht alles gefallen zu lassen. Großmama…«

»Großmama lassen wir mal völlig aus dem Spiel, Adina. Du hast zu tun, was ich dir sage, und nicht was deine Großmutter meint«, fuhr Wolfgang auf. »Wenn du nur noch auf das hörst, was deine Großmutter sagt, dann bin ich gezwungen, dafür zu sorgen, daß du nicht mehr so oft mit ihr zusammen bist. Und das nächste Mal rufst du mich an, bevor du zu ihr fährst, verstanden?«

»Großmama hat gesagt, ich…« Adina biß sich auf die Lippen. »Ist gut, Vati«, murmelte sie und starrte wieder aus dem Fenster. Sie traute es ihrem Vater zu, daß er seine Drohung wahrmachte. Nun gut, Frau Berger hatte gekündigt, und es würde einige Zeit dauern, bis sie eine neue Haushälterin bekamen. Sie nahm sich vor, ihrem Vater zu beweisen, daß sie niemanden brauchte, der auf sie aufpaßte. Wenn ihre Großmutter nicht bei ihnen wohnen würde, so sollte es auch niemand anders tun.

»Wir werden heute abend essen gehen«, sagte Wolfgang Kayser. »Ich hole dich um sieben ab. Zieh etwas Hübsches an.«

»Au ja.« Adina richtete sich auf. »Ich gehe schrecklich gern essen.« Vergnügt summte sie vor sich hin.

*

»Schwester Regine!« Angelina Dommin rannte mit einem Kleid über dem Arm, den Gang entlang bis zur Treppe, die ins Erdgeschoß hinunterführte. »Schwester Regine!« rief sie noch einmal.

»Ja, was ist denn, Pünktchen.« Die Kinderkrankenschwester Regine Nielsen trat aus dem Empfangszimmer, wo sie mit der Heimleiterin, Else Rennert, über eines der Kinder gesprochen hatte.

»Mein Kleid!« Pünktchen stürzte die Treppe hinunter. »Schau, Schwester Regine.« Sie wies auf den langen Riß, der unterhalb des Ärmels begann. »Was mache ich jetzt? Ich wollte es doch heute abend anziehen, wenn wir mit Tante Isi ins Konzert gehen.«

»Ich werde es in Ordnung bringen«, versprach Schwester Regine und nahm Pünktchen das Kleid ab. Sie lächelte ihr zu. »Mach nicht so ein betrübtes Gesicht. Niemand wird später sehen, daß es geflickt ist.«

»Darf ich auch mit Tante Isi ins Konzert?« Heidi rannte quer durch die Halle. Sie hielt ihre Puppe fest an sich gedrückt. »Ich höre Musik so gern.«

»Ja, alle meine Entchen.« Fabian lachte. Er kam aus dem Eisenbahnzimmer.

»Alle meine Entchen schwimmen in dem See«, sang Heidi vor sich hin. »Wird das heute abend auch gesungen?«

Pünktchen schüttelte den Kopf. »Nein, das Konzert heute abend ist für große Leute.«

»Ich bin auch groß, ich komme bald zur Schule«, protestierte Heidi. »Nächstes Jahr bin ich schon sechs.«

»Dann muß ich ja bald Sie zu dir sagen«, scherzte Fabian. Er griff nach Heidis blonden Rattenschwänzchen. »Laß Pünktchen und Irmela ruhig ins Konzert gehen, wir haben es heute abend viel gemütlicher. Hast du vergessen, daß uns die Huber-Mutter Geschichten erzählen will?«

»Von Schneeweißchen und Rosenrot«, sagte Heidi gewichtig. »Ich werde meine Kaninchen holen, und sie werden auch der Huber-Mutter zuhören, wenn sie das Märchen erzählt.«

»Ich glaube, deine Kaninchen schlafen um diese Zeit lieber«, meinte Schwester Regine. »So, und ich kümmere mich jetzt um dein Kleid, Pünktchen.«

»Danke, Schwester Regine.« Das Mädchen eilte wieder in den ersten Stock hinauf, um nach der Kette zu suchen, die sie zum Kleid umbinden wollte.

Angelika Langenbach, die zusammen mit ihrer zehnjährigen Schwester Viktoria ein Zimmer bewohnte, kam aus dem Waschraum. »Ziehst du dich etwa jetzt schon um?« fragte sie. »Du hast doch noch massig Zeit. Irmela ist noch draußen auf der Koppel.«

»Ich habe nur mein Kleid anprobiert«, sagte Pünktchen. Sie verschwand in ihrem Zimmer.

Angelina war an und für sich ein ordentliches Mädchen, doch diesmal wirkte ihr Zimmer wie ein Schlachtfeld. Auf der Suche nach den Sachen, die sie an diesem Abend tragen wollte, hatte sie sämtliche Schubladen geöffnet. Es war ungeheuer wichtig für sie, hübsch auszusehen. Schließlich wollte ja auch Dominik, der sechzehnjährige Sohn Denise von Schoeneckers, ins Konzert mitgehen. Und für ihn war ihr kein Opfer zuviel. Hätte er es verlangt, sie hätte sich sogar die vielen Sommersprossen, die ihr den Namen Pünktchen eingetragen hatten, entfernen lassen. Doch ihm gefielen sie.

Die Dreizehnjährige warf einen Blick in den Spiegel, griff nach der Bürste und versuchte, ihre Haare einmal anders zu kämmen. Aber schon nach wenigen Minuten gab sie den Versuch auf. Es war besser, sie ließ ihre Frisur so, wie sie war.

Vicky steckte den Kopf durch den Türspalt. »Muß Liebe schön sein, wenn man so viel Zeit aufwendet, um sich hübsch zu machen.« Sie kicherte.

Angelika lief rot an. »Mach, daß du wegkommst, oder du lernst mich kennen«, drohte sie.

»Meinst du ja doch nicht ernst.« Viktoria trat ins Zimmer. »Ist es nicht langweilig, ganz still dazusitzen und auf die Musik zu hören? In ein Rockkonzert würde ich auch mal gern gehen, aber nicht in eines, wo nur Beethoven und so’n Zeugs gespielt wird.«

»Mir gefällt klassische Musik, und Irmela gefällt sie auch.« Pünktchen legte die Kette um ihren Hals und verschloß sie im Nacken. Nick hatte sie ihr zum letzten Weihnachtsfest geschenkt.

»Vicky«, klang es von draußen ins Zimmer.

»Nie hat man seine Ruhe«, stöhnte die Zehnjährige.

»Ich würde Angelika an deiner Stelle nicht warten lassen.«

»Das sagst du nur, um mich loszuwerden«, meinte Vicky und ging zur Tür. »Sag, hast du Nick schon mal geküßt?« Ihre Augen blitzten vor Übermut.

»Du spinnst wohl!« Angelina griff erneut nach ihrer Haarbürste, doch diesmal nicht, um ihre Haare damit zu bearbeiten, sondern sie Viktoria nachzuwerfen.

»Bin schon weg«, rief das Mädchen und schloß die Tür von außen.

»Wurde auch Zeit«, erwiderte Pünktchen. Sie war froh, daß außer ihr niemand die Frage der Zehnjährigen gehört hatte. Auf Ideen kam Vicky! Hoffentlich stellte sie Nick nicht einmal dieselbe Frage. Schon der Gedanke daran war ihr peinlich. Sie brauchte gar nicht erst in den Spiegel zu sehen, sie wußte auch so, daß sie wieder rot geworden war.

Zwei Stunden später fuhr der Wagen der von Schoeneckers vor dem Kinderheim vor. Angelina Dommin und Irmela Groote warteten bereits fertig angekleidet in der Halle. Die Freude über den Konzertbesuch strahlte aus ihren Gesichtern.

»Seht ihr aber hübsch aus«, lobte Alexander von Schoenecker, als die beiden Mädchen auf ihn zukamen. »Mit so entzückenden jungen Damen auszugehen, macht wirklich doppelt Spaß.«

»Das sagst du ja nur so, Onkel Alexander«, meinte Pünktchen.

»Und woher willst du das so genau wissen, Fräulein Naseweis?« fragte Denises Mann scherzend. Er blickte auf seine Armbanduhr. »Allerhöchste Zeit, sonst fängt das Konzert ohne uns an.« Er zwinkerte Frau Rennert zu. »Kommt, meine Damen.«

Denise von Schoenecker und ihr Sohn hatten sich draußen mit dem alten Justus unterhalten. Als jetzt Alexander mit den beiden Mädchen die Freitreppe hinunterstieg, gingen sie ihnen entgegen.

»Schwester Regine hat vorhin noch schnell mein Kleid genäht«, erzählte Pünktchen. »Als ich es anziehen wollte, ist es unter dem Arm gerissen.«

»Ein Zeichen dafür, daß du zu dick wirst«, scherzte der sechzehnjährige Nick. Er wandte sich an seine Mutter. »Ich glaube, wir müssen Pünktchen auf Diät setzen.«

»Eine Woche bei Wasser und Brot im Keller«, schlug Irmela vor.

»Wenn ihr beide mir Gesellschaft leistet, meinetwegen«, konterte Angelina lachend.

»Danke, ich verzichte freiwillig«, sagte Nick. Er öffnete den Fond. »Bitteschön!«

»Immer Kavalier«, stellte Irmela fest und stieg ein.

Denise von Schoenecker, eine aparte, sehr jugendlich wirkende Frau, wechselte noch einige Worte mit der Heimleiterin, die den beiden Mädchen und Alexander von Schoenecker nach draußen gefolgt war. Sie sprachen über einen kleinen Jungen, der wegen Blinddarmentzündung ins Krankenhaus nach Maibach gekommen war.

»Wir müssen, Denise«, mahnte Alexander.

»Sie hören, mein Herr und Gebieter ruft.« Denise lachte. »Wir sprechen morgen über Florian, Frau Rennert.«

»Einen schönen Abend«, wünschte die Heimleiterin.

»Viel Spaß.« Heidi war die Treppe hinuntergerannt. Sie schob ihr Händchen in die Hand der Heimleiterin. »Die Huber-Mutter wird uns viele, viele Märchen und Geschichten erzählen.«

»Dann kann man euch ja auch viel Spaß wünschen.« Denise beugte sich zu der Fünfjährigen hinunter und küßte sie auf die Stirn. »Bis morgen, Heidi.«

Endlich saß sie neben ihrem Mann im Wagen. Alexander von Schoenecker wendete das Fahrzeug und fuhr die Auffahrt hinunter. Kurz darauf bog er in die Landstraße nach Bachenau ein.

*

Die Limousine Wolfgang Kaysers parkte auf dem weiten Platz vor der hellerleuchteten Maibacher Stadthalle. Von allen Seiten strömten festlich gekleidete Menschen auf sie zu. An diesem Abend sollten die Stuttgarter Philharmoniker spielen, ein Ereignis, das sich keiner der musikbegeisterten Maibacher entgehen lassen wollte.

»Hoffentlich haben wir einen guten Platz«, meinte Adina Kayser, als sie ausstieg. »Weißt du noch, Großmama, das letzte Mal saßen wir in einer Reihe mit Leuten, die noch nicht mal entsprechend angezogen waren.«

»Um Musik zu genießen, bedarf es keines Smokings und keines Abendkleides«, bemerkte Wolfgang Kayser. Er half seiner Schwiegermutter aus dem Wagen. »Nicht jeder hat das Glück, einen Vater und eine Großmutter zu haben, die nicht auf jeden Cent achten müssen.«

»Ich bin sehr froh, daß das Kind über genügend Geschmack verfügt, passende und unpassende Kleidung zu unterscheiden«, warf Vilma Stein ein.

»Und ich möchte nicht, daß sich Adina zu einem Snob entwickelt«, sagte Wolfgang ärgerlich. Er schloß seinen Wagen ab.

An der Hand ihrer Großmutter ging Adina auf den Eingang der Stadthalle zu. Ihr Vater folgte ihnen. Sie trug ein teures Seidenkleid, das bei jedem Schritt raschelte. Die Zehnjährige fand, daß es das schönste Kleid war, das sie jemals besessen hatte. Am liebsten hätte sie es sogar am nächsten Tag in die Schule angezogen

Wolfgang wäre gern stolz auf seine hübsche Tochter gewesen, aber ihn ärgerte es noch immer, wie seine Schwiegermutter Adina verzog. Einer Zehnjährigen ein derart teures Kleid zu kaufen, auf diese Idee hatte auch nur sie kommen können. Am liebsten hätte er das Kleid genommen und in den Laden zurückgebracht. Was immer auch geschah, er mußte dafür sorgen, daß Adina nicht völlig dem Einfluß ihrer Großmutter unterlag.

In der Eingangshalle half er seiner Schwiegermutter aus dem leichten Abendmantel und gab ihn an der Garderobe ab. Versehentlich stieß er mit einer jungen Frau zusammen, die ihm den Rücken zukehrte. »Verzeihung«, sagte er und blickte auf.

Birgit Keller wandte sich um. »Oh, guten Abend, Herr Kayser!« rief sie überrascht aus.

»Die Welt ist doch klein«, meinte er erfreut. Er hatte Birgit in den letzten Tagen schätzengelernt. Obwohl sie erst so kurz in seinem Geschäft arbeitete, hatte sie sich ihm bereits unentbehrlich gemacht. Und sie war nicht nur eine tüchtige Kraft, sondern verstand auch, sich hübsch zu kleiden. Birgit trug ein dunkelblaues dreiviertellanges Kleid aus Tüllspitze, zu dem eine kleine Jacke gehörte, und silberfarbene hohe Sandaletten. In ihren Ohrläppchen steckten weiße Perlen. Schon auf den ersten Blick erkannte er, daß sie echt waren.

»Ich war schon lange nicht mehr aus«, gestand Birgit. »Und als ich las, daß heute abend die Stuttgarter Philharmoniker spielen, dachte ich, das ist die beste Gelegenheit, wieder mal aus dem Haus zu kommen.«

»Ich würde Sie gern meiner Familie vorstellen.« Wolfgang nahm einfach ihren Arm. Es freute ihn, daß sie wie selbstverständlich mitging.

Vilma Stein und Adina hatten im Eingang des Konzertsaals auf ihn gewartet. Die ältere Frau runzelte die Stirn, als sie ihren Schwiegersohn mit Birgit Keller auf sich zukommen sah. »Weißt du, wer das ist?« flüsterte sie ihrer Enkelin zu.

»Nein.«

»Schwiegermutter, ich möchte dir eine meiner besten Mitarbeiterinnen vorstellen«, sagte Wolfgang Kayser. »Frau Keller arbeitet seit Anfang der Woche bei mir.«

»Also sind Sie eine Angestellte meines Schwiegersohns.« In der Stimme Vilma Steins schwang so viel Herablassung mit, daß Wolfgang an sich halten mußte, ihr nicht vor Birgit die Meinung zu sagen.

»Ja, so ist es«, erklärte Birgit und sah Vilma Stein in die Augen. Minutenlang maßen sich die beiden Frauen mit Blicken, dann wich Wolfgangs Schwiegermutter aus.

»Und das ist meine Tochter Adina.« Wolfgang schob seine Tochter etwas vor.

»Nett, dich auch einmal kennenzulernen, Adina.« Birgit bot dem Mädchen die Hand.

Adina warf ihrer Großmutter einen kurzen Blick zu. Sehr langsam hob sie die Hand. »Guten Abend, Frau Keller.« Sie neigte leicht den Kopf.

»Wir sollten jetzt hineingehen«, meinte Vilma Stein. »Es hat mich gefreut, Sie kennenzulernen, Frau Keller. Komm, Adina!« Sie nahm ihre Enkelin bei der Hand.

»Vielleicht sehen wir uns in der Pause«, sagte Wolfgang, bevor er seiner Schwiegermutter und Adina folgte. »Es würde mich freuen.«

Was für ein netter Mann, dachte Birgit. Ihr Platz befand sich auf der anderen Seite des Saales. Als sie den Gang entlangging, folgte ihr Blick Wolfgang Kayser. Während der letzten Tage hatte sie ihn täglich im Geschäft gesehen und dennoch nur selten an ihn gedacht. Er war nicht mehr als ihr Arbeitgeber für sie gewesen. Doch plötzlich schien sich das verändert zu haben. Sie verstand sich selber nicht mehr. Die wenigen Worte, die sie eben mit ihm gewechselt hatte, hatten eine Saite in ihr zum Klingen gebracht, die jahrelang verstummt gewesen war.

»Schau dir diesen Casanova an«, sagte Alexander von Schoenecker zu seiner Frau. Er wies auf Nick, der zwischen Irmela und Pünktchen in der Reihe vor ihnen saß.

Nick drehte sich etwas um. »Du bist nur neidisch, Vati«, meinte er grinsend.

»Das nehme ich auch an«, erklärte Denise lachend.

»Entschuldigung, aber ich müßte an Ihnen vorbei«, sagte Birgit Keller zu ihr.

»Kein Grund, sich zu entschuldigen.« Denise zog die Beine ein. »Schade, daß die Reihen so schmal sind. Da hat man wieder einmal an falscher Stelle gespart.«

»So ist es ja gewöhnlich«, meinte Birgit. Sie drängte sich an Denise und Alexander von Schoenecker vorbei.

»Hast du ein Programm, Tante Isi?« fragte Pünktchen und wandte sich um.

»Ja.« Denise reichte es ihr.

»Guten Abend!« Ein älterer Herr trat zu ihnen und reichte ihnen die Hand. »Schön, daß Sie auch ab und zu am kulturellen Geschehen Maibachs teilnehmen. Ich fürchte manchmal, das Kinderheim läßt Ihnen zu nichts anderem mehr Zeit.«

»So schlimm ist es nicht, Herr Bürgermeister«, antwortete Denise.

»Na, ich weiß nicht, manchmal…« Eine Klingel ertönte. »Wir sehen uns sicher in der Pause. Bis später.« Der Bürgermeister nickte den von Schoen­eckers zu und kehrte zu seinem Platz zurück.

Da Birgit Keller direkt neben Alexander von Schoenecker saß, hatte sie die Unterhaltung mitbekommen. Es konnte sich nur um das Kinderheim Sophienlust handeln, von dem sie bereits gehört hatte. Eine ihrer Nachbarinnen hatte wahre Wunderdinge von ihm erzählt. Sie fragte sich, ob die drei Kinder vor ihnen Zöglinge des Kinderheims waren, oder die eigenen der von Schoeneckers. Doch dann dachte sie nicht länger darüber nach, denn die Musiker betraten die Bühne. Sie stimmte in den heftigen Beifall ein, der von allen Seiten erklang.

Das Konzert begann mit dem Siegfried-Idyll von Richard Wagner. Wie gebannt lauschte die Verkäuferin der herrlichen Musik. Verzaubert schloß sie die Augen, sog die Musik wie eine Droge in sich ein. Ohne es zu wollen, sah sie plötzlich Wolfgang Kayser vor sich. Erschrocken schlug sie die Augen auf, richtete ihren Blick auf Professor Zanotelli, dem Dirigenten der Stuttgarter Philharmoniker.

Nach dem Klarinetten-Konzert A-Dur von Mozart verließen die Musiker die Bühne. Das Licht ging wieder an. Benommen blieb Birgit noch einen Moment sitzen, bevor sie aufstand. Noch immer klang die Musik in ihr nach.

»Darf ich Sie zu einem Gläschen Wein einladen?«

Birgit Keller zuckte heftig zusammen. Sie war mit ihren Gedanken noch ganz bei der Musik gewesen.

»Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht erschrecken«, sagte Wolfgang Kayser schuldbewußt.

»Ist ja nichts passiert, Herr Kayser.« Birgit sah zu ihm auf. »Wo sind denn Ihre Schwiegermutter und Ihre Tochter?« Sie blickte sich jetzt suchend um.

»Meine Schwiegermutter ist gerade dabei, Adina mit Leuten bekanntzumachen, auf deren Bekanntschaft ich gerne verzichten würde.« Es klang bitter und zornig. »Ich möchte mich auch noch für das Benehmen meiner Tochter entschuldigen. Es ist sonst nicht ihre Art, andere so zu behandeln. Meine Schwiegermutter… Ach, lassen wir das. Wie ist es nun mit einem Glas Wein?«

»Gern.«

»Das freut mich.« Der Antiquitätenhändler nahm wieder ihren Arm. Er führte sie zu der Bar, die in einem der Nebenräume eingerichtet war. Trotz des Andrangs gelang es ihnen, ein ruhiges Plätzchen zu finden.

»Hat Ihnen die Musik auch so gefallen wie mir?« fragte die junge Frau, nachdem sie einander zugeprostet hatten.

»Einfach wunderbar! Adina ist ganz hingerissen. Wenn sie etwas liebt, dann ist es Musik. Seit meine Schwiegermutter sie zum ersten Mal in ein Konzert mitgenommen hat, träumt sie davon, eines Tages selbst aufzutreten. Sie hat seit drei Jahren Geigenstunden. Ihre Lehrerin sagte mir, daß sie gewaltige Fortschritte macht.«

»Sie lieben Ihre Tochter sehr«, stellte Birgit fest, denn jetzt hatte unverhohlener Stolz aus seiner Stimme gesprochen.

»Sie ist mein ein und alles«, erwiderte Wolfgang. »Wenn Adina nicht wäre, ich weiß nicht, ob ich damals… Das Problem ist meine Schwiegermutter. Sie verzieht das Kind völlig. Adina braucht gewöhnlich nur einen Wunsch zu äußern, und schon wird er ihr erfüllt. Ich selbst halte nichts davon, ein Kind derart zu verwöhnen.« Er nippte an seinem Wein. »Sie haben ja das Kleid gesehen, das meine Tochter trägt. Meine Schwiegermutter hat es ihr gekauft. Adina ist natürlich selig darüber, aber muß ein Kind unbedingt ein Kleid besitzen, das mehrere hundert Euro wert ist?«

»Sie könnten Ihrer Schwiegermutter derart teure Geschenke doch einfach untersagen«, schlug Birgit vor.

»Verbieten Sie einmal meiner Schwiegermutter etwas!«

»Ich hatte mit meiner Schwiegermutter Glück«, sagte Birgit Keller. »Wir haben uns fabelhaft verstanden. Leider ist sie vor drei Monaten gestorben, Krebs.«

»Das tut mir leid.« Der Mann berührte kurz ihren Arm. »Waren Sie lange verheiratet, Frau Keller?« Er wußte von ihr nur, daß sie verwitwet war.

»Sieben Jahre. Ich war erst achtzehn, als ich heiratete. Mein Mann und meine Tochter sind vor drei Jahren tödlich verunglückt. Es passierte während eines Spanienurlaubs. Ramona kletterte heimlich in ein Schlauchboot. Es trieb aufs Meer hinaus. Mein Mann versuchte das Boot zurückzuholen. Kurz bevor er es erreichte, kippte es um. Sie ertranken beide.«

»Das ist ja furchtbar«, entgegnete Wolfgang Kayser entsetzt.

»Ich weiß heute nicht mehr, wie ich die Monate danach überstanden habe. Ich lag lange im Krankenhaus, war wochenlang nicht ansprechbar. Und dann kam meine Schwiegermutter. Ihr habe ich es zu verdanken, daß ich damals nicht durchgedreht bin.«

»Sie muß eine wundervolle Frau gewesen sein«, meinte Wolfgang. »Meine Schwiegermutter überhäufte mich nach dem Tod meiner Frau mit Vorwürfen. Ja, die Menschen sind eben verschieden, und man kann sich seine Schwiegermütter nicht aussuchen.«

»Haben Sie inzwischen eine neue Haushälterin gefunden?«

Der Geschäftsmann schüttelte den Kopf. »Wir behelfen uns zur Zeit so. Vormittags kommt sowieso eine Aufwartefrau, die Haus und Garten in Ordnung hält, nachmittags muß Adina wohl oder übel für sich alleine sorgen. Meine Schwiegermutter würde natürlich gern zu uns ziehen, aber das kommt überhaupt nicht in Frage. Dann hätte ich bald auf Adina gar keinen Einfluß mehr.«

»Aber kann eine Zehnjährige für sich allein sorgen?« fragte Birgit skeptisch. »Ich halte eigentlich nicht sehr viel davon, Kinder tagtäglich unbeaufsichtigt zu lassen.«

»Ich auch nicht, aber dieser Zustand wird ja hoffentlich nicht von Dauer sein«, meinte Wolfgang. »Ich habe in der Stuttgarter Zeitung inseriert. So schwer dürfte es doch nicht sein, eine neue Haushälterin zu finden. Fragt sich nur… na ja, bis jetzt hat es noch niemand lange bei uns ausgehalten. Früher wollte ich es nie glauben, wenn man mir sagte, Adina sei der Grund, inzwischen habe ich da meine Zweifel. Frau Berger ist eine Seele von Mensch. Wenn sie mit Adina die Geduld verloren hat, muß es tatsächlich schlimm gewesen sein.«

»Könnten Sie nicht Ihrer Tochter ins Gewissen reden?«

»Leicht gesagt«, meinte Wolfgang. »Ich habe versucht, mit ihr über die Kündigung Frau Bergers zu sprechen. Sie ist der Meinung, sie hätte nichts Böses getan. Ich…« Die Glocke, die die Konzertbesucher in den Saal zurückrief, klang hell durch den Raum. »Jetzt habe ich Sie die ganze Zeit mit meinen Sorgen belästigt.«

»Oh, das macht nichts«, sagte Birgit Keller und reichte ihm ihr leeres Glas.

»Schön, daß Sie das sagen, Frau Keller.« Wolfgang Kayser sah sie liebevoll an. »Es tut gut, wenn man sich ab und zu aussprechen kann. Irgendwie erscheinen einem die Probleme dann nicht mehr so schlimm.«

»Diese Erfahrung habe ich auch gemacht«, erwiderte Birgit.

Sie kehrten in den Saal zurück und trennten sich kurz hinter der Eingangstür. Birgit setzte sich wieder neben Alexander von Schoenecker. Die Musiker betraten bald darauf die Bühne. Beifall setzte ein. Er ging in den Klängen der Schottischen Sinfonie von Mendelssohn-Bartholdy unter. Wieder ließ sich die junge Frau von der Musik verzaubern, dennoch war sie mit ihren Gedanken bei Wolfgang Kayser. Bisher hatte sie ihn nur als ihren Arbeitgeber betrachtet, doch nun begann sie, ihn mit völlig anderen Augen zu sehen.

*

Wolfgang Kayser fuhr seinen Wagen in die Garage. Er wunderte sich, daß im Haus kein Licht brannte. Gewöhnlich schaltete Adina, sobald es ein wenig dämmerte, sämtliche Lichter im Erdgeschoß ein.

Adina!« rief er, als er von der Garage aus das Haus betrat. »Adina, wo steckst du denn?« Wolfgangs Hand tastete nach dem Lichtschalter. Er stellte seine Aktenmappe auf den Garderobenschrank und schaute ins Wohnzimmer. Es war genauso leer wie Küche und Eßzimmer.

»Adina!« rief er die Treppe hinauf, aber wieder folgte keine Antwort. Hastig eilte er die Stufen empor. Er öffnete die Tür zum Zimmer seiner Tochter. Kopfschüttelnd blickte er auf das Durcheinander, das sich seinen Augen bot.

Kurze Zeit später ging er wieder ins Erdgeschoß hinunter und stellte das Teewasser auf. Der Tisch im Eßzimmer war bereits gedeckt. Im Kühlschrank standen Wurst und Käse bereit.

Er war gerade dabei, Brot zu schneiden, als er hörte, wie die Haustür aufgeschlossen wurde. Schnell legte er das Brot auf die Platte zurück und ging zur Küchentür.

»Guten Abend!«

Adina zuckte zusammen. »Bist du schon lange da, Vati?« fragte sie und schlüpfte aus ihrer Jacke.

»Ich bin vor einigen Minuten gekommen. Sag mal, wo warst du eigentlich? Hatten wir nicht abgemacht, daß du abends um sechs Uhr zu Hause bist?« Er wies auf seine Armbanduhr. »Wir haben jetzt fast acht.«

»Ich war noch mit Cordula und ihren Brüdern zusammen«, sagte Adina. »Cordula muß nie so früh zu Hause sein wie ich.«

»Das ist mir völlig gleich, Adina, du bist jedenfalls um sechs Uhr zu Hause.«

»Immer wenn’s gerade am schönsten ist, muß ich gehen. Das ist ungerecht.« Sie schob trotzig die Unterlippe vor.

»Das interessiert mich nicht, Adina«, sagte Wolfgang streng. »Wasch dir jetzt die Hände, wir essen gleich.«

Das Mädchen antwortete nicht, sondern stieg die Treppe zum ersten Stock hinauf. Einige Minuten später war sie wieder zurück. Sie ging in die Küche und entfernte das Tee-Ei aus der Kanne. Geschäftig kontrollierte sie, ob der Tisch auch richtig gedeckt war.

»Wie war es heute in der Schule?« fragte Wolfgang, nachdem sie sich an den Tisch gesetzt hatten.

»So einigermaßen.« Adina bediente sich mit Brot. »Wir haben eine Mathearbeit geschrieben.«

»Hattest du vorher geübt?«

»Mathe ist doch für ein Mädchen nicht so wichtig«, meinte die Zehnjährige abwertend. »Großmama sagt, ein Mädchen braucht nicht unbedingt das Abitur.«

»Was deine Großmutter sagt, ist in diesem Fall nebensächlich, Adina«, erklärte Wolfgang Kayser. »Du wolltest doch aufs Gymnasium, oder irre ich mich da?«

»Weil Cordula auch aufs Gymnasium geht.«

»Und versäumt sie es auch, zu lernen?«

»Ihre Mutter übt mit ihr fast jeden Nachmittag.« Adina spielte mit dem Kaffeelöffel. »Mutti hat früher auch mit mir gelernt. Manchmal hat es sogar richtig Spaß gemacht.«

»Unsere neue Haushälterin wird auch mit dir lernen, Adina«, versprach Wolfgang. »Ich sehe ein, daß es eintönig ist, mutterseelenallein im Zimmer sitzen zu müssen.«

»Wir brauchen keine neue Haushälterin«, meinte Adina. »So ist es viel schöner.«

»Wir stellen wieder jemanden ein«, bestimmte Wolfgang. »Es geht so nicht weiter. Jeden Nachmittag bist du ohne Aufsicht. Und ich kann mir nicht vorstellen, daß es für dich schön ist, jeden Tag allein Mittag zu essen.«

»Ich könnte doch jeden Tag zu Großmama fahren«, schlug Adina jetzt vor.

»Nein, Liebes das wäre nicht gut. Wenn wir Glück haben, ist bald wieder jemand da, der für dich sorgt, während ich im Geschäft bin.«

»Und wenn sie mich auch wieder den ganzen Tag so rumkommandiert, wie es Frau Berger getan hat?« Das Mädchen sah ihren Vater von unten herauf an, ein Blick, der ihn meist zum Nachgeben veranlaßte, doch diesmal hatte sie Pech.

»Frau Berger hat dich nicht herumkommandiert, Adina!« Wolfgang nahm sich eine zweite Scheibe Brot und belegte sie mit Schinken. »Übrigens wäre ich dir sehr verbunden, wenn du heute abend noch dein Zimmer aufräumen könntest. Ich war vorhin oben, mich hat es fast umgehauen.«

»Das kann doch morgen Frau Wächter tun«, meinte Adina. »Sie ist ja dazu da.«

»Irrtum. Frau Wächter ist dazu da, die Wohnung in Ordnung zu halten, aber nicht, um dir deine Sachen nachzuräumen«, erwiderte Wolfgang

»Cordula braucht überhaupt nichts aufzuräumen.«

»Ich möchte den Namen Cordula heute abend nicht noch einmal hören. Was sie tun darf und was nicht, ist mir völlig egal. Du wirst jedenfalls aufräumen!«

»Und der Abwasch?«

»Das erledige ich.«

»Dann räum ich eben auf«, sagte Adina ergeben. »Du, Vati, Grunbachs geben am Samstag eine Party. Holger wird sechzehn. Cordula hat gesagt, daß ich auch kommen kann.«

»Wir wollten doch am Samstagnachmittag nach Stuttgart zur Wilhelma fahren«, erwiderte der Mann. »Außerdem ist eine Party, die für einen Sechzehnjährigen gegeben wird, nichts für dich.« Er stand auf. »So, und nun räum dein Zimmer auf! Ich komme nachher noch zu dir und sage dir gute Nacht.«

»Vati!«

Wolfgang schüttelte den Kopf. »Nein, Adina, du wirst nicht auf diese Party gehen.«

»Alles wird einem verboten«, maulte Adina, sprang auf und stürzte aus dem Eßzimmer. Heftig fiel die Tür hinter ihr ins Schloß.

»Adina!« rief der Vater wütend. Er wollte ihr nachlaufen, überlegte es sich jedoch anders und begann statt dessen, den Tisch abzuräumen. Es hatte eine Zeit gegeben, in der er jede Wette eingegangen wäre, eine besonders liebe und wohlerzogene Tochter zu haben, doch die letzten drei Wochen hatten ihn eines Besseren belehrt. So ging es einfach nicht weiter! Adina brauchte wieder jemanden, der sich ihrer annahm, wenn sie von der Schule nach Hause kam.

*

»Sie haben wohl noch immer keine Haushälterin gefunden, Herr Kayser«, meinte Birgit Keller, als sie ihren Chef über die Stellenanzeigen der Zeitung gebeugt vorfand.

»Es scheint aussichtslos zu sein.« Wolfgang Kayser blickte auf. »Die Damen, die sich bei mir inzwischen vorgestellt haben, kommen aus den verschiedensten Gründen nicht in Frage. Scheinbar hat es sich herumgesprochen, daß es bei mir Haushälterinnen immer nur einige Monate aushalten. Unter den bisherigen Bewerberinnen war noch nicht eine einzige wirklich qualifizierte Person.«

»Haben Sie es eigentlich schon mit auswärtigen Stellenvermittlungen versucht?«

»Genauso zwecklos.« Der Geschäftsmann schlug die Zeitung zu, stand auf und ging an einen Schrank. »Sie haben unsere neueste Errungenschaft noch nicht gesehen.« Vorsichtig hob er einen Karton heraus und stellte ihn auf den Schreibtisch. »Nehmen Sie den Deckel ab!« forderte er seine Angestellte auf.

Birgit griff nach dem Deckel und legte ihn auf den Schreibtisch. Behutsam entfernte sie eine Lage Seidenpapier. »Oh!« rief sie überrascht aus, als ihr Blick auf die herrlich gearbeitete Madonna fiel, die darunter in einem Wattebett lag. Die junge Frau streckte die Hände aus, um sie aufzunehmen, ließ sie aber wieder sinken.

»Nehmen Sie sie ruhig heraus.«

Birgit Keller griff unter die Madonna und umfaßte sie mit beiden Händen. Sie bestand aus reinem Elfenbein und war mit Sockel nur knapp sechsundzwanzig Zentimeter hoch.

»Was meinen Sie, welches Jahrhundert?« fragte Wolfgang.

»Schwer zu sagen.« Die junge Frau betrachtete die Madonna von allen Seiten. »Dreizehntes?«

»Fabelhaft getroffen«, lobte ihr Chef. »Sie wurde zwölfhundertfünfzig gearbeitet. Gestern rief mich ein Herr Zwickel an und schwärmte mir von ihr vor. Obwohl ich annahm, daß es sich um eine Fälschung handeln könnte, fuhr ich zu ihm ins Hotel. Nachdem ich die Madonna gesehen hatte, rief ich sofort meinen Freund Bernd Klemann an. Er arbeitet für verschiedene Museen. Zum Glück hatte er Zeit. Er ist felsenfest davon überzeugt, daß es sich um ein Original handelt.«

Birgit legte die Madonna in die Schachtel zurück. »Haben Sie schon einen Käufer?«

»Nein, so schnell geht das nicht.« Wolfgang Kayser verstaute die Schachtel wieder in dem Schrank und schloß diesen ab. »Ich habe es auch nicht eilig damit. Vorläufig werde ich mich einmal selbst an ihr erfreuen. Lachen Sie nicht, Frau Keller, aber ich habe allen Ernstes schon daran gedacht, sie zu behalten.«

»Warum tun Sie es nicht?«

»Ja, warum eigentlich?« fragte Wolfgang. »Man sollte sich ab und zu selbst eine Freude machen. Das Leben ist oft trübe genug.«

»Sie sollten wirklich nicht so pessimistisch sein«, meinte Birgit seltsam berührt.

»Ich habe allen Grund dazu. Ich gebe es nicht gern zu, aber es sieht fast so aus, als würde mir meine Tochter über den Kopf wachsen. Ich kann mich eben zu wenig um sie kümmern.«

»Haben Sie schon einmal an ein Kinderheim gedacht?«

»Ein Kinderheim?« stieß Wolfgang entsetzt hervor. »Ich kann doch meine Tochter nicht in ein Kinderheim geben!«

»Mir fiel nur gerade Sophienlust ein«, sagte Birgit. »Damals im Konzert saß ich neben den von Schoeneckers. Über Sophienlust habe ich bisher nur Gutes gehört. Vielleicht würde Adina ein Aufenthalt dort guttun.«

»Sophienlust genießt einen guten Ruf«, mußte Wolfgang zugeben. »Aber ehrlich, ich kann mir meine Tochter nicht in einem Kinderheim vorstellen. Heime sind für Kinder ohne Elternhaus. Adina hat aber noch mich.«

»Sagten Sie nicht eben selbst, daß Sie zu wenig Zeit für sie hätten?«

»Stimmt schon… trotzdem, nein, es geht nicht.« Der Mann sah Birgit an. »Allerdings würde sie in einem Kinderheim wahrscheinlich lernen, daß sie nicht der Mittelpunkt der Welt ist, auch wenn ihr das von ihrer Großmutter immer wieder eingeredet wird. Es hätte einiges für sich.«

»Es bräuchte ja nur für einige Wochen zu sein«, schlug Birgit vor. »Sie hätten während dieser Zeit Gelegenheit, in Ruhe nach einer geeigneten Haushälterin zu suchen.«

Draußen schrillte die Ladenklingel. »Entschuldigung!« Birgit Keller eilte in den Laden. Sie war an diesem Vormittag allein, da ihre Kollegin Urlaub hatte.

Wolfgang Kayser setzte sich wieder hinter seinen Schreibtisch. Er trommelte leicht mit den Fingern auf die Platte. Die Lösung, die ihm seine Angestellte vorgeschlagen hatte, wurde ihm immer sympathischer. Adina begann sich nämlich herumzutreiben. Daß auch Cordula und ihre Brüder dabei waren, machte es nicht besser.

Kurz entschlossen nahm er das Telefonbuch und schlug Wildmoos auf. Immerhin konnte er sich ja einmal erkundigen, ob überhaupt die Möglichkeit bestand, Adina in Sophienlust unterzubringen.

*

»Schönes Blümchen, feines Blüm­chen, du kommst jetzt mit mir«, sang die kleine Heidi Holsten vor sich hin, während sie Maiglöckchen pflückte.

»Hast du dieses Lied schon einmal gehört, Vicky?« fragte Fabian Schöller.

»Muß eine Eigenkompo…« Vicky kam ins Stottern.

»Eigenkomposition«, half ihr Angelika. »Man sollte Fremdwörter nur benutzen, wenn man sie auch richtig aussprechen kann.«

»Hast du dich noch nie versprochen?« fragte Vicky angriffslustig. »Nur weil du ein paar Jahre älter bist als ich, brauchst du noch lange nicht so anzugeben.«

»Streitet ihr euch?« fragte Fabian. Er blickte von Vicky auf Angelika. »Es gibt doch gar keinen Grund.« Seine Dogge Anglos kam angerannt und rieb ihren Kopf an seinen Arm. Automatisch begann er sie zu kraulen.

»Ich bin gespannt, wie das neue Mädchen ist«, sagte Angelika.

»Tante Ma sagt, sie sei schrecklich verwöhnt«, rief Henrik. »Seht mal!« Er schlug ein Rad. »Na, war das nichts?« fragte er beifallheischend.

»Kann ich auch«, behauptete Vicky. »Achtung!« Schwungvoll streckte sie die Arme zu Boden, im nächsten Moment lag sie auf dem Gesicht.

»Hast du dir weh getan?« Angelika beugte sich besorgt über ihre Schwester.

»Ich bin ausgerutscht.« Vicky rappelte sich auf. »Ich probier’s gleich noch einmal.«

»Das läßt du lieber bleiben!« Angelika hielt sie fest. »Laß Henrik doch ruhig seine Zirkuskunststückchen vorführen. Mit irgendwas muß er ja angeben.«

»Ich gebe überhaupt nicht an«, protestierte der Jüngste Denise von Schoeneckers. »Wann kommt eigentlich die Neue? Mutti meint, heute nachmittag.«

»Um drei«, präzisierte Angelika.

Heidi rannte mit einem Maiglöck­chenstrauß in der Hand zu ihnen. »Die sind für Adina«, verkündete sie. »Sie freut sich bestimmt über die Blumen.«

»Wo wird sie überhaupt schlafen?« fragte Fabian, während er sich neben Anglos ins Gras gleiten ließ. Er schlang beide Arme um den Hals der Dogge und drückte sie dann zärtlich an sich.

»Bei Pünktchen«, berichtete Heidi. »Ulla hat vorhin schon ihr Bett überzogen. Und ich bringe jetzt die Blumen zu Schwester Regine, damit sie sie in eine Vase tut.« Vergnügt rannte sie davon.

»Wißt ihr, wo Pünktchen ist?« Angelika ließ sich neben Fabian auf den Rasen fallen und begann, Gras auszuzupfen.

»Mit Nick ausgeritten«, sagte Henrik. »Ich wollte mit, aber Nick meinte, sie würden auch ohne mich auskommen.« Er seufzte tief auf. »Und so was muß man sich nun gefallen lassen.«

»Schlimm, wenn man noch so jung ist«, neckte Angelika.

»Was heißt da jung?« protestierte Henrik auch sofort. »Ich bin neun, da ist man schon…«

»Ein junger Mann.« Angelika sprang auf und rannte in Richtung Baumschule davon.

»Warte, wenn ich dich kriege«, brüllte Henrik begeistert und jagte ihr nach.

Fabian Schöller und Viktoria Langenbach kehrten in den vorderen Teil des Parks zurück. Sie kamen gerade zur rechten Zeit, denn eben fuhr die Limousine Wolfgang Kaysers vor.

»Uii, sieht die böse aus.« Vicky stieß Fabian in die Seite. »Schau dir bloß mal das Gesicht an, was sie macht.« Sie wies mit dem Finger auf Adina, die aus dem Fondfenster blickte.

»Gern kommt sie bestimmt nicht«, meinte Fabian. »Komm, starren wir sie nicht so an.« Er nahm Vickys Hand und zog seine Kameradin die Freitreppe hinauf.

Wolfgang Kayser wandte sich zu seiner Tochter um. »Sei nicht so traurig, Liebes«, sagte er. »Ich gehe jede Wette ein, es wird dir hier bestimmt gefallen.«

»Ich werde ausrücken«, stieß Adina erbittert hervor.

»Das wirst du nicht tun«, erwiderte ihr Vater bestimmt. »Du wirst mich nicht enttäuschen, sondern vernünftig sein und dich anpassen.«

»Großmama findet es auch gemein, daß du mich in ein Kinderheim steckst«, sagte Adina.

»Zum Glück hat deine Großmutter nicht darüber zu bestimmen«, meinte Wolfgang. Er dachte nicht gern an die Unterredung mit seiner Schwiegermutter zurück. Sie hatte ihm sogar mit dem Jugendamt gedroht. »Also komm, steigen wir aus. Du magst doch alte Häuser, und dieses ist ein sehr altes Gebäude. Früher war es sogar ein Herrensitz.«

Adina preßte die Lippen zusammen. Bis zuletzt hatte sie ihren Vater angefleht, sie nicht fortzuschicken, es hatte nichts genützt. Er war unerbittlich geblieben. Nun gut, sie beschloß, nie wieder ein liebes Wort zu ihm zu sagen.

Der Antiquitätenhändler öffnete die Wagentür und stieg aus. Er nahm aus dem Kofferraum Adinas Gepäck und stellte es vor die Freitreppe. Als er sich umdrehte, sah er, daß auch seine Tochter ausgestiegen war. Interessiert blickte sie am Haus hinauf.

Ein kleines Mädchen rannte durch das offene Portal. »Tante Ma, die Neue ist schon da«, schrie es in die Halle. »Tante Ma, du mußt kommen!«

»Die Neue!«, Adina, zuckte heftig zusammen. Sie schluckte. Ihre Kehle fühlte sich ganz trocken an. Sie gestand sich ein, daß sie Angst vor den Kindern im Heim hatte. Trotzig schob sie die Unterlippe vor. Um nichts auf der Welt wollte sie sich ihre Angst anmerken lassen.

Else Rennert erschien am Hauseingang. Mit anmutigen Schritten stieg sie die Freitreppe hinunter. »Sie sind sicher Herr Kayser«, sagte sie zu Wolfgang. »Wir haben ja bisher nur miteinander telefoniert. Mein Name ist Rennert.«

»Ich habe Sie sofort an der Stimme erkannt.« Der Mann nahm ihre Hand. »Und das hier ist Adina.« Er legte seinen Arm um die Schultern der Zehnjährigen. Adina machte sich steif, hob aber den Kopf und sah die Heimleiterin an.

Frau Rennert ließ sich von deren zornigem Blick nicht erschüttern. Adina war nicht das erste Kind, das nur widerwillig nach Sophienlust gekommen war. Alle hatten sich stets nach kurzer Zeit eingelebt gehabt. Es gab also keinen Grund, sich Sorgen zu machen. »Guten Tag, Adina«, sagte sie freundlich und nahm ganz einfach die Hand der Zehnjährigen. »Wir haben dich schon erwartet.« Sie ließ Adinas Hand los, drehte sich halb um und schob Heidi nach vorn. »Das ist zur Zeit unsere Jüngste. Heidi lebt schon sehr lange hier.«

»Ich bin ein Dauerkind«, erklärte Heidi stolz. »Mich darf niemand von Sophienlust wegnehmen.«

»Und darüber bist du froh?« fragte Adina entgeistert.

»Und wie«, kam es von Heidi. »Hier ist der schönste Ort der Welt.« Sie wirbelte eines ihrer blonden Rattenschwänzchen um den Finger. »Du, ich hab’ für dich Blumen gepflückt. Sie stehen schon auf deinem Nachttisch. Schwester Regine hat sie in eine Vase getan.«

»Das hättest du dir sparen können.«

»Du könntest wenigstens danke sagen«, meinte Wolfgang Kayser peinlich berührt.

»Zu was?« fragte Adina.

»Heidi, schau mal, was Magda für heute nachmittag gebacken hat«, forderte Frau Rennert die Fünfjährige auf.

»Mach ich.« Heidi lief ins Haus zurück.

»So, und wir gehen jetzt auch hinein. Ich nehme an, du möchtest endlich das Zimmer sehen, in dem du die nächste Zeit schlafen wirst, Adina«, sagte sie zu dem Mädchen.

»Ist mir ganz egal.« Die Zehnjährige dachte nicht daran, höflich zu sein. Sie hoffte, daß man sie gleich wieder fortschicken würde, doch Frau Rennert lächelte nur.

»Adina, bitte nimm dich zusammen«, bat Wolfgang leise. Er nahm einen der Koffer auf und wollte sich nach dem zweiten bücken, aber Frau Rennert hielt ihn zurück.

»Den anderen wird Ulla hineintragen. Ulla ist eines unserer Hausmädchen«, fügte sie erklärend hinzu.

Beeindruckt stand Wolfgang Kayser wenig später in der Eingangshalle des Kinderheims. Er spürte, daß auch Adina beeindruckt war, es nur nicht zeigen wollte und daher ihr Interesse hinter einer gleichgültigen Miene verbarg.

»Frau von Schoenecker hätte Sie gern begrüßt, Herr Kayser«, sagte die Heimleiterin, während sie in den ersten Stock hinaufstiegen, »aber sie mußte dringend nach Maibach und sich um ein Kind kümmern, das scheinbar vernachlässigt wird.«

»Das geht natürlich vor«, erwiderte Wolfgang. »Ich bin überzeugt, ich werde Frau von Schoenecker dann bei meinem Besuch am nächsten Samstag kennenlernen.«

»Ganz sicher sogar.« Else Rennert zeigte in den Gang, der vor ihnen lag und erklärte, daß die abgehenden Türen zu den Zimmern der Kinder und den Waschräumen führten.

»Leben die Kinder hier völlig allein?« fragte Wolfgang.

Frau Rennert verneinte. »Meine eigene Wohnung befindet sich ebenfalls hier, und auch Schwester Regine hat hier oben ein Zimmer. Sie brauchen nicht zu befürchten, daß wir die Kinder sich selbst überlassen.«

»So war das nicht gemeint«, sagte der Mann verlegen.

»Ich verstehe Ihre Sorge sehr wohl«, entgegnete die Heimleiterin. »Da vorne kommt auch schon Schwester Regine.«

Die junge blonde Kinder- und Krankenschwester machte auf Wolfgang Kayser einen ausgezeichneten Eindruck. Adina dagegen übersah geflissentlich die Hand, die sich ihr zum Gruß entgegenstreckte. Sie lehnte sich gegen die Wand und maß die Erwachsenen mit wütenden Blicken.

»Hast du schon dein Zimmer gesehen, Adina?« erkundigte sich Schwester Regine freundlich.

»Nein«, erwiderte Adina. »Außerdem habe ich sowieso keine Lust, hierzubleiben.«

»Es wird dir aber nichts anderes übrigbleiben«, sagte ihr Vater ärgerlich. »Ich hielt an und für sich dieses Thema für beendet, nachdem wir ausführlich darüber gesprochen haben. Du weißt sehr gut, daß es im Augenblick für uns keine andere Lösung gibt.«

»Du willst mich nur abschieben.«

»Adina, bitte!« Wolfgang hatte noch nie seine Tochter geschlagen, doch jetzt hätte er ihr am liebsten eine Ohrfeige gegeben.

»Komm, Adina!« Frau Rennert nahm einfach das Mädchen bei der Hand, öffnete eine Zimmertür und schob es hinein. »So, hier wirst du zusammen mit Angelina wohnen. Angelina gehört zu unseren Dauerkindern. Ihr werdet euch sicher gut vertragen.«

Adina betrachtete geringschätzig den kleinen Raum. Zu Hause hatte sie modernste Möbel und einen Computer. Die Einrichtung hier machte auf sie einen äußerst armseligen Eindruck. Die hübschen Bettdecken und Übergardinen beachtete sie überhaupt nicht, und sie hatte auch keinen Blick für den Maiglöckchenstrauß.

Frau Rennert ahnte, was Adina dachte, ging aber nicht darauf ein. »Schwester Regine wird dich jetzt in den Park führen und mit den anderen Kindern bekannt machen«, schlug sie vor. »In der Zwischenzeit unterhalte ich mich noch ein wenig mit deinem Vati.«

»Ich habe keine Lust, die anderen Kinder kennenzulernen«, sagte Adina ungezogen. »Außerdem spiele ich nicht mit jedem.«

»Niemand wird dich zwingen, mit unseren anderen Kindern zu spielen«, erwiderte Else Rennert. »Es wird dich auch niemand zwingen, auszureiten oder…«

»Reiten?« Ihre Augen wurden groß.

»Unsere Kinder können alle reiten«, sagte die Heimleiterin.

»Meine Freundin Cordula hat ein eigenes Pferd. Ich – hätte auch schrecklich gern eines, aber weder meine Großmama noch mein Vater wollen etwas davon hören.«

»Aber sie werden sicher nichts dagegen haben, wenn du reitest«, sagte Frau Rennert. »Ich werde nachher gleich deinen Vater fragen.«

Adina kämpfte mit sich, dann meinte sie: »Eigentlich sind Sie ganz nett, Frau Rennert.«

»Oh, danke für das Kompliment«, bemerkte die Heimleiterin trocken. »Übrigens kannst du mich ruhig Tante Ma nennen, das tun hier alle Kinder.«

»Mal sehen«, erklärte das Mädchen. So schnell war es nun doch nicht bereit, Freundschaft zu schließen.

Wenig später ließ sie sich willig von Schwester Regine in den Park bringen. Von ihrem Vater hatte sie sich bereits verabschiedet, wenn auch äußerst kohl. Er sollte erst gar nicht auf den Gedanken kommen, daß sie je bereit sein würde, ihm zu verzeihen. Es war gemein von ihm, sie in ein Kinderheim zu geben, wo doch die Großmama so gern für sie gesorgt hätte.

»Adina wird sich schneller eingewöhnen, als Sie jetzt noch glauben, Herr Kayser«, sagte Frau Rennert. Sie saß mit dem Geschäftsmann im Biedermeierzimmer bei einer Tasse Kaffee und Gebäck.

»Ich bin mir nicht mehr sicher, ob mein Entschluß richtig war«, erwiderte Wolfgang zweifelnd. Er rührte in seiner Tasse, obwohl er weder Milch noch Zucker in den Kaffee gegeben hatte. »Es ist nicht leicht, ein Kind ohne Mutter zu erziehen. Wahrscheinlich habe ich in den letzten beiden Jahren bei Adinas Erziehung einen Fehler nach dem anderen gemacht.«

»Wer ist schon fehlerfrei, Herr Kayser?« fragte Frau Rennert. »Kein Mensch ist perfekt, und das verlangt auch keiner. Selbst wir hier machen ab und zu Fehler.«

»Nett, daß Sie mich zu trösten versuchen«, meinte der Mann. »Darf ich Sie jeden Tag anrufen und mich nach Adina erkundigen? Ich habe mir auch schon überlegt, ob es nicht möglich wäre, sie täglich zu sehen. Sie wird ja nach wie vor in Maibach zur Schule gehen. Ich könnte sie mittags abholen und anschließend nach Sophienlust fahren. Es würde mich allerdings eine Menge Zeit kosten.«

»Lassen Sie Ihrer Tochter erst einmal Zeit, sich bei uns einzuleben«, riet die Heimleiterin. »Ich halte nichts davon, das Kind täglich von neuem mit der Trennung zu konfrontieren. Lassen Sie Adina vorläufig jeden Tag mit unserem Schulbus nach Sophienlust zurückfahren. Sie ist ja nicht allein. Alle unsere Kinder, die wie sie das Maibacher Gymnasium besuchen, leisten ihr Gesellschaft.«

»Also gut, dann bleibt es dabei, wie wir es abgemacht haben«, sagte Wolfgang Kayser. »Ich werde Adina erst am Samstag wiedersehen. Irgendwie werde ich die Zeit bis dahin schon überstehen.« Er griff nach seiner Tasse und leerte sie in einem Zug.

*

Birgit Keller lebte in einer ZweiZimmer-Wohnung am Stadtrand Maibachs. Nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Tochter hatte sie das Haus, in dem sie mit ihnen glücklich gewesen war, verkauft und war hierhergezogen. Sie hatte es nicht ertragen können, tagtäglich mit den Erinnerungen an ihr ehemaliges Glück konfrontiert zu werden.

Jetzt stand sie in der Küche und war gerade dabei, sich Spiegeleier zum Abendessen zu braten. Sie war an diesem Tag sehr spät nach Hause gekommen, weil ein Kunde sich nicht hatte entscheiden können, ob er seiner Frau eine Empire-Uhr oder einen Jugendstilschmuck zum Geburtstag schenken sollte.

An der Wohnungstür klingelte es. Wer kann denn das sein? dachte sie etwas ungehalten. Sie war müde und empfand im Moment nur die Sehnsucht, es sich so schnell wie möglich gemütlich zu machen.

Birgit wischte sich die Hände an einem Küchentuch ab und ging zur Tür, um zu öffnen. »Sie!« rief sie überrascht aus. Unwillkürlich strich sie sich die kurzen blonden Haare zurück.

»Verzeihen Sie die Störung? Frau Keller«, bat Wolfgang Kayser. »Darf ich hereinkommen?«

»Bitte!«

Wolfgang betrat die kleine Diele der Wohnung. Im Unterbewußtsein stellte er fest, daß die Tapete und die zierlichen Garderobenmöbel nicht besser gewählt hätten sein können.

Die junge Frau schloß die Tür hinter ihm. »Darf ich Ihnen etwas anbieten?« fragte sie, während sie ihm ins Wohnzimmer vorausging. Rasch rückte sie ein Sofakissen zurecht.

»Bitte, machen Sie sich keine Umstände, Frau Keller«, sagte Wolfgang. »Ich habe eigentlich ein kleines Attentat auf Sie vor. Ich wollte Sie fragen, ob Sie nicht Lust hätten, mit mir essen zu gehen.«

Birgit war so verblüfft, daß sie ihn sprachlos anstarrte.

»Natürlich nur, wenn Sie heute abend nicht schon etwas vorhaben«, fügte der Mann hinzu. »Ich will ehrlich sein, mir fiel zu Hause die Decke auf den Kopf.«

Die Verkäuferin mußte über seine Offenheit lächeln. »Ich habe heute abend nichts vor«, sagte sie. »Und da Sie ehrlich waren, will ich es auch sein. Ich wollte mir nur eine Kleinigkeit zum Abendessen machen und dann die nächsten Stunden bis zum Schlafengehen gemütlich im Sessel verbringen.«

»Dann will ich Sie selbstverständlich auch nicht davon abhalten, Frau Keller«, sagte Wolfgang. Er gab sich Mühe, seiner Enttäuschung Herr zu werden.

»Wir könnten zweierlei Dinge tun«, erwiderte Birgit. »Entweder wir gehen essen, ober aber Sie nehmen mit dem vorlieb, was ich in der Wohnung habe, und wir machen uns hier einen gemütlichen Abend.«

»Ich kann mich doch nicht einfach bei Ihnen einladen«, meinte der Geschäftsmann halbherzig.

»Sie können«, sagte Birgit resolut. »Sie nehmen jetzt Platz, und ich gehe in die Küche und bereite eine zweite Portion Spiegeleier.«

»Lassen Sie mich wenigstens helfen«, meinte Wolfgang.

»Später, beim Abwasch«, entgegnete Birgit lachend. Ihre Müdigkeit war verflogen. Sie freute sich über den Besuch ihres Chefs. Auf dem Weg zur Küche überlegte sie bereits, was sie ihm außer den Spiegeleiern noch anbieten konnte.

Bald darauf kehrte sie mit einem gefüllten Tablett ins Wohnzimmer zurück. Sie bemerkte, daß Wolfgang vor der Vitrine stand, über der ein Foto ihrer Tochter und ihres Mannes hing. Er schien es nachdenklich zu betrachten.

»Ich hätte Sie nicht daran erinnern dürfen«, meinte er schuldbewußt. Er trat zum Tisch. »Wenn Sie mir sagen, wo das Geschirr steht, hole ich es.«

»Im Schrank rechts neben dem Fenster«, sagte Birgit. Sie nahm die Teekanne vom Tablett und stellte sie auf das Stövchen.

Wolfgang ging an den Schrank und kam mit zwei Gedecken zurück. »Ein wunderschönes, gutes Geschirr«, schwärmte er. Bewundernd drehte er eine der Tassen in den Händen. »Jeder Porzellansammler würde Ihnen ein Vermögen dafür bieten.«

»Es ist unverkäuflich, Herr Kayser.« Birgit lächelte. »Vergessen Sie für ein paar Stunden, daß Sie Antiquitätenhändler sind.«

»Ich dachte mir schon, daß Sie es nicht verkaufen wollen.« Mit einem Seufzer stellte Wolfgang die Tasse auf den Unterteller.

»Das Geschirr stammt noch von meiner Urgroßmutter«, erzählte die junge Frau. »Leider ist es nicht mehr ganz vollständig. Ursprünglich hatte es fünfunddreißig Teile. In jeder Generation sind ein oder zwei von ihnen zu Bruch gegangen. Auf mein Konto geht eine der Fleischplatten.«

»Ich hoffe, Ihre Urgroßmutter hat Ihnen Absolution erteilt«, lachte Wolfgang.

»Bitte, nehmen Sie Platz!« Birgit wies auf einen Stuhl und setzte sich ebenfalls. Sie schenkte dem Besucher Tee ein und bediente sich dann selbst.

»Es ist das erste Mal in meinem Leben, daß ich mich irgendwo selbst eingeladen habe«, sagte Wolfgang. Er griff nach dem Brotkorb.

»Sie werden darüber hinwegkommen«, meinte Birgit belustigt. Mutig fügte sie hinzu: »Im übrigen können Sie Ihre Einladung zum Abendessen ja irgendwann wiederholen.«

»Mein Wort darauf! Morgen geht es leider nicht. Da ist Samstag, und ich werde Adina in Sophienlust besuchen. Ich kehre erst Sonntagabend zurück. Aber wie wär’s mit Montag? Haben Sie Montagabend schon etwas vor?«

»Nein.«

»Fein, dann behalten wir den Montag im Auge«, sagte Wolfgang.

»Ich freue mich darauf«, erwiderte Birgit und sah ihm ins Gesicht. Plötzlich wurde ihr bewußt, daß es weit mehr als nur Sympathie war, was sie für ihn empfand. Sie spürte, wie eine brennende Röte ihre Wangen überzogen. Rasch sprang sie auf. »Ich habe noch etwas in der Küche vergessen«, entschuldigte sie sich.

Wolfgang Kayser sah ihr nach. Was für eine aparte, nette Frau, dachte er. Es war ein guter Einfall gewesen, mit ihr den Abend zu verbringen.

Birgit kehrte mit zwei Grapefruithälften zurück. »Unser Nachtisch«, sagte sie und setzte sich wieder. »Wie hat sich Adina in Sophienlust eingelebt?«

»Sie hat es weder den Erziehern noch den übrigen Zöglingen leichtgemacht«, entgegnete Wolfgang. »Während der ersten Tage hat sie alles mögliche angestellt. Scheinbar hoffte sie, man würde mit ihr die Geduld verlieren und sie nach Hause schicken. Als sie merkte, daß ihr niemand diesen Gefallen tat, hat sie sich in Schweigen gehüllt.« Ein flüchtiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Nun ist aber meine Tochter ein sehr gesprächiges Kind und hat deshalb das Schweigen nicht lange ertragen können. Wie es aussieht, hat sie sich inzwischen mit ihrem Aufenthalt in Sophienlust abgefunden, zumal sie dort jederzeit ausreiten kann. Sie müssen wissen, Adina ist eine große Pferdenärrin.«

»Abgefunden klingt nicht gerade ermutigend«, stellte Birgit Keller fest.

»Es gibt für sie auch keinen Grund, hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken. Ich habe noch immer keine Haushälterin gefunden. Meine Schwiegermutter macht mir inzwischen die Hölle heiß. Sie hatte mir angedroht, sich ans Jugendamt zu wenden und hat es auch tatsächlich getan.« Wolfgang stieß heftig den Atem aus. »Ich begreife einfach nicht, warum es so schwer ist, eine kinderliebe Haushälterin zu bekommen.«

»Nicht jedem ist es gegeben, mit Kindern umzugehen. Mir ist es eigentlich immer leichtgefallen, den richtigen Ton ihnen gegenüber zu finden.« Die Verkäuferin legte ihr Besteck an den Tellerrand. »Eigentlich hatte ich Kindergärtnerin werden wollen, aber dadurch, daß ich dann meinen Mann kennenlernte, ist alles anders gekommen. Ich…«

»Könnten Sie es nicht einmal mit Adina versuchen?« fiel ihr Wolfgang spontan ins Wort.

»Ich?«

»Ja.« Auch Wolfgang legte sein Besteck beiseite. »Bitte, schauen Sie mich nicht so entgeistert an, Frau Keller, es ist mir völlig ernst damit. Ich mache keine Witze. Sophienlust mag ein ausgezeichnetes Kinderheim sein, aber es ist nichts für Adina. Anfangs glaubte ich auch, es würde ihr ganz guttun, nicht immer im Mittelpunkt zu stehen, aber sie fühlt sich dort todunglücklich. Immer wenn ich sie besuche oder anrufe, fragt sie mich, wie lange sie denn noch bleiben muß.«

Hat er nun von Anfang an vorgehabt, mich zu fragen, ob ich als Haushälterin zu ihm kommen will? überlegte Birgit. Sie hob den Kopf. Ihr Blick begegnete dem von Wolfgang. Nein, das traute sie ihm nicht zu. Wahrscheinlich hatte er tatsächlich eben erst den Einfall.

»Aber ich bin doch Verkäuferin«, sagte sie wie benommen. »Und ich dachte bisher, eine recht gute Verkäuferin.«

»Die beste Kraft, die ich jemals hatte«, bestätigte Wolfgang. »Aber das heißt nicht, daß Sie meiner Tochter nicht ein bißchen die Mutter ersetzen könnten. Ich möchte, daß Adina in geordneten Verhältnissen aufwächst. Sie braucht einen Menschen, der zu ihr steht, mit dem sie auch über Dinge reden kann, mit denen sie niemals zu mir kommen würde.« Er streckte ganz abwehrend eine Hand vor. »Sagen Sie jetzt bitte nicht, dazu hätte sie ja meine Schwiegermutter. Sie wissen, ich möchte Adina wirklich soweit wie möglich dem Einfluß dieser Dame entziehen.«

»Muß ich mich sofort entscheiden?« fragte Birgit. Im Grunde wollte sie ihre Arbeit im Antiquitätengeschäft nicht gegen den Posten einer Haushälterin eintauschen. Zudem ahnte sie, daß es mit Adina Schwierigkeiten geben würde. Bisher hatte es ja das Mädchen geschafft, jede Haushälterin zu vergraulen. Warum sollte es ausgerechnet bei ihr anders sein?

»Nein, selbstverständlich brauchen Sie sich nicht sofort entscheiden«, sagte Wolfgang. »Mit der Hausarbeit werden Sie nicht allzuviel zu tun haben«, fuhr er fort. »Jeden Tag kommt eine Aufwartefrau, und die Wäsche geben wir außer Haus. Mit dem Garten hätten Sie ebenfalls keine Arbeit. Und was das Gehalt betrifft, wäre ich bereit, Ihnen noch etwas zuzulegen.«

Ein flüchtiges Lächeln glitt über Birgits Gesicht. »Eigentlich hätte ich es überhaupt nicht nötig, arbeiten zu gehen«, sagte sie. »Mein Mann hat mir genug Vermögen hinterlassen, um ein ruhiges, beschauliches Leben führen zu können. Aber jeder Mensch braucht eine Aufgabe. Ich hielt es zu Hause in den eigenen vier Wänden einfach nicht mehr aus. Deshalb habe ich die Stelle bei Ihnen angenommen.«

»Ich möchte Sie keineswegs drängen, Frau Keller«, versicherte der Geschäftsmann. »Und zu beschönigen gibt es auch nichts. Die Aufgabe, die ich Ihnen zugedacht habe, wird bestimmt nicht leicht sein. Es war auch nur so eine Idee, als Sie erwähnten, wie gut Sie mit Kindern zurechtkommen.«

Birgit berührte kurz seine Hand. »Ich werde darüber nachdenken, Herr Kayser«, versprach sie. »Aber jetzt gehe ich erst einmal in die Küche und brühe uns noch eine Tasse Kaffee auf.«

»Dann werde ich inzwischen den Tisch abräumen.« Wolfgang stand auf. Er griff nach dem Tablett, das Birgit vor dem Essen auf ein Beistelltischchen gelegt hatte, und begann, die Tassen und Teller zusammenzustellen.

Es wurde noch ein gemütlicher Abend. Gemeinsam wuschen sie ab, dann setzten sie sich mit Kaffee und Gebäck auf die Couch. Birgit hatte eine Kerze angezündet, auf dem Plattenteller drehte sich das Klavierkonzert Nummer eins von Sergei Rachmaninoff. Über den Vorschlag, den Wolfgang ihr beim Essen gemacht hatte, sprachen sie nicht mehr.

*

»Adina ist ein Naturtalent«, meinte Pünktchen zu Nick. Sie waren zu dritt ausgeritten. Adina saß auf einem braunen Wallach, der zum Gestüt der von Schoeneckers gehörte.

»Das kann man wohl sagen«, bestätigte Dominik von Wellentin-Schoenecker. »Ich habe noch niemanden kennengelernt, der nach relativ wenigen Reitstunden schon so gut auf einem Pferd gesessen hätte wie Adina.«

»Dabei war ich auch nicht gerade untalentiert«, bemerkte Pünktchen und knuffte ihn in die Seite.

»Anwesende sind immer ausgeschlossen«, erklärte Nick lachend. »Zudem ist Adina gewöhnlich nur auf dem Pferd zu ertragen.«

»Also in letzter Zeit hat sie sich ziemlich zusammengenommen«, verteidigte Pünktchen sofort die Zimmerkameradin.

»Sieh an, gerade sah es noch so aus, als wärst du eifersüchtig«, meinte Nick. Er saß mit Pünktchen am Waldrand, während Adina wieder einmal nicht aus dem Sattel zu bekommen war. Sie wollte noch einige Minuten reiten, bevor sie sich ausruhte und zu ihnen setzte.

»Doch nicht auf Adina.« Pünktchen griff in die Keksdose, die ihnen Magda vorsorglich mitgegeben hatte. »Anfangs war sie ja wirklich eklig, aber inzwischen ist sie gar nicht mehr so übel.«

»Ich glaube, sie vermißt eine Mutter«, vermutete Nick.

»Sie spricht doch so gut wie nie von ihrer Mutter.«

»Das könnte ein Grund sein«, meinte Nick. »Übrigens ist meine Mutter auch dieser Meinung. Adina hat einen netten Vater, aber der hat kaum Zeit für sie. Ihre Großmutter ist alles andere als mein Fall. Weißt du noch, wie sie meine Mutter gefragt hat, ob sie es wirklich nötig hätte, sich mit fremden Gören abzugeben?«

»Ihrer Meinung nach gehörten wir alle in ein strenges Heim à la anno neunzehnhundert. Das heißt, nicht alle. Du und Henrik natürlich nicht. Ihr gehört ja zu einer Familie.«

»So ähnlich hat sie sich ausgedrückt.« Nick kicherte. »Ich bin nur froh, daß sie ihre Enkelin nicht jeden Tag besucht. Zweimal die Woche ist mehr als genug.«

»Und nach jedem Besuch ist es besonders schwer, mit Adina auszukommen«, sagte Pünktchen. Sie beschattete die Augen mit der Hand und blickte angestrengt in die Richtung, in der Sophienlust lag. »Sag mal, kommt da nicht Henrik?«

Nick blickte in die angegebene Richtung. »Tatsächlich!« Er sprang auf. »Er wollte doch mit Fabian ein Baumhaus bauen.«

Es dauerte noch zwei Minuten, bis Henrik von Schoenecker sie erreicht hatte. Er sprang von seinem Fahrrad. »Adina soll nach Hause kommen«, rief er ihnen zu. »Ihr Vater und eine fremde Frau sind da.«

»Was für eine Frau denn?« erkundigte sich Pünktchen.

Henrik hob die Schultern. »Ich weiß nicht. Sie sieht jedenfalls nett aus.«

»Ob Herr Kayser eine Freundin hat«, überlegte Pünktchen laut.

»Laß das nur nicht Adina hören«, sagte Nick besorgt.

»Hältst du mich für so blöd?« fragte Pünktchen leicht gekränkt.

»Natürlich nicht«, versicherte Nick hastig. Er legte den Arm um ihre Schultern. Mit seiner freien Hand winkte er Adina her, die gerade in ihre Richtung sah.

»Ich radle wieder zurück«, sagte Henrik. »Sonst behauptet Fabian nachher, er hätte das Baumhaus völlig allein gebaut.« Er schwang sich auf sein Rad und sauste davon.

Adina brachte ihren Wallach kurz vor Pünktchen und Nick zum Stehen. »Was ist denn?« fragte sie. »Ich habe keine Lust, etwas zu essen. Ich reite viel lieber.«

»Dein Vater ist gekommen«, sagte Nick. »Henrik war gerade hier. Du sollst nach Hause kommen.«

»Du meinst nach Sophienlust«, korrigierte Adina hoheitsvoll. »Mein Zuhause ist nicht hier.«

»Egal wie du das siehst, jedenfalls möchte dich dein Vater sehen«, sagte Pünktchen. »Am besten, wir reiten alle zurück. Was meinst du, Nick? Wir könnten ja nachher noch einmal ausreiten.«

»Einverstanden.« Der Sechzehnjährige bückte sich und räumte den Picknickkorb wieder ein, während Pünktchen die Pferde losband.

»Vielleicht komm’ ich dann wieder mit«, sagte Adina. Sie blickte vom Rücken ihres Wallachs auf Pünktchen und Nick hinunter.

»Dein Vater ist bestimmt nicht nur zu einer Stippvisite hier«, erwiderte Nick. Er befestigte den Korb am Sattel seines Pferdes.

»Du willst nur nicht, daß ich euch störe«, erklärte Adina, sich voll bewußt, wie ungezogen das war. Sie drückte die Schenkel an die Seiten ihres Wallachs und ritt davon.

»Manchmal möchte ich sie nehmen und…« Nick lachte auf. »Komm, Pünktchen, machen wir, daß wir nach Hause kommen.« Er wartete, bis sich Pünktchen in den Sattel geschwungen hatte, bevor er ebenfalls aufsaß.

*

»Sie kamen mir gleich so bekannt vor«, sagte Denise von Schoenecker zu Birgit Keller. »Ich wußte nur nicht, wo ich Sie einordnen sollte. Die Welt ist doch klein. Daß wir uns beim Konzert in Maibach kennengelernt haben, hatte ich völlig vergessen.«

»Kein Wunder, unsere Begegnung war ja auch nur kurz«, erwiderte Birgit. Bewundernd blickte sie sich in dem herrlichen Biedermeierzimmer um. Sie liebte schöne Möbel über alles, und diese hier gehörten zu den schönsten, die sie je gesehen hatte.

»Man merkt, daß Sie mit Antiquitäten zu tun haben«, sagte Denise lächelnd. »Die Einrichtung dieses Zimmers stammt noch aus der Zeit, als Sophienlust ein Herrensitz war. Sophienlust gehörte der Urgroßmutter meines Sohnes Nick. Sie vererbte ihm den ganzen Besitz mit der Auflage, aus ihm ein Heim für elternlose oder Geborgenheit suchende Kinder zu machen.«

»Wie alt ist denn Ihr Nick?« fragte die Besucherin. Sie erinnerte sich des Jungen, den sie beim Konzert mit den beiden Mädchen gesehen hatte.

»Sechzehn erst, aber er nimmt seine Aufgabe schon seit Jahren sehr genau und setzt sich auch für die Kinder ein«, antwortete die Gutsbesitzerin. »Allerdings verwalte ich das Heim noch, bis er volljährig ist.«

»Eine schöne Aufgabe«, meinte Birgit.

»Für Kinder zu sorgen ist die schönste Aufgabe, die man sich denken kann«, sagte Denise ernst. »Und ich finde es von Ihnen fabelhaft, daß Sie nun für Adina sorgen wollen.« Sie sah Wolfgang Kayser an. »Allerdings bin ich nicht sehr erbaut darüber, Adina vor die vollendete Tatsache zu stellen. Sie hätten sie darauf vorbereiten sollen.«

»Adina wird so glücklich sein, wieder nach Hause zu können, daß alles andere daneben verblaßt«, meinte Wolfgang.

»Eigentlich ist es meine Schuld«, sagte die Verkäuferin. »Herr Kayser fragte mich schon vor einigen Tagen, ob ich als seine Haushälterin zu ihm kommen würde. Ich habe erst gestern abend fest zugesagt.«

»Und da dachte ich, hole Adina sofort nach Hause«, fügte Wolfgang hinzu. »Natürlich wäre es wohl besser gewesen, Sie vorher zu benachrichtigen, doch gestern abend erschien es mir zu spät, und heute morgen wäre es sinnlos gewesen, da ich ja sowieso kommen wollte.«

Die Tür des Biedermeierzimmers öffnete sich, Adina kam herein. Strahlend rannte sie auf ihren Vater zu, der aufgestanden war, und warf sich an seine Brust. »Ich hatte solche Sehnsucht nach dir, Vati«, sagte sie. »Und du bestimmt nach mir, sonst wärst du heute nicht gekommen.«

»Ich habe immer Sehnsucht nach dir, Liebes.« Zärtlich strich Wolfgang seiner Tochter die Haare aus der Stirn.

»Dann nimm mich wieder mit nach Hause«, forderte die Zehnjährige. Sie sah zu ihm auf. »Bitte, Vati, ich werde auch immer alles tun, was du sagst. Ich werde sicher nicht mehr ungezogen sein.«

»Ich bin gekommen, um dich nach Hause zu holen«, sagte der Mann leise. Er legte den Arm um seine Tochter und führte sie zu Birgit, die ebenfalls aufgestanden war. »Frau Keller kennst du ja. Sie ist so nett und wird uns ab heute den Haushalt führen.«

»Ich erinnere mich«, erwiderte Adina. Sie richtete ihre blauen Augen auf Birgit. Trotz ihrer zerzausten Haare und eines Schmutzflecks im Gesicht, wirkte sie in diesem Moment sehr erwachsen.

»Ich glaube, wir werden uns gut vertragen«, sagte die junge Frau. Unter dem forschenden Blick des Mädchens fühlte sie sich unbehaglich. Sie fragte sich, ob sie sich nicht etwas zuviel vorgenommen hatte.

»Hauptsache, ich komme nach Hause«, meinte Adina. Sie wirbelte herum. »Ich gehe gleich meine Sachen packen, Tante Isi.«

»Schwester Regine wird dir dabei helfen«, sagte Denise.

»Was meinst du, wie schnell ich fertig sein werde«, rief Adina ihrem Vater zu und rannte aus dem Zimmer.

Birgit Keller seufzte aus ihren Gedanken heraus auf.

»Keine Angst, Sie werden es schon schaffen.« Wolfgang berührte ihren Arm.

»Hoffen wir es«, meinte Birgit und lächelte ihm zu.

Eine Stunde später verabschiedeten sie sich von Denise von Schoenecker, Frau Rennert und Schwester Regine. Strahlend kletterte Adina in den Wagen ihres Vaters. Wolfgang verstaute das Gepäck im Kofferraum.

»Viel Glück, Frau Keller«, wünschte Denise, als sie Birgit die Hand reichte. »Sollten Sie mit Adina nicht zurechtkommen, können Sie sich jederzeit an uns wenden. Vielleicht können wir Ihnen helfen.«

»Danke«, erwiderte die Besucherin herzlich. Sie stieg in den Wagen. Daß sie sich an Denise von Schoenecker beim Auftauchen von Schwierigkeiten wenden konnte, erleichterte sie ein wenig.

»Mögen Sie meinen Vater?«

Birgit zuckte zusammen. Sie drehte sich zu Adina um. »Ja, ich mag deinen Vater«, erwiderte sie.

»Werden Sie auch bei uns wohnen?« fragte das Mädchen kühl.

»Ab Montag, ja.«

»Weiß meine Großmama denn davon?«

»Das ist ja ein regelrechtes Kreuzverhör.« Birgit lächelte gezwungen. Sie rechnete damit, daß Adina sie fragen würde, was ein Kreuzverhör sei, aber das Mädchen sagte nur:

»Großmama wird bestimmt alles über Sie wissen wollen.«

»Dann kann Sie ja deinen Vater danach fragen«, erwiderte Birgit.

»Na, habt ihr euch schon angefreundet?« wollte Wolfgang Kayser wissen. Er ließ sich hinter das Steuer gleiten. »So froh wie heute war ich schon lange nicht mehr.«

Denise von Schoenecker, Frau Rennert und Schwester Regine blickten dem Wagen nach, bis er durch das Tor gefahren und in die Straße nach Bachenau eingebogen war.

»Wenn das mal gutgeht.«

»Ich kann durchaus verstehen, daß Herr Kayser seine Tochter so schnell wie möglich nach Hause holen wollte, aber er hätte sie trotzdem darauf vorbereiten müssen«, sagte Denise. »Wenn es nicht gerade Frau Keller wäre, dann wäre es noch etwas anderes, aber in diesem Fall…«

»Er ist in sie verliebt«, warf Schwester Regine ein.

»Sie haben es also auch gemerkt.« Denise lächelte. »Sie hätte das Zeug, Adina eine gute Mutter zu sein, wenn man ihr die Chance dazu geben würde.«

»Adina wird es ihr nicht leichtmachen«, meinte Frau Rennert. »Es ist so schwer, an sie heranzukommen. Auch wir hatten es gerade erst geschafft.«

Die drei Frauen kehrten ins Haus zurück. Schwester Regine stieg in den ersten Stock hinauf, um nach einem kleinen Jungen zu sehen, der mit einer Erkältung im Bett lag. Frau Rennert mußte sich um einige Briefe kümmern, und Denise von Schoenecker setzte sich ans Telefon. Das Leben in Sophienlust ging seinen gewohnten Gang weiter. Durch das offene Fenster schallten die Stimmen der im Park spielenden Kinder.

*

Birgit Keller schaltete die Kaffeemaschine ein. Während das Wasser durchlief, begann sie im Eßzimmer den Tisch zu decken. Dann kehrte sie in die Küche zurück und setzte Milch für Adinas Schokolade auf.

»Guten Morgen, Frau Keller.« Wolfgang steckte gutgelaunt den Kopf durch die Küchentür. »Wie das wieder duftet.«

»Wie jeden Morgen, nach Kaffee«, erwiderte Birgit. Sie wandte sich ihm zu und wünschte ihm gleichfalls einen guten Morgen.

»Kaum zu glauben, daß Sie jetzt schon über eine Woche bei uns sind«, bemerkte Wolfgang. Er ging zur Anrichte und stiebitzte eine Scheibe Wurst von der Servierplatte. »Sehen Sie mich nicht so streng an. Ich weiß, ein Vater sollte ein Vorbild sein, aber manchmal ist das sehr schwer. Vor allem, wenn meine Lieblingswurst auf dem Teller liegt. Außerdem ist Adina nicht da.«

»Und ob ich da bin, Vati«, erklärte Adina. Sie kam aus dem Eßzimmer. »Du hast geklaut.«

»Ich gestehe«, sagte Wolfgang kauend.

»Guten Morgen, Frau Keller!« Das Mädchen trat an die Anrichte. »Kann ich etwas helfen?«

»Guten Morgen, Adina«, erwiderte Birgit. »Gut geschlafen?« Das Mädchen nickte. »Wenn du willst, kannst du schon mal den Kaffee hineintragen. Deine Schokolade ist auch gleich fertig.«

»Mach ich.« Adina schaltete die Kaffeemaschine aus und brachte die Kanne ins Eßzimmer. Leise summte sie dabei ein Lied vor sich hin.

»Ich bin so froh, daß zwischen Ihnen und Adina alles so gut klappt«, sagte der Geschäftsmann. »Es lag also doch an den anderen Damen und nicht an Adina.« Er griff nach der Wurstplatte, um sie nach nebenan zu bringen.

Birgit war froh, daß in diesem Augenblick Adina zurückkam und sie ihm nicht antworten mußte. Zwischen seiner Tochter und ihr klappte es keineswegs so gut, wie er glaubte. Es gab Tage, da hätte sie gern alles hingeworfen und sich in ihre kleine Wohnung geflüchtet. Noch hatte sie diese Wohnung nicht gekündigt, obwohl sie in der geräumigen Villa ein großes Zimmer mit eigenem Bad bewohnte.

»Du hast mir noch immer nicht gesagt, was du dir zum Geburtstag wünschst, Adina«, wandte sich Wolfgang beim Frühstück an seine Tochter.

»Ein Pferd.« Die Zehnjährige bestrich eine Scheibe Brot mit Leberwurst. »Ich habe es dir schon gesagt, bevor du mich nach Sophienlust gebracht hast.«

»Ich hielt es für einen Scherz.«

»Vati, bitte!« Adina blickte ihn flehend an. »Du brauchst mir nie wieder etwas zu schenken, wenn ich zu meinem Geburtstag ein Pferd bekomme.«

»Es geht nicht, Adina«, sagte Wolfgang. »Bitte, überleg dir einen besseren Wunsch, einen, den ich auch erfüllen kann.«

»Ich könnte mir auch einen Hund wünschen«, entgegnete Adina mit Bedacht.

»Wenn Frau Keller nichts dagegen einzuwenden hat«, meinte Wolfgang und blickte die junge Frau an.

Birgit merkte sofort, daß es falsch von Wolfgang gewesen war, seine Zustimmung von ihr abhängig zu machen. Rasch sagte sie: »Ich mag jedes Tier.«

»Vielleicht einen Bernhardiner?« Adina griff nach ihrem Joghurt.

»Also für einen Bernhardiner bin ich nicht«, erklärte Wolfgang. »Ich dachte eher an etwas Kleineres, einen Dackel oder einen Spitz.«

»Ich will ja gar keinen Hund«, sagte Adina. »Ich habe nur Spaß gemacht.« Sie lachte. »Ich überlege es mir noch, was ich mir wünsche.«

»Denk daran, in zehn Tagen ist dein Geburtstag«, erinnerte Wolfgang seine Tochter. »Hast du deine Freundinnen überhaupt schon eingeladen?«

»Das mach ich heute. Großmama hat mir Einladungskarten geschenkt.«

»Bei uns ist es Sitte, daß sich Adina soviel Gäste einladen darf, wie sie Jahre wird. Also müssen wir mit elf hungrigen Mäulern rechnen«, wandte sich Wolfgang an Birgit. »Werden Sie das schaffen, oder soll ich für Hilfe sorgen?«

»Das schaffe ich schon«, versprach Birgit. Sie nahm sich vor, diesen Kindergeburtstag ganz besonders schön zu gestalten. Vielleicht konnte sie so Adinas Herz gewinnen. Ihr lag sehr viel daran, wenngleich das Mädchen sie oft so herablassend behandelte, daß sie ihm am liebsten manchmal eine Ohrfeige gegeben hätte.

Adina hatte an diesem Tag erst eine Stunde später Schule. Wolfgang fuhr zur Arbeit, und Birgit blieb mit seiner Tochter allein zu Hause. Sie begann, den Frühstückstisch abzuräumen.

Adina holte die Schultasche aus ihrem Zimmer und stellte sie in der Küche auf einen Hocker. Birgit reichte ihr das Pausenbrot. Das Mädchen öffnete die Tüte. »Iii!«

»Was ist?« Birgit nahm ihr das Brot aus der Hand. »Es ist doch ganz in Ordnung.«

»Es stinkt.« Adina verzog angewidert das Gesicht. »So’n Brot eß ich nicht.«

»Nun sag mir mal, was dir daran nicht gefällt.« Birgit klappte die beiden Scheiben wieder zusammen.

»Ich mag so einen Schinken überhaupt nicht.«

»Gestern abend hast du ihn aber gegessen«, erinnerte Birgit sie, darum bemüht, nicht die Geduld zu verlieren. Immer wieder kam es zu derartigen Zwischenfällen. Ich habe den längeren Atem, dachte sie. Laß dich nicht provozieren.

»Gestern abend war er auch noch in Ordnung«, erklärte Adina. Sie nahm Birgit das Pausenbrot aus der Hand und legte es auf die Anrichte. »Ich werde mir in der Pause was zu essen kaufen.« Entschlossen klappte sie ihre Schultasche zu.

»Du wirst dieses Brot mitnehmen, Adina«, bestimmte Birgit. »Und ich rate dir, dich in Zukunft ein bißchen zusammenzunehmen, wenn du nicht willst, daß dir dein Vater einmal gehörig die Meinung sagt.«

»Frau Berger ist von ihm entlassen worden.«

»Ich weiß sehr genau, daß Frau Berger deinetwegen gekündigt hat, Adina, also laß diese Lügen«, entgegnete Birgit. Sie öffnete die Schultasche des Mädchens und steckte das Pausenbrot hinein. »Glaube bitte nicht, daß du mit mir dasselbe Theater aufführen kannst. Ich werde mit dir fertig, verlaß dich darauf.«

Adina setzte zu einer heftigen Erwiderung an, überlegte es sich dann aber anders. Sie riß die Schultasche vom Stuhl und ging in den Korridor, ohne Birgit auch nur noch eines Blickes zu würdigen. Stumm zog sie sich eine Jacke über.

»Komm bitte pünktlich zum Mittagessen nach Hause, Adina«, bat Birgit. »Ich mache ein Soufflé, und das darf nicht zusammenfallen.«

Adina gab keine Antwort. Sie riß die Haustür auf und ließ sie hinter sich krachend ins Schloß fallen.

»Dickkopf!« murmelte Birgit leise vor sich hin. Sie ging in die Küche zurück und machte sich an den Abwasch.

Um neun Uhr kam die Aufwartefrau. Sie tranken gerade zusammen eine Tasse Kaffee, als das Telefon klingelte. Birgit stand auf und nahm den Hörer ab.

»Stein«, meldete sich Wolfgangs Schwiegermutter. »Spreche ich mit Frau Keller?«

»Ja!«

»Meine Enkelin hat mich vor knapp zwanzig Minuten angerufen. Lassen Sie sich bitte gesagt sein, daß ich den Ton, den Sie gegenüber meiner Enkelin anschlagen, nicht dulden werde. Sie sollten sich darauf besinnen, daß Sie nur eine Hausangestellte sind, Frau Keller. Ich…«

»Mag sein, daß ich in Ihren Augen nur eine Hausangestellte bin, Frau Stein, jedenfalls sieht das Ihr Schwiegersohn wahrscheinlich etwas anders. Er weiß meine Arbeit zu schätzen. Ich habe es durchaus nicht nötig, mich von Ihrer Enkelin tyrannisieren zu lassen.«

»Was erlauben Sie sich eigentlich!« empörte sich Vilma Stein. »Mit wem glauben Sie wohl, sprechen Sie?«

»Mit Ihnen!«

»Das wird Folgen haben, verlassen Sie sich darauf, meine liebe Frau Keller. Das wird Folgen haben!«

»Ich werde darauf warten«, erwiderte Birgit sehr ruhig, obwohl sie vor Wut kochte.

»Verlassen Sie sich darauf, daß…« Am anderen Ende der Leitung wurde der Hörer aufgeknallt.

Birgit legte achselzuckend auf. Sie kehrte an den Tisch zurück, schenkte sich Kaffee nach und stürzte ihn in einem Zug hinunter.

»Ja, die liebe Schwiegermutter«, bemerkte Agathe Wächter. »Frau Berger konnte da auch ein Lied davon singen.«

»Es wird sich schon alles einspielen«, meinte Birgit. Sie wollte nicht mit der Aufwartefrau über Vilma Stein sprechen. »Adina muß sich einfügen.«

»Dachte Frau Berger am Anfang auch. Und vor ihr dachte es Frau Fink. Und dann gab es da noch eine Frau Krüger, eine Seele von Mensch.« Agatha Wächter lachte auf. »Dieses Mädchen hat den Teufel im Leib, glauben Sie mir, Frau Keller. Bin ich froh, daß ich jetzt wenigstens nichts mehr mit dem Mittagessen der lieben Kleinen zu tun habe. Hat sie auch bei Ihnen am Essen ständig etwas auszusetzen?«

»Ja, aber ich gehe nicht darauf ein«, erwiderte Birgit.

»Das beste, was Sie tun können. Allerdings wird sich Adina dann auch irgendwann einmal bei ihrer Großmutter beschweren, daß sie bei Ihnen nichts Richtiges zu essen bekommt.«

»Der Speiseplan ist mit ihrem Vater abgesprochen.«

»Die beiden Damen werden dennoch immer etwas daran auszusetzen haben«, bemerkte Frau Wächter und stand auf. »Jetzt mache ich mich erst einmal an die Arbeit. Ich fange mit Adinas Zimmer an.«

Birgit nahm ein Kochbuch und setzte sich an den Küchentisch. Wenn Adina elf Freundinnen einlud, würde sie allerhand Kuchen brauchen. Es war besser, sich schon jetzt über die einzelnen Sorten den Kopf zu zerbrechen.

Sie sah nach kurzer Zeit von ihren Notizen auf. Vielleicht sollte sie doch mit Wolfgang einmal darüber sprechen, wie ungezogen sich Adina ihr gegenüber oft benahm. Ach was, sie mußte allein damit fertig werden!

Birgit erschrak innerlich. Eine brennende Röte überzog ihre Wangen, als ihr bewußt wurde, daß sie in ihren Gedanken Adinas Vater bei seinem Vornamen genannt hatte. Rasch beugte sie sich wieder über das Buch und schrieb die Zutaten zu einer Schokoladensahnetorte auf.

*

Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Liebling!« Vilma Stein zog ihre Enkelin, die an diesem Morgen ein hellblaues Stufenkleid trug, in ihre Arme. »Daß all deine Wünsche in Erfüllung gehen mögen, du niemals krank wirst und auch nie einen Grund zur Traurigkeit haben mußt.«

»Danke, Großmama!« Adina schmiegte sich an ihre Großmutter. »Ich finde es prima, daß du schon heute vormittag gekommen bist.« Sie drehte sich um und rief: Vati, Großmama ist da!«

»Wo steckt denn dein Vater?«

»Mit Frau Keller im Eßzimmer«, erwiderte Adina. »Komm, ich zeige dir, was mir Vati geschenkt hat.« Sie zog ihre Großmutter in das Wohnzimmer.

»Dein Vater ist wohl sehr oft mit Frau Keller zusammen?« fragte Vilma Stein wie nebenbei.

»Wenn sie was zu besprechen haben«, antwortete Adina und führte die Großmutter an ihren Geburtstagstisch.

»Auch manchmal abends, wenn du schlafen gehst?«

»Ja!« Das Mädchen nahm ein Kästchen auf und öffnete es. »Schau, ein ganz alter Schmuck. Ist der nicht schön?«

»Er ist wunderschön«, bestätigte die Großmutter. Ihr Blick fiel auf ein dickes buntes Tierlexikon und neue Geigennoten. Sie nahm das Buch zur Hand und blätterte darin.

Adina wippte ungeduldig mit den Fußspitzen. »Großmama«, sagte sie und schielte auf das umfangreiche Päckchen, das Vilma Stein unter dem Arm hielt.

»Ja, mein Kind.« Ein feines Lächeln überzog das Gesicht Frau Steins. Sie legte das Buch beiseite.

»Was ist denn in dem Päckchen?«

»Meine Überraschung für dich. Na, ich will dich nicht länger auf die Folter spannen. Ich hoffe, es macht dir Freude.« Vilma Stein reichte ihrer Enkelin das Geschenk.

»Die Sachen von dir sind immer schön«, erklärte Adina. Sie nahm das Päckchen und löste die Verschnürung.

Wolfgang Kayser kam durch die vorher geschlossene Verbindungstür. »Oh, du bist schon da, Schwiegermutter«, rief er überrascht aus. »Ich habe dich gar nicht kommen hören.«

»Wahrscheinlich warst du sehr beschäftigt«, bemerkte Vilma Stein. Sie sah nicht ihren Schwiegersohn, sondern Birgit Keller an, die ihm folgte.

»Guten Tag, Frau Stein«, sagte Birgit freundlich. »Herr Kayser, ich werde mich jetzt um das Essen kümmern.« Sie wollte ins Eßzimmer zurückgehen.

»Wir essen heute mittag auswärts«, warf Vilma Stein ein, bevor Wolfgang Birgit antworten konnte. »Ich habe einen Tisch im Tabaris bestellt. Er…«

»Vati!« schrie Adina auf. Sie hielt Reitstiefel in den Händen. »Und einen richtigen Reitanzug hat mir Großmama auch geschenkt, und eine Mütze.«

»Habe ich deinen Geschmack getroffen?« fragte Vilma Stein.

»Die Reitsachen sind schöner als die von Cordula.« Adina setzte sich strahlend die Mütze auf und machte Anstalten, in die Reitstiefel zu steigen.

»Es ist lieb von dir, Schwiegermutter, daß du im Tabaris einen Tisch bestellt hast, aber Frau Keller hat das Mittagessen bereits vorbereitet, zudem gibt Adina heute nachmittag ihre Party.«

»Die Party beginnt erst um sechzehn Uhr, bis dahin sind wir längst zurück«, sagte Vilma Stein unbekümmert. »Und das Mittagessen kann, falls es wirklich fast fertig ist, eingefroren werden.« Sie blickte Birgit an. »Ich nehme doch an, Frau Keller, Sie wissen, wie man ein Essen einfriert.«

»Schwiegermutter, wir können nächsten Sonntag auswärts essen, wenn du es möchtest, aber heute bleibe ich lieber zu Hause«, erklärte Wolfgang.

»Ich kann den Tisch so kurzfristig nicht mehr abbestellen.« Vilma Stein musterte ihn kühl.

»Die Stiefel passen«, rief Adina. Sie schlang die Arme um den Hals ihrer Großmutter. »Cordula wird Augen machen, wenn ich das nächste Mal auf ihrem Pferd ausreite.«

»Warum auf Cordulas Pferd?« fragte Vilma Stein lächelnd und strich Adina die Haare zurück. »Es ist noch etwas in dem Karton.«

»Das Pferd selbst?« lachte Wolfgang gezwungen.

»Ein Foto!« rief die Zehnjährige aus. »Vati schau! Ist das nicht ein herrliches Pferd auf dem Bild?« Sie streckte dem Vater die Fotografie entgegen.

»Es ist eine Stute, Adina, sie heißt Zarah«, sagte Vilma Stein. »Ich konnte sie in Wildmoos auf der Koppel der von Schoeneckers unterstellen. Ich…«

»Heißt das, du hast Adina ein Pferd gekauft?« fragte Wolfgang entgeistert.

»Ich habe ein Pferd?« Adinas Augen weiteten sich ungläubig.

»Eine Stute«, verbesserte Vilma Stein.

Adina schluckte, dann umarmte sie impulsiv ihre Großmutter. »Du bist die allerallerbeste Großmama der Welt«, rief sie aus. »Danke, Großmama, danke!« Sie bedeckte das Gesicht Vilma Steins mit Küssen.

Lachend befreite sich die ältere Frau. »Du siehst, wir können nicht hier essen. Wir müssen so bald wie möglich nach Wildmoos aufbrechen, wenn wir bis zur Party wieder hier sein wollen. Adina muß schließlich ihr Geburtstagsgeschenk sehen.«

»Ich muß dich unbedingt unter vier Augen sprechen«, sagte Wolfgang Kayser erschüttert. Er ergriff ihren Arm und führte sie nach nebenan.

Adina war noch immer fassungslos. Sie hob das Foto auf, das sie beim Umarmen ihrer Großmutter fallengelassen hatte, und betrachtete die Stute. »Sie ist sicher die schönste Stute der Welt«, wandte sie sich an Birgit.

»Darf ich das Bild einmal sehen?« Die junge Frau trat zu der nunmehr Elfjährigen.

»Ja!« Adina reichte es ihr mit glänzenden Augen. »Daß Großmama mir ein Pferd schenkt! Vor einigen Wochen habe ich zu ihr gesagt, daß ich mir zum Geburtstag ein Pferd wünsche, und sie meinte, es ginge nicht. Aber sie hat es mir geschenkt! Mein Vati hat mir auch gesagt, es würde nicht gehen, und hat mir keines geschenkt.«

»Stell dir vor, dann hättest du jetzt zwei Pferde«, meinte Birgit. »Zudem hatte dein Vater ja gute Gründe, nein zu sagen«, fügte sie in dem verzweifelten Versuch hinzu, Wolfgang zu verteidigen.

»Manchmal glaube ich, Großmama hat mich viel lieber als mein Vati«, überlegte Adina laut. »Sie hätte mich auch nie nach Sophienlust geschickt.«

»Dein Vati hat dich sehr lieb, Adina, und das weißt du auch ganz genau«, erwiderte Birgit härter als beabsichtigt. »Es würde ihn sehr traurig stimmen, wenn er gehört hätte, was du eben gesagt hast.«

»Sagen Sie es ihm doch.« Adina rümpfte die Nase. »Macht mir gar nichts aus.« Sie wirbelte herum, nahm ihre Reitsachen und verließ das Zimmer.

Birgit Keller ballte die Hände. Nicht aufregen, sagte sie sich. Nimm es nicht so tragisch, wie sich dieses Gör benimmt.

Die Tür, die ins Eßzimmer führte, öffnete sich. Wolfgang Kayser trat in den Raum. »Oh, Sie sind noch hier, Frau Keller«, meinte er. Seine Stimme klang niedergeschlagen. »Wir gehen also doch essen. Ich möchte Adina den Tag nicht mit einem handfesten Krach verderben.«

»Ich wüßte auch nicht, über was wir streiten sollten«, ertönte die Stimme Vilma Steins vom anderen Zimmer her. »Ich habe dem Kind die größte Freude seines Lebens gemacht, eigentlich müßtest du mir dankbar sein.«

Wolfgang Kaysers Gesicht wurde um noch einen Schein blasser. Er bebte innerlich vor Wut, aber er nahm sich zusammen. Er antwortete seiner Schwiegermutter nicht, sondern wandte sich wieder an Frau Keller. »Ich werde zusehen, daß wir sobald es geht zurück sind.«

»Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Kayser, ich werde schon zurechtkommen«, versuchte Birgit ihn zu beruhigen. »Ich bin ja mit den Vorbereitungen so gut wie fertig.«

»Danke, Frau Keller!« Der Mann legte für einen Moment seine Hand auf ihre Schulter. »Ich wüßte gar nicht mehr, was ich ohne Sie anfangen sollte.«

»Es gibt Stellenvermittlungen«, bemerkte hinter ihnen Vilma Stein böse. »Wenn mich jemand sucht, ich bin bei Adina.«

*

»Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, was für eine herrliche Stute Zarah ist«, schwärmte Adina ihren Freundinnen wohl schon zum hundertsten Male vor. »Sie ist zwei Jahre alt und so klug.« Sie sah Cordula an. »Sei mir nicht böse, aber ich gehe jede Wette ein, daß sie viel klüger ist als deine.«

»Du spinnst ja, Adina«, erklärte Cordula. »Ehrlich, bei dir hat’s ausgehakt.«

»Zankt euch nicht, Kinder«, sagte Vilma Stein. »Der Tag ist doch viel zu schön, um ihn im Streit zu verbringen.« Sie thronte einer Königin gleich in einem breiten Sessel auf der Terrasse. Vor ihr auf einem Tischchen stand eine Karaffe mit Wein. Zufrieden beobachtete sie das Treiben der zwölf Mädchen. Sie mußte zugeben, daß sich Birgit Keller alle erdenkliche Mühe gegeben hatte. Terrasse und Garten waren mit Girlanden und Lampions dekoriert. Die lange Tafel, an der die Kinder bald das Abendessen einnehmen sollten, mit Blumen und Marzipanfiguren geschmückt.

»Wir zanken uns nicht, Großmama«, rief Adina. Sie trug ein entzückendes Kleid und war mit Abstand das hübscheste Mädchen im Kreis ihrer Freundinnen.

Wolfgang Kayser kam auf die Terrasse. Er mußte sich noch immer zwingen, sich seinen Groll nicht anmerken zu lassen. Was auch immer geschah, er durfte Adina diesen Tag nicht verderben.

Er stieg die Terrassenstufen in den Garten hinunter. »Na, amüsierst du dich gut?« fragte er seine Tochter.

»Ja, Vati!« Das Mädchen lehnte sich an ihn. »Ich darf doch jeden Tag nach Wildmoos fahren? Zarah muß ausgeritten werden.«

»Und die Schule?«

»Die Hausaufgaben kann ich abends machen.«

»Wir sprechen morgen darüber, Adina«, sagte Wolfgang ausweichend.

»Großmama hat versprochen, mich von der Schule abzuholen«, sagte die Elfjährige. »Dann gehen wir essen und anschließend fahren wir nach Wildmoos. Und zurückbringen tut sie mich auch.«

»Ich bin damit nicht einverstanden, Adina. Wir werden schon eine Lösung für deine Zarah finden. Eine Lösung, bei der die Schule nicht zu kurz kommt. Denk an deinen Geigenunterricht! Schule, tägliche Fahrten nach Wildmoos, Ausritte und Geigenunterricht, das alles läßt sich wohl schlecht unter einen Hut bringen.«

»Doch!« Adina schob die Unterlippe vor.

»Adina, trotze bitte nicht wie ein kleines Kind«, bat der Vater und fühlte sich in diesem Augenblick absolut hilflos.

»Adina, komm!« rief Cordula von der Schaukel her.

»Geh zu deiner Freundin, Liebes«, sagte Wolfgang. »Wir werden uns schon einigen.«

Das Mädchen zuckte die Schultern und warf einen Blick auf ihre Großmutter. Sie fragte sich, ob diese etwas von der Unterhaltung mitbekommen hatte. Sicher würde sie ihr fest beistehen. Vergnügt rannte sie zur Schaukel.

Birgit trat mit einer riesigen Schüssel voll Heringssalat auf die Terrasse und stellte sie auf den bereits gedeckten Tisch. Sie war müde. Der Nachmittag war ziemlich anstrengend gewesen. Sie sehnte sich nach etwas Ruhe.

Als sie in die Küche zurückkam, war Wolfgang Kayser gerade dabei, ein Brot aufzuschneiden. »Ich dachte, ich helfe Ihnen ein bißchen«, sagte er.

»Sie sollten eigentlich bei Ihrer Schwiegermutter und Ihrer Tochter sein«, erwiderte Birgit, obwohl sie sich über sein Angebot freute.

Er schüttelte den Kopf. »Die amüsieren sich auch ohne mich, Frau Keller.«

»Das klingt so resignierend«, meinte die junge Frau.

»Ich bin müde, unwahrscheinlich müde«, entgegnete Wolfgang. »Nicht physisch, sondern psychisch. Diese Pferdegeschichte hat mich ziemlich mitgenommen.«

»Das kann ich verstehen.«

»Sehen Sie, wenn mir meine Schwiegermutter vorher wenigstens ein Wort davon gesagt hätte. Aber einfach hinzugehen und diese Zarah zu kaufen… Vor einigen Wochen habe ich mich noch mit ihr über Adinas Wunsch unterhalten. Wir waren uns beide einig, daß meine Tochter nicht unbedingt ein Pferd haben muß.«

»Sie wollte ihr eine Freude machen.«

»Aber nur in zweiter Linie, in erster wollte sie mich treffen«, sagte der Geschäftsmann. »Frau Keller, ich hätte eine große Bitte an Sie.« Er sah ihr ins Gesicht.

»Und die wäre?«

»Würden Sie mir heute abend, wenn die Invasion hinter uns liegt, die Freude machen und mit mir ein Gläschen Wein trinken? Ich habe einen wunderbaren Burgunder im Keller. Er sollte endlich seiner Bestimmung zugeführt werden.«

»Gern, Herr Kayser.« Birgit lächelte ihm zu.

»Das freut mich.« Er legte kurz den Arm um ihre Schultern. »Es war sicherlich auch ein sehr anstrengender Tag für Sie, Frau Keller. Eigentlich hätten Sie draußen mit an die Festtafel gehört. Das nächste Mal…« Er unterbrach sich. »Was kann ich Ihnen noch helfen?«

»Es ist sehr nett von Ihnen gemeint, Herr Kayser, aber es ist besser, wenn Sie sich wieder den Gästen widmen«, erwiderte Birgit.

Seufzend nahm Wolfgang den Arm von ihren Schultern. »Warum müssen Sie nur immer so schrecklich vernünftig sein, Frau Keller?« fragte er, erwartete aber keine Antwort, sondern griff nach der nächstbesten Bratenplatte und verließ mit ihr die Küche.

Die Kinder wurden von ihren Eltern nach dem Abendessen abgeholt. Vilma Stein brachte ihre Enkelin zu Bett. Sie unterhielt sich noch lange mit ihr, bevor sie wieder hinunterkam. Als Wolfgang an das Bett seiner Tochter trat, schlief sie bereits. Er hauchte ihr einen Kuß auf die Stirn und ging leise aus dem Zimmer.

»Für mich wird es auch Zeit«, sagte Vilma Stein zu ihm. »Es war ein schöner Tag.« Sie griff nach ihrer Handtasche. »Ich hole dann Adina morgen nach der Schule ab. Wir werden den Nachmittag gemeinsam verbringen.«

»Morgen, okay, aber das kommt nicht jeden Tag in Frage, Schwiegermutter«, sagte Wolfgang. »Adina wird in Zukunft weder die Schule, noch ihre Geigenstunden vernachlässigen. Sie selbst wollte Unterricht für dieses Instrument haben, und sie hat sich bisher immer darauf gefreut. Ich werde morgen die von Schoeneckers anrufen und sie fragen, ob sie nicht jemand wissen, der Zarah während der Woche ausreiten kann. Wenn Adina das Wochenende bei dem Pferd verbringt, reicht das.«

»Du scheinst ihr Zarah nicht zu gönnen«, meinte Frau Stein.

»Das hat damit überhaupt nichts zu tun, Schwiegermutter. Du hattest kein Recht, ihr diese Stute hinter meinem Rücken zu kaufen.«

»Immerhin bin ich ihre Großmutter«, empörte sich Vilma. »Ellen war schließlich meine Tochter. Wenn mir schon Ellen genommen wurde, so laß ich mir nicht noch meine Enkelin nehmen.«

»Kein Mensch will dir Adina nehmen.«

»O doch, Wolfgang. Du tust alles, um mich von dem Kind fernzuhalten. Aber das laß ich mir nicht gefallen.« Sie ging zur Haustür. »Adina wird so oft wie es ihr gefällt bei mir sein.«

»Ich bin ihr Vater, und ich habe auch gewisse Rechte«, sagte Wolfgang. »Gute Nacht!«

Vilma Stein wandte sich ihm noch einmal zu. »Verlange bitte nicht, daß ich dir auch eine gute Nacht wünsche«, erwiderte sie. Schallend flog die Haustür hinter ihr ins Schloß.

Birgit war in der Küche mit dem Abwaschen beschäftigt. Frau Wächter hatte ihr zwar angeboten, diese Arbeit am nächsten Tag selbst zu erledigen, doch sie hatte die Küche nicht so hinterlassen wollen.

»Ich helfe Ihnen«, sagte ihr Chef, als er zu ihr kam. Er griff nach einem Handtuch und begann, wie selbstverständlich abzutrocknen. »Die Flasche Burgunder wartet bereits darauf, daß wir sie köpfen.«

»Wir haben sie uns redlich verdient«, meinte Birgit. »Ich mit der Arbeit und Sie… Na ja, ich habe Ihren Streit mit Ihrer Schwiegermutter gehört.«

»Denken wir heute abend nicht mehr an sie«, schlug Wolfgang Kayser vor. Er stellte den Teller, den er gerade abgetrocknet hatte, auf einen anderen. »Ich dachte, daß wir es uns auf der Terrasse gemütlich machen. Der Abend ist so lau, daß es eine Sünde wäre, ihn innerhalb der vier Wände zu verbringen.«

Es dauerte fast noch eine Stunde, bis sie endlich mit dem Abwasch fertig waren. Wolfgang hakte Birgit unter und führte sie ins Freie hinaus. Er hatte bereits den Wein und zwei Gläser auf ein Tischchen gestellt. Rechts der Flasche stand ein Schälchen mit Birgits Lieblingsnüssen.

»Sind es die richtigen?« fragte er scherzend.

»Ihr Gedächtnis ist ausgezeichnet«, erwiderte Birgit.

»Ich erinnerte mich daran, daß Sie bei mir im Geschäft ab und zu diese Nüsse geknabbert haben«, sagte Wolfgang. »Kommen Sie, setzen Sie sich!«

Kaum hatte Birgit Platz genommen, schenkte er den Burgunder ein. »Trinken wir auf Adinas Zukunft«, schlug sie vor.

Der Mann schüttelte den Kopf. »Adinas Zukunft ist zweifach gesichert«, sagte er. »Einmal durch ihre Großmutter, deren Alleinerbin sie sein wird, und einmal durch mich. Das dürfte doch reichen.« Er sah ihr in die Augen. »Trinken wir lieber darauf, daß es für uns beide noch viele solcher Abende gibt.«

Da die junge Frau nicht recht wußte, was sie darauf sagen sollte, hob sie nur stumm ihr Glas. Sanft ließ er seines an ihres stoßen. Irgendwo im Garten sang eine Nachtigall.

Schweigend nippten sie an ihren Gläsern, sahen einander nur an. In Wolfgangs Augen konnte Birgit plötzlich all das lesen, was sie seit langem tief in ihrem Inneren erhofft hatte. Mit einem Mal wußte sie, daß er sie nicht nur wegen Adina in sein Haus geholt hatte, sondern weil er sie liebte. Das machte sie glücklich und ängstlich zugleich.

»Warum gehen wir nicht ein Stückchen spazieren?« fragte sie und erschrak, weil ihre Stimme so unsicher klang.

»Warum nicht?« Wolfgang stand auf und bot ihr seinen Arm. Nebeneinander stiegen sie die Stufen in den Garten hinunter. Sie folgten einem schmalen Weg, der zu einem künstlich angelegten Goldfischteich führte. »Dieser Garten ist ganz nach den Plänen meiner Frau gestaltet worden«, erzählte der junge Mann. »Nichts hat sie dem Zufall überlassen, sondern jedes Fleckchen verplant.«

»Er ist sehr schön.«

»Ellen war künstlerisch sehr begabt. Auch die Liebe zur Musik hat Adina von ihr geerbt. Sie konnte ausgezeichnet Klavier spielen. Ursprünglich hatte sie vorgehabt, Pianistin zu werden, aber dann lernten wir uns kennen, und sie widmete sich daraufhin nur noch ihrer Familie.«

»Sie muß eine wunderbare Frau gewesen sein«, sagte Birgit.

»Ja, das war sie«, erwiderte Wolfgang. »Damals als sie starb, dachte ich, ich könnte nicht mehr weiterleben. Eine neue Ehe kam für mich überhaupt nicht in Frage. Ich nahm mir vor, nur noch für Adina da zu sein.« Sanft strich seine Hand über Birgits Arm. »Weißt du, daß du für mich alles verändert hast?« fragte er und sah ihr liebevoll in die Augen.

Birgit wollte protestieren, weil er einfach du zu ihr sagte, doch sie konnte es nicht. Sie liebte Wolfgang mit jeder Faser ihres Herzens, und plötzlich wünschte sie sich, er würde sie küssen.

Zärtlich glitt sein Blick über ihr Gesicht. Er zögerte noch wenige Sekunden, dann zog er sie in die Arme und küßte sie, als hätte er ihre Gedanken erraten. Sie schloß die Augen und fand es mit einem Mal ganz natürlich, daß er sie küßte. Leidenschaftlich schmieg­te sie sich an ihn.

Minutenlang standen sie eng umschlungen neben dem Goldfischteich. Über ihnen glitzerten am nachtblauen Himmel die Sterne. Silbern schien der Mond auf sie hinunter. Weder Wolfgang noch Birgit dachten in diesem Moment an Adina, daran, daß das Fenster des Kinderzimmers direkt auf den Garten hinausging.

Wolfgang ließ die junge Frau los. »Ich liebe dich, Birgit«, sagte er so leise, daß sie es kaum verstehen konnte. Er hob die Hand und berührte sanft ihre Augen, ihre Nase und ihren Mund. »Ich könnte es nicht ertragen, würdest du jemals wieder fortgehen.« Er legte den Arm um ihre Schultern. »Schon damals, als ich dich bat, meine Haushälterin zu werden, ahnte ich, daß es so kommen würde.«

»Und ich wußte schon damals, daß ich dich liebte«, erwiderte Birgit. Sie sah zum Haus hinüber. Das Mondlicht stand genau über dem Gebäude. In seinem Schein wirkte es wie ein Märchenschloß. Oder kommt es mir nur so vor, weil ich so glücklich bin? fragte sie sich.

»Birgit, möchtest du meine Frau werden?« fragte Wolfgang sanft. »Ich gebe zu, es wird nicht einfach für dich werden. Adina hat ihre Mutter sehr geliebt, aber ich bin überzeugt, du wirst sie genauso erobern, wie du mich erobert hast. Und meine Schwiegermutter, na ja, sie wird natürlich nichts unversucht lassen, uns auseinanderzubringen. Doch wir sind im Gegensatz zu ihr immerhin zu zweit.« Er lachte etwas gezwungen. »Einigkeit macht stark.«

»Ich fürchte deine Schwiegermutter nicht«, sagte Birgit und lehnte sich an seine Schulter. Vielmehr fürchte ich Adina, fügte sie in Gedanken hinzu. Wolfgang hatte ja keine Ahnung, wie das Mädchen sich jetzt schon gegen sie auflehnte. Doch dann versuchte sie sich selbst Mut zu machen, indem sie sich sagte, was sie vor vielen Wochen von ihrer Kollegin zu hören gekriegt hatte: Man wird doch vor einer Elfjährigen nicht davonlaufen!

»Heißt das, du nimmst meinen Antrag an?« fragte Wolfgang. Er umfaßte sanft ihre Schultern.

»Ja«, antwortete sie schlicht.

»Du machst mich zum glücklichsten Menschen der Welt«, stieß er enthusiastisch aus.

Birgit schüttelte den Kopf. »Kann nicht sein, der bin ich schon«, erklärte sie mit einem bezaubernden Lächeln.

»Streiten wir uns nicht, wer von uns glücklicher ist«, sagte Wolfgang und zog sie erneut in seine Arme. »Die Hauptsache ist doch, wir lieben uns.« Er verschloß ihr den Mund mit einem Kuß, der ihr fast den Atem nahm.

*

Der schrille Ton des Weckers riß Birgit Keller aus dem Schlaf. Automatisch fuhr ihre Hand zum Nachttisch und stellte das Klingeln ab. Minutenlang blieb sie noch mit geschlossenen Augen liegen und dachte über das nach, was am Vorabend passiert war. Hatte sie nur geträumt, daß ihr Wolfgang einen Heiratsantrag gemacht hatte, oder war es Wirklichkeit gewesen? Einen Augenblick dachte sie tatsächlich, sie hätte nur einen wunderschönen Traum gehabt, doch dann richtete sie sich auf, öffnete die Augen und blickte durch das offene Fenster zum strahlendblauen Himmel. Es war Wirklichkeit gewesen, sie wußte es jetzt wieder ganz genau! Sie und Wolfgang würden heiraten, vielleicht bald eigene Kinder haben… Sie hätte vor Freude laut jubeln können.

Aber die Pflicht rief, selbst an so einem wunderschönen Morgen wie heute. Sie schwang ihre Beine über den Bettrand und stand auf. Rasch ging sie in ihr kleines Badezimmer und duschte, danach fühlte sie sich schon munterer. Blitzschnell zog sie sich an. Es war sechs Uhr, in einer halben Stunde mußte sie Adina wecken. Wolfgang fand gewöhnlich allein aus dem Bett.

Sie ging in die Küche hinunter und machte sich daran, das Frühstück zuzubereiten. Sie wunderte sich selbst darüber, wie leicht ihr an diesem Morgen alles von der Hand ging. Während das Kaffeewasser durch die Maschine lief, stieg sie wieder die Treppe hinauf. Vor Adinas Zimmertür blieb sie stehen und klopfte. Aus dem Badezimmer gegenüber hörte sie Wolfgang pfeifen.

»Adina, aufstehen!« rief Birgit, als auf ihr Klopfen keine Antwort folgte. Sie wartete einen Augenblick, dann drückte sie die Klinke hinunter und trat ein. »Adina!« rief sie. Ihr Blick fiel auf das Bett. Es war leer!

Hatte sie sich getäuscht, hatte sie Adina und nicht Wolfgang im Badezimmer gehört? Sie drehte sich um und trat wieder in den Korridor. In diesem Moment kam Wolfgang aus dem Bad.

»Guten Morgen, Liebling!« rief er gutgelaunt und wollte sie in die Arme ziehen.

»Adina ist nicht in ihrem Zimmer«, stieß Birgit hervor.

»Dann wird sie schon unten sein.« Wolfgang küßte sie zärtlich.

»Aber ich habe sie gar nicht gehört.« Birgit blickte zweifelnd zur Treppe. »Ich habe ein ziemlich ungutes Gefühl.«

»Meinst du, sie ist ausgerissen?« Wolfgang lachte schallend. »Adina ist kein Mädchen, das weglaufen würde. Warum auch?«

»Ich laufe schnell hinunter.« Birgit befreite sich aus seinem Arm. »Adina!« rief sie und eilte ins Erdgeschoß. Sie öffnete nacheinander die einzelnen Zimmertüren.

»Vielleicht hat sie sich versteckt«, meinte Wolfgang. Er war der jungen Frau gefolgt.

»Sieht ihr eigentlich nicht ähnlich.« Birgit öffnete die Terrassentür und rannte in den Garten.

Es dauerte keine zehn Minuten, da hatten sie das Haus gründlich durchsucht. Adina war nicht da. Dafür entdeckten sie, daß die Schultasche des Mädchens und ein Teil seiner Kleidung fehlten.

»Abgehauen, einfach abgehauen.« Wolfgang ließ sich erschüttert auf Adinas Bett fallen. Er stützte den Kopf in die Hände.

»Es gibt zwei Möglichkeiten«, sagte Birgit. »Entweder ist sie bereits zur Schule gegangen und will uns nur in Ängste stürzen, oder sie ist bei deiner Schwiegermutter.«

»Was auf dasselbe herauskommen würde«, bemerkte Wolfgang zornig. »Wie habe ich nur jemals annehmen können, Adina sei ein kleiner Engel?«

»Am besten, du rufst gleich einmal deine Schwiegermutter an«, schlug Birgit besorgt vor.

Der Mann nickte. »Daß Adina schon zur Schule gegangen ist, glaube ich nicht. Was sollte sie bis Schulbeginn anfangen? Nein, sie steckt sicher bei meiner Schwiegermutter.« Er ging zum Telefon und wählte die Nummer Vilma Steins.

Das Hausmädchen meldete sich am anderen Ende der Leitung. Es wirkte noch reichlich verschlafen. »Die gnädige Frau ist nicht da, Herr Kayser«, sagte es, nachdem sich Wolfgang gemeldet hatte.

»War meine Tochter heute morgen schon da?«

»Ja, um vier Uhr hat sie mich herausgeklingelt«, erwiderte Louise. »Ich habe die gnädige Frau wecken müssen. Frau Stein hat mir dann aufgetragen, Kaffee zu kochen und für das kleine Fräulein Schokolade.«

»Und wo sind Frau Stein und meine Tochter jetzt?«

»Stimmt etwas nicht, Herr Kayser? Mir kam es gleich reichlich komisch vor. Ich glaube, Frau Stein bringt Ihre Tochter zur Schule. Sie sind vor fünf Minuten weggefahren.«

»Danke!« Wolfgang legte auf. »Typisch meine Schwiegermutter. Anstatt mich sofort anzurufen.«

»Warum ist Adina zu ihr gefahren?« fragte Birgit.

»Das ist mir auch ein Rätsel.« Wolfgang zog eine Grimasse. »Trinken wir erst einmal Kaffee. Ich kann jetzt ein kräftiges Frühstück gebrauchen. Wir wissen ja nun, daß ihr nichts passiert ist.«

»Ich kann mir nicht denken, daß deine Schwiegermutter auf dem Weg zur Schule ist. Es ist erst sieben.«

»Sie wird Adina doch nicht etwa wegbringen?« Wolfgang sah Birgit erschrocken an. »Am besten, ich wende mich sofort an die Polizei.«

Birgit kam nicht dazu, ihm zu antworten, da in diesem Moment das Telefon klingelte. Wolfgang eilte an den Apparat und hob den Hörer ab.

»Ich nehme an, ihr habt Adina inzwischen vermißt«, tönte die Stimme Vilma Steins an sein Ohr. »Oder seid ihr so in Liebesgeflüster vertieft, daß ihr alles andere darüber vergessen habt?«

»Also daher weht der Wind«, sagte Wolfgang. Er wunderte sich über seine Ruhe. »Wo ist Adina?«

»Sie ist bei mir, ich bringe sie nachher in die Schule. Ich wollte dir nur sagen, daß ihr nichts passiert ist. Im Gegensatz zu dir, kenne ich nämlich meine Pflichten.«

»Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Du hättest mich sofort verständigen müssen, daß Adina bei dir ist.«

»Warum? Als das arme Kind mitten in der Nacht völlig verstört vor meiner Haustür stand, hatte ich anderes zu tun, als mit dir zu telefonieren. Inzwischen hat sich Adina zum Glück wieder soweit beruhigt, daß sie zur Schule kann. Ich bin mit ihr bereits in Maibach. Wir frühstücken gerade im Tabaris. Schließlich muß ich dem Kind etwas bieten, um es auf andere Gedanken zu bringen.«

»Adina hatte nicht den geringsten Grund, auszureißen.«

»Und ob sie den hatte. Aber darüber unterhalten wir uns nachher. Sowie ich Adina in der Schule abgeliefert habe, komme ich zu dir ins Geschäft. Ich habe mit dir mehr als nur ein Wörtchen zu reden.«

»Ich werde hier auf dich warten, Schwiegermutter und erst nach deinem Besuch ins Geschäft fahren.«

»Fürchtest du, ich könnte dich vor deinen Angestellten bloßstellen?«

»Ich erwarte deinen Besuch mit Freuden.« Wolfgang knallte so heftig den Hörer auf, daß Birgit befürchtete, er wäre kaputtgegangen. Wütend erzählte er ihr, was seine Schwiegermutter gesagt hatte. »Ich möchte nur wissen, was sich diese Person einbildet«, stieß er erregt hervor.

»Dein Kaffee!« Birgit drückte ihm eine Tasse in die Hand.

»Ah, das tut gut.« Er stellte die Tasse, nachdem er getrunken hatte, auf den nächsten Tisch. »Ich liebe dich, Birgit, was auch immer kommen mag, ich liebe dich«, sagte er und zog sie an sich.

Vilma Stein ließ nicht lange auf sich warten. Kurz nach acht klingelte sie an der Haustür. Birgit öffnete ihr. Ohne Notiz von der jungen Frau zu nehmen, stürzte die ältere Frau ins Wohnzimmer, wo sie ihren Schwiegersohn vermutete.

Wolfgang ließ die Zeitung sinken, in der er nur zum Schein gelesen hatte. Er stand auf. »Darf ich dir etwas anbieten?« fragte er. »Oder lehnst du es ab, in meinem Haus noch etwas zu dir zu nehmen?«

»Haus?« Vilma Stein lachte unangenehm auf. »Liebesnest! Ich werde das Jugendamt darauf aufmerksam machen, welchen moralischen Belastungen Adina hier tagtäglich ausgesetzt ist. Als hätte ich es mir nicht gleich gedacht. Es war augenfällig.«

»Halt erst einmal die Luft an.«

»Wie bitte?«

»Ich sagte, du sollst die Luft anhalten, Schwiegermutter«, wiederholte Wolfgang. »Du darfst dich ruhig setzen.«

»Ich werde mich in diesem Haus erst wieder setzen, wenn deine angebliche Haushälterin daraus verschwunden ist.«

»Den Gefallen werde ich dir bald tun.«

»Du hast ihr schon gekündigt?« Hoffnung schwang in der Stimme Vilma Steins mit.

»Als Haushälterin ja«, erklärte Wolfgang. »Aber ich habe sie noch gestern abend als meine zukünftige Frau verpflichtet.«

Vilma Stein ließ sich bis ins Innerste erschüttert in den nächsten Sessel fallen. »Das darf doch nicht wahr sein«, japste sie.

»Und warum nicht? Warum sollte ich nicht wieder heiraten?« fragte Wolfgang und setzte sich ebenfalls. »Ellen ist jetzt drei Jahre tot. Niemand kann es mir verübeln, wenn ich daran denke, eine neue Ehe einzugehen, zumal ich Birgit aufrichtig liebe.«

»Und das sagst du so einfach? Wie kannst du es wagen, Ellens Andenken dermaßen zu schänden?« Vilma Stein zog ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und betupfte sich damit die Augen. »Nie hätte ich gedacht, daß ich diesen Tag erleben muß. Nie hätte ich dir zugetraut, daß du derart ehrlos handeln könntest. Ich…«

»Ellen hätte mich verstanden«, fiel ihr Wolfgang ins Wort. »Ich glaube nicht, daß sie mir eine zweite Ehe und damit Adina eine zweite Mutter mißgönnt hätte.«

»Wie kannst du es wagen, von dieser Person als Mutter zu sprechen?« Vilma Steins Augen funkelten vor Zorn. »Sie ist ja doch nur hinter unserem Geld her.«

»Ich bin finanziell unabhängig, Frau Stein«, sagte Birgit. Sie hatte durch die offene Tür das Gespräch mitangehört und überlegt, ob sie sich einmischen sollte. Da aber nun ihre Motive für ihr Jawort in Frage gestellt wurden, konnte und wollte sie nicht länger schweigen.

»Was haben Sie hier überhaupt zu suchen?« fuhr sie die Frau unbeherrscht an. »Ihr Platz ist in der Küche.«

»Birgits Platz ist bei mir«, konterte Wolfgang. Er stand auf und ging auf seine Braut zu. Einen Arm um ihre Taille gelegt, kehrte er mit ihr zur Couch zurück. »Auch wenn es dir nicht paßt, Schwiegermutter, ich werde Birgit heiraten. Ich hätte niemals geglaubt, jemals wieder so glücklich sein zu können, wie ich es jetzt bin. Birgit wird Adinas Stiefmutter! Du wirst dich damit abfinden müssen.«

»Dann werde ich dieses Haus nie wieder betreten.«

»Das steht dir frei.«

»Du wirst Adina mit dieser Entscheidung todunglücklich machen«, drohte Vilma Stein. »Das arme Kind mußte gestern mit ansehen, wie du und diese… wie ihr im Garten…« Sie holte tief Luft. »Zwinge mich nicht, es auszusprechen, Wolfgang. Jedenfalls lag Adina stundenlang wach, bevor sie aufstand, sich ein Taxi rief und zu mir fuhr. Was hätte dem armen Kind alles passieren können, aber du schliefst ja scheinbar den Schlaf der Gerechten.«

»Ich werde meine Tochter in Zukunft nachts einschließen.«

»Das Jugendamt wird dir einen Strich durch die Rechnung machen«, trumpfte Vilma Stein auf. »Ich schwöre dir, ich werde dafür sorgen, daß Adina bei mir aufwachsen darf.«

»Du solltest die Tatsachen so sehen, wie sie sind«, sagte Wolfgang.

»Frau Stein, wäre es nicht besser, wir würden Frieden miteinander schließen?« fragte Birgit. »Ich verspreche Ihnen, ich werde Adina eine guter Mutter sein. Ich…«

Vilma Stein sprang auf. »In diesem Haus habe ich nichts mehr verloren«, entschied sie. »Ellen würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüßte, was für ein Mensch du geworden bist.« Bevor Wolfgang sie noch zurückhalten konnte, hatte sie bereits das Zimmer verlassen. Die Tür flog so heftig hinter ihr ins Schloß, daß das ganze Haus zu beben schien.

»Wir können sie doch nicht so gehen lassen«, flüsterte Birgit, den Tränen nahe.

»Und ob«, sagte Wolfgang und nahm sie in die Arme. »Wir lieben uns, und nur darauf kommt es an.« Er blickte ihr in die Augen. »Wir haben nichts Böses getan, Liebling. Eines Tages wird das auch Adina einsehen.« Fest drückte er seine Lippen auf ihren Mund.

*

»Noch drei Tage, dann sind endlich Sommerferien«, jubelte Fabian Schöller, als er zusammen mit den anderen Kindern aus der Schule kam. »Am ersten Ferientag sollten wir ein riesiges Fest geben.«

»O ja!« stimmte Vicky Langenbach zu. »Ein Kostümfest!« Ihre Augen strahlten vor Unternehmungslust. »Wir sollten mal wieder die Kleiderkammer auf den Kopf stellen.«

»Aber auch hinterher aufräumen.« Schwester Regine kam die Treppe hinunter. »Das letzte Mal mußten Frau Rennert und ich euch ständig daran erinnern, alles wieder wegzupacken. Von dem Tohuwabohu, das ihr hinterlassen hattet, hätte ich ein Foto machen sollen.«

»Wir räumen dieses Mal ganz bestimmt alles wieder sofort weg«, versprach Angelika, die von der anderen Seite der Halle dazukam. »Ein Kostümfest finde ich prima. Magda könnte uns Riesenmengen von Kuchen backen, wir könnten uns Spiele ausdenken…«

»Also ich bin mehr dafür, ein Fest nicht gleich an den Anfang der Ferien zu legen«, warf Schwester Regine ein. »Wartet eine Woche damit, dann habt ihr auch mehr Zeit für die Vorbereitungen.

Es ist doch besser, wenn man in Ruhe planen kann.«

Fabian nickte. »Stimmt«, gab er zu. »Um so schöner wird das Fest dann. Vielleicht können wir auch noch richtige Kostüme schneidern, oder vielmehr die Mädchen.« Er sah hoffnungsvoll Angelika an.

»Kommt ganz darauf an, wie sich die Männerwelt so führt«, erklärte die Zwölfjährige.

»Ob Adina auch mitmacht?« fragte Vicky.

»Die wird sich lieber um Zarah kümmern«, vermutete Fabian.

»Pünktchen tut mir leid«, sagte Angelika. »Ich wollte nicht mit Adina in einem Zimmer schlafen. Bin ich froh, daß ich meines nur mit Vicky teilen muß.«

»Wartet doch erst einmal, bis Adina hier ist«, schlug Schwester Regine vor. »So schlimm war sie gar nicht. Sie hatte sich doch ganz gut bei uns eingelebt.«

»Seit sie Zarah hat, ist sie unleidlich«, erklärte Angelika.

»Wenn sie auf der Stute ausreitet und wir ihr begegnen, tut sie, als würde sie uns überhaupt nicht kennen«, fügte Fabian hinzu. »Also, ich mag sie nicht.«

»Wenn ihr Adina mit diesem Vorurteil gegenübertretet, wird sich euer Verhältnis zueinander nie ändern.« Irmela Groote stieg die Treppe zur Halle hinunter. »Ich habe mir jedenfalls vorgenommen, nett zu ihr zu sein. Ich weiß, wie das ist, wenn ein Elternteil plötzlich wieder heiratet. Anfangs war ich auch auf meinen neuen Vater schrecklich eifersüchtig.«

»Du hast völlig recht, Irmela«, pflichtete Schwester Regine der Fünfzehnjährigen bei. »Übrigens ist ein Brief für dich gekommen. Hast du ihn gesehen?«

»Nein!«

»Ich habe ihn auf deinen Nachttisch gelegt. Er ist von deinen Eltern aus Indien. Ich…«

Irmela hörte die letzten Worte Schwester Regines nicht mehr. Sie war bereits wieder davongestürmt, um nach dem Brief zu suchen.

»Am besten, ihr geht euch schon mal die Hände waschen«, schlug Schwester Regine den anderen vor. »In fünf Minuten wird gegessen. Magda hat Kartoffelpuffer gemacht.«

»Hurra!« schrie Fabian auf. »Für Kartoffelpuffer würde ich bis nach Amerika laufen.«

»Auch übers Wasser?« fragte Vicky. Sie rannte an ihm vorbei, um als erste im Waschraum zu sein.

Regine Nielsen trat ins Empfangszimmer. Frau Rennert telefonierte gerade mit einem Beamten vom Maibacher Jugendamt. Das Gespräch drehte sich um ein kleines Mädchen, das in Sophienlust aufgenommen werden sollte. »Draußen geht es ja wieder einmal hoch her«, sagte sie, nachdem sie aufgelegt hatte.

»Die Kinder planen ein Kostümfest«, erzählte Schwester Regine. »Wann wollten die Kaysers eigentlich Adina bringen?«

»Gegen vierzehn Uhr«, erwiderte Frau Rennert. »Frau von Schoenecker wird hoffentlich bis dahin aus Stuttgart zurück sein. Mir ist es lieber, wenn sie selbst mit Herrn Kayser spricht. Ich nehme an, daß wir mit Adina diesmal mehr Schwierigkeiten als bei ihrem ersten Aufenthalt bei uns bekommen.«

»Oder auch nicht.« Die Kinderschwester hob die Schultern. »Adina hat jetzt Zarah. Vielleicht ist sie sogar sehr gern bei uns. Quasi kann sie ja dadurch den ganzen Tag mit ihrer Stute verbringen.«

»Lassen wir uns überraschen«, meinte Frau Rennert. Sie stand auf, weil in der Halle der Gong ertönte, der zum Mittagessen rief.

»Etwas anderes bleibt uns auch gar nicht übrig«, stimmte ihr Schwester Regine lachend zu.

Nach dem Mittagessen brachte sie die kleineren Kinder nach oben, die noch täglich einen kurzen Mittagsschlaf hielten. Die größeren rannten in den Park hinaus.

Als der Wagen Denise von Schoeneckers durch das Tor fuhr, stürmten die Kinder auf den Parkplatz. Die Gutsbesitzerin hatte ihre Söhne mitgebracht. »Wir veranstalten ein Kostümfest, Tante Isi!« schrien die Buben und Mädchen durcheinander.

»Halt, laß mich erst einmal Luft holen«, bat Denise von Schoenecker. »Und dann erzählt mir bitte alles der Reihe nach.«

»Ich gehe als Indianer«, meldete sich Henrik zu Wort.

»Indianer werde ich schon«, entgegnete Fabian. »Überhaupt war das Ganze meine Idee.«

»Ehre wem Ehre gebührt«, spöttelte Nick gutmütig. »Mutti, ich schau mal, wo Pünktchen steckt. Du wirst hier ja noch eine Weile zu tun haben.« Er schlug seiner Mutter leicht auf die Schulter. »Ruf um Hilfe, wenn die Rasselbande handgreiflich wird.«

»Ich werde mich meiner Haut zu wehren wissen«, sagte die Verwalterin lachend, während sie Vicky in den Armen hielt.

Nick stürmte die Freitreppe hinauf, durchquerte die Halle und sprang, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe zum ersten Stock hoch. Er fand Angelina Dommin in ihrem Zimmer vor. Sie steckte gerade ein Foto in einen selbstgefertigten Bilderrahmen.

»Ist es nicht schön geworden?« fragte sie, als Nick eintrat, und hielt ihm ein Foto von Zarah entgegen.

»Gut getroffen.« Er nahm das Bild zur Hand. »Adina wird sich sicher darüber freuen.«

»Hoffen wir es.« Pünktchen seufzte. »Ich nehme an, sie wird schrecklich traurig sein. Bisher hat ihr Vater ihr allein gehört, jetzt muß sie ihn mit ihrer neuen Mutter teilen.«

»Einfach wird es sicher nicht für sie sein, aber wenn wir ihr alle helfen, wird sie schon darüber hinwegkommen.« Nick grinste. »Ich werde ab und zu allein mit ihr ausreiten. Vielleicht…«

»Untersteh dich«, drohte Pünktchen mit blitzenden Augen. Sie nahm ihm das Foto aus der Hand und stellte es auf Adinas Nachttisch.

Kurz nach vierzehn Uhr fuhr die Limousine Wolfgang Kaysers vor.

»So, da wären wir also«, sagte Wolfgang Kayser betont munter. Er legte seiner Frau kurz die Hand auf den Arm. »Alles aussteigen!«

»Klingt wie auf einer Eisenbahnstation«, scherzte Birgit. Sie wandte sich um. »Meinst du nicht auch, daß dein Vater einen guten Schaffner abgegeben hätte, Adina?«

Das Mädchen zuckte die Achseln. Sie öffnete die Fondtür und stieg aus. »Hallo!« sagte sie kurz zu den Kindern, die den Wagen umstanden.

»Wir veranstalten ein Kostümfest«, sprudelte Angelika hervor. »Machst du auch mit?« »

»Wozu?«

Vicky starrte Adina sprachlos an. »Na, weil’s Spaß macht«, sagte sie schließlich.

Wolfgang legte eine Hand auf die Schulter seiner Tochter. »Adina wird schon mitmachen«, sagte er. »Am Fasching verkleidest du dich doch auch so gern.«

»Ich ziehe mich gleich um und gehe zu Zarah.« Adina schüttelte die Hand ihres Vaters ab.

Wolfgang wollte etwas erwidern, doch Birgit machte ihm ein Zeichen, ruhig zu bleiben. Er holte tief Luft. »Gut, wenn du willst, Liebes«, sagte er und strich seiner Tochter über die Haare. »Wir kommen dann zur Koppel raus, um uns von dir zu verabschieden.« Er öffnete den Kofferraum und holte Adinas Koffer heraus.

»Ich bringe ihn nach oben.« Henrik drängte sich durch die übrigen Kinder. »Ich bin nämlich der Stärkste!«

»So stark wie ein Elefant nach einjähriger Hungerkur.« Angelika lachte.

»Ich werd’s dir beweisen.« Henrik griff nach dem Koffer. »Siehst du, ich könnte ihn sogar nur mit dem kleinen Finger tragen.«

»Probier es lieber nicht«, warnte Birgit.

»Sonst fällt es dir vielleicht schwer, die Schokolade in der Hand zu halten, die wir mitgebracht haben«, fügte Wolfgang hinzu und nahm einen großen Karton aus dem Kofferraum. Er reichte ihn Angelika. »Es reicht für alle, also bitte nicht darum streiten.«

»So was tun wir nie«, versicherte Fabian und hob stolz den Kopf. »Wir teilen immer alles ganz genau auf.«

Denise von Schoenecker kam aus dem Haus und begrüßte Wolfgang und seine Frau aufs herzlichste.

»Gehen wir auch hinein«, sagte sie.

Der Kaffee wartet schon. Unsere Köchin hat wieder ihre köstlichen Kirschtörtchen gebacken. Sie wäre zutiefst beleidigt, wenn Sie nicht wenigstens davon versuchen würden.«

»Das wollen wir ihr natürlich nicht antun«, meinte Birgit.

Kurz darauf saßen sie in dem gemütlichen Biedermeierzimmer. Denise von Schoenecker bediente die Kaysers mit Kaffee und Kuchen. »Ich bin überzeugt, Sie haben den richtigen Schritt getan«, sagte sie.

»Meine Schwiegermutter ist da nach wie vor anderer Meinung«, erwiderte Wolfgang. »Ich habe Ihnen ja bereits am Telefon erzählt, daß Adina in der Nacht, in der ich Birgit um ihre Hand bat, ausgerissen ist. In den sechs Wochen, die seitdem vergangen sind, gab es keinen Tag, an dem meine Tochter uns nicht gezeigt hat, wie gleichgültig ihr Birgit ist. Das kommt natürlich nicht von ihr allein. In meinen Augen ist sie nur das hilflose Werkzeug meiner Schwiegermutter.«

»Und wie war es gestern bei der Trauung?« fragte Denise.

»Adina hat selbstverständlich an ihr teilgenommen und sich auch über das wunderschöne Kleid, das sie aus diesem Anlaß bekommen hat, gefreut«, erwiderte Birgit. »Aber ich spüre deutlich, daß sie mich haßt.«

»Also Haß würde ich es nicht direkt nennen«, schwächte Wolfgang ab.

»Wir sollten den Tatsachen ins Auge sehen«, widersprach Birgit und griff nach seiner Hand. »Ich fürchte mich nicht vor diesem Haß. Ich hoffe, daß sie ihn eines Tages überwinden wird, aber sie vergiftet doch ihr eigenes Leben damit. Adina ist erst elf, wie soll sie damit fertig werden?«

»Ich bin überzeugt, sie wird schneller darüber hinwegkommen, als du glaubst«, sagte Wolfgang. »Die Wochen in Sophienlust werden ihr guttun. Hier kann sie hautnah erleben, wie sich andere Kinder freuen, wenn sie neue Eltern oder eine neue Mutter bekommen.« Er sah die Gutsbesitzerin an. »Was meinen Sie, Frau von Schoenecker?«

»Es ist schwer zu sagen, was diese drei Wochen Adina bringen werden«, entgegnete Denise nachdenklich. »Sie könnte sich abgeschoben fühlen, oder aber auch glücklich darüber sein, diese Gelegenheit zu haben, um sich an den Gedanken an eine neue Mutter so richtig zu gewöhnen. Jedenfalls ist es ein Vorteil, daß sie Zarah hier hat.«

»Also war es doch gut, daß Frau Stein ihr die Stute geschenkt hat«, meinte Birgit.

»Wieso sollte sich Adina abgeschoben fühlen?« fragte Wolfgang. »Ursprünglich sollte sie uns ja auf unsere Hochzeitsreise begleiten. Sie wollte nicht, wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen. Ich habe die Buchung für sie erst vor wenigen Tagen rückgängig gemacht.«

»Das alles mag schon stimmen doch ein Kind denkt da anders«, erklärte Denise. »Adina wird sich jetzt einreden, Sie wären froh darüber, daß sie nicht nach Spanien mitkommt. Und wenn Sie ehrlich sind, Herr Kayser, dann…«

Der Mann wurde verlegen. »Nun gut, ich versuchte zwar, Adina zu überreden, uns zu begleiten, aber tief in meinem Herzen war ich doch erleichtert darüber, daß sie in Deutschland bleiben wollte.«

»Und ein Kind fühlt so etwas.«

»Was raten Sie uns, sollen wir tun?« fragte der Geschäftsmann. »Wir können doch Adinas wegen nicht auf unsere Hochzeitsreise verzichten.«

»Das verlangt auch kein Mensch von Ihnen, Herr Kayser«, beruhigte ihn Denise. »Adina bewegt sich hier sozusagen auf neutralem Boden. Es würde anders aussehen, wenn sie diese Zeit bei ihrer Großmutter verbringen müßte.«

»Meine Schwiegermutter hätte sie sicher mit Freuden aufgenommen, aber sie muß zu einer Gallenoperation ins Krankenhaus. Und ich streite nicht ab, daß mir das sehr gelegen kam. Der Gedanke, Adina drei Wochen meiner Schwiegermutter ausgeliefert zu wissen, wäre für mich furchtbar gewesen.«

»Wir wünschen Frau Stein dennoch nichts Schlechtes«, fühlte sich Birgit verpflichtet zu betonen.

»Das hätte ich auch niemals angenommen, Frau Kayser«, erwiderte Denise mit einem feinen Lächeln. »Wir werden jedenfalls alles tun, um Adina deutlich zu machen, daß eine Stiefmutter auch etwas sehr Schönes sein kann.«

»Danke, Frau von Schoenecker«, sagte Wolfgang. »Dürfen wir Sie ab und zu anrufen und uns nach Adina erkundigen.«

»Ich hoffe doch sehr, daß sie das tun werden«, erklärte Denise. Sie blickte von einem zum anderen. Sie hatte selten so deutlich das Gefühl gehabt, daß zwei Menschen zusammengehörten, wie die Kaysers.

*

Die Tage flogen nur so dahin. Bereits zu Hause hatten Wolfgang und Birgit Kayser eine Liste der Sehenswürdigkeiten zusammengestellt, die sie unbedingt besichtigen wollten. Nur Weniges konnte auf dieser Liste abgehakt werden. Die Zeit war einfach zu kostbar, um sie im Kreis anderer Touristen zu verbringen. Statt alte Paläste, Kathedralen und Museen zu besichtigen, wanderten sie lieber Hand in Hand durch die Stadt, spazierten am Strand entlang, saßen im Café oder gingen an einsamen Buchten schwimmen. Nach dem Tod ihres ersten Mannes und ihrer Tochter hatte sich Birgit geschworen, nie wieder nach Spanien zu reisen, doch an Wolfgangs Seite verlor dieses Land seine Schrecken für sie. Sie spürte mit jedem Tag deutlicher, daß sie den Tod ihrer geliebten Angehörigen endlich überwunden hatte.

»Damals hatten wir noch nach Granada fahren wollen«, sagte Birgit aus ihren Gedanken heraus, als sie im Paseo de la Alameda saßen und der Verkehr Malagas an ihnen vorbeiflutete. Vor ihnen auf dem Tisch stand eine Karaffe mit eisgekühltem Sangria, einem herrlichen Getränk aus Rotwein, Mineralwasser und Früchten. Der betörende Duft der unzähligen Pflanzen und Blumen, die in den Anlagen um das kleine Café herumstanden, hüllte sie völlig ein.

»Möchtest du Granada sehen, Liebling?« fragte Wolfgang. »Wir könnten unsere Zelte hier abbrechen und die letzten Tage unserer Ferien dort verbringen. Granada muß man einfach besuchen.«

»Warst du mit deiner ersten Frau in Granada?«

»Nein.« Wolfgang schüttelte den Kopf. »Wir sind zwar mehrmals in Spanien gewesen, aber immer nur bis Valencia gekommen. Doch vor meiner Ehe war ich einmal in Granada. Die Stadt ist bezaubernd, und dann ist da natürlich noch die Alhambra.«

»Hast du vor, mich in den dortigen Harem zu stecken?« scherzte Birgit.

»Du bringst mich auf einen Gedanken.« Wolfgang lachte. »Aber wenn du nicht nach Granada willst, bleiben wir hier.«

»Es hängen zu viele Erinnerungen daran«, erwiderte die junge Frau. »Wir hatten uns so auf diese Fahrt gefreut. Wir…« Sie hob den Kopf und sah ihm in die Augen. »Ich möchte nach Granada, Wolfgang. Wenn ich dort bin, werde ich auch den letzten Rest meiner Vergangenheit hinter mir gelassen haben und all das, was mich bis vor wenigen Tagen noch belastet hat, wird mir nicht mehr wie ein Spuk folgen.«

Wolfgang winkte einen Kellner herbei und beglich die Rechnung. Untergehakt gingen er und Birgit wenig später über die Straße zum Postamt, um einen Brief an Adina einzuwerfen, den sie im Café geschrieben hatten.

»Ich werde vor dem Abendessen in Sophienlust anrufen«, sagte Wolfgang, nachdem der Brief im Kasten ruhte.

»Du solltest auch einmal im Maibacher Krankenhaus anrufen und dich nach deiner Schwiegermutter erkundigen«, schlug Birgit vor. »Immerhin hat sie eine nicht ganz leichte Operation hinter sich.«

»Du bist viel zu gut«, bemerkte Wolfgang. »Meine liebe Schwiegermutter hätte es eigentlich verdient, daß ich mich überhaupt nicht mehr um sie kümmere.«

»Ich würde gern mit ihr Frieden schließen.« Birgit lehnte sich an ihn. »Schon um Adinas willen. Sie ist nun einmal deren Großmutter. Ich möchte nicht, daß unsere Tochter hin und her gerissen wird.«

»Unsere Tochter«, wiederholte der Mann leise. Glücklich legte er den Arm um sie. »Schon wegen dieser beiden Worte würde dir eine Goldmedaille gebühren.« Ungeachtet der Leute, die rechts und links an ihnen vorbeigingen, küßte er sie.

*

Birgit Kayser stand am Fenster ihres Hotelzimmers und blickte zur Alhambra hinüber.

»Was hast du, Liebling?« fragte Wolfgang. Er trat hinter sie.

»Ich dachte nur daran, wie schön es wäre, noch einige Tage in Granada zu bleiben«, erwiderte Birgit. »Wir haben noch lange nicht alles gesehen.«

»Ein Wort von dir und ich storniere unsere heutige Rückreise.«

Sie schüttelte den Kopf und wandte sich um. »Nein, Wolfgang, das geht nicht. Adina erwartet uns, das heißt, sie erwartet auf jeden Fall dich.«

»An Adina dachte ich jetzt nicht, aber du hast recht. Wir dürfen sie nicht enttäuschen.« Wolfgang strich ihr über die Wange. »Die Nachrichten aus Sophienlust klangen eigentlich ziemlich ermutigend.«

Birgit wollte ihm nicht die Illusion rauben, daß Adina sich mit ihrer Ehe abgefunden hatte. Sie selbst hatte am Vortag mit Frau von Schoenecker telefoniert. Adina machte zwar keinen Ärger, aber sie war seltsam in sich gekehrt und nahm an den Spielen der übrigen Kinder kaum teil.

»Es wird Zeit, die Koffer zu packen«, meinte sie und befreite sich resolut aus Wolfgangs Armen. »Wir hätten es schon gestern abend tun sollen. Hoffentlich verpassen wir nicht das Flugzeug.«

»Ich habe die Koffer bereits gepackt«, sagte Wolfgang.

»Wann denn?«

»Ich bin kurz vor Morgengrauen aufgewacht.« Er zwinkerte ihr zu. »Weißt du, daß du noch hübscher aussiehst, wenn du schläfst?«

»Tatsächlich?«

»Man soll seine Frau zwar nicht mit Komplimenten verwöhnen, aber ich muß zugeben, du bist immer hübsch, Liebling. Du hast so fest geschlafen, daß du nicht einmal aufgewacht bist, als ich das Licht einschaltete, um unsere Sachen zu packen.« Er nahm die Reisetasche und öffnete sie. »Was noch übrig ist, stecken wir einfach hier hinein.«

»Du bist ein Juwel, Wolfgang«, erwiderte Birgit. »Jetzt können wir vor unserer Fahrt zum Flughafen noch in aller Ruhe frühstücken.«

»Das Frühstück wird uns in einer halben Stunde auf der Terrasse serviert«, verriet der Mann. »Es ist bereits bestellt.« Herausfordernd reckte er den Kopf. »Was sagst du nun?«

»Ich muß mich verbessern«, erklärte Birgit. »Du bist kein Juwel, sondern ein Kronjuwel.« Lachend verschwand sie im Bad.

Einige Stunden später nahmen sie hoch in der Luft ein kleines Mittagessen ein.

»Ich freue mich auf Adina«, sagte Wolfgang aus seinen Gedanken heraus.

»Das ist verständlich.« Die Frau schenkte ihm ein warmes Lächeln, obwohl ihr alles andere als leicht ums Herz war. Sie legte ihr Besteck auf den Teller und blickte aus dem Fenster. Die Wolken wirkten wie riesengroße Wattebällchen.

»Es wird alles gutgehen, Liebling.« Wolfgang hob sein Glas. »Trinken wir auf unsere Zukunft.« Verschmitzt fügte er hinzu: »Und darauf, daß Adina bald ein Geschwisterchen bekommt.«

»Spinner«, sagte Birgit zärtlich.

Wenig später lag der Stuttgarter Flughafen unter ihnen.

Auf in den Kampf, sagte sich Birgit. Es war ein ganz seltsames Gefühl, als Wolfgangs Frau und Adinas Stiefmutter heimzukehren.

In der Tiefgarage des Flughafens stand Wolfgangs Limousine noch genauso, wie er sie vor ihrem Flug nach Spanien geparkt hatte. »Eine Stunde, dann sind wir in Sophienlust«, sagte er und verstaute das Gepäck im Kofferraum.

Birgit spürte, daß er kaum noch erwarten konnte, Adina in die Arme zu schließen. Sie selbst schien momentan nur noch in zweiter Linie für ihn zu existieren. Sie fühlte eine gewisse Eifersucht auf das Mädchen, schalt sich aber gleichzeitig eine Närrin. Immerhin hatte Wolfgang seine Tochter drei Wochen nicht mehr gesehen.

Während der ganzen Fahrt nach Sophienlust sprach Wolfgang Kayser von seiner Tochter.

»Schon als Vierjährige setzte Ellen sie ans Klavier und lehrte sie eine einfache Melodie zu spielen«, sagte er. »Aber Adinas Liebe galt schon bald der Geige. Ihre Lehrerin meint, daß sie ganz erstaunliche Fortschritte macht.«

»Ich liebe Musik ebenfalls, aber wie du weißt, spiele ich kein Instrument«, erwiderte Birgit. In ihren Ohren klang es, als würde sie deswegen Wolfgang um Entschuldigung bitten.

»Oh, das macht doch nichts.« Er verzog sein Gesicht. »Ich liebe dich trotzdem.«

Trotzdem, hallte es in Birgits Ohren nach. Sie spürte, wie Tränen in ihre Augen traten. Du benimmst dich unmöglich, versuchte sie sich zu beschwichtigen. Lege nicht jedes Wort auf die Goldwaage, sagte sie zu sich selbst in Gedanken. Du führst dich ja auf wie ein kleines Mädchen, dem man die Puppe wegnehmen will.

Ein schwaches Lächeln erhellte ihr Gesicht. Wolfgang war alles andere als eine Puppe. Er hätte sicher über diesen Vergleich gelacht.

»Woran denkst du, Liebling?« fragte Wolfgang. »Du siehst äußerst zufrieden aus.«

Wie gut, daß er nichts davon ahnte, wie sie sich wirklich fühlte. Wahrscheinlich war es sowieso nur Lampenfieber. Es war schließlich keine Kleinigkeit, plötzlich Mutter einer Elfjährigen zu sein. »An Adina«, erwiderte sie wahrheitsgemäß.

»Du scheinst dich auch auf sie zu freuen«, stellte der Geschäftsmann erleichtert fest. Er stieß heftig den Atem aus. »Nur noch zwanzig Kilometer, dann sind wir bei ihr.«

Die zwanzig Kilometer kamen Birgit wie ein einziger vor, so schnell waren sie in Wildmoos.

Wolfgang drosselte den Motor, als er dann die Auffahrt zur Freitreppe entlangfuhr.

Adina hatte schon seit dem Mittagessen ungeduldig auf ihren Vater gewartet. Der Koffer stand bereits gepackt in der Eingangshalle. »Er kommt!« schrie sie Pünktchen zu, die zusammen mit ihr auf dem Bärenfell vor dem Kamin gelegen hatte, sprang auf und stürzte durch das offene Portal.

Wolfgang stoppte den Wagen vor der Freitreppe. Ohne sich um Birgit zu kümmern, riß er den Wagenschlag auf, stieg aus und fing Adina mit beiden Armen auf. »Mein kleiner Liebling«, sagte er zärtlich, während er sie an sich drückte.

»Ich bin so froh, daß du wieder da bist, Vati.« Adina schmiegte ihren Kopf an seine Wange. »War es schön auf eurer Reise?«

»Sehr schön, aber ich bin froh, wieder bei dir zu sein«, erwiderte Wolfgang ganz gerührt über die Liebe, die ihm von seiner Tochter entgegenschlug.

»Großmama wird morgen aus dem Krankenhaus entlassen. Ich habe vorhin mit ihr telefoniert«, sagte Adina. »Und besucht habe ich sie auch einmal. Tante Isi hat mich oft nach Maibach mitgenommen.

»Lieb von ihr. Wie geht es deiner Großmutter?«

»Sie fühlt sich nicht sehr gut. Besuchst du sie noch heute?«

»Ich werde sie auf jeden Fall anrufen«, versprach Wolfgang. Er ließ Adina los und blickte zu Birgit, die inzwischen ebenfalls ausgestiegen war. Seine Augen strahlten.

Adina folgte seinem Blick. Sie zögerte kurz, dann wandte sie sich Birgit zu. »Hallo, Mutti«, sagte sie und das Mutti kam ihr so leicht über die Lippen, als hätte sie sich nichts sehnlicher gewünscht, als Birgit zur Mutter zu haben.

Verblüfft zuckte die junge Frau zusammen. All ihre Bedenken wurden von einer Woge ungeheurer Erleichterung hinweggespült. Sie zog Adina, die sich nicht dagegen sträubte, kurz in die Arme und küßte sie auf die Wange. »Wir haben dir etwas Wunderschönes mitgebracht.«

»Fein.« Die Elfjährige lächelte sie jetzt entwaffnend an. »Tante Isi will euch sicher noch sprechen, aber dann fahren wir doch sofort wieder nach Hause?«

»Worauf du dich verlassen kannst«, versprach Wolfgang. Er hakte Adina und Birgit unter. Zu dritt stiegen sie die Freitreppe hinauf und traten durch das Portal.

*

Es war zu schön, um wahr zu sein. Birgit Kayser fühlte sich wie im siebenten Himmel. Während sie das Abendbrot zubereitete, lachte sie innerlich über die Sorgen und Ängste, die sie noch vor wenigen Stunden belastet hatten. Die drei Wochen in Sophienlust hatten Adina nicht nur gutgetan, sie hatten sie auch völlig verwandelt. Wo war die Arroganz des Mädchens geblieben? Als sie nach Hause gekommen waren, war es nicht wie gewöhnlich erst für einige Minuten vor dem Spiegel im Treppenhaus stehengeblieben, sondern gleich hinauf in sein Zimmer gelaufen und wenige Minuten später in Jeans und einem T-Shirt zurückgekehrt.

»Kann ich dir helfen, Mutti?« Adina steckte den Kopf kurz in die Küche hinein.

»Du könntest schon mal den Tisch decken«, schlug Birgit vor.

»Mach ich.« Das Mädchen verschwand. Durch die offene Tür hörte Birgit, wie sie an den Geschirrschrank ging.

Wolfgang kam mit einem riesigen Feldstrauß in die Küche. »Habe ich eben gepflückt«, sagte er und nahm eine Vase von einem Regal. »Bist du auch so glücklich wie ich?« Er trat hinter seine Frau und strich zärtlich über ihren Nacken.

»Glücklicher könnte ich gar nicht sein.« Die junge Frau wandte ihm ihr Gesicht zu. In ihren Augen schimmerten Tränen.

Birgit nahm den Aufschnitt aus dem Eisschrank und legte ihn auf eine runde Platte. Sie dachte an Denise von Schoenecker. Denise hatte noch lange mit ihnen gesprochen. Adinas Verwandlung war ihr nicht ganz geheuer, und sie hatte sie und Wolfgang gewarnt, allzuviel zu erwarten. Sie glaubte, daß Adina ihre wahren Gefühle verbarg.

Konnte das der Fall sein? Birgit lauschte ins Eßzimmer hinüber, wo sich ihr Mann und seine Tochter über Zarah unterhielten. Adinas Stimme klang völlig gelöst. Nein, sie war ganz sicher, daß das Mädchen sich nicht verstellte.

Wenig später saßen sie um den runden Eßtisch beim Abendbrot. Genauso gemütlich hatte es sich Birgit immer in ihrer Familie gewünscht.

»Ich habe von Schwester Regine neue Reitkleidung bekommen«, erzählte Adina.

»Wieso das?« fragte Wolfgang.

»Ach, die anderen Sachen waren nicht richtig für Sophienlust«, antwortete die Elfjährige. »Die Kinder haben immer gegrinst, wenn ich sie anhatte. «Sie lachte. »Ich habe ein Foto. Tante Carola, die Schwiegertochter von Frau Rennert, hat es gemacht.« Sie nahm einen Schluck Tee. »Großmama schlägt sicher die Hände über dem Kopf zusammen, wenn sie es sieht. Aber wenn ich in Sophienlust auf Zarah reite, werde ich diese Sachen immer tragen. Ich möchte wie die anderen Kinder sein.«

»Das ist vernünftig, Adina«, lobte Wolfgang Kayser zufrieden. »Ich…« Das Klingeln des Telefons unterbrach ihn. »Laß nur, ich gehe an den Apparat«, sagte er, als Birgit aufstehen wollte.

Die junge Ehefrau blickte zur Uhr. »Wer kann denn das noch sein?« überlegte sie laut.

»Vielleicht Cordula«, erwiderte Adina. »Eigentlich wollte ich heute noch zu ihr gehen, aber ich habe keine Lust. Hier ist es auch schön.«

Es dauerte nur wenige Minuten, bis Wolfgang zurückkam. Sein Gesicht wirkte ernst. Stumm setzte er sich wieder an den Tisch. »Es war meine Schwiegermutter«, sagte er schließlich.

»Was wollte Großmama denn?« fragte Adina. »Gehen wir sie morgen gleich besuchen?«

»Du hattest doch erst vorhin mit ihr telefoniert«, meinte Birgit besorgt.

»Über den Besuch bei deiner Großmutter sprechen wir morgen früh«, vertröstete Wolfgang seine Tochter. »Was würdest du heute am liebsten tun, Kleines?« Es klang befreit, aber Birgit merkte deutlich, daß ihn etwas bedrückte.

Adina dachte nach. »Ich könnte euch etwas vorspielen«, schlug sie schließlich vor.

»Eine gute Idee.« Wolfgang sah Birgit an. »Meinst du nicht auch?«

»Doch, ich habe Adina bis jetzt nur selten spielen gehört.« Birgit lächelte dem Mädchen zu. »Ich freue mich darauf, Adina«, sagte sie.

Die Eheleute kamen erst am späten Abend dazu, miteinander unter vier Augen zu sprechen. Adina war schlafen gegangen. Ihre Geige lag auf der Couch.

»Gehen wir noch ein Stückchen spazieren, Liebling«, schlug Wolfgang vor.

»Gut!« Birgit griff nach der Geige und verstaute sie sorgfältig im Kasten. Es war noch nie vorgekommen, daß Adina das Instrument offen liegengelassen hatte. Sie schien todmüde gewesen zu sein.

»Es geht um meine Schwiegermutter«, begann Wolfgang, als sie die Terrassenstufen Arm in Arm hinunterstiegen.

»Du warst nach dem Gespräch verändert, aber ich wollte dich nicht in Gegenwart Adinas fragen«, erwiderte Birgit. »Was ist denn passiert? Geht es ihr wieder schlechter?«

»Kannst du dich erinnern, mit welchen Worten sie vor neun Wochen unser Haus verließ?«

Birgit nickte. »Sie wollte es nie wieder betreten.«»Und nun hat sie mich gebeten, sie für vier Wochen aufzunehmen.« Wolfgang spürte, wie Birgit neben ihm erstarrte. »Ich war genauso entsetzt«, fügte er hinzu. »Ich sagte ihr ganz ehrlich, daß ich erst mit dir darüber sprechen müßte. Immerhin wäre ich ja jetzt wieder verheiratet und du hättest in dieser Sache ein gewichtiges Wort mitzureden.«

»Und was hat sie darauf gesagt?« fragte Birgit. Ihre Stimme vibrierte leicht.

»Sie sagte, sie würde mich voll und ganz verstehen und bat mich, mit dir zu sprechen.«

»Das klingt so gar nicht nach Vilma Stein.«

»Ganz und gar nicht.«

»Und wie sollen wir uns entscheiden?« fragte Birgit. Der Gedanke an Wolfgangs Schwiegermutter jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Sie wollte ihren Mann bitten, rigoros abzulehnen, doch das erschien ihr dann doch zu hart angesichts der Tatsache, daß Vilma Stein gerade erst an der Galle operiert worden war. »Was ist mit ihrem Personal?«

»Sie glaubt nicht, daß Louise in der Lage ist, sie zu pflegen.«

»Und eine bezahlte Pflegerin?«

»Sie duldet keine fremde Frau im Haus.« Wolfgang seufzte. »Ich habe ihr ein gutes Sanatorium vorgeschlagen, aber das hat sie auch abgelehnt. Sie meint, sie würde sich in einem Erholungsheim so ganz allein todunglücklich fühlen.«

»Es sei denn, Adina würde sie in die Verbannung begleiten«, bemerkte Birgit. »So ähnlich wird sie sich doch ausgedrückt haben?«

»Du hast es erraten.«

»Das kommt natürlich nicht in Frage.«

»Ich bin froh, daß du so denkst, Liebling.«

Birgit überlegte. »Mein Verstand sagt mir, daß es besser ist, sie in ihren eigenen vier Wänden unterzubringen, aber mein Gefühl, vielmehr mein Pflichtgefühl…« Sie seufzte auf. »Ich habe Angst, Wolfgang.«

»Ich auch«, gestand er. »Ich bin hin und her gerissen. Sie ist Ellens Mutter, und ich habe Ellen sehr geliebt. Muß ich mich nicht um ihre Mutter kümmern? Andererseits könnte sie alles zerstören, ich meine deine Beziehung zu Adina. Gut, sie mag uns vielleicht versprechen, sich aus allem herauszuhalten, aber wird sie es halten?«

»Wenn wir merken, daß es nicht geht, bitten wir sie eben, in ein Sanatorium zu gehen«, schlug Birgit widerwillig vor.

»Wenn du meinst, wir könnten es wagen«, sagte Wolfgang. Obwohl er seine Schwiegermutter nicht sonderlich mochte, klang es erleichtert.

»Es bleibt uns ja nichts anderes übrig«, erwiderte Birgit. »Vergiß nicht, wir sind zu zweit, wir werden es schon schaffen.« Es klang zuversichtlicher, als sie es war.

*

»Großmama, wie sehe ich aus?« Adina drehte sich vor ihrer Großmutter im Kreis. Sie trug wieder die teure Reitkleidung, die ihr Vilma Stein zum Geburtstag geschenkt hatte.

»In diesen Zigeunerkleidern fahre ich nicht mit dir zum Reiten«, hatte sie gesagt, als Adina vor einigen Tagen die von Schwester Regine geschenkten Kleider hatte anziehen wollen.

»Du siehst wunderschön aus, Liebes«, erklärte sie jetzt und zog Adina in die Arme.

»Wann gehen wir mal wieder zusammen ins Konzert, Großmama?« fragte das Mädchen.

»Wie wär’s mit Freitag?«

»Au fein!« Adina wandte sich zu Birgit um, die mit einer Näharbeit auf der Couch saß. Den Vati nehmen wir aber auch mit.«

»Natürlich.« Vilma Stein stand auf. »Ich fahre jetzt mit Adina los«, sagte sie zu Birgit. »Wir sind so gegen sechzehn Uhr zurück. Es wäre schön, wenn es dann Kaffee gäbe.«

Birgit kochte vor Wut. Vilma Stein lebte seit drei Wochen bei ihnen, und es war nicht abzusehen, wie lange sie noch bleiben würde. Von wegen Rekonvaleszentin! Ihr ging es besser als je zuvor. Nur Wolfgang glaubte noch an ihre angeblichen Beschwerden und Schwindelanfälle.

»Mit Ihrem Hausmädchen mögen Sie zwar in diesem Ton sprechen können, Frau Stein, aber nicht mit mir«, erklärte sie. »Ich fahre nachher in die Stadt und bin sicher nicht bis sechzehn Uhr zurück.«

»Weiß Wolfgang davon?«

»Adina, bleibt es dabei, daß wir heute nachmittag gegen fünf englisch üben?« wandte sich Birgit an ihre Stieftochter, ohne auf die Frage Vilma Steins einzugehen.

Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Englisch ist nicht so wichtig. Wenn wir wieder zu Hause sind und Kaffee getrunken haben, mache ich mit meiner Großmama einen Spaziergang.«

»Es sind deine Noten«, betonte Birgit.

»Eben«, kam es von Adina. »Komm, Großmama, laß uns endlich gehen.« Sie griff nach der Hand ihrer Großmutter.

»O Gott«, stöhnte Birgit leise auf, als die beiden das Haus verlassen hatten. Adina wurde mit jedem Tag aufsässiger gegen sie, und Vilma Stein behandelte sie wie ein Dienstmädchen.

Sie ging ins Schlafzimmer hinauf und legte sich auf ihr Bett. Sie fühlte eine große bleierne Müdigkeit in sich. Wie oft war sie in den letzten Tagen am Verzweifeln gewesen. Am Vorabend hatte Vilma Stein angedeutet, daß sie ihren Aufenthalt bei ihnen ausdehnen wollte. Wolfgang hatte sofort zugestimmt. Er vertrug sich mit seiner Schwiegermutter ausgezeichnet, seit sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war.

Birgit richtete sich auf und stützte den Kopf in die Hände. Sie liebte ihren Mann nach wie vor, bereute nicht, ihn geheiratet zu haben, doch er schien blind für seine Umwelt zu sein. Er glaubte ihr ganz einfach nicht, wenn sie von den Schwierigkeiten sprach, die sie tagsüber mit seiner Schwiegermutter und Adina zu bewältigen hatte. Aber wie sollte er ihr auch glauben, denn abends behandelte Vilma Stein sie mit so ausgesuchter Höflichkeit, daß sie selber darüber staunte, wie sie sich innerhalb weniger Stunden so verwandeln konnte. Und auch Adina verhielt sich dann ganz anders.

Denise von Schoenecker hat uns gewarnt, dachte sie, aber wir haben ihre Warnung damals in den Wind geschlagen. Birgit stand auf und trat vor den Spiegel. Ihr Gesicht wirkte verhärmt. Jeden Abend fiel es ihr schwerer, sich für Wolfgang zurechtzumachen.

Ob sie in Sophienlust anrufen sollte? Denise von Schoenecker wußte vielleicht einen Rat. Aber würde das nicht einer Niederlage gleichkommen? Sie hatte versagt.

Birgit hob den Kopf und betrachtete ihr Spiegelbild. Nein, sie durfte sich nicht unterkriegen lassen, mußte gegen den schlechten Einfluß, den Vilma Stein auf Adina ausübte, ankämpfen. Das war sie nicht nur sich, sondern auch Wolfgang und Adina einfach schuldig.

Sie zauberte ein mattes Lächeln auf ihr Gesicht. Irgendwie fühlte sie sich jetzt besser. An diesem Abend wollte sie mit Wolfgang über seine Schwiegermutter und Adina sprechen. Diesmal durfte sie sich nicht mit Beschwichtigungen zufriedengeben, sondern mußte eine klare Entscheidung von ihm verlangen.

Birgit verließ das Schlafzimmer und stieg die Treppe zum Erdgeschoß hinunter. Eigentlich hatte sie vorgehabt, in die Stadt zu fahren, doch sie verspürte keine Lust mehr dazu. Mit einer Tasse Kaffee und einem Stück Kuchen wollte sie es sich auf der Terrasse bequem machen. Sie war völlig allein im Haus. Sie wollte die Stille so richtig genießen und Kraft für die Unterredung mit Wolfgang sammeln.

Als Vilma Stein und Adina vom Reiten zurückkehrten, saß Birgit noch immer auf der Terrasse.

»Ich dachte, Sie wollten wegfahren, Birgit«, wunderte sich Vilma Stein.

»Ich habe es mir anders überlegt«, erwiderte die junge Frau.

»Dann würde ich jetzt gern Kaffee trinken! Die Fahrt nach Wildmoos und zurück hat mich doch erschöpft.« Vilma Stein nahm in einem der bequemen Terrassensessel Platz. »Und denken Sie bitte daran, daß ich den Kaffee nicht so stark möchte. Allerdings sollte er schon etwas kräftiger als heute morgen beim Frühstück sein.«

Jetzt hob Birgit doch den Kopf. Sie sah, daß Adina hinter dem Sessel ihrer Großmutter stand. Um die Lippen des Mädchens lag ein Lächeln, das sie nicht zu deuten vermochte. War es Zustimmung, Verlegenheit, oder gar Triumph? Sie war sich einfach nicht sicher. Adina richtete sich hundertprozentig nach ihrer Großmutter, dennoch war sie überzeugt, daß die Elfjährige sich im Grunde auch nach Mutterliebe sehnte.

»Sie wissen ja, wo die Kaffeemaschine steht, Frau Stein«, sagte sie. »Es hat überhaupt keinen Sinn, daß ich den Kaffee aufbrühe. Denn ganz gleich wie ich ihn zubereite, werden Sie stets etwas daran auszusetzen haben.«

Vilma Stein holte tief Luft. »Ich hatte eigentlich immer gehofft, daß wir ein gutes Verhältnis zueinander finden würden, aber scheinbar legen Sie keinen Wert darauf, Birgit«, erwiderte sie. Sie griff nach Adinas Hand. »Machst du mir bitte eine Tasse Kaffee, Adina?«

»Gern, Großmama.« Das Mädchen warf Birgit einen kurzen Blick zu und verschwand dann im Haus.

»Wenn einer keinen Wert auf ein gutes Verhältnis legt, dann sind Sie es, Frau Stein«, tat Birgit ihre Meinung kund. Sie stand auf. »Um ehrlich zu sein, mir reicht’s allmählich. Ich bin sicher, daß Sie ihr Domizil hier nur aufgeschlagen haben, um Unfrieden zu stiften.«

»Was nehmen Sie sich eigentlich heraus?«

»Ich wollte Ihnen schon lange einmal sagen, was ich von Ihnen denke.« Birgit wußte, daß es unklug war, so zu Vilma Stein zu sprechen, doch sie konnte sich nicht länger beherrschen. Statt erst auf ihren Mann zu warten, sagte sie ihr bereits jetzt gehörig die Meinung.

»Birgit!«

Die Frau hob den Kopf und sah zum Salon. Wolfgang stand in der offenen Terrassentür. Weder sie noch Vilma Stein hatten ihn kommen hören. »Vielleicht ist es gut, daß du gerade dazukommst«, sagte sie. »Deine Schwiegermutter behandelt mich immer wieder wie ein Dienstmädchen. Und das lasse ich mir nicht länger gefallen, ich denke nicht daran. Adina hetzt sie auch gegen mich auf.«

»Die ganze Sache ist mir zu dumm.« Vilma Stein stand auf. »Ich bin nicht gewillt, länger zuzuhören. Ich weiß nicht, was in deine Frau gefahren ist, Wolfgang.«

»Vati, schön, daß du schon da bist«, rief Adina. Sie brachte eine kleine Kanne und stellte sie auf das Tischchen, das neben dem Sessel stand, in dem ihre Großmutter gesessen hatte. »Soll ich dir auch einen Kaffee machen?«

»Das Kind muß Kaffee aufbrühen, weil deine Frau scheinbar zu erschöpft ist, um sich selbst darum zu kümmern«, bemerkte Vilma Stein gehässig.

»Aber ich mache das doch gern, Großmama«, sagte Adina. »Mutti sieht wirklich müde aus.«

»Wolfgang, ich möchte dich unter vier Augen sprechen«, warf Birgit ein. Sie fühlte, daß sie in die Defensive gedrängt worden war.

»Wie du willst«, erwiderte Wolfgang ziemlich steif.

»Ich war heute mit Großmama wieder in Sophienlust«, erzählte Adina ihrem Vater.

»Wir sprechen nachher darüber, Kleines.« Er strich seiner Tochter flüchtig übers Haar, dann ging er in den Salon. Birgit folgte ihm stumm.

»Ich weiß nicht, wie lange du schon unserem Gespräch zugehört hast«, begann Birgit. Sie stand am Fenster und drehte sich jetzt zu ihm um.

»Lange genug, um zu wissen, daß man so nicht mit einer Frau spricht, die erst vor kurzem operiert worden ist«, entgegnete Wolfgang. »Sag mal, was ist eigentlich in dich gefahren, Birgit? So kenne ich dich gar nicht.«

»Wenn man dich von morgens bis abends tyrannisieren würde, würdest du wahrscheinlich auch einmal die Nerven verlieren. Kaum bist du frühmorgens aus dem Haus, geht es los. Ich werde von deiner Schwiegermutter wie ein Dienstmädchen behandelt. Abends, wenn du zu Hause bist, tut sie dann so, als würde sie auch mir dankbar sein, daß wir sie aufgenommen haben. Dann kann sie nicht genug liebe Worte finden.«

»Meine Schwiegermutter war schon immer schwierig, Birgit, trotzdem meine ich, daß du übertreibst. Du bildest dir wahrscheinlich das alles nur ein. Sie meint es sicher nicht so.«

»Du machst es dir sehr leicht.«

»Birgit, sie ist noch krank.«

»So krank, daß sie fast täglich mit Adina nach Sophienlust fährt.« Birgit lachte gekünstelt auf. »Die gute Frau ist nicht mehr krank, sie spielt dir nur etwas vor. Sie könnte längst wieder in ihrem eigenen Haus leben.«

»Ich soll sie rauswerfen?«

»Das verlange ich nicht von dir, aber du könntest dafür sorgen, daß sie nicht länger als die abgemachten vier Wochen bleibt. Ich halte es nicht mehr aus, Wolfgang.«

»Das kommt auf dasselbe heraus. Ich kann ihr nach diesen vier Wochen nicht einfach die Koffer vor die Tür setzen, zumal ich die Notwendigkeit nicht einsehe.« Der Mann legte seinen Arm um Birgits Schultern. »Vielleicht wächst dir nur alles ein bißchen über den Kopf. Es ist sicher nicht leicht, plötzlich eine Familie zu haben.«

Birgit schüttelte seinen Arm ab. »Mit anderen Worten, deiner Meinung nach bin ich überspannt.«

»Nein, das wollte ich natürlich nicht damit sagen, nur solltest du vielleicht nicht gleich aus einer Mücke einen Elefanten machen. Ich habe mir das Leben mit meiner Schwiegermutter bedeutend schlimmer vorgestellt. Sie ist erstaunlich friedlich, hat sogar ihre Angriffe auf mich aufgegeben. Und Adina tut es gut, daß sie hier ist.«

Was war nur mit Wolfgang geschehen? Birgit verstand nicht, daß er sich jetzt plötzlich auf die Seite seiner Schwiegermutter schlug. Merkte er denn nicht, daß ihm Vilma Stein und auch Adina abends eine Art heile Welt vorspielten?

»Du sagst, es würde Adina guttun, daß sie hier ist.« Sie schüttelte den Kopf. »Adina richtet sich nur noch nach ihr. Sogar ihre krankhafte Eitelkeit ist zurückgekehrt. Sie sieht zu jeder Tageszeit wie ein Modepüppchen aus. Und glaube nur nicht, daß sie jemals tut, was ich ihr sage. Immer sieht sie zuerst ihre Großmutter an, bevor sie einem Wunsch von mir nachkommt.«

»Du bist eifersüchtig auf meine Schwiegermutter.« Wolfgang lächelte. »Aber dazu besteht doch gar kein Grund, Liebling. Adina mag dich, das hat sie mir selbst gesagt.« Er strich ihr über die Wange. Hatte seine Tochter nicht erst vor einigen Minuten Birgit in Schutz genommen?

»Sie wird von deiner Schwiegermutter gegen mich aufgehetzt.«

»Das ist doch Unsinn.« Das Lächeln auf Wolfgangs Gesicht erstarb. »Ich bin heute absichtlich früh nach Hause gekommen, um mit euch ein paar Stunden länger zusammen sein zu können, aber jetzt wünschte ich, ich wäre im Geschäft geblieben. Da habe ich wenigstens meine Ruhe.«

»Warum willst du nicht sehen, was um dich herum vorgeht?« fragte Birgit verzweifelt.

»Ich sehe nur, daß du Anlagen dazu hast, hysterisch zu werden.« Wolfgang wandte sich der Tür zu.

»Wolfgang!« Birgits Augen funkelten.

»Ja!« Er drehte sich um.

»Wenn du schon nicht daran denkst, auf mich Rücksicht zu nehmen, dann denke wenigstens an Adina. Wenn das so weitergeht, wird deine Tochter ein Fall für den Psychotherapeuten.«

»Willst du damit ausdrücken, daß meine Tochter dabei ist, verrückt zu werden!« Wolfgangs Stimme hob sich. »Mir reicht’s jetzt, Birgit. Ich möchte mich zwar nicht mit dir streiten, aber du willst es ja nicht anders. Wenn einer zum Psychotherapeuten sollte, dann bist du es wohl.«

Birgit ließ völlig perplex die Schultern sinken. War das wirklich noch der Mann, der einmal geschworen hatte, sie über alles zu lieben? »Bitte, Wolfgang, ich will doch nur Adinas Bestes«, sagte sie leise.

»Das kommt mir aber nicht so vor«, erwiderte Wolfgang Kayser. »In meinen Augen kannst du es nicht ertragen, wenn sich nicht ständig alles um dich dreht. Aber vergiß bitte nicht, auch du warst damit einverstanden, meine Schwiegermutter vorläufig bei uns aufzunehmen. Und was Adina betrifft, sie ist nun einmal meine Tochter, und ich liebe sie. So tadellos, wie sie sich in letzter Zeit benommen hat, verdient sie es nicht, von dir angegriffen zu werden.«

»Es ist doch alles nur Schau.«

»Das bildest du dir nur ein.« Wolfgang griff zur Türklinke.

»Einer ist zuviel in diesem Haus«, stieß Birgit außer sich hervor. »Aber scheinbar habe ich mich bisher geirrt, es ist nicht deine Schwiegermutter, ich bin es.«

Wolfgang ließ die Klinke wieder los. »Birgit, jetzt komm endlich zur Vernunft.«

»Oh, ich bin sehr vernünftig.« Die junge Frau unterdrückte die aufsteigenden Tränen. »Da es dir völlig gleichgültig zu sein scheint, durch was für eine Hölle ich tagsüber gehe, ist es wohl besser, wenn ich gehe.«

»Das kommt ja einer Erpressung gleich. Ellen hätte sich niemals so benommen.« Wolfgang hatte jetzt endgültig genug. Selten war ihm ein Abend so verdorben worden. Und was hatte er alles vorgehabt.

»Ich bin nun einmal keine Superfrau, wie es Ellen wahrscheinlich gewesen war«, erwiderte Birgit zornig. »Deine Schwiegermutter hält mir ja auch ständig vor, daß ich nur aus Fehlern bestehe. Aber ich denke nicht daran, das weiter mitzumachen. Kein Mensch kann mich zwingen, hierzubleiben.«

Wolfgang riß die Tür auf. »Geh doch, wenn du unbedingt willst, ich halte dich nicht.« Heftig knallte er die Tür hinter sich zu.

Niedergeschlagen ließ sich Birgit aufs Bett fallen. Sie hatte ihren Mann nicht erpressen wollen, auch wenn es vielleicht so geklungen hatte.

*

»Wird Zeit, daß wir endlich wieder mal Ferien haben«, stöhnte Angelika Langenbach. Sie saß im Aufenthaltsraum von Sophienlust und bemühte sich, die Mathematik-Aufgaben, die ihre Lehrerin ihr aufgegeben hatte, zu lösen.

»Man kann doch nicht immer Ferien haben«, sagte Fabian etwas altklug. Er schlug sein Heft zu und verstaute es dann in der Schultasche. »So, ich bin fertig.«

»Und was hast du jetzt vor?« erkundigte sich Henrik. Er war wie gewöhnlich gleich nach dem Mittagessen nach Sophienlust geradelt. »Ich bin mit meinen Aufgaben auch fast fertig. Warte auf mich!«

»Ich wollte zu Justus gehen und ihm in der Baumschule helfen. »Fabian hatte in den letzten Wochen seine Liebe zur Gärtnerei entdeckt.

Henrik nagte an seinem Füllhalter. Die Baumschule war nicht gerade nach seinem Geschmack. »Ich gehe mit«, entschied er trotzdem.

»Falls Justus dich zum Jäten anstellt, paß auf, daß du statt des Unkrauts nicht die jungen Bäumchen ausrupfst«, scherzte Angelika.

»Ich werde deinen ausreißen«, drohte Henrik.

»Kannst du nicht, der sitzt schon viel zu fest«, erwiderte Angelika.

Für jedes Kind wurde kurz nach seiner Ankunft in Sophienlust ein Bäumchen gepflanzt. Die Bäume der Geschwister Langenbach hatten inzwischen eine erhebliche Größe.

Irmela packte ebenfalls ihre Schulsachen zusammen. Sie trat ans Fenster und blickte hinaus. »Da kommt Adina«, sagte sie. »Hilfst du ihr bei den Aufgaben, oder soll ich es tun?« fragte sie Angelika.

»Ich wollte eigentlich für Heidis Puppe ein neues Kleid nähen«, antwortete Vickys Schwester.

»Gut, dann helfe ich ihr.« Irmela verließ den Aufenthaltsraum und ging Adina entgegen. »Hallo, was macht Zarah?« fragte sie die Elfjährige.

»Ihr geht’s gut«, antwortete Adina einsilbig.

»Wenn du jetzt deine Aufgaben machen willst, helfe ich dir.«

»Wir haben nicht viel auf.« Adina wandte sich der Treppe zu.

»Weißt du was, du könntest uns doch mal etwas auf deiner Geige vorspielen. Deine Mutti hat mal gesagt, daß du sehr gut spielen kannst.« Irmela berührte Adinas Arm.

»Ich habe keine Mutti.« Adina schüttelte Irmelas Hand ab und hetzte die Treppe hinauf.

Irmela wollte ihr zuerst folgen, doch dann überlegte sie es sich anders. Sie ging zum Empfangszimmer. Die Tür stand halb offen. Nach kurzem Klopfen trat sie ein.

»Störe ich?« fragte sie, als sie Denise von Schoenecker und Frau Rennert in ein Gespräch vertieft vorfand.

»Eigentlich schon«, erwiderte Denise wahrheitsgemäß.

»Dann komme ich nachher wieder.«

»Nein, nein, Irmela, bleib hier!« Denise wies auf einen Sessel. »Setz dich! Du machst so ein ernstes Gesicht. Also, was gibt’s?«

»Es ist wegen Adina«, sagte das Mädchen, nachdem es Platz genommen hatte. »Sie ist so wahnsinnig traurig. Sie spricht kaum mit uns.« Irmela erzählte von ihrem kurzen Gespräch mit dem Mädchen.

»Sie macht uns auch großen Kummer«, bestätigte Frau Rennert.

»Wir unterhielten uns gerade über sie«, sagte Denise. »Sie fühlt sich von allen verraten, am meisten von ihrer Großmutter. Frau Stein ahnt sicher nicht einmal, was sie angerichtet hat. Wir müssen unbedingt einen Weg finden, Adina aus ihrer Resignation zu reißen.«

»Sie vermißt ganz bestimmt ihre Stiefmutter«, meinte Irmela. »Ich habe gestern mit Pünktchen darüber gesprochen. Pünktchen sagt, wenn Adina überhaupt mit ihr spricht, dann meist über ihre Stiefmutter. Es tut ihr schrecklich leid, daß sie so gemein zu ihr gewesen ist. Sie gibt sich die Schuld an allem, was passiert ist.«

Denise schüttelte den Kopf. »Von Schuld kann man da wohl kaum sprechen. Sie war mehr oder weniger nur ein williges Werkzeug ihrer Großmutter.«

»Wann kommt denn Herr Kayser von seiner Geschäftsreise wieder zurück?«

»Anfang nächster Woche«, sagte Frau Rennert. »Aber ihren Vater scheint Adina überhaupt nicht zu vermissen. Jedenfalls spricht sie nicht von ihm.«

»Wir sollten versuchen, herauszubekommen, wo…«, begann Denise von Schoenecker, wurde aber von Heidi, die ins Zimmer gestürzt kam, unterbrochen. »Ja, was gibt’s denn?« fragte die Verwalterin. »Du bist ja ganz aufgeregt.«

»Adinas Mama kommt«, sprudelte das kleine Mädchen hervor. »Gerade hat ein Taxi vor dem Tor gehalten. Adinas Mama ist ausgestiegen.«

»Irrst du dich auch nicht?« fragte Denise und sprang auf.

»Soll ich Adina rufen?« fragte Irmela erregt.

»Nein, ich möchte erst mit Frau Kayser selbst sprechen«, sagte Denise. »Das heißt, falls sich Heidi nicht doch geirrt hat. So gut kennt sie Frau Kayser ja nicht.«

»Doch, ich kenn’ sie«, trumpfte das kleine Mädchen auf.

»Irmela, gehe bitte zu Adina und beschäftige sie irgendwie. Ich möchte nicht, daß sie jetzt herunterkommt. Ich muß erst wissen, warum Frau Kayser nach all den Wochen hierher kommt.« Denise wandte sich an Heidi. »Und du gehst noch ein bißchen in den Park zum Spielen.«

»Immer wenn es interessant wird«, murrte Heidi, drehte sich um und lief in die Halle.

»Jetzt ist sie schwer gekränkt.« Irmela lachte. »Du kannst dich auf mich verlassen, Tante Isi«, versprach sie. Als sie das Zimmer verließ, stieß sie fast mit Birgit Kayser zusammen. Nach einem kurzen Gruß ging sie an ihr vorbei.

Denise von Schoenecker machte einige Schritte auf die junge Frau zu. Ihr fiel sofort Birgits sonnengebräuntes Gesicht auf. »Das ist aber eine Überraschung«, sagte sie und reichte der Besucherin die Hand.

»Ich hätte mich wohl besser vorher angemeldet«, meinte Birgit etwas schuldbewußt. »Aber als ich vor knapp einer Stunde erfuhr, daß Adina wieder in Sophienlust ist, mußte ich unbedingt sofort kommen.« Sie sah Denise an. »Warum ist Adina hier?«

»Darüber sollten wir uns in aller Ruhe unterhalten«, meinte die Gutsbesitzerin.

»Wie geht es ihr?«

»Sie ist ziemlich deprimiert.«

Birgit wollte eine weitere Frage stellen, doch dann begrüßte sie erst Frau Rennert. »Hätte ich gewußt, daß Adina wieder in Sophienlust ist, hätte ich von mir hören lassen«, sagte sie.

»Das glaube ich Ihnen, Frau Kayser«, erwiderte die Heimleiterin. »Möchten Sie eine Tasse Kaffee trinken, oder ist Ihnen Tee lieber?«

»Seien Sie mir bitte nicht böse, aber ich habe momentan nicht die Ruhe, mich irgendwo hinzusetzen und Kaffee zu trinken«, gestand Birgit. »Ich bin ziemlich durcheinander.«

»Wie wäre es dann mit einem Spaziergang?« fragte Denise. »Auch dabei können wir uns unterhalten.«

»Damit bin ich sofort einverstanden«, entgegnete Birgit. Mit einer anmutigen Bewegung strich sie sich die Haare zurück. »Ich bin erst heute aus Griechenland zurückgekehrt. Ich war dort mit einer Reisegruppe.«

»Also daher die Bräune.« Denise lachte. »Kommen Sie, Frau Kayser, ich vertrete mir auch ganz gern etwas die Füße.«

Die beiden Frauen verließen das alte Herrenhaus, stiegen die Freitreppe hinunter und wandten sich der Baumschule zu, die im hinteren Teil des Parks lag. Unter uralten Bäumen spazierten sie über den weichen Rasen.

»Seit wann ist Adina wieder in Sophienlust?« fragte Birgit nach einer Weile.

»Es ist jetzt genau vier Wochen«, entgegnete Denise. »Eines Nachmittags rief mich Ihr Mann an und fragte, ob es möglich sei, Adina wieder aufzunehmen. Er vertraute mir an, daß Sie ihn nach einem heftigen Streit verlassen hätten.«

»Das stimmt.« Birgit berichtete leise und oftmals stockend von den Wochen, die sie zusammen mit der Schwiegermutter ihres Mannes verbracht hatte.

Sie hatten inzwischen die Baumschule erreicht. Denise führte die Besucherin durch die einzelnen Baumreihen, bis sie zu Adinas Bäumchen kamen. »Das Kind braucht Sie, Frau Kayser«, sagte sie fast beschwörend.

»Weshalb ist Adina wieder hier?«

Denise winkte Fabian und ihrem Sohn zu, die in der Nähe zusammen mit dem alten Justus arbeiteten. »Die Sache ist verhältnismäßig einfach«, beantwortete sie Birgits Frage. »Frau Stein hatte sich alles ziemlich schön erträumt. Erst mußte sie Sie hinausgraulen, dann wollte sie ihrem Schwiegersohn beweisen, daß es ohne sie nicht geht. Aber schon bald stellte sie fest, daß es nicht so einfach war, einen Haushalt zu betreuen, und Adina die Mutter zu ersetzen. Es kam immer häufiger zu unschönen Auftritten zwischen ihr und Adina. Eines Tages packte sie ihren Koffer und fuhr nach Hause. Zwei Tage später flog sie nach Südfrankreich, um dort die nächsten Monate zu verbringen.«

»Armer Wolfgang.« Birgits Stimme klang leicht ironisch.

»Sagen wir lieber, arme Adina«, verbesserte Denise. »Denn Adina war es und ist es, die am meisten darunter zu leiden hat. Ihr Vater hat ihr sehr deutlich gezeigt, daß er auch ihr die Mitschuld an der Trennung von Ihnen gibt.« Die Gutsbesitzerin blieb stehen. »Adina spricht sehr häufig von Ihnen. Das Kind sehnt sich nach einer Mutter. Ohne die Einmischung Frau Steins, wäre sicher alles anders gekommen.«

»Ich würde Adina so gern eine gute Mutter sein, aber ich habe Angst, wieder von ihr zurückgestoßen zu werden«, erwiderte Birgit. »Das Mädchen ist eine hervorragende Schauspielerin. Wer sagt mir denn, wann sie es ehrlich meint und wann sie mir nur etwas vormacht.«

»Mutti!«

Die beiden Frauen drehten sich um. Adina lief auf dem schmalen Weg zwischen den Bäumen. Sie breitete die Arme aus. »Mutti!« rief sie noch einmal, dann stürzte sie sich in Birgits Arme.

Irmela folgte ihr keuchend. »Tut mir leid, Angelika hat es ihr verraten«, sagte sie mit hängenden Schultern.

»Ich glaube, es ist alles in Ordnung«, meinte Denise. Sie nahm Irmela bei der Hand und ging mit ihr zum Haus zurück, um Birgit und ihrer Stieftochter Gelegenheit zu geben, allein miteinander zu sprechen.

*

Wolfgang Kayser brachte seinen Wagen mit quietschenden Reifen vor der Freitreppe des Kinderheims Sophienlust zum Stehen. Denise von Schoenecker hatte ihn mitten in einer Besprechung angerufen und gebeten, sofort nach Sophienlust zu kommen. Noch bevor er fragen konnte, was passiert war, hatte es klack gemacht und die Verbindung war unterbrochen gewesen. Vergeblich hatte er danach mehrmals versucht, das Kinderheim zu erreichen. Die Leitung war immer belegt gewesen.

Mit wenigen Schritten rannte er die Treppe hinauf, eilte durch die Halle, ohne die Kinder zu beachten, die dort spielten.

»Was ist passiert?« fragte er, nachdem er die Tür des Empfangszimmers aufgerissen hatte. Erst dann wurde ihm seine Unhöflichkeit bewußt. »Verzeihen Sie, aber ich bin völlig außer mir. Ist etwas mit Adina?«

»Ja, es ist etwas mit Adina«, erwiderte Denise von Schoenecker und stand auf.

»Hatte sie einen Unfall?«

Die Gutsbesitzerin verneinte. »Adina ist auf der Koppel«, sagte sie. »Ich fahre mit Ihnen hin.«

»Aber warum…« Wolfgang hob die Achseln. »Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund, mich aus Hamburg hierherzuzitieren. Ich war fast die ganze Nacht unterwegs.«

»Es gibt einen Grund, Herr Kayser.« Denise lächelte. »Kommen Sie, bringen wir es hinter uns.« Sie zwinkerte Frau Rennert zu.

Schweigend saß Wolfgang Kayser auf dem Beifahrersitz ihres Wagens. Er hätte sie zu gern ausgefragt, doch er spürte, daß sie ihm seine Fragen nicht beantworten würde.

Denise hielt in der Nähe der Koppel, auf der Zarah untergestellt war. »Sie können aussteigen«, sagte sie munter. »Ich warte hier, gehen Sie nur zur Koppel.«

Wolfgang blickte sie verständnislos an, dann stieg er wortlos aus. Durch das hohe Gras marschierte er zur Koppel. Er sah in der Ferne zwei Gestalten neben einem Pferd stehen.

»Adina!« rief er.

Das Mädchen blickte in die Richtung, aus der der Ruf gekommen war. »Vati!« schrie es und rannte auf ihn zu. Wolfgang bemerkte, daß Adina wieder die Sophienluster Reitkleidung trug.

Langsam drehte sich die andere Gestalt um.

Die Augen des Mannes wurden immer größer. Ohne nachzudenken, stieg er über die Koppel und ging seiner Tochter entgegen. Stumm griff er nach Adinas Hand. Automatisch setzte er einen Fuß vor den anderen und zog seine Tochter mit.

»Birgit«, sagte er kaum hörbar, als er seine Frau fast erreicht hatte. Er ließ Adinas Hand los.

»Ich bin zurückgekehrt«, flüsterte Birgit. Sie sah ihn an. In ihren Augen schimmerten Tränen. »Wir könnten es noch einmal miteinander versuchen. Das heißt, wenn du es willst.«

»Und ob ich will.« Er zog Birgit an sich. »Wie kannst du nur so etwas fragen?«

»Habt ihr euch nun wieder lieb?« erkundigte sich Adina.

»Bleibt ihr für immer zusammen?« »Möchtest du es denn?« Wolfgang wandte sich seiner Tochter zu. Er legte einen Arm um die Elfjährige.

»Ja!« Adina schmiegte sich an ihren Vater und ihre Stiefmutter. »Ich möchte eine Mutter haben, wie die anderen Kinder auch. Ich werde nie wieder so böse sein.« Sie blickte zu Birgit auf. »Eigentlich habe ich dich schon immer gemocht, ich wollte es nur nicht zeigen.«

»Dann sind wir endlich eine Familie«, sagte Wolfgang ergriffen. »Jetzt wird uns nichts mehr trennen. Ich schwöre dir, Birgit, es tut mir leid, was zwischen uns vorgefallen ist. Es war alles meine Schuld.«

»Sprechen wir nicht mehr davon«, schlug die junge Frau vor. »Vergessen wir die letzten Wochen und beginnen wir noch einmal ganz von vorn.«

Denise von Schoenecker gab Gas und wendete ihren Wagen. Sie wußte, jetzt wurde sie nicht mehr gebraucht. Die Kaysers hatten zueinander gefunden, jetzt würde sie nichts mehr trennen können. Zufrieden fuhr sie nach Sophienlust zurück.

Arm in Arm gingen Wolfgang, Birgit und Adina zu den beiden Fahrrädern, die an der Koppel lehnten. Die Räder schiebend, schlugen sie den Weg nach Sophienlust ein. Sie wollten noch am selben Tag nach Hause zurückfahren. Glücklich summte Adina ein Lied vor sich hin. Hoch über ihren Köpfen ging die Sonne unter und tauchte den Himmel in blutrote Farbe.

»Nehmen wir es doch einfach als gutes Omen.« Birgit deutete auf den Sonnenball.

»Brauchen wir überhaupt ein Omen?« fragte Wolfgang. Er ließ das Fahrrad auf den Weg gleiten und schloß die Frau in seine Arme. Sehnsüchtig küßte er sie mitten auf den Mund.

»Ich fahre schon voraus«, rief Adina und schwang sich auf ihr Gefährt. »Ihr braucht sicher länger.« Sie winkte ihren Eltern noch einmal zu, dann radelte sie davon.

»Haben wir nicht eine verständnisvolle Tochter?« fragte Wolfgang.

»Habe ich je etwas anderes behauptet?« Birgit lehnte sich glücklich an ihn. Die Welt war für sie endlich wieder in Ordnung. Sie hätte tanzen mögen vor Glück.

Sophienlust Bestseller Staffel 1 – Familienroman

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